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Document 62024CO0089(01)

    Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 11. April 2024.
    Lagardère SA gegen Europäische Kommission.
    Rechtsmittel – Vorläufiger Rechtsschutz – Wettbewerb – Zusammenschlüsse – Medienmarkt – Auskunftsverlangen – Personenbezogene Daten – Dringlichkeit – Begehung einer Straftat.
    Rechtssache C-89/24 P(R).

    ; Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:312

     BESCHLUSS DES VIZEPRÄSIDENTEN DES GERICHTSHOFS

    11. April 2024 ( *1 )

    „Rechtsmittel – Vorläufiger Rechtsschutz – Wettbewerb – Zusammenschlüsse – Medienmarkt – Auskunftsverlangen – Personenbezogene Daten – Dringlichkeit – Begehung einer Straftat“

    In der Rechtssache C‑89/24 P(R)

    betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 57 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 2. Februar 2024,

    Lagardère SA mit Sitz in Paris (Frankreich), vertreten durch G. Aubron, C. Bocket und D. Théophile, Avocats,

    Rechtsmittelführerin,

    andere Partei des Verfahrens:

    Europäische Kommission, vertreten durch P. Caro de Sousa, B. Cullen und D. Viros als Bevollmächtigte,

    Beklagte im ersten Rechtszug,

    erlässt

    DER VIZEPRÄSIDENT DES GERICHTSHOFS

    nach Anhörung des Generalanwalts M. Szpunar

    folgenden

    Beschluss

    1

    Mit ihrem Rechtsmittel begehrt die Lagardère SA die Aufhebung des Beschlusses des Präsidenten des Gerichts der Europäischen Union vom 19. Januar 2024, Lagardère/Kommission (T‑1119/23 R, im Folgenden: angefochtener Beschluss, EU:T:2024:16), mit dem dieser ihren Antrag zurückgewiesen hat, der zum einen auf die Aussetzung der Vollziehung des Beschlusses C(2023) 6429 final der Kommission vom 19. September 2023 in einem Verfahren nach Artikel 11 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates (Sache M.11184 – Vivendi/Lagardère) in der durch den Beschluss C(2023) 7464 final der Kommission vom 27. Oktober 2023 geänderten Fassung (im Folgenden: streitiger Beschluss) und zum anderen, vorsorglich, darauf abzielte, Lagardère zu verpflichten, sämtliche Dokumente der von dem streitigen Beschluss betroffenen Personen aufzubewahren, die für die Untersuchung der Europäischen Kommission von Interesse sein können.

    Vorgeschichte des Rechtsstreits

    2

    Die Vorgeschichte des Rechtsstreits ist in den Rn. 2 bis 8 des angefochtenen Beschlusses dargestellt. Sie lässt sich für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens wie folgt zusammenfassen.

    3

    Am 24. Oktober 2022 meldete die Vivendi SE bei der Kommission einen Zusammenschluss in Form des Erwerbs der alleinigen Kontrolle über Lagardère an. Am 9. Juni 2023 wurde dieser Zusammenschluss von der Kommission vorbehaltlich der Einhaltung der von Vivendi eingegangenen Verpflichtungen genehmigt.

    4

    Am 25. Juli 2023 unterrichtete die Kommission Vivendi über die Einleitung einer förmlichen Untersuchung wegen einer möglichen Vorwegnahme des Zusammenschlusses. Im Rahmen dieses Verfahrens richtete die Kommission mit dem Beschluss C(2023) 6429 final vom 19. September 2023 an Lagardère ein Auskunftsverlangen und setzte ihr dafür eine Frist bis zum 27. Oktober 2023. Mit dem Beschluss C(2023) 7464 final vom 27. Oktober 2023 verlängerte die Kommission diese Frist bis zum 1. Dezember 2023.

    Verfahren vor dem Gericht und angefochtener Beschluss

    5

    Mit Klageschrift, die am 27. November 2023 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob Lagardère Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses.

