EUR-Lex Access to European Union law

Back to EUR-Lex homepage

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 52004AE0966

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Modernisierung des Sozialschutzes für mehr und bessere Arbeitsplätze: Ein umfassender Ansatz, um dazu beizutragen, dass Arbeit sich lohnt“ (KOM(2003) 842 endg.)

ABl. C 302 vom 7.12.2004, p. 86–89 (ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, SK, SL, FI, SV)

7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/86


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Modernisierung des Sozialschutzes für mehr und bessere Arbeitsplätze: Ein umfassender Ansatz, um dazu beizutragen, dass Arbeit sich lohnt“

(KOM(2003) 842 endg.)

(2004/C 302/19)

Die Kommission beschloss am 5. Januar 2004 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 14. Juni 2004 an. Berichterstatterin war Frau ST HILL.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 1. Juli) mit 130 gegen 13 Stimmen bei 24 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

In diesem Frühjahr bat der Europäische Rat um die hier behandelte Mitteilung und trat zusammen, um über die Fortschritte bei der Verbesserung und Modernisierung der Sozialschutzsysteme mit dem Ziel diese beschäftigungsfreundlicher zu gestalten, zu beraten. Dieses Ziel sollte durch verstärkte Betonung der Wirksamkeit von Anreizen erreicht werden. Dabei geht es um Leistungssysteme der Mitgliedstaaten, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Erwerbsrenten und Beihilfen zur Linderung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Diesem Treffen ging der Schlussbericht der Task-Force Beschäftigung (1) der Europäischen Kommission vom November 2003 voraus. In den Mitteilungen über diese beiden maßgebenden Ereignisse werden die größten beschäftigungspolitischen Herausforderungen Europas hervorgehoben und Reformen aufgezeigt, die durchgeführt werden müssen, wenn Europa die in der Lissabon-Strategie selbst gesteckten Ziele erreichen soll.

Es besteht Einigkeit darüber, dass die Europäische Union Gefahr das auf dem Europäischen Rat von Lissabon formulierte anspruchsvolle Ziel, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu werden — einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, bis 2010 dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und größerem sozialem Zusammenhalt zu verbinden — mit Verspätung erreicht. In beiden Dokumente wird festgestellt, dass die in Lissabon gesteckten Ziele zwar ehrgeizig sind, Europa es sich aber nicht leisten kann, sie nicht zu erreichen. Die Bereitschaft der Mitgliedstaaten zu verstärkten Anstrengungen ist die Grundvoraussetzung dafür, die Lissabon-Ziele zu realisieren.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt weisen alle offiziellen Indikatoren darauf hin, dass der Erfolg bei der Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen von folgenden vier zentralen Erfordernissen abhängt:

1.

Die Anpassungsfähigkeit der Arbeitskräfte und der Unternehmen muss gesteigert werden.

2.

Mehr Menschen müssen auf den Arbeitsmarkt gebracht werden.

3.

Es muss mehr und effizienter in Humankapital investiert werden.

4.

Die Reformen müssen durch bessere Governance wirksamer umgesetzt werden.

Während diese weitgehend angebotsseitigen Voraussetzungen eindeutig im Zuständigkeitsbereich der nationalen Regierungen liegen, wird in dieser Stellungnahme darüber hinaus die Notwendigkeit einer wirklichen öffentlich-privaten Partnerschaft für Arbeit, die sich lohnt, aufgegriffen, die auch die Verantwortungsbereiche der Arbeitgeber in diesem wichtigen Vorhaben berücksichtigt.

