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Document 62023CC0743
Opinion of Advocate General Rantos delivered on 5 June 2025.###
Schlussanträge des Generalanwalts A. Rantos vom 5. Juni 2025.
Schlussanträge des Generalanwalts A. Rantos vom 5. Juni 2025.
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2025:414
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
ATHANASIOS RANTOS
vom 5. Juni 2025(1)
Rechtssache C‑743/23
A
gegen
GKV-Spitzenverband,
Beteiligte:
Moguntia Food Group AG
(Vorabentscheidungsersuchen des Landessozialgerichts für das Saarland [Deutschland])
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Wanderarbeitnehmer – Soziale Sicherheit – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 13 Abs. 1 Buchst. a und Buchst. b Ziff. i – Verordnung (EG) Nr. 987/2009 – Art. 14 Abs. 8 – Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit – Anhang II – Art. 1 Abs. 2 – Person, die gewöhnlich und gleichzeitig eine Beschäftigung in Deutschland, in der Schweiz und zum überwiegenden Teil in Drittstaaten ausübt – Anknüpfungskriterien – Begriff ‚wesentlicher Teil der Tätigkeit‘ – Berücksichtigung von Tätigkeiten in Drittstaaten – Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat “
I. Einleitung
1. Der in Deutschland wohnende A (im Folgenden: Kläger), wo er gewöhnlich an 10,5 Tagen im Quartal arbeitete, wurde von der Moguntia Food Group AG eingestellt, die ihren Sitz in der Schweiz hat. Auch in der Schweiz arbeitete er gewöhnlich an 10,5 Tagen im Quartal, während er den überwiegenden Teil seiner Arbeit in anderen Drittstaaten als der Schweizerischen Eidgenossenschaft verrichtete.
2. In dieser Situation stellt sich die Frage, welche Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit auf den Kläger anwendbar waren. Sind bei der Feststellung, ob er einen „wesentlichen Teil“ seiner Beschäftigung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004(2) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012(3) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004) und von Art. 14 Abs. 8 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009(4) in der durch die Verordnung Nr. 465/2012 geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 987/2009) in seinem Wohnmitgliedstaat ausgeübt hat, insoweit die in Drittstaaten ausgeübten Tätigkeiten zu berücksichtigen oder nicht? Das ist im Kern die Frage, die das Landessozialgericht für das Saarland (Deutschland) gestellt hat.
3. Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht in einem Rechtsstreit zwischen dem Kläger und dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen (im Folgenden: GKV-Spitzenverband), dem für die Feststellung bezeichneten deutscher Träger, welche Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit anzuwenden sind, wenn die Tätigkeit gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausgeübt wird, über die Entscheidung dieses Trägers, dass auf das zwischen dem Kläger und Moguntia Food Group bestehende Arbeitsverhältnis die deutschen Rechtsvorschriften anzuwenden seien.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Internationales Recht
4. Am 21. Juni 1999 unterzeichneten die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten einerseits und die Schweizerische Eidgenossenschaft andererseits sieben Abkommen, darunter das Abkommen über die Freizügigkeit(5). Diese sieben Abkommen wurden mit dem Beschluss 2002/309/EG(6) im Namen der Europäischen Gemeinschaft gebilligt und traten am 1. Juni 2002 in Kraft.
5. Nach dem Wortlaut der Präambel des Freizügigkeitsabkommens in der durch den Beschluss Nr. 1/2012(7) geänderten Fassung (im Folgenden: FZA) sind die Vertragsparteien „entschlossen, [die] Freizügigkeit zwischen ihnen auf der Grundlage der in der Europäischen Gemeinschaft geltenden Bestimmungen zu verwirklichen“.
6. Art. 8 („Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“) Buchst. b FZA lautet:
„Die Vertragsparteien regeln die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäß Anhang II, um insbesondere Folgendes zu gewährleisten:
…
b) Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften“.
7. Anhang II („Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“) Art. 1 FZA sieht vor:
„(1) Die Vertragsparteien kommen überein, im Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit untereinander die in Abschnitt A dieses Anhangs genannten Rechtsakte der Europäischen Union in der durch diesen Abschnitt geänderten Fassung oder gleichwertige Vorschriften anzuwenden.
(2) Der Begriff ‚Mitgliedstaat(en)‘ in den Rechtsakten, auf die in Abschnitt A dieses Anhangs Bezug genommen wird, ist außer auf die durch die betreffenden Rechtsakte der Europäischen Union erfassten Staaten auch auf die Schweiz anzuwenden.“
8. Anhang II Abschnitt A („Rechtsakte, auf die Bezug genommen wird“) des FZA nennt die Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 in geänderter Fassung.
B. Unionsrecht
1. Verordnung Nr. 883/2004
9. Art. 1 („Definitionen“) Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:
„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
a) ,Beschäftigung‘ jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt“.
10. Art. 2 („Persönlicher Geltungsbereich“) Abs. 1 in Titel I („Allgemeine Bestimmungen“) dieser Verordnung lautet:
„Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.“
11. Titel II („Bestimmung des anwendbaren Rechts“) der Verordnung Nr. 883/2004 umfasst deren Art. 11 bis 16. Art. 11 („Allgemeine Regelung“) Abs. 1 und 3 dieser Verordnung sieht vor:
„(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.
…
(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:
a) eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;
…“
12. In Art. 13 („Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:
„(1) Eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, unterliegt:
a) den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt, oder[,]
b) wenn sie im Wohnmitgliedstaat keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt,
i) den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber seinen Sitz oder Wohnsitz hat, sofern sie bei einem Unternehmen bzw. einem Arbeitgeber beschäftigt ist, oder
…
(2) Eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt:
a) den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt,
oder
b) den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten befindet, wenn sie nicht in einem der Mitgliedstaaten wohnt, in denen sie einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt.
…
(4) Eine Person, die in einem Mitgliedstaat als Beamter beschäftigt ist und die eine Beschäftigung und/oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, dem die sie beschäftigende Verwaltungseinheit angehört.
…“
2. Verordnung Nr. 987/2009
13. Titel II („Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften“) der Verordnung Nr. 987/2009 umfasst deren Art. 14 bis 21. Art. 14 („Nähere Vorschriften zu den Artikeln 12 und 13 der [Verordnung Nr. 883/2004]“) Abs. 8, 9 und 11 dieser Verordnung sieht vor:
„(8) Bei der Anwendung von Artikel 13 Absätze 1 und 2 der [Verordnung Nr. 883/2004] bedeutet die Ausübung ,eines wesentlichen Teils der Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit‘ in einem Mitgliedstaat, dass der Arbeitnehmer oder Selbständige dort einen quantitativ erheblichen Teil seiner Tätigkeit ausübt, was aber nicht notwendigerweise der größte Teil seiner Tätigkeit sein muss.
