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Document 62018CJ0655

    Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 4. März 2020.
    Teritorialna direktsia Severna morska, venant aux droits de Mitnitsa Varna gegen „Schenker“ EOOD.
    Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad – Varna.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung – Diebstahl von in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren – Art. 242 – Für die Entziehung Verantwortlicher – Inhaber der Zolllagerbewilligung – Sanktion wegen eines Verstoßes gegen die Zollvorschriften – Art. 42 – Verpflichtung zur Zahlung eines dem Wert der fehlenden Waren entsprechenden Betrags – Kumulierung mit einer finanziellen Sanktion – Verhältnismäßigkeit.
    Rechtssache C-655/18.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2020:157

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

    4. März 2020 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung – Diebstahl von in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren – Art. 242 – Für die Entziehung Verantwortlicher – Inhaber der Zolllagerbewilligung – Sanktion wegen eines Verstoßes gegen die Zollvorschriften – Art. 42 – Verpflichtung zur Zahlung eines dem Wert der fehlenden Waren entsprechenden Betrags – Kumulierung mit einer finanziellen Sanktion – Verhältnismäßigkeit“

    In der Rechtssache C‑655/18

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Varna (Verwaltungsgericht Varna, Bulgarien) mit Entscheidung vom 5. Oktober 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Oktober 2018, in dem Verfahren

    Teritorialna direktsia „Severna morska“ kam Agentsia Mitnitsi, Rechtsnachfolgerin der Mitnitsa Varna,

    gegen

    „Schenker“ EOOD,

    Beteiligte:

    Okrazhna prokuratura – Varna,

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

    unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi sowie der Richter J. Malenovský und F. Biltgen (Berichterstatter),

    Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

    Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. November 2019,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der Teritorialna direktsia „Severna morska“ kam Agentsia Mitnitsi, Rechtsnachfolgerin der Mitnitsa Varna, vertreten durch S. K. Kirilova, F. Bosilkova-Kolipatkova und B. Borisov als Bevollmächtigte,

    der „Schenker“ EOOD, vertreten durch G. Goranov, advokat,

    der bulgarischen Regierung, vertreten durch L. Zaharieva und E. Petranova als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Zaloguin, V. Bottka und M. Kocjan als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1).

    2

    Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Teritorialna direktsia „Severna morska“ kam Agentsia Mitnitsi (Gebietsdirektion „Nord“ innerhalb der Zollbehörde, Bulgarien, im Folgenden: Zoll Varna) und der „Schenker“ EOOD wegen Sanktionen, die gegen Schenker in ihrer Eigenschaft als Inhaberin einer Zolllagerbewilligung aufgrund des Diebstahls von Waren verhängt wurden, die sich in ihrer Obhut befanden.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Der 45. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 952/2013 lautet:

    „Es ist angebracht, dass die Vorschriften über die Zerstörung oder sonstige Verwertung von Waren durch die Zollbehörden auf Unionsebene festgelegt werden, da für die[se Bereiche] bisher einzelstaatliche Rechtsvorschriften erforderlich waren.“

    4

    Art. 42 Abs. 1 und 2 der Verordnung bestimmt:

    „(1)   Jeder Mitgliedstaat sieht Sanktionen für Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften vor. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.

    (2)   Werden verwaltungsrechtliche Sanktionen verhängt, so können sie unter anderem in einer oder beiden folgenden Formen erfolgen:

    a)

    als eine von den Zollbehörden auferlegte finanzielle Belastung, gegebenenfalls auch an Stelle oder zur Abwendung einer strafrechtlichen Sanktion,

    b)

    als Widerruf, Aussetzung oder Änderung einer dem Beteiligten erteilten Bewilligung.“

    5

    Art. 79 („Entstehen der Zollschuld bei Verstößen“) der Verordnung sieht in seinen Abs. 1 und 3 vor:

    „(1)   Für einfuhrabgabenpflichtige Waren entsteht eine Einfuhrzollschuld, wenn Folgendes nicht erfüllt ist:

    a)

    eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen von Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der Union, auf das Entziehen dieser Waren aus der zollamtlichen Überwachung oder auf die Beförderung, Veredelung, Lagerung, vorübergehende Verwahrung, vorübergehende Verwendung oder Verwertung dieser Waren in diesem Gebiet,

    b)

    eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf die Endverwendung von Waren innerhalb des Zollgebiets der Union,