1.2

Die jüngsten Lagebewertungen sind auch durch das Bestreben motiviert, sicherzustellen, dass den Anreizen zur Vergrößerung des Arbeitskräfteangebots effektiv Maßnahmen gegenüberstehen, die für einen angemessenen Sozialschutz für alle bei gleichbleibender Wirksamkeit der öffentlichen Ausgaben in diesem Bereich sorgen. Eine solche Ausgewogenheit ist von ausschlaggebender Bedeutung, wenn die Länder eine langfristige potenzielle Gefahr vermeiden wollen, die sich durch die Alterung der europäischen Bevölkerung ergibt, eine Perspektive, die nicht nur ernste Auswirkungen auf die Erhaltung einer optimalen Erwerbsbevölkerung hat, sondern auch die Lebensfähigkeit der europäischen Sozialsysteme gefährdet. Eine verstärkte Bindung von benachteiligten Gruppen wie Mütter, rassische Minderheiten, Menschen mit Behinderungen und junge Menschen mit prekären Beschäftigungsverhältnissen an den Arbeitsmarkt stellt ein wichtiges Ziel im Hinblick auf die effiziente Verknüpfung von Sozialschutz und Beschäftigungsförderungsmaßnahmen dar. In der vorliegenden Stellungnahme werden diese Gruppen herausgegriffen, weil es für die Politik weniger sinnvoll ist, eine erschöpfende Auflistung aller vorstellbaren Benachteiligungen zu erstellen und weil es für die oben genannten Gruppen schwierig ist, ihre Benachteiligungen zu überwinden, da aufgrund mangelnder arbeitsmarktpolitischer Trennschärfe nach wie vor nicht unter verschiedenen Arten von Benachteiligungen unterschieden wird.

1.3

Auf EU-Ebene werden die Bemühungen der Mitgliedstaaten, ihre Sozialschutzsysteme zu modernisieren und beschäftigungsfreundlicher zu gestalten, durch eine verstärkte Koordinierung der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik angetrieben. Die EU hat sich für 2010 ehrgeizige Ziele gesetzt: die Gesamtbeschäftigungsquote soll auf 70 %, die Beschäftigungsquote der Frauen auf 60 % und die der 55- bis 64-Jährigen auf 50 % erhöht werden. Diese Ziele beruhen auf verschiedenen Leitlinien und Empfehlungen, die in den Grundzügen der Wirtschaftspolitik, den Beschäftigungsleitlinien und den gemeinsamen Zielen der offenen Koordinierungsmethode in den Bereichen Renten und soziale Eingliederung niedergelegt sind.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Es ist wichtig, dass diese Modernisierung in einer mittel- und langfristigen Perspektive angegangen wird, da das Unterfangen, mehr Menschen auf den Arbeitsmarkt zu bringen, auch mit Kosten verbunden ist, sowohl für die Arbeitslosen und die nicht Erwerbstätigen als auch für den Staat, so dass die Reformen erst einmal erhöhte Kosten mit sich bringen könnten, bevor die wirtschaftliche Belastungen des Staates durch Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung schließlich verringert werden. Öffentliche und private Investitionen in die Vorbereitung der Bevölkerung auf die wissensbasierte Wirtschaft und die kontinuierliche Entwicklung des Humankapitals der erwerbsfähigen Bevölkerung ist zwar ein langfristiger Prozess, der bis zu seinem Abschluss über 20 Jahre in Anspruch nehmen kann, aber dies ist der beste Weg für einen erfolgreichen Umbau des Arbeitsmarkts eines Landes. Für gering qualifizierte Arbeitnehmer sollten öffentliche und private Investitionen getätigt werden, dergestalt dass ihnen sowohl von öffentlichen Einrichtungen als auch von Arbeitgebern Fortbildungsmöglichkeiten geboten werden, so dass sie den sich ändernden Anforderungen einer wissensbasierten Wirtschaft gewachsen sind. Die Auswirkungen langfristiger, angebotsseitiger Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung bestehen in der Verringerung des Angebots gering qualifizierter Arbeit, des Abbaus der Arbeitslosigkeit (insbesondere der Langzeitarbeitslosigkeit), sie steigern die Beschäftigungsquote (insbesondere von Frauen) und sie steigern die Gesamtproduktivität. Diese Ergebnisse sind dauerhaft. Eine rein angebotsorientierte Strategie reicht jedoch nicht aus. Hinzu kommen muss eine Erhöhung der Nachfrage nach Arbeitskräften, d. h. die Erhöhung des Arbeitsplatzangebotes durch eine aktive beschäftigungsfreundliche und beschäftigungsfördernde Wirtschafts- und Finanzpolitik. Einige Mitgliedstaaten, die auf den schnellen Erfolg der beruflichen Unterbringung gering qualifizierter Arbeitnehmer setzten, anstatt qualifiziertes Humankapital heranzubilden, werden jedoch wohl kaum dauerhafte Lösungen für das Dilemma solcher Arbeitnehmer finden, dass sie während ihres Berufslebens nämlich wiederholt Phasen schlecht bezahlter Arbeitsverhältnisse bzw. der Arbeitslosigkeit durchmachen. D. h. die Effekte können, so rasch wie sie sich einstellen, urplötzlich auch wieder ausbleiben. Unmittelbare Auswirkungen sind zwar möglich, können aber ebenso rasch wieder verschwinden, da gering qualifizierte Beschäftigung in der heutigen globalisierten Wirtschaft kein nachhaltiges Auskommen sichert. Deshalb ist hier Kosteneffizienz eine genauso wichtige Parole wie Kostensenkung.