Um festzustellen, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, werden folgende Orientierungskriterien herangezogen:
a) im Falle einer Beschäftigung die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt und
b) im Falle einer selbständigen Erwerbstätigkeit der Umsatz, die Arbeitszeit, die Anzahl der erbrachten Dienstleistungen und/oder das Einkommen.
Wird im Rahmen einer Gesamtbewertung bei den genannten Kriterien ein Anteil von weniger als 25 % erreicht, so ist dies ein Anzeichen dafür, dass ein wesentlicher Teil der Tätigkeit nicht in dem entsprechenden Mitgliedstaat ausgeübt wird.
(9) Bei der Anwendung von Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe b der [Verordnung Nr. 883/2004] wird bei Selbständigen der ,Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten‘ anhand sämtlicher Merkmale bestimmt, die ihre berufliche Tätigkeit kennzeichnen; hierzu gehören namentlich der Ort, an dem sich die feste und ständige Niederlassung befindet, von dem aus die betreffende Person ihre Tätigkeiten ausübt, die gewöhnliche Art oder die Dauer der ausgeübten Tätigkeiten, die Anzahl der erbrachten Dienstleistungen sowie der sich aus sämtlichen Umständen ergebende Wille der betreffenden Person.
…
(11) Für eine Person, die ihre Beschäftigung in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten für einen Arbeitgeber ausübt, der seinen Sitz außerhalb des Hoheitsgebiets der Union hat, gelten die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn diese Person in einem Mitgliedstaat wohnt, in dem sie keine wesentliche Tätigkeit ausübt.“
III. Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof
14. Der in Deutschland wohnende Kläger wurde von der Gesellschaft Moguntia Food Group, die ihren Sitz in der Schweiz hat, als Lebensmitteltechniker eingesetzt, um im Zeitraum vom 1. Dezember 2015 bis zum 31. Dezember 2020 die Tätigkeit eines Exporttechnologen auszuüben. Diese Tätigkeit bestand darin, die Kunden aufzusuchen und zu beraten, Schulungen und Seminare durchzuführen sowie Verkostungen. Er arbeitete gewöhnlich an 10,5 Tagen im Quartal in der Schweiz sowie an 10,5 Tagen im Quartal in Deutschland, dort im Homeoffice, und die überwiegende Zeit in Drittstaaten, in denen sich seine Kunden überwiegend befanden, und zwar in Belarus, in Iran, in Moldau, in Russland und in der Ukraine. Er erhielt seine monatliche Vergütung einheitlich und ohne anteilige Zuweisung je nach Tätigkeitsort.
15. Am 19. November 2015 wandte sich der Kläger an den GKV-Spitzenverband, den gemäß Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009(8) bezeichneten Träger des Wohnorts für die Festlegung der anzuwendenden Rechtsvorschriften, wenn die berufliche Tätigkeit der betreffenden Person gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausgeübt wird, und verwies darauf, dass er bei Moguntia Food Group beschäftigt sei und weniger als 25 % seiner Beschäftigung in Deutschland ausübe. Zum 1. Dezember 2015 schloss der Kläger eine Krankenversicherung in der Schweiz bei einer Gesundheitsorganisation ab. Am 16. Dezember 2015 wurde ihm eine Grenzgängerbewilligung für die Schweiz erteilt. Mit Schreiben vom 22. Februar 2016 teilte das Amt für Sozialbeiträge des Kantons Basel-Stadt (Schweiz) dem Kläger mit, dass es den Nachweis der Krankenversicherung erhalten habe und zur Kenntnis nehme, dass er an die gesetzliche Versicherung nach dem Bundesgesetz über die Krankenversicherung vom 18. März 1994 in der Schweiz angeschlossen sei. Der Kläger werde informiert, dass der Wechsel zu einer gesetzlichen oder privaten Versicherung im Ausland grundsätzlich nicht mehr möglich sei.
16. Mit Bescheid vom 18. August 2016 (im Folgenden: Bescheid vom 18. August 2016) stellte der GKV-Spitzenverband gestützt auf Art. 13 der Verordnung Nr. 883/2004 fest, dass auf den Kläger für die Zeit vom 1. Dezember 2015 bis zum 30. November 2020 die deutschen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit Anwendung fänden, und stellte ihm gemäß Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009(9) eine entsprechende A1-Bescheinigung aus. In dem Bescheid heißt es, der Kläger übe die Beschäftigung gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten aus, und ein wesentlicher Teil der Beschäftigung werde in seinem Wohnstaat, Deutschland, erbracht. Dieser Bescheid wurde auch unter Beifügung der A1-Bescheinigung Moguntia Food Group und dem Bundesamt für Sozialversicherungen (Schweiz) sowie zum Zweck der Beitragsüberwachung auch der betreffenden deutschen Krankenkasse und der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung übermittelt.
17. Den gegen den Bescheid vom 18. August 2016 erhobenen Widerspruch des Klägers wies der GKV-Spitzenverband mit Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 2020 zurück. Er führte u. a. aus, dass auf den vorliegenden Sachverhalt die Regelungen der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 Anwendung fänden und dass in Anbetracht deren räumlichen Geltungsbereichs nur die Zeiten zu berücksichtigen seien, die der Kläger in Deutschland und in der Schweiz gearbeitet habe, was bedeute, dass er einen wesentlichen Teil der Beschäftigung im Wohnmitgliedstaat ausgeübt habe. Am 28. Dezember 2020 erhob der Kläger gegen den Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 2020 Klage beim Sozialgericht für das Saarland (Deutschland) und machte u. a. geltend, dass bei der Ermittlung, ob er einen wesentlichen Teil seiner Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat ausübe, insgesamt auf seine Beschäftigung abzustellen sei, mithin auch auf die Tätigkeiten in Drittstaaten. Mit Gerichtsbescheid vom 4. August 2022 hob das Sozialgericht für das Saarland den Bescheid vom 18. August 2016 auf und verurteilte den GKV-Spitzenverband, für die Beschäftigung des Klägers bei Moguntia Food Group nach Art. 13 der Verordnung Nr. 883/2004 in Verbindung mit Art. 16 der Verordnung Nr. 987/2009 die Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit der Schweiz festzulegen. Es führte hierzu u. a. aus, dass dieser nur an 10,5 Tagen im Quartal, also knapp ein Sechstel seiner Arbeitszeit in diesem Zeitraum, in Deutschland arbeite und dass dieser Zeitraum nicht als „wesentlicher Teil“ seiner Tätigkeit im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 angesehen werden könne. Auch der Gerichtshof habe im Urteil INAIL und INPS(10) bereits in diesem Sinne entschieden.