    (3)   In den Fällen nach Absatz 1 Buchstaben a und b ist Zollschuldner,

    a)

    wer die betreffenden Verpflichtungen zu erfüllen hatte,

    b)

    wer wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass eine zollrechtliche Verpflichtung nicht erfüllt war, und im Auftrag der Person handelte, die diese Verpflichtung zu erfüllen hatte, oder an der Handlung beteiligt war, die zur Nichterfüllung der Verpflichtung führte,

    …“

    6

    Art. 198 dieser Verordnung hat folgenden Wortlaut:

    „(1)   Die Zollbehörden treffen die erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Einziehung und Veräußerung oder Zerstörung, um die Waren zu verwerten:

    a)

    wenn eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen von Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der Union nicht erfüllt wurde oder die Waren der zollamtlichen Überwachung vorenthalten wurden,

    (3)   Die Kosten der Maßnahmen nach Absatz 1 hat zu tragen:

    a)

    in dem in Absatz 1 Buchstabe a genannten Fall jede Person, die die betreffenden Verpflichtungen zu erfüllen hatte oder die die Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen hat,

    …“

    7

    Art. 242 Abs. 1 der Verordnung Nr. 952/2013 lautet:

    „Der Bewilligungsinhaber und der Inhaber des Verfahrens sind dafür verantwortlich, dass

    a)

    die Waren im Zolllagerverfahren nicht der zollamtlichen Überwachung entzogen werden und

    b)

    die Pflichten, die sich aus der Lagerung der Waren im Zolllagerverfahren ergeben, erfüllt werden.“

    Bulgarisches Recht

    8

    Art. 233 Abs. 6 des Zakon za mitnitsite (Zollgesetz, DV Nr. 15 vom 6. Februar 1998) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZM) lautet:

    „Waren, die Gegenstand des Schmuggels sind, unterliegen ungeachtet der Eigentumsverhältnisse der Einziehung; falls sie nicht vorhanden sind oder veräußert wurden, wird der Ersatz ihres Wertes angeordnet, der – im Fall der Einfuhr – ihrem Zollwert oder – im Fall der Ausfuhr – ihrem Warenwert entspricht.“

    9

    Art. 234a Abs. 1 und 3 ZM bestimmt:

    „(1)   Wer vorübergehend verwahrte Waren oder Waren, die für ein Zollverfahren oder zur Wiederausfuhr angemeldet sind, entzieht, ohne dabei die in den Rechtsvorschriften festgelegten oder durch die Zollbehörde bestimmten Bedingungen zu erfüllen, wird – bei natürlichen Personen – mit Geldbuße oder – bei juristischen Personen und Einzelkaufleuten – mit einer finanziellen Sanktion bestraft, deren Höhe 100 bis 200 Prozent des Zollwerts (bei Einfuhr) oder des Wertes (bei Ausfuhr) der Waren beträgt, die Gegenstand der Zuwiderhandlung sind.

    (3)   In den Fällen der Abs. 1 und 2 sind die Vorschriften des Art. 233 Abs. 6, 7 und 8 entsprechend anzuwenden.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    10

    Am 16. März 2017 meldete die Teld Consulting OOD 13 Container mit Sperrholz für das Zolllagerverfahren an. Diese Anmeldung erfolgte im Namen und auf Rechnung der Balkantrade Properties EOOD.

    11

    Nach Erledigung der Zollformalitäten für das Zolllagerverfahren hätten diese Container zu einem Zolllager verbracht werden sollen, das von Schenker gemäß der Zolllagerbewilligung, deren Inhaberin sie ist, betrieben und verwaltet wird.

    12

    Schenker beauftragte die Fortis Trade OOD mit der Durchführung des Transports. Einer der Container wurde jedoch unterwegs ebenso gestohlen wie das Fahrzeug von Fortis Trade, das diesen beförderte. Folglich wurden die Waren, die sich in diesem Container befanden, nicht an das Zolllager von Schenker ausgeliefert.