2.2

Zwar bleiben die in den Sozialleistungs- und Steuersystemen vorgesehenen traditionellen finanziellen Anreize der Kern der Maßnahmen, mit denen Arbeit lohnend gemacht werden soll, doch wird anderen Anreizen wie Kinderbetreuung, Zugang und besondere Einrichtungen für Behinderte, Bildung und gute Gesundheitsversorgung in zunehmendem Maße eine ebenfalls wichtige Rolle zuerkannt. Deshalb sind umfassende einzelstaatliche Ansätze mit einem breiten Spektrum finanzieller und sonstiger Anreize zur Förderung der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen eher zu empfehlen als Ansätze, die einseitig auf die eine oder die andere Methode ausgerichtet sind. Auch hier sollten Fragen der Betreuung und der Investitionen in Humankapital unter dem langfristigen Aspekt der Nachhaltigkeit aus der Warte der Empfänger betrachtet werden (z. B. der Kinder der arbeitenden Eltern und nicht der arbeitenden Eltern selbst), da diese Rechte und Maßnahmen eine unumstößliche Grundlage für die beschleunigte Entwicklung von Humankapital im Arbeitsmarktumfeld späterer Jahre bilden. Die EU-Strukturfonds sollten zur besseren Unterstützung gering qualifizierter Arbeitnehmer sowie für langfristig wichtige Investitionen in Humankapital und soziale Infrastrukturen herangezogen werden.

2.3

Viele Mitgliedstaaten legen zwar zusammen mit den Sozialpartnern stärkeres Gewicht auf aktive Maßnahmen, die den Menschen bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt oder einer beruflichen Neuorientierung mittels Verbesserung ihrer Qualifikationen helfen, indem sie ihre Beschäftigungsfähigkeit verbessern, doch muss den ausschlaggebenden Faktoren der Nachfrage nach Arbeitskräften viel mehr Beachtung geschenkt werden, wozu steuerliche Anreize und die Förderung einer guten Arbeitgeberpraxis gehören, damit schwache Gruppen in der Wirtschaft, wie ältere Arbeitnehmer oder Arbeitslose, unterstützt werden. Der EWSA fordert die zuständigen EU-Organe auf, nachfragestimulierende Maßnahmen, die sich positiv auf Umfang und Qualität der Beschäftigung auswirken, zu fördern und zu verbessern. Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer müssen an dem Projekt der Arbeit, die sich lohnt, beteiligt werden. Nachfragestimulierende Maßnahmen erfordern folglich einen ausgewogenen, auf den Vorteil aller Beteiligter bedachten Ansatz. Dieser soll es den Arbeitgebern ermöglichen, sich auf ihre zentralen wirtschaftlichen Tätigkeiten zu konzentrieren und Arbeitsplätze zu schaffen, und die Arbeitssuchenden in die Lage versetzen, Arbeitsplätze finden zu können, deren Lohnniveau über dem Arbeitslosengeld, der Arbeitslosen- oder Sozialhilfe liegt und existenzsichernd sind. Der Ausschuss hat bereits darauf hingewiesen, dass „Steuer- und Sozialleistungssysteme der Mitgliedstaaten (...) so ausgerichtet sein (sollen), dass es sich für Arbeitnehmer lohnt, in den Arbeitsmarkt einzutreten, dort zu bleiben und voranzukommen, (...) und mit Maßnahmen verknüpft (sein müssen), die die Anzahl der zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze steigern“ (2).