18. Gegen diesen Gerichtsbescheid legte der GKV-Spitzenverband am 6. September 2022 beim Landessozialgericht für das Saarland, dem vorlegenden Gericht, Berufung ein. Seinen Antrag auf Aufhebung des Gerichtsbescheids begründete er u. a. damit, dass sich die Festlegung der anzuwendenden Rechtsvorschriften ausschließlich auf Tätigkeiten innerhalb des Geltungsbereichs der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 beziehe. Hätte der Unionsgesetzgeber gewollt, dass man im Zusammenhang mit Art. 13 der Verordnung Nr. 883/2004 Tätigkeiten in Drittstaaten berücksichtige, wären hierzu Regelungen getroffen worden. Außerdem sei das Urteil INAIL und INPS im vorliegenden Fall nicht einschlägig, da es die besondere Situation des Flugpersonals betreffe und nicht davon gesprochen werde, dass die betroffenen Personen in einem Staat tätig gewesen seien, in dem die Verordnung Nr. 883/2004 nicht gelte.
19. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts hängt es von der zutreffenden Auslegung von Art. 13 der Verordnung Nr. 883/2004 und von Art. 14 der Verordnung Nr. 987/2009 ab, in welchem Mitgliedstaat der Kläger im streitigen Zeitraum der Krankenversicherungspflicht unterlag. Da der Kläger seine monatliche Vergütung einheitlich und ohne anteilige Zuweisung je nach Tätigkeitsort erhalten habe, gebe das Arbeitsentgelt keinen Hinweis darauf, dass er einen wesentlichen Teil seiner Beschäftigung in Deutschland ausgeübt habe. Maßgebliche Bedeutung komme somit der Arbeitszeit zu, und insoweit habe er von ca. 65 Tätigkeitstagen im Quartal 10,5 Tage (etwa 16 % seiner Arbeitszeit) in Deutschland, wo er wohne, weitere 10,5 Tage (also den gleichen Anteil) in der Schweiz und die restlichen Tage (etwa 68 % seiner Arbeitszeit) in Drittstaaten gearbeitet.
20. Wäre – so das vorlegende Gericht weiter – auf die Gesamtarbeitszeit des Klägers, also unter Berücksichtigung seiner Tätigkeit in den Drittstaaten, abzustellen, würde es die Berufung des GKV-Spitzenverbands zurückweisen. In diesem Fall würde der Anteil der Beschäftigung des Klägers in Deutschland weniger als 25 % seiner Arbeitszeit betragen und somit keinen „wesentlichen Teil“ der Beschäftigung im Sinne von Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 ausmachen, was zur Folge hätte, dass das schweizerische Recht anwendbar wäre. Der Kläger könnte dann auch verlangen, dass der GKV-Spitzenverband die Anwendbarkeit des schweizerischen Rechts gemäß Art. 16 Abs. 2 Satz 1 dieser Verordnung feststelle. Wäre hingegen nur die Tätigkeit des Klägers in den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, würde der Anteil der Tätigkeit in Deutschland 50 % seiner Arbeitszeit betragen und somit einen wesentlichen Teil der Beschäftigung ausmachen, was zur Folge hätte, dass das deutsche Recht anwendbar wäre.
21. Der Gerichtshof habe sich zu der Frage, ob bei der Feststellung, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat ausgeübt werde, auf die gesamte Tätigkeit unter Einbeziehung der in Drittstaaten ausgeübten Tätigkeit abzustellen sei, noch nicht eindeutig geäußert. Insbesondere das Urteil INAIL und INPS sowie die beiden vom GKV-Spitzenverband angeführten Urteile, nämlich die Urteile Inspecteur van de Belastingdienst(11) und Finanzamt Österreich (Familienleistungen für Entwicklungshelfer)(12), beträfen andere Fallgestaltungen als die in der vorliegenden Rechtssache gegebene.
22. Unter diesen Umständen hat das Landessozialgericht für das Saarland beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass bei der Prüfung, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, alle Tätigkeiten des Arbeitnehmers einschließlich seiner Tätigkeit in Drittstaaten zu berücksichtigen sind?
2. Oder ist Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass bei der Prüfung, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, nur die Tätigkeiten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen sind, die in Mitgliedstaaten ausgeübt werden?
23. Der Kläger, der GKV-Spitzenverband, Moguntia Food Group, die deutsche und die belgische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht. Am 5. März 2025 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, in der die vorgenannten Beteiligten und die französische Regierung mündliche Ausführungen gemacht haben.
IV. Würdigung
24. Mit seinen beiden Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen ist, dass bei der Bestimmung, ob eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, den Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit ihres Wohnmitgliedstaats unterliegt, der Begriff „wesentlicher Teil der Tätigkeit“ im Sinne dieser Bestimmungen bedeutet, dass alle Tätigkeiten dieser Person, einschließlich der in Drittstaaten ausgeübten, oder lediglich die Tätigkeiten zu berücksichtigen sind, die sie in Mitgliedstaaten verrichtet.
25. Einleitend weise ich darauf hin, dass die Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 883/2004, zu denen deren Art. 13 Abs. 1 gehört, nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein vollständiges und einheitliches System von Kollisionsnormen bilden. Mit diesen Vorschriften sollen nämlich nicht nur die gleichzeitige Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden, sondern sie sollen auch verhindern, dass Personen, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, der Schutz auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil keine nationalen Rechtsvorschriften auf sie anwendbar sind. Wenn eine Person in den in Art. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 definierten persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fällt, ist somit die in Art. 11 Abs. 1 dieser Verordnung aufgestellte Regel der Einheitlichkeit grundsätzlich anwendbar, und die anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften bestimmen sich nach den Vorschriften des Titels II der Verordnung Nr. 883/2004. Zu diesem Zweck stellt Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 den Grundsatz auf, dass eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates unterliegt. Dieser Grundsatz gilt jedoch nur „[v]orbehaltlich der Artikel 12 bis 16“ dieser Verordnung. Die ausnahmslose Anwendung des in Art. 11 Abs. 3 Buchst. a dieser Verordnung aufgestellten allgemeinen Grundsatzes könnte nämlich in bestimmten Sonderfällen sowohl für den Arbeitnehmer als auch für den Arbeitgeber und die Sozialversicherungseinrichtungen zur Schaffung statt zur Vermeidung administrativer Schwierigkeiten führen, die eine Beeinträchtigung der Freizügigkeit der Personen bewirken würden, die unter die Verordnung Nr. 883/2004 fallen(13).
26. Zu diesen Sonderfällen zählt der in Art. 13 Abs. 1 Buchst. a und Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004 angesprochene, wonach eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats unterliegt, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt, oder, wenn sie dort keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber seinen Sitz oder Wohnsitz hat, sofern sie bei einem Unternehmen bzw. einem Arbeitgeber beschäftigt ist. Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang klargestellt, dass eine Person nur dann unter Art. 13 dieser Verordnung fallen kann, wenn sie gewohnheitsmäßig nennenswerte Tätigkeiten im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten verrichtet(14).