    13

    Infolge einer in diesem Zolllager von der Zollinspektion Varna (Bulgarien) durchgeführten Kontrolle wurde festgestellt, dass sich nicht alle vom Zolllagerverfahren erfassten Waren im Lager befanden. Daraufhin erging gegen Schenker ein Bescheid, mit dem eine verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlung im Sinne von Art. 234a Abs. 1 ZM festgestellt wurde, weil Schenker einen Teil der zum Zolllagerverfahren angemeldeten Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen habe. Auf der Grundlage dieser Feststellung erließ der Leiter der Zollbehörde Varna einen Bescheid nach Art. 233 Abs. 6 und Art. 234a Abs. 1 und 3 ZM, mit dem er gegen Schenker eine finanzielle Sanktion in Höhe von 23826,06 bulgarischen Leva (BGN) (rund 12225 Euro) verhängte und zudem die Zahlung des dem Wert der fehlenden Waren entsprechenden Betrags in gleicher Höhe anordnete.

    14

    Auf die von Schenker gegen diesen Bescheid beim Varnenski rayonen sad (Bezirksgericht Varna, Bulgarien) eingelegte Klage hin wurde der Bescheid aufgehoben. Das angerufene Gericht war u. a. der Auffassung, dass der Diebstahl einen Fall höherer Gewalt darstelle und kein Kausalzusammenhang nachgewiesen sei zwischen einem rechtswidrigen Tun oder Unterlassen der betroffenen Gesellschaft und den Folgen des Diebstahls, also der sich für die Zollbehörden ergebenden Unmöglichkeit, auf die unter zollamtlicher Überwachung stehenden Waren zuzugreifen und die vorgesehene Kontrolle auszuüben.

    15

    Gegen dieses Urteil legte die Zollbehörde von Varna Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Administrativen sad Varna (Verwaltungsgericht Varna, Bulgarien) ein. Sie macht geltend, die Anwendung des Zolllagerverfahrens begründe die Pflicht, die Waren nicht der zollamtlichen Überwachung zu entziehen und der in Rede stehende Diebstahl stelle keinen Fall höherer Gewalt dar, durch den der Lagerhalter von seiner Verantwortung befreit werde.

    16

    Das vorlegende Gericht stellt fest, dass gegen Schenker zwei verwaltungsrechtliche Sanktionen verhängt worden seien. Die Sanktion, durch die Schenker verpflichtet worden sei, den Wert der gestohlenen Waren zu zahlen, falle unter keine der in Art. 42 Abs. 2 der Verordnung Nr. 952/2013 genannten Sanktionsformen und es handele sich auch nicht um eine nach nationalem Recht vorgesehene Einziehung. Das vorlegende Gericht möchte daher wissen, ob diese Pflicht zur Zahlung des Wertes der Waren mit der genannten Bestimmung und den Grundsätzen der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit im Hinblick darauf vereinbar sei, dass sie kumulativ zur Verhängung einer finanziellen Sanktion angewendet werde.

    17

    Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Varna (Verwaltungsgericht Varna, Bulgarien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Ist Art. 242 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 952/2013 dahin auszulegen, dass der Diebstahl von Waren, die in das Zolllagerverfahren übergeführt wurden, unter den konkreten Umständen des Ausgangsverfahrens eine Entziehung aus dem Zolllagerverfahren darstellt, die zur Verhängung einer finanziellen Sanktion wegen einer zollrechtlichen Zuwiderhandlung gegen den Bewilligungsinhaber führt?

    2.

    Hat die Verpflichtung zur Zahlung des Wertes der Waren, die Gegenstand der Zollzuwiderhandlung – hier: Entziehung aus dem Zolllagerverfahren – sind, den Charakter einer verwaltungsrechtlichen Sanktion gemäß Art. 42 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 952/2013? Ist eine nationale Vorschrift, die eine solche Zahlung regelt, neben der Verhängung der finanziellen Sanktion zulässig? Entspricht diese Regelung den in Art. 42 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung enthaltenen Kriterien der Wirksamkeit, Verhältnismäßigkeit und Abschreckung für die Sanktionen bei Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften der Union?