2.4

Die öffentliche Unterstützung beim Zusammenbringen von Beruf und Familie soll Familien bei der Wahrnehmung von Aufgaben helfen, die von essenzieller Bedeutung für die Organisation und den Fortbestand der Gesellschaft sind. Im Einzelnen bedeutet dies Unterstützung von Familien bei der Geburt, Betreuung und Erziehung von Kindern und bei der Versorgung pflegebedürftiger, vor allem kranker, behinderter oder älterer Familienangehöriger. Angesichts der Alterung der Bevölkerung gewinnen diese Maßnahmen zunehmend an Bedeutung als ein Mittel, den Trend der sinkenden Geburtenraten umzukehren.

2.5

Es ist jedoch wichtig, dass sich die Art, wie solche Familienleistungen finanziell geregelt sind, nicht negativ auf die Arbeitsanreize auswirkt. In einigen Ländern trägt die Trennung zwischen Familienzulagen für Beschäftigte auf der einen und Leistungen bei Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite dazu bei, die finanziellen Arbeitsanreize, insbesondere für Mütter und ältere Familienangehörige betreuende Frauen, zu erhöhen. Der Mangel an erschwinglicher Kinderbetreuung aufgrund hoher Kosten oder räumlicher Zugänglichkeit gilt als ein wesentliches Hemmnis für die Erwerbsbeteiligung von Eltern, vor allem von Frauen. Deshalb ist es nachdrücklich zu begrüßen und zu unterstützen, dass einem bezuschussten, ausreichenden und erschwinglichen Kinderbetreuungsangebot bei der Förderung vor allem der weiblichen Erwerbsbeteiligung eine Schlüsselrolle zuerkannt wird. In einigen Mitgliedstaaten sehen Frauen im gebärfähigen Alter zusehends davon ab, Kinder zu bekommen, da die mit der Kinderbetreuung verbundenen Personalkosten für Frauen schlichtweg zu hoch sind und auf eine Art Besteuerung arbeitender Mütter hinauslaufen. Mögen diese Verhaltensweisen aus einzelstaatlicher Sicht kurzsichtig erscheinen, so bedeuten sie erst recht ein Sparen der politischen Entscheidungsträger an der falschen Stelle, denn es kann durchaus mehr getan werden, um den ständigen Geburtenrückgang in Europa zu stoppen, indem gewährleistet wird, dass durch nicht-finanzielle Anreize die Beschäftigungsquote von Frauen gesteigert wird.