27. Gemäß Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 bedeutet bei der Anwendung von Art. 13 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 883/2004 die Ausübung „eines wesentlichen Teils“ der Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit in einem Mitgliedstaat, dass der Arbeitnehmer oder Selbständige dort einen „quantitativ erheblichen“ Teil seiner Tätigkeit ausübt, was aber nicht notwendigerweise der größte Teil seiner Tätigkeit sein muss. Weiter werden nach Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009, um festzustellen, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, im Fall einer Beschäftigung die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt als Orientierungskriterien herangezogen; wird im Rahmen einer Gesamtbewertung bei den genannten Kriterien ein Anteil von weniger als 25 % erreicht, so ist dies ein Anzeichen dafür, dass ein wesentlicher Teil der Tätigkeit nicht in dem entsprechenden Mitgliedstaat ausgeübt wird.
28. Im vorliegenden Fall ist dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen, dass der Kläger im Zeitraum vom 1. Dezember 2015 bis zum 31. Dezember 2020 in Deutschland wohnte und gewöhnlich an 10,5 Tagen im Quartal dort im Homeoffice, an 10,5 Tagen im Quartal in der Schweiz, wo sein Arbeitgeber seinen Sitz hatte, sowie die übrige Zeit in Drittstaaten arbeitete. In diesem Zusammenhang stellt sich dem vorlegenden Gericht die Frage, ob der Kläger den deutschen oder aber den schweizerischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit unterlag.
29. Hierzu weise ich darauf hin, dass laut Art. 8 FZA die Vertragsparteien die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäß Anhang II des FZA regeln, um insbesondere die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften zu gewährleisten. Nach Anhang II Art. 1 Abs. 2 FZA „[ist d]er Begriff ,Mitgliedstaat(en)‘ in den Rechtsakten, auf die in Abschnitt A dieses Anhangs Bezug genommen wird, außer auf die durch die betreffenden Rechtsakte der Europäischen Union erfassten Staaten auch auf die Schweiz anzuwenden“. Diesem Abschnitt A zufolge sind zwischen den Vertragsparteien die Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 anwendbar. Folglich ist die Schweizerische Eidgenossenschaft für die Zwecke der vorliegenden Rechtssache nicht als Drittstaat, sondern als Mitgliedstaat anzusehen.
30. Im Übrigen reicht nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der bloße Umstand, dass ein Arbeitnehmer seine Tätigkeit außerhalb des Gebiets der Union ausübt, nicht aus, um die Anwendung der Unionsvorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, und insbesondere der Verordnung Nr. 883/2004, auszuschließen, wenn das Arbeitsverhältnis eine hinreichend enge Anknüpfung an das Gebiet der Union behält. Eine solche Anknüpfung ergibt sich u. a. aus dem Umstand, dass ein Unionsbürger, der in einem Mitgliedstaat wohnt, von einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat angestellt worden ist, für das er seine Tätigkeiten ausübt(15). Außerdem hängt die Anwendung des Systems von Kollisionsnormen, das durch diese Verordnung geschaffen wird, nur von der objektiven Lage, in der sich der betroffene Arbeitnehmer befindet, und allen Umständen seiner Beschäftigung ab(16).
31. Da der Kläger seine Tätigkeit in zwei Mitgliedstaaten, nämlich Deutschland und der Schweiz, ausgeübt hat, wobei die Schweizerische Eidgenossenschaft einem Mitgliedstaat gleichgestellt wird, bestimmen sich die auf ihn anzuwendenden Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009.
32. Wie sich aus Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 ergibt, sind die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt zwingend zu berücksichtigen(17). Nach Angaben des vorlegenden Gerichts erhielt im vorliegenden Fall der Kläger seine monatliche Vergütung einheitlich und ohne anteilige Zuweisung je nach Tätigkeitsort. Da das vorlegende Gericht keine weiteren Kriterien anführt, die Berücksichtigung finden könnten, sind die Rechtsvorschriften, denen der Kläger unterliegt, auf der Grundlage seiner Arbeitszeit zu bestimmen. Nach den Berechnungen des vorlegenden Gerichts machten – ausgehend von etwa 65 Beschäftigungstagen je Quartal – die Tätigkeiten des Klägers in Deutschland etwa 16 % seiner Arbeitszeit aus, wenn man die in Drittstaaten ausgeübten Tätigkeiten berücksichtigte, während er bei deren Ausschluss und unter Berücksichtigung der in der Schweiz verrichteten Arbeit 50 % seiner Arbeitszeit in Deutschland verbracht hätte.
33. Meines Erachtens ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut der Verordnung Nr. 987/2009 als auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die gesamte, einschließlich der in Drittstaaten ausgeübten Tätigkeit eines Arbeitnehmers zu berücksichtigen ist.
34. Denn was den Wortlaut der Verordnung Nr. 987/2009 betrifft, ist nach deren Art. 14 Abs. 8 Unterabs. 1 darauf abzustellen, wo der Arbeitnehmer oder Selbständige seine Tätigkeit ausübt. Dementsprechend verweist diese Bestimmung nicht nur auf die in Mitgliedstaaten ausgeübten Tätigkeiten. Darüber hinaus wird in Art. 14 Abs. 8 Unterabs. 3 dieser Verordnung klargestellt, dass im Fall einer Beschäftigung, wenn „im Rahmen einer Gesamtbewertung bei den … Kriterien [Arbeitszeit und/oder Arbeitsentgelt] ein Anteil von weniger als 25 % erreicht [wird], … dies ein Anzeichen dafür [ist], dass ein wesentlicher Teil der Tätigkeit nicht in dem entsprechenden Mitgliedstaat ausgeübt wird“. Unter Umständen, wie sie im Ausgangsverfahren gegeben sind, unter denen das Arbeitsentgelt kein relevantes Kriterium darstellt, sieht diese Bestimmung mithin vor, dass die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats auf einen Arbeitnehmer nur dann anzuwenden sind, wenn dieser mehr als 25 % seiner Arbeitszeit in diesem Mitgliedstaat verbringt. Außerdem ist nach dieser Bestimmung eine Gesamtbewertung vorzunehmen, um zu ermitteln, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit in diesem Mitgliedstaat ausgeübt wird. Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 unterscheidet insoweit nicht danach, ob die Tätigkeit in einem Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat ausgeübt wird. Die in dieser Verordnung zugrunde gelegte Methode besteht mithin darin, sich bei der Tätigkeit des betreffenden Arbeitnehmers auf den im Wohnmitgliedstaat ausgeübten Teil der Tätigkeit zu konzentrieren und zu prüfen, ob er mindestens 25 % erreicht, ohne dass geprüft zu werden braucht, ob die weiteren Teile der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat ausgeübt werden.