    Zu den Vorlagefragen

    Zur ersten Frage

    Zur Zulässigkeit

    18

    Schenker vertritt in ihren schriftlichen Erklärungen die Auffassung, dass die erste Frage unzulässig sei, weil sie ausschließlich die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften und namentlich die Frage betreffe, ob eine bestimmte Handlung oder Unterlassung gemäß der Definition des nationalen Rechts eine Zuwiderhandlung darstelle.

    19

    Insoweit ist zwar darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, nicht zur Auslegung des nationalen Rechts befugt ist, sondern allein das nationale Gericht dafür zuständig ist, den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits festzustellen und zu würdigen sowie die genaue Bedeutung der nationalen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zu bestimmen (Urteil vom 3. Oktober 2019, Fonds du Logement de la Région de Bruxelles-Capitale, C‑632/18, EU:C:2019:833, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    20

    Im vorliegenden Fall ist jedoch dem Wortlaut der ersten Frage zu entnehmen, dass das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen möchte, wie Art. 242 Abs. 1 der Verordnung Nr. 952/2013 und insbesondere der Begriff „Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung“ im Zusammenhang mit dieser Vorschrift auszulegen ist und ob es nach dem Unionsrecht zulässig ist, dass eine solche Entziehung mit einer finanziellen Sanktion geahndet wird.

    21

    Schenker trägt weiter vor, dass die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht von der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften abhänge, sondern von Sachverhaltsfragen, nämlich von der Bestimmung des konkreten Täters der Zuwiderhandlung, seiner Stellung bei Begehung der Zuwiderhandlung sowie der Handlungen und Unterlassungen, die ihm als Zuwiderhandlung zugerechnet werden könnten.

    22

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts ist, im Hinblick auf die Besonderheiten der jeweiligen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Folglich ist der Gerichtshof grundsätzlich zu einer Entscheidung verpflichtet, wenn die von den nationalen Gerichten vorgelegten Fragen die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 14. März 2013, Allianz Hungária Biztosító u. a., C‑32/11, EU:C:2013:160, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies ist vorliegend offensichtlich der Fall.

    23

    Daher ist die erste Vorlagefrage zulässig.

    Zur Begründetheit

    24

    Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der in der ersten Frage erwähnte Art. 242 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 952/2013 die Pflichten des Bewilligungsinhabers und des Inhabers des Verfahrens im Fall der Entziehung von Waren aus der zollamtlichen Überwachung betrifft, während es in der Vorlagefrage auch darum geht, ob gegen den für eine solche Entziehung Verantwortlichen eine nach nationalem Recht vorgesehene finanzielle Sanktion verhängt werden darf, was andere Bestimmungen der Verordnung berührt.

    25

    Der Umstand, dass das vorlegende Gericht eine Frage formal auf die Auslegung einer bestimmten Unionsrechtsvorschrift beschränkt hat, hindert den Gerichtshof nicht daran, ihm alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 18. September 2019, VIPA, C‑222/18, EU:C:2019:751, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    26

    Folglich ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage wissen möchte, ob die Verordnung Nr. 952/2013 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der im Fall des Diebstahls von in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren gegen den Inhaber der Zolllagerbewilligung eine finanzielle Sanktion wegen einer Zuwiderhandlung gegen zollrechtliche Vorschriften verhängt wird.

    27

    Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Begriff „Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung“ im Sinne der Verordnung Nr. 952/2013 dahin zu verstehen, dass er jede Handlung oder Unterlassung umfasst, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde, wenn auch nur zeitweise, am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und an der Durchführung der gemäß den zollrechtlichen Vorschriften vorgesehenen Prüfungen gehindert wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2017, Aebtri, C‑224/16, EU:C:2017:880, Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    28

    Wie vom Gerichtshof bereits entschieden wurde, liegt eine „Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung“ im Sinne dieser Verordnung u. a. dann vor, wenn – wie im vorliegenden Fall – Waren entwendet werden, die sich in einem Nichterhebungsverfahren befinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2013, Harry Winston, C‑273/12, EU:C:2013:466, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    29

    In Bezug auf den für eine solche Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung Verantwortlichen sieht Art. 242 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 952/2013 vor, dass der Inhaber einer Bewilligung dafür verantwortlich ist, dass die Waren im Zolllagerverfahren nicht der zollamtlichen Überwachung entzogen werden.