2.6

Berufliche und geografische Mobilität sind für ein hohes Maß an wirtschaftlicher Effizienz entscheidend. Deshalb müssen Maßnahmen ergriffen werden, die dafür sorgen, dass Ansprüche aus gesetzlichen und betrieblichen Altersversorgungssystemen bei einem Wechsel des Arbeitgebers oder des Wohnsitzes innerhalb der EU erhalten bleiben. Wichtig ist es auch, an diejenigen zu denken, die eine Beschäftigung aufnehmen oder die von Arbeitnehmern zu Unternehmern werden, damit sie angemessenen sozialen Schutz genießen. Es bestehen ebenfalls Spielräume zur Reduzierung einer nur zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit dienenden Mobilität, indem stagnierende lokale Wirtschaften mittels öffentlich-privater Partnerschaften, die sich auf lokale Arbeitsmärkte konzentrieren, belebt werden. Eine höhere berufliche Mobilität kann einerseits zwar zu einer Verlagerung spezieller Qualifikationen von einem Gebiet in ein anderes führen, doch bewirkt Mobilität andererseits auch, dass der Einzelne frei dorthin übersiedeln kann, wo es eine effektive Nachfrage nach seinen Fertigkeiten gibt und Chancen für die Ausnutzung eines Technologietransfers bestehen, der seine gegenwärtigen Qualifikationen aufwertet. Deshalb darf Mobilität nicht nur kurzsichtig als Verlust betrachtet werden, sondern vielmehr als eine wirkungsvollere Allokation relevanter Qualifikationen und Talente dort, wo sie am meisten nachgefragt werden.

2.7

Körperliche und geistige Erwerbsunfähigkeit verringert das Arbeitskräfteangebot deutlich, insbesondere in der Altersklasse der 50- und 60-Jährigen, die eine vorrangige Zielgruppe der europäischen Strategie „Arbeit lohnend machen“ sind. In manchen Mitgliedstaaten beziehen bis zu einem Fünftel oder sogar einem Viertel der Personen in den Altersgruppen 55-59 und 60-64 eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Diese Tatsache deutet auf erhebliche Belastungen in der gegenwärtigen Arbeitswelt mit hohem physischen und psychischen Verschleiß hin. Diesem Problem, das mit arbeitsmedizinischen Fragen verbunden ist, muss durch geeignete Strategien des präventiven Arbeits- und Gesundheitsschutzes und der Verbesserung der Arbeitsbedingungen begegnet werden. Soweit keine vollständige Erwerbsunfähigkeit, sondern lediglich eine Erwerbsminderung besteht, sind die Möglichkeiten für die Betroffenen, einen ihren Einschränkungen entsprechenden, angepassten Arbeitsplatz zu bekommen, gering. Daher muss das Angebot an Arbeitsplätzen in diesem Bereich erhöht werden, um auch eingeschränkt erwerbsfähigen Menschen eine Chance zu geben. Viele Menschen, die sich in dieser Lage verschleierter Arbeitslosigkeit befinden, würden aber gerne eine Erwerbstätigkeit auszuüben, insofern sie noch leistungsfähig genug sind. Die Mitgliedstaaten müssen notwendige Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass behinderte Arbeitnehmer durch Arbeitslosen- und Arbeitsunfähigkeitsleistungen nicht in die ausweglose Lage der Arbeitslosigkeit gezwungen werden, sondern dass vielmehr die unterschiedlichen Bereiche der Sozialpolitik im Interesse der behinderten Arbeitnehmer einander stärker ergänzen. Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass es verschiedene Grade der Behinderung, sprich: verminderter Erwerbsfähigkeit gibt und ein neuer Denkansatz Behinderung als eine Reaktion der Gesellschaft auf eine Person definiert, die dadurch erst als behindert eingestuft wird, statt als eine körperliche oder sonstige Einschränkung an sich, die bestimmt, ob eine Person behindert ist oder nicht. Der Ausschuss möchte in diesem Zusammenhang vor Maßnahmen warnen, die zur unbeabsichtigten Verschleierung der tatsächlichen Arbeitslosenrate führen. Engere Zusammenarbeit zur Beachtung und Verbesserung des Austausches vorbildlicher Maßnahmen im Bereich der Berufsunfähigkeit in den verschiedenen Mitgliedstaaten, die die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen wahren und ihnen gerecht werden, sind wichtig. Ebenfalls erforderlich ist ein offener koordinierter Rahmen für bewährte Praktiken und erfolgreiche Maßnahmen im Sinne der Bereitstellung von Leistungen, die der Förderung von Beschäftigung und Selbstständigkeit aller unabhängig von ihrer körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit dienen.