35. Für diese Auslegung spricht auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit im Rahmen der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009. Diese Rechtsprechung betrifft – wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat – freilich nicht unmittelbar die in der vorliegenden Rechtssache aufgeworfene Frage. Allerdings liefert sie Hinweise darauf, welche Methode anzuwenden ist, wenn eine Person gewöhnlich und gleichzeitig in zwei oder mehr Mitgliedstaaten und in Drittstaaten arbeitet.
36. So weise ich als Erstes darauf hin, dass die Verordnung Nr. 883/2004, wie aus ihrem dritten Erwägungsgrund hervorgeht, zwar die Regeln zur Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit aktualisieren und vereinfachen sollte, die Ziele der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71(18) jedoch beibehielt. Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass nach der Systematik dieser Verordnung für die Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats in erster Linie auf den „Ort der Ausübung“ der abhängigen Beschäftigung des Betreffenden bzw. seiner Tätigkeit als Selbständiger abzustellen ist und dass von diesem Kriterium nur in besonderen Fällen abzuweichen ist, und zwar unter Heranziehung subsidiärer Anknüpfungskriterien wie z. B. des Wohnsitzstaats des Betreffenden, des Staates des Betriebssitzes des Unternehmens, bei dem er beschäftigt ist, bzw. einer Zweigstelle oder ständigen Vertretung dieses Unternehmens oder des Orts der Haupttätigkeit des Betreffenden(19). Mit dem Begriff „Ort der Ausübung“ einer Tätigkeit ist nach Auffassung des Gerichtshofs der Ort gemeint, wo der Betreffende die mit dieser Tätigkeit verbundenen Handlungen konkret ausführt(20). Deshalb ist bei der Ermittlung, welchen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer unterliegt, dessen tatsächliche Situation zu prüfen, wobei alle von ihm verrichteten Tätigkeiten unabhängig davon zu berücksichtigen sind, wo er sie ausübt. Mit anderen Worten würde die alleinige Berücksichtigung der in den Mitgliedstaaten ausgeübten Tätigkeiten zu einer rechtlichen Fiktion führen, die weit neben der konkreten Wirklichkeit der im Wohnmitgliedstaat ausgeübten Tätigkeit, nämlich 16 % der effektiven Arbeitszeit, läge.
37. Als Zweites hat der Gerichtshof in dem vom Kläger zur Stützung seines Vorbringens herangezogenen Urteil INAIL und INPS unter den Gegebenheiten jenes Falles geprüft, welche Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit auf fliegendes Personal einer Fluggesellschaft anwendbar waren. In Rn. 64 dieses Urteils hat er ausgeführt, dass die Vorlageentscheidung keine Angaben zum Arbeitsentgelt der in Rede stehenden Arbeitnehmer enthielt und dass das vorlegende Gericht zu ihrer Arbeitszeit ausgeführt hatte, dass die in Rede stehenden Arbeitnehmer während der betreffenden Zeiträume in Italien wohnten, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats – konkret 45 Minuten pro Tag in dem für die Besatzungen vorgesehenen Raum auf einem Flughafen – arbeiteten und dass sie sich für den Rest der Arbeitszeit an Bord der Flugzeuge der Fluggesellschaft befanden. Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet, dass unter dem Vorbehalt der Bestimmung der täglichen Gesamtarbeitszeit dieser Arbeitnehmer nicht ersichtlich war, dass mindestens 25 % ihrer Arbeitszeit in ihrem Wohnmitgliedstaat erbracht worden wären(21). Dementsprechend ist der Gerichtshof wie in Nr. 34 der vorliegenden Schlussanträge angegeben vorgegangen, indem er sich nämlich auf den in Italien ausgeübten Teil der Tätigkeiten konzentriert hat, ohne zu prüfen, ob die weiteren Arbeitszeitanteile in den Mitgliedstaaten oder in Drittstaaten erbracht wurden. Um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats nicht anwendbar sind, genügt nämlich die Feststellung, dass der Anteil der in diesem Staat ausgeübten Tätigkeit weniger als 25 % der Gesamtbeschäftigung ausmacht. Anders gewendet geht – wie Moguntia Food Group in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat – aus dem Urteil INAIL und INPS hervor, dass es allein darauf ankommt, in Erfahrung zu bringen, welcher Anteil der Tätigkeiten im Wohnmitgliedstaat und welcher außerhalb dieses Staates ausgeübt wird.
38. Mit dem vorlegenden Gericht bin ich der Ansicht, dass die Urteile Inspecteur van de Belastingdienst(22) und Finanzamt Österreich (Familienleistungen für Entwicklungshelfer)(23) für die Beantwortung der gestellten Fragen nicht einschlägig sind, da, anders als im Ausgangsverfahren, die betreffenden Arbeitnehmer nur in Drittstaaten arbeiteten und nicht unter Art. 13 der Verordnung Nr. 883/2004 fielen. Im Übrigen betraf das in der Sitzung vom GKV-Spitzenverband, der französischen Regierung und der Kommission erwähnte Urteil Sozialversicherungsanstalt(24) die Frage, wie das FZA und das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992(25) in der durch das Übereinkommen über die Beteiligung der Republik Bulgarien und Rumäniens am Europäischen Wirtschaftsraum(26) geänderten Fassung auf einen Sachverhalt Anwendung findet, in dem ein gleichzeitig in einem Mitgliedstaat der Union und einem Staat der Europäischen Freihandelsassoziation, der Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ist, selbständig erwerbstätiger Unionsbürger in der Schweiz eine zusätzliche selbständige Erwerbstätigkeit aufnimmt. Bei dieser Frage ging es daher nicht um die Berücksichtigung der Tätigkeiten in Drittstaaten, um festzustellen, ob ein wesentlicher Teil der Beschäftigung in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, sondern um die Abgrenzung des Anwendungsbereichs dieser Abkommen.
39. Nach Art. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004 unterliegt die betreffende Person, wenn sie im Wohnmitgliedstaat keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber seinen Sitz oder Wohnsitz hat.
40. Hinzu kommt, dass die Berücksichtigung von Tätigkeiten in Drittstaaten keineswegs die allgemeine Regel aufhebt, dass ein Arbeitnehmer, der Tätigkeiten in mehreren Mitgliedstaaten ausübt, immer den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt. Hat der Arbeitgeber seinen Sitz in einem Drittstaat, ergibt sich aus Art. 14 Abs. 11 der Verordnung Nr. 987/2009 nämlich ausdrücklich, dass „[f]ür eine Person, die ihre Beschäftigung in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten für einen Arbeitgeber ausübt, der seinen Sitz außerhalb des Hoheitsgebiets der Union hat, … die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats [gelten], wenn diese Person in einem Mitgliedstaat wohnt, in dem sie keine wesentliche Tätigkeit ausübt“.
41. Keiner der vom GKV-Spitzenverband sowie der deutschen, der belgischen und der französischen Regierung vorgebrachten Gesichtspunkte ist geeignet, die Auslegung in Frage zu stellen, nach der in einem Fall wie dem des Klägers die anzuwendenden Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit unter Berücksichtigung aller, einschließlich der in Drittstaaten, ausgeübten Tätigkeiten zu bestimmen sind.