    30

    Insoweit müssen nach ständiger Rechtsprechung für die Entziehung einer Ware aus der zollamtlichen Überwachung nur objektive Voraussetzungen erfüllt sein, wie das körperliche Fehlen der Ware am zugelassenen Verwahrungsort zu dem Zeitpunkt, zu dem die Zollbehörde die Beschau dieser Ware vornehmen möchte (Urteil vom 12. Juni 2014, SEK Zollagentur, C‑75/13, EU:C:2014:1759, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    31

    Also handelt es sich bei der Verantwortung des Inhabers einer Zolllagerbewilligung im Fall der Entziehung von in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren aus der zollamtlichen Überwachung um eine objektive Pflicht, die daher unabhängig vom Verhalten des Bewilligungsinhabers oder Dritter ist.

    32

    In Bezug auf die Folgen, die sich bei einer solchen Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung für den Inhaber ergeben, geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass es eine zollrechtliche Zuwiderhandlung darstellt, wenn gegen eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Pflichten verstoßen wird, die auf die Entziehung einer Ware aus der zollamtlichen Überwachung Anwendung finden; ein solcher Verstoß führt nach Art. 79 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 952/2013 zur Entstehung einer Einfuhrzollschuld. Mangels einer Harmonisierung der unionsrechtlichen Vorschriften auf dem solche Zuwiderhandlungen betreffenden Gebiet sind die Mitgliedstaaten befugt, geeignete Sanktionen zu erlassen, um die Beachtung des Zollrechts der Union sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2003, Hannl+Hofstetter, C‑91/02, EU:C:2003:556, Rn. 18 bis 20).

    33

    Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Verordnung Nr. 952/2013 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der im Fall des Diebstahls von in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren gegen den Inhaber der Zolllagerbewilligung eine geeignete finanzielle Sanktion wegen einer Zuwiderhandlung gegen zollrechtliche Vorschriften verhängt wird.

    Zur zweiten Frage

    34

    Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 42 Abs. 1 der Verordnung Nr. 952/2013 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der der Inhaber der Zolllagerbewilligung im Fall einer Entziehung der in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren aus der zollamtlichen Überwachung über eine finanzielle Sanktion hinaus zur Zahlung eines dem Wert dieser Waren entsprechenden Betrags verpflichtet ist.

    35

    Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass nach Art. 234a Abs. 1 ZM im Fall einer Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung eine finanzielle Sanktion in Höhe von zwischen 100 % und 200 % des Wertes der entzogenen Waren zu verhängen ist und nach Art. 234a Abs. 3 ZM in Verbindung mit Art. 233 Abs. 6 ZM der für diese Entziehung Verantwortliche einen dem Wert dieser Waren entsprechenden Betrag zu entrichten hat.

    36

    Die Zollbehörde Varna und die bulgarische Regierung haben in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof geltend gemacht, dass es sich bei der letztgenannten Verpflichtung nicht um eine Sanktion im Sinne von Art. 42 Abs. 1 der Verordnung Nr. 952/2013, sondern um eine Maßnahme im Sinne von Art. 198 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung handele, wonach die Zollbehörden die erforderlichen Maßnahmen treffen müssten, einschließlich der Einziehung und Veräußerung oder Zerstörung, „um die Waren zu verwerten“, die der zollamtlichen Überwachung entzogen worden seien. Die Aufzählung der in dieser Vorschrift angeführten Maßnahmen sei nicht abschließend, so dass die Zahlung des Warenwerts, wenn die physische Anwesenheit der Waren von den zuständigen Behörden nicht festgestellt werden könne, ein der Einziehung dieser Waren zugunsten des Staates entsprechendes Mittel im Sinne dieser Vorschrift darstelle, „um die Waren zu verwerten“.

    37

    Dieser Auslegung kann nicht gefolgt werden.