2.8

Der Europäische Rat von Stockholm hat im Bereich älterer Arbeitnehmer das ehrgeizige Ziel formuliert, die Beschäftigungsquote von Personen im Alter zwischen 55 und 64 Jahren auf 50 % zu heben (2002 lag diese Quote bei 40,1 %, für die Altersgruppe 60-64 Jahre sogar lediglich bei 25 %). Der Europäische Rat von Barcelona hatte den Mitgliedstaaten ein ergänzendes, ebenfalls ehrgeiziges Ziel gesetzt, bis 2010 das durchschnittliche effektive Renteneintrittsalter um fünf Jahre zu erhöhen. Von dem Erreichen dieser Ziele hängt entscheidend ab, ob die zukünftige finanzielle Nachhaltigkeit des Sozialschutzes gesichert und insbesondere ob ein angemessenes Einkommen für zukünftige Rentner gewährleisten werden kann. Der Ausschuss hält dies grundsätzlich für eine sinnvolle Zielsetzung, sofern der Arbeitsmarkt auch eine Beschäftigung älterer Arbeitnehmer zulässt und besondere Maßnahmen für ältere Arbeitnehmer getroffen werden, die deren Arbeitsmarktchancen nachhaltig verbessern. Ohne ausreichende altersgerechte Arbeitsplätze hätte diese Forderung vor allem steigende Altersarbeitslosigkeit und Rentenkürzungen zur Folge.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1

Neben spezifischen, gezielten wirtschaftspolitischen Maßnahmen ist das Vorhaben, Arbeit lohnend zu machen, eine Frage des Prozesses. Ein reformwürdiger Bereich ist die Lage von Arbeitnehmern, die vorzeitig vor Erreichen des Renteneintrittsalters aus dem Erwerbsleben ausscheiden. So können beispielsweise in vielen Mitgliedstaaten Personen mit langen Beitragszeiten vor dem üblichen Rentenalter Rente beanspruchen, was allerdings häufig mit erheblichen finanziellen Nachteilen verbunden ist. Diese Arbeitnehmer könnten eventuell immer noch einen wirtschaftlichen Beitrag leisten, und eine Entscheidung dafür sollte erleichtert werden, insbesondere durch die Schaffung altersgerechter Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt. Ein vorzeitiges Ausscheiden von Frauen aus der Erwerbstätigkeit ist nicht immer Ergebnis einer freiwilligen Entscheidung, sondern steht häufig in Zusammenhang mit frauenfeindlicher Diskriminierung am Arbeitsplatz. Dies wirkt sich auch auf Rentenansprüche von Frauen aus, die ihre berufliche Laufbahn zumeist wegen Schwangerschaft und Kinder/Altenbetreuung unterbrochen haben, in unsichere „weibliche“ Niedriglohnbeschäftigungen abgedrängt wurden und unter dem geschlechtspezifischen Lohngefälle zu leiden hatten, wodurch sich Länge, Zahl und Höhe ihrer Beitragszahlungen zu Altersversorgungssystemen verringert und ihre wirtschaftlichen Ruhestandsperspektiven durch vorzeitigen Abbruch ihrer bezahlten Tätigkeit noch weiter verschlechtert haben. Armut als zusehends weibliches Phänomen gibt seit langem schon Anlass zur Sorge, und die Überalterung Europas macht es erforderlich, dass sich die Politik umgehend um die Verbesserung der wirtschaftlichen Möglichkeiten von Frauen in allen Lebensphasen kümmert. So wäre etwa eine höhere Bewertung von Ersatzzeiten für die Zeiten der Kinderbetreuung in der Berechnung der Pensionsansprüche eine wesentliche Maßnahme, die Nachwirkungen der Benachteiligung von Frauen im aktiven Berufsleben in der Zeit des Ruhestandes abzumildern vermag.