42. Denn erstens machen der GKV-Spitzenverband sowie die deutsche, die belgische und die französische Regierung geltend, dass Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausdrücklich voraussetze, dass eine Person gewöhnlich eine Beschäftigung in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausübe. So bringe gemäß Art. 1 Buchst. a dieser Verordnung die Definition der „Beschäftigung“ mit sich, dass dieser Begriff stets mit einer Tätigkeit in einem Mitgliedstaat verknüpft sei. Außerdem liege eine gewöhnliche Beschäftigung in zwei oder mehr Mitgliedstaaten nicht vor, wenn eine Person ihre Beschäftigung in einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat ausübe. Art. 13 der Verordnung Nr. 883/2004 erfasse somit keine Tätigkeiten in Drittstaaten, und die Arbeitszeit, die auf Tätigkeiten in diesen Staaten entfalle, sei bei der Ermittlung, ob ein wesentlicher Teil der Beschäftigung im Wohnmitgliedstaat ausgeübt werde, nicht zu erfassen. Im vorliegenden Fall steht allerdings außer Streit, dass der Kläger eine Beschäftigung „gewöhnlich“ in einem Mitgliedstaat, nämlich der Bundesrepublik Deutschland, und in einem einem Mitgliedstaat gleichgestellten Staat, nämlich der Schweizerischen Eidgenossenschaft, „ausübt“. Ebenso wenig wird bestritten, dass der Kläger für Rechnung und unter Leitung eines Arbeitgebers arbeitet, der seinen Sitz in der Schweiz hat. Daraus folgt, dass Art. 13 Abs. 1 dieser Verordnung auf die Situation des Klägers selbst dann Anwendung findet, wenn er überwiegend in Drittstaaten gearbeitet hat, wie durch die in Nr. 30 der vorliegenden Schlussanträge angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt wird, und diese Bestimmung sieht nicht vor, dass die in Drittstaaten ausgeübten Tätigkeiten bei der Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften auszuschließen wären.
43. Nach dem Vorbringen der vorgenannten Beteiligten besteht zweitens das mit Art. 13 der Verordnung Nr. 883/2004 verfolgte Ziel darin, die betreffende Person den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu unterstellen, zu dem sie die engste Verbindung aufweise; dieses Ziel könne bei einer Berücksichtigung der in Drittstaaten ausgeübten Tätigkeiten gefährdet sein. Es trifft zu, dass diese Berücksichtigung allein zum Zweck der Berechnung des prozentualen Anteils der vom Arbeitnehmer in den verschiedenen betroffenen Mitgliedstaaten verrichteten Tätigkeiten de facto dazu führt, den quantitativen Anteil der im Wohnmitgliedstaat ausgeübten Tätigkeiten zu verringern, was die Anwendung der Rechtsvorschriften des Sitzmitgliedstaats des Arbeitgebers begünstigt. Allerdings erscheint schon in den Formulierungen der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung der Verordnung Nr. 1408/71 die Anwendung der Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats des Arbeitnehmers als untergeordnete Regel, die nur dann eingreift, wenn diese Rechtsvorschriften eine Anknüpfung an das Arbeitsverhältnis aufweisen(27). Dementsprechend bildet diese Regel eine Ausnahme von der allgemeinen Regel der Anwendung der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird. Im gleichen Sinne hat der Gerichtshof den Ausnahmecharakter der Anknüpfung an den Mitgliedstaat des Wohnsitzes anerkannt(28). Diese Auslegung gilt entsprechend für die Verordnung Nr. 883/2004, wobei in Art. 14 Abs. 8 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 987/2009 klargestellt wurde, welcher quantitative Anteil erforderlich ist, um diese Anknüpfung festzustellen. Daher stimme ich dem Vorbringen der deutschen Regierung nicht zu, dass die Zuständigkeit des Wohnmitgliedstaats den Ausgangspunkt für die Kollisionsnormen von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 bilde.
44. Nach Ansicht des GKV-Spitzenverbands sowie der deutschen und der französischen Regierung darf drittens, angenommen, im Rahmen von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 würden auch Beschäftigungen in Drittstaaten berücksichtigt werden, im Rahmen von Art. 13 Abs. 2 dieser Verordnung für selbständige Erwerbstätigkeiten nicht dasselbe gelten. Denn wäre dies der Fall, bliebe angesichts des Wortlauts von Art. 13 Abs. 2 Buchst. b dieser Verordnung und mangels einer Art. 14 Abs. 11 der Verordnung Nr. 987/2009 entsprechenden Regelung für selbständige Erwerbstätigkeiten unklar, welche Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit auf die selbständig erwerbstätige Person Anwendung fänden. Zu diesem Vorbringen weise ich darauf hin, dass für Arbeitnehmer und Selbständige unterschiedliche Regeln gelten, so dass die für die Arbeitnehmer gewählte Lösung nicht entsprechend auf die Selbständigen angewandt werden kann. Was die Selbständigen betrifft, unterliegt nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten befindet, wenn diese Person nicht in einem der Mitgliedstaaten wohnt, in denen sie einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt. Auch hier führt diese Bestimmung ausdrücklich zur Bezeichnung der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats und nicht der eines Drittstaats. Außerdem wird gemäß Art. 14 Abs. 9 der Verordnung Nr. 987/2009 bei Selbständigen der „Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten“ im Sinne von Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 anhand sämtlicher Merkmale bestimmt, die ihre berufliche Tätigkeit kennzeichnen; hierzu gehören namentlich der Ort, an dem sich die feste und ständige Niederlassung befindet, von der aus die betreffende Person ihre Tätigkeiten ausübt, die gewöhnliche Art oder die Dauer der ausgeübten Tätigkeiten, die Anzahl der erbrachten Dienstleistungen sowie der sich aus sämtlichen Umständen ergebende Wille der betreffenden Person. Es handelt sich somit um eine Tatsachenwürdigung, an der sich nichts nach Maßgabe dessen ändern kann, ob die in Drittstaaten ausgeübten Tätigkeiten bei der Berechnung des prozentualen Anteils der im Wohnmitgliedstaat ausgeübten Tätigkeiten berücksichtigt werden oder nicht.