    38

    Art. 198 der Verordnung Nr. 952/2013 befindet sich nämlich in Titel V Kapitel 4 („Verwertung von Waren“) der Verordnung. Demnach betreffen die in diesem Kapitel zusammengefassten Vorschriften ausschließlich diejenigen Maßnahmen, die erlassen werden, „um die Waren zu verwerten“, deren physische Anwesenheit von den zuständigen Behörden festgestellt werden konnte. Diese Auslegung wird durch den 45. Erwägungsgrund der Verordnung gestützt, wonach gemäß dieser Verordnung u. a. die Vorschriften über die Zerstörung oder sonstige Verwertung von Waren durch die Zollbehörden auf Unionsebene festgelegt werden sollen.

    39

    Die Zahlung des Wertes der betroffenen Waren kann jedoch nicht als ein Mittel zur Verwertung dieser Waren angesehen werden, das somit zur Erreichung dieses Ziels dienen würde.

    40

    Folglich qualifiziert das vorlegende Gericht die Verpflichtung des für die Zuwiderhandlung Verantwortlichen, über eine finanzielle Sanktion hinaus einen dem Wert der der zollamtlichen Überwachung entzogenen Waren entsprechenden Betrag zu zahlen, zutreffend als Sanktion.

    41

    Nach Art. 42 Abs. 1 der Verordnung Nr. 952/2013 müssen die von den Mitgliedstaaten für Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften vorgesehenen Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.

    42

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, befugt sind, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind allerdings verpflichtet, bei der Ausübung ihrer Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten (Urteil vom 16. Juli 2015, Chmielewski, C‑255/14, EU:C:2015:475, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    43

    Insbesondere dürfen die nach den nationalen Rechtsvorschriften zulässigen administrativen oder repressiven Maßnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften in legitimer Weise verfolgten Ziele erforderlich ist und im Verhältnis zu diesen Zielen nicht unangemessen sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép, C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229, Rn. 40 und 58 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    44

    Im vorliegenden Fall erscheint eine Sanktion, die in der Verpflichtung besteht, einen dem Wert der der zollamtlichen Überwachung entzogenen Waren entsprechenden Betrag zu zahlen, nicht angemessen; dies gilt unabhängig davon, dass diese Sanktion zusätzlich zu der des Art. 234a Abs. 1 ZM verhängt wird. Eine Sanktion in dieser Höhe übersteigt die Grenzen dessen, was erforderlich ist, um u. a. sicherzustellen, dass die für das Zolllagerverfahren zugelassenen Waren nicht der zollamtlichen Überwachung entzogen werden.

    45

    Durch die Sanktionen im Sinne von Art. 42 der Verordnung Nr. 952/2013 sollen nicht mögliche betrügerische oder widerrechtliche Handlungen, sondern Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften geahndet werden (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, Chmielewski, C‑255/14, EU:C:2015:475, Rn. 31).

    46

    Außerdem steht, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, eine Sanktion wie die des Art. 234a Abs. 3 ZM in Verbindung mit Art. 233 Abs. 6 ZM in keinem angemessenen Verhältnis zu der Zollschuld, die dadurch entsteht, dass die in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen werden.

    47

    Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 42 Abs. 1 der Verordnung Nr. 952/2013 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, nach der der Inhaber der Zolllagerbewilligung im Fall einer Entziehung der in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren aus der zollamtlichen Überwachung über eine finanzielle Sanktion hinaus zur Zahlung eines dem Wert dieser Waren entsprechenden Betrags verpflichtet ist.

    Kosten

    48

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

     

    1.

    Die Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der im Fall des Diebstahls von in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren gegen den Inhaber der Zolllagerbewilligung eine geeignete finanzielle Sanktion wegen einer Zuwiderhandlung gegen zollrechtliche Vorschriften verhängt wird.

     

    2.

    Art. 42 Abs. 1 der Verordnung Nr. 952/2013 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der der Inhaber der Zolllagerbewilligung im Fall einer Entziehung der in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren aus der zollamtlichen Überwachung über eine finanzielle Sanktion hinaus zur Zahlung eines dem Wert dieser Waren entsprechenden Betrags verpflichtet ist.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.

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