3.2

Ein weiterer Bereich, in dem allgemeine Tatenlosigkeit überwunden und geeignete Verwaltungsreformen durchgeführt werden müssen, ist die Gewährleistung der Gleichstellung von Frauen und Männern bei Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität der Arbeit. In einigen der neuen Mitgliedstaaten wird der Zugang von Frauen zur Beschäftigung durch zahlreiche sozial- und beschäftigungspolitische Maßnahmen eingeschränkt, während in anderen mit zusätzlichen steuer- und sozialpolitischen Maßnahmen eine hohe weibliche Erwerbsquote gefördert wird. Diese vormals hohen Erwerbsquoten sind während des Übergangs zur Marktwirtschaft gesunken. Es ist von großer Bedeutung, dass die von Arbeitnehmerinnen erzielten Fortschritte auf dem Weg zur vollen Beteiligung am Arbeitsmarkt nicht einem für Gleichstellungsfragen blinden Ansatz für die Umstrukturierung dieser Volkswirtschaften geopfert werden. Einzelstaatliche Entscheidungsträger müssen aufgefordert werden, denjenigen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen Priorität einzuräumen, für die Arbeit, die sich lohnt, die größte Herausforderung darstellt, anstatt weiterhin so zu tun, als ob alle Kategorien von Unterbeschäftigten oder Arbeitslosen gleichermaßen benachteiligt seien.

4.   Besondere Bemerkungen zu den sieben Lektionen der Kommission

4.1

Erste Lektion: Der EWSA ist der Auffassung, dass die Möglichkeit der Einführung neuer Sozialschutzinstrumente ungeachtet eines besseren Einsatzes des bestehenden Instrumentariums nicht ausgeschlossen werden darf, sondern vielmehr weiterentwickelt und auf gegenseitige Ergänzung ausgerichtet werden sollte. So entsprechen zum Beispiel die stark zersplitterten und uneinheitlichen Leistungssysteme für junge Leute offenbar nicht mehr der neuen Realität der längeren Dauer dieses Lebensabschnitts. Da es für diese Altersgruppe keine spezifischen Instrumente des Sozialschutzes gibt, sieht sich ein Teil der Jugend gezwungen, sich hastig für einen schlecht qualifizierten Bildungsweg oder eine solche berufliche Bildung zu entscheiden — mit schwerwiegenden Folgen für die gesamte Dauer ihres Lebens und mit entsprechenden Auswirkungen auf die Sozialausgaben der öffentlichen Hand. Es mangelt an neuen Instrumenten des Sozialschutzes für das gesamte Erwerbsleben, in dem Zeitabschnitte der Ausbildung, der Erwerbstätigkeit und der Übernahme anderer Pflichten aufeinander folgen, ohne dass dies zu Ausgrenzung oder Armut führt, wobei dieser Mangel die Mobilität und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt beträchtlich einschränkt (sechste Lektion).

4.2

Der EWSA hält es für äußerst wichtig, genau zu beobachten, wie sich die zahlreichen Initiativen, die die Mitgliedstaaten zur „Aktivierung“ der Sozialleistungen eingeleitet haben, mittelfristig auswirken.

4.3

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Zeit für starke europäische Anreize (vor allem im Hinblick auf die Sozialpartner und in Zusammenarbeit mit ihnen) für eine Abstimmung der ergänzenden Sozialschutzsysteme gekommen ist, die ja nach Auffassung der Kommission zunehmend zu einem wichtigen Element des sozialen Schutzes werden (siebte Lektion).