45. Viertens sehen nach Ansicht der vorgenannten Beteiligten die Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009, insbesondere in Art. 76 der Verordnung Nr. 883/2004(29), Mechanismen zur Information und Zusammenarbeit vor, mit denen die ordnungsgemäße Anwendung der Bestimmungen dieser Verordnungen gewährleistet werden solle. Die Verpflichtung zur vertrauensvollen Zusammenarbeit bestehe dabei jedoch nur zwischen den Mitgliedstaaten, und die Angaben, z. B. zur Arbeitszeit oder zum Sitz des Arbeitgebers, die ein für die Festlegung der anzuwendenden Rechtsvorschriften zuständiger Träger benötige, könne er von Drittstaaten nicht erlangen oder überprüfen, wodurch ein Missbrauchsrisiko geschaffen werde. Insoweit erinnere ich daran, dass kraft dieser Verordnungen die anzuwendenden Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit stets die eines Mitgliedstaats sein werden. Unter diesen Umständen sind, angenommen, die Berücksichtigung der in Drittstaaten ausgeübten Tätigkeiten führt zur Anwendung der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat, der zuständige Träger dieses Staates und derjenige des Wohnmitgliedstaats gleichermaßen wie der betreffende Arbeitnehmer zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit verpflichtet(30). Insbesondere kann sich, wie die Kommission in der Sitzung betont hat, der zuständige Träger des Wohnmitgliedstaats im Rahmen der von ihm vorzunehmenden Gesamtbeurteilung an den Träger des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat, wenden, um bei diesem zu überprüfen, ob der Arbeitnehmer tatsächlich Leistungen in Drittstaaten erbracht hat, indem er beispielsweise Beweise wie Fahrkarten oder Rechnungen anfordert. Entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung führt die Berücksichtigung der Tätigkeiten in einem Drittstaat nicht dazu, dass diese Tätigkeiten nach den Rechtsvorschriften der Drittstaaten eingestuft werden, in denen die Arbeit verrichtet wird.
46. Fünftens veranschaulicht die belgische Regierung ihren Standpunkt anhand des Beispiels einer Person, die im Mitgliedstaat A wohnt und einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten B und D nachgeht. Außerdem gehört diese Person der militärischen Reserveeinheit eines Drittstaats an, für den sie aktive Einsätze und Ausbildungen an Wochenenden und Urlaubstagen im Hoheitsgebiet dieses Drittstaats absolviert. Nach Ansicht der belgischen Regierung wird dieser Drittstaat diese Aktivitäten nach seinem nationalen Recht in der Regel als Tätigkeit im öffentlichen Dienst einstufen, was auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dazu führen würde, dass die Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Drittstaats auf diese Person Anwendung fänden. Hierzu weise ich darauf hin, dass nach dem Wortlaut dieser Bestimmung eine Person, die „in einem Mitgliedstaat“ als Beamter beschäftigt ist und die eine Beschäftigung und/oder eine selbständige Erwerbstätigkeit in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten ausübt, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, dem die sie beschäftigende Verwaltungseinheit angehört. Folglich kann diese Bestimmung auf eine Person, die Beamter in einem Drittstaat ist, keine Anwendung finden.
47. Sechstens haben die belgische und die französische Regierung in der Sitzung geltend gemacht, dass die Einbeziehung der in Drittstaaten ausgeübten Tätigkeiten de facto oder de iure künstlich den Mitgliedstaat stärken würde, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz habe. So hat die französische Regierung das Beispiel eines Arbeitnehmers angeführt, der in Frankreich wohne, dessen Arbeitgeber seinen Sitz in Deutschland habe und der ansonsten in Dänemark sowie die restliche Zeit in Drittstaaten arbeite. Auf diesen Arbeitnehmer seien die deutschen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit anzuwenden, obwohl er 0 % seiner Arbeitszeit in Deutschland verbringe. Zwar trifft es zu, dass ein Arbeitnehmer gewiss eine bessere Kenntnis der Rechtsvorschriften seines Wohnmitgliedstaats hat, während er gleichzeitig die für die Kommunikation mit dem zuständigen Träger verwendete Sprache beherrscht, doch liegt den Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009, wie dargelegt, die Logik zugrunde, dass ein Arbeitnehmer, der Tätigkeiten in mehreren Mitgliedstaaten ausübt, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat, wenn er, wie im Ausgangsverfahren, keinen wesentlichen Teil seiner Tätigkeiten in seinem Wohnmitgliedstaat ausübt. In diesem Sinne widerspricht es dem Ziel dieser Verordnungen, den größten Teil der Arbeitszeit nur deshalb völlig auszublenden, weil er in Drittstaaten geleistet wird. Darüber hinaus erweist sich die Auffassung, dass 16 % der im Wohnmitgliedstaat geleisteten Arbeitszeit als 50 % der Gesamtzeit der ausgeübten Tätigkeiten anzusetzen seien, als eindeutig künstlich.
48. Schließlich hat die Kommission in ihren Erklärungen die Ansicht vertreten, dass es nicht die Absicht des Unionsgesetzgebers gewesen sei, die in Drittstaaten ausgeübten Tätigkeiten völlig aus der Betrachtung herauszunehmen. Daher hat sie vorgeschlagen, die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen dahin zu beantworten, dass bei der Prüfung, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat ausgeübt wird, alle Tätigkeiten des Arbeitnehmers, einschließlich seiner Tätigkeit in Drittländern, zu berücksichtigen sind, wobei diese Tätigkeiten in Drittländern dem Mitgliedstaat, in dem das ihn beschäftigende Unternehmen seinen Sitz hat, zuzurechnen sind, sofern der Arbeitnehmer auch in dem Mitgliedstaat, in dem dieses Unternehmen seinen Sitz hat, Tätigkeiten ausübt und der Arbeitnehmer die Tätigkeiten in Drittländern im Auftrag und auf Weisung dieses Unternehmens ausübt. Wie ich in Nr. 34 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, sind die anzuwendenden Rechtsvorschriften zu bestimmen, indem zunächst geprüft wird, welcher quantitativ erhebliche Teil aller Tätigkeiten des Arbeitnehmers im Wohnmitgliedstaat ausgeübt wird. Nach Maßgabe dessen, ob dieser Anteil mehr oder weniger als 25 % beträgt, finden entweder die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats oder diejenigen des Mitgliedstaats Anwendung, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat.
49. Nach alledem bin ich der Meinung, dass bei der Bestimmung, ob eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats unterliegt, der Begriff „wesentlicher Teil der Tätigkeit“ bedeutet, dass alle Tätigkeiten dieser Person, einschließlich der in Drittstaaten ausgeübten, und nicht lediglich die Tätigkeiten zu berücksichtigen sind, die sie in Mitgliedstaaten verrichtet.
50. Folglich waren im vorliegenden Fall auf den Kläger die Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des einem Mitgliedstaat gleichgestellten Staates, in dem sein Arbeitgeber seinen Sitz hatte, also der Schweizerischen Eidgenossenschaft, anzuwenden.