5.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

5.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss fordert die Mitgliedstaaten zu gleichlaufenden Anstrengungen auf, damit sich Arbeit lohnt, indem sie Beschäftigung zu einer wirtschaftlich wirklich attraktiven Alternative zu Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfebezug machen und dazu alle Hindernisse, die einer Erwerbstätigkeit im Wege stehen, ins Visier nehmen. Einzelstaatliche Maßnahmen müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit geringem Einkommen und geringer Qualifikation Beschäftigung ermöglichen und Armuts- und Arbeitslosigkeitsfallen vermeiden. Deshalb ist die Hauptaufgabe der Mitgliedstaaten zur Steigerung der Attraktivität der Arbeit, ein gemeinsames und angemessenes Niveau von Hilfen für Arbeitsaufnahme und Arbeitslosigkeit zu schaffen, die den Menschen einen Anreiz bieten, weiter im Arbeitsmarkt zu verbleiben. Der Ausschuss unterscheidet zwischen auf kurzfristige, kurzlebige Erfolge ausgerichteten Maßnahmen für gering qualifizierte Arbeitnehmer und langfristigeren Investitionen in das Humankapital, die der Schlüssel zu dem Ziel sind, Arbeit langfristig und nachhaltig lohnend zu machen, insbesondere für die schwächsten Gruppen auf dem Arbeitsmarkt.

5.2

Der Ausschuss weist auf die maßgeblichen Möglichkeiten für Beiträge privater Unternehmen und Arbeitgeber hin, um die europäischen Beschäftigungsziele zu erreichen. Dabei sollte nach praktikablen nachfrageseitigen Maßnahmen gesucht werden, die auf das gewandelte Arbeitgeberverhalten eingehen, um den Ziele der Lissabon-Strategie für bessere und nachhaltige Beschäftigung in ganz Europa zu entsprechen. Die Europäische Kommission sollte Beispiele und Erfahrungen für Fälle zusammentragen und verbreiten, in denen Unternehmen durch ihr bedachtes Verhalten mehr und bessere Arbeitsplätze geschaffen haben, sowie nach Möglichkeiten zur Reproduzierung solcher Erfolge suchen.

5.3

Neben der Förderung vorbildlicher Praktiken muss unangemessenes Unternehmerverhalten einschließlich Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der sexuellen Ausrichtung, der Religion oder des Alters sanktioniert werden, um Innovation, verstärkte Beschäftigung und die Möglichkeit längerer Lebensarbeitszeiten in den europäischen Wirtschaftssystemen zu fördern. Diskriminierungen in der Arbeitswelt drängen fähige Arbeitnehmer in den Graubereich oder informellen Sektor mit niedriger Produktivität, geringen Ausbildungs- und Investitionsanreizen und fehlendem Sozialschutz. Solch irrationales Wirtschaftsverhalten beeinträchtigt nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit Europas, sondern beraubt auch die Volkswirtschaften dringend benötigter Steuereinnahmen.

5.4

Deshalb muss in den Mitgliedstaaten eine Reihe von Mechanismen und Leistungssystemen angewandt werden, in denen Instrumente zur Steuerung des Arbeitskräfteangebots und der Arbeitskräftenachfrage in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Die kombinierten Auswirkungen von Leistungen und Einkommenssteuersätzen auf die Haushalte müssen sorgfältig abgewogen und abgeschätzt werden. Besondere Aufmerksamkeit ist dabei den Anreizstrukturen zu widmen, die diese kombinierten Effekte für einkommensschwache Haushalte darstellen. Sonstige Maßnahmen, wie Kinderbetreuungsangebote, flexible Arbeitszeiten, Arbeitsplatzsicherheit Arbeitsmobilität und Fortbildungsangebote sind ebenfalls wesentliche Bestandteile eines umfassenden Maßnahmenkatalogs für Arbeit, die sich lohnt.

Brüssel, den 1. Juli 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Jobs, Jobs, Jobs — Mehr Beschäftigung in Europa schaffen — Bericht der Task-Force Beschäftigung unter dem Vorsitz von Wim Kok, 26. November 2003. Siehe ebenfalls Stellungnahme des EWSA zu „Beschäftigungspolitischen Maßnahmen“ — ABl. C 110 vom 30.4.2004.

(2)  Siehe Stellungnahme des EWSA zu den „Beschäftigungspolitischen Maßnahmen“, ABl. C 110 vom 30.4.2004, Ziffer 4.1.


Top