V. Ergebnis
51. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Landessozialgerichts für das Saarland (Deutschland) wie folgt zu antworten:
Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 14 Abs. 8 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung Nr. 465/2012 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
bei der Bestimmung, ob eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, den Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit ihres Wohnmitgliedstaats unterliegt, der Begriff „wesentlicher Teil der Tätigkeit“ im Sinne dieser Bestimmungen bedeutet, dass alle Tätigkeiten dieser Person, einschließlich der in Drittstaaten ausgeübten, und nicht lediglich die Tätigkeiten zu berücksichtigen sind, die sie in Mitgliedstaaten verrichtet.
1 Originalsprache: Französisch.
2 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1).
3 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. 2012, L 149, S. 4).
4 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2009, L 284, S. 1).
5 ABl. 2002, L 114, S. 6.
6 Beschluss Euratom des Rates und – bezüglich des Abkommens über die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit – der Kommission vom 4. April 2002 über den Abschluss von sieben Abkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft (ABl. 2002, L 114, S. 1).
7 Beschluss des Gemischten Ausschusses eingesetzt im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 31. März 2012 zur Ersetzung des Anhangs II dieses Abkommens über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2012, L 103, S. 51), der am 1. April 2012 in Kraft getreten ist.
8 Nach dieser Bestimmung „[legt d]er bezeichnete Träger des Wohnorts … unter Berücksichtigung von Artikel 13 der [Verordnung Nr. 883/2004] und von Artikel 14 der [Verordnung Nr. 987/2009] unverzüglich fest, welchen Rechtsvorschriften die betreffende Person unterliegt. Diese erste Festlegung erfolgt vorläufig. Der Träger unterrichtet die bezeichneten Träger jedes Mitgliedstaats, in dem die Person eine Tätigkeit ausübt, über seine vorläufige Festlegung.“
9 Nach dieser Bestimmung „[bescheinigt a]uf Antrag der betreffenden Person oder ihres Arbeitgebers … der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der [Verordnung Nr. 883/2004] anzuwenden sind, dass und gegebenenfalls wie lange und unter welchen Umständen diese Rechtsvorschriften anzuwenden sind“.
10 Urteil vom 19. Mai 2022 (C‑33/21, im Folgenden: Urteil INAIL und INPS, EU:C:2022:402).
11 Urteil vom 8. Mai 2019 (C‑631/17, EU:C:2019:381).
12 Urteil vom 25. November 2021 (C‑372/20, EU:C:2021:962).
13 Vgl. Urteil vom 3. Juni 2021, TEAM POWER EUROPE (C‑784/19, EU:C:2021:427, Rn. 32 bis 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
14 Vgl. Urteil vom 16. Juli 2020, AFMB u. a. (C‑610/18, EU:C:2020:565, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
15 Vgl. Urteil vom 25. November 2021, Finanzamt Österreich (Familienleistungen für Entwicklungshelfer) (C‑372/20, EU:C:2021:962, Rn. 36 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
16 Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, AFMB u. a. (C‑610/18, EU:C:2020:565, Rn. 54 und 60 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
17 Nach dem von der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ausgearbeiteten und gebilligten und im Dezember 2013 veröffentlichten „Praktische[n] Leitfaden zum anwendbaren Recht in der Europäischen Union (EU), im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und in der Schweiz“ (S. 31), „können gegebenenfalls weitere Kriterien berücksichtigt werden. Es ist die Aufgabe der bezeichneten Träger, alle maßgeblichen Kriterien zu berücksichtigen und eine Gesamtbewertung der Verhältnisse der betreffenden Person vorzunehmen, bevor eine Entscheidung über die anzuwendenden Rechtsvorschriften getroffen wird“; allerdings werden diese weiteren Kriterien nicht festgelegt. Dieser Leitfaden ist in den verschiedenen Amtssprachen der Union abrufbar unter: https://employment-social-affairs.ec.europa.eu/policies-and-activities/moving-working-europe/eu-social-security-coordination/specialised-information/official-documents_en.
18 Verordnung des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. 1971, L 149, S. 2). Vgl. Urteil vom 5. Juni 2014, I (C‑255/13, EU:C:2014:1291, Rn. 41).
19 Vgl. Urteil vom 27. September 2012, Partena (C‑137/11, EU:C:2012:593, Rn. 49).
20 Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2012, Partena (C‑137/11, EU:C:2012:593, Rn. 57).
21 In Rn. 65 dieses Urteils hat der Gerichtshof ergänzt, dass die anhand der vorstehend angeführten Kriterien vorzunehmende Prüfung, ob die in Rede stehenden Arbeitnehmer während der betreffenden Zeiträume einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit in dem Mitgliedstaat ausübten, in dem sie wohnen, mithin in Italien, allerdings dem vorlegenden Gericht obliegt und dass, soweit dies bejaht wird, davon auszugehen ist, dass sie gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 in der 2009 geänderten Fassung ab dem 1. Mai 2010, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung, unter die italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit fallen.
22 Urteil vom 8. Mai 2019 (C‑631/17, EU:C:2019:381).
23 Urteil vom 25. November 2021 (C‑372/20, EU:C:2021:962).
24 Urteil vom 26. September 2024 (C‑329/23, EU:C:2024:802).
25 ABl. 1994, L 1, S. 3.
26 ABl. 2007, L 221, S. 15.
27 Vgl. Urteil vom 19. März 2015, Kik (C‑266/13, EU:C:2015:188, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Chain (C‑189/14, EU:C:2015:345, Nr. 62) ausgeführt hat, stellte sich zu der Zeit, als die erste Verordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer verfasst wurde, die Mobilität der Arbeitnehmer hauptsächlich als eine Wanderungsbewegung allein in einen anderen Mitgliedstaat dar und beruhte daher die Anknüpfung an den Staat, in dem sich der Arbeitsort befand, auf der Vermutung, dass dies die Lösung sei, die den Arbeitnehmer am besten schütze, da er u. a. die gleichen Rechte in Anspruch nehmen konnte wie die inländischen Arbeitnehmer.
28 Vgl. Urteil vom 13. September 2017, X (C‑570/15, EU:C:2017:674, Rn. 28).
29 In Art. 76 Abs. 4 dieser Verordnung heißt es, dass „[d]ie Träger und Personen, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, … zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit verpflichtet [sind], um die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung zu gewährleisten“.
30 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erfordert das reibungslose Funktionieren des durch die Verordnung Nr. 883/2004 geschaffenen Systems eine wirksame und enge Zusammenarbeit sowohl zwischen den zuständigen Trägern der verschiedenen Mitgliedstaaten als auch zwischen diesen Trägern und den Personen, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen. Eine solche Zusammenarbeit – so der Gerichtshof weiter – ist erforderlich, um die Rechte und Pflichten der betreffenden Personen festzustellen und diese Personen in die Lage zu versetzen, ihre Rechte so rasch und so gut wie möglich in Anspruch zu nehmen (vgl. Urteil vom 16. November 2023, Zakład Ubezpieczeń Społecznych Oddział w Toruniu, C‑422/22, EU:C:2023:869, Rn. 53).