    6

    Mit gesondertem Schriftsatz, der am 28. November 2023 bei der Kanzlei des Gerichts einging, stellte Lagardère einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, mit dem sie zum einen die Aussetzung der Vollziehung des streitigen Beschlusses und zum anderen vorsorglich beantragte, sie zu verpflichten, sämtliche Dokumente der von diesem Beschluss betroffenen Personen aufzubewahren, die für die Untersuchung der Kommission von Interesse sein können.

    7

    Mit Beschluss vom 29. November 2023, Lagardère/Kommission (T‑1119/23 R), der auf der Grundlage von Art. 157 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichts erlassen wurde, ordnete der Präsident des Gerichts die Aussetzung der Vollziehung des streitigen Beschlusses bis zum Erlass des das Verfahren in der Rechtssache T‑1119/23 R beendenden Beschlusses an, unbeschadet der Verpflichtung von Lagardère, weiterhin Informationen zu sammeln und alle von diesem Beschluss betroffenen Dokumente, die für die Untersuchung der Kommission von Interesse sein können, auf einem elektronischen Datenträger aufzubewahren.

    8

    Mit dem angefochtenen Beschluss hat der Präsident des Gerichts den in Rn. 6 des vorliegenden Beschlusses genannten Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz mit der Begründung zurückgewiesen, dass Lagardère das Vorliegen der Voraussetzung der Dringlichkeit nicht nachgewiesen habe, und seinen Beschluss vom 29. November 2023 (T‑1119/23 R) aufgehoben.

    9

    Erstens hat der Präsident des Gerichts in Rn. 29 des angefochtenen Beschlusses entschieden, dass die Gefahr, dass Lagardère mit Zwangsgeldern oder Geldbußen belegt werde, in dem Verfahrensstadium, in dem dieser Beschluss ergehen solle, hypothetischer Natur sei.

    10

    Zweitens hat er in Rn. 39 dieses Beschlusses festgestellt, dass auch das Vorbringen zurückzuweisen sei, wonach aufgrund der Gefahr einer Verletzung der Privatsphäre der Arbeitnehmer und Unternehmensvertreter von Lagardère ein Schaden entstehen könne. Insoweit führte er in den Rn. 40 bis 42 dieses Beschlusses u. a. aus, Lagardère habe nicht in rechtlich hinreichender Weise nachgewiesen, dass sie der Gefahr strafrechtlicher Sanktionen ausgesetzt sei.

    Anträge der Parteien des Rechtsmittelverfahrens und Verfahren vor dem Gerichtshof

    11

    Lagardère beantragt,

    den angefochtenen Beschluss aufzuheben;

    festzustellen, dass der von ihr in der Rechtssache T‑1119/23 R gestellte Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz dringlich ist;

    die Sache im Übrigen an das Gericht zurückzuverweisen oder, falls sich der Gerichtshof für hinreichend unterrichtet hält, endgültig über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zu entscheiden;

    die ihr durch den streitigen Beschluss in der Fassung des Beschlusses C(2024) 572 final der Kommission vom 24. Januar 2024 auferlegte Verpflichtung auszusetzen, Dokumente in privaten oder persönlichen Mailboxen und privaten oder persönlichen Mobilgeräten bestimmter Arbeitnehmer und Unternehmensvertreter von Lagardère zu sammeln und der Kommission zu übermitteln, bis der Präsident des Gerichts erneut über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz in der Rechtssache T‑1119/23 R entscheidet oder, hilfsweise, bis zur Entscheidung des Gerichts über die Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses;

    der Kommission die Kosten beider Rechtszüge aufzuerlegen.

    12

    Die Kommission beantragt,

    das Rechtsmittel zurückzuweisen und

    Lagardère die Kosten aufzuerlegen.

    13

    Mit Beschluss vom 6. Februar 2024, Lagardère/Kommission (C‑89/24 P[R]‑R, EU:C:2024:120), der auf der Grundlage von Art. 160 Abs. 7 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ergangen ist, hat der Vizepräsident des Gerichtshofs angeordnet, die Lagardère durch den streitigen Beschluss auferlegte Verpflichtung, Dokumente in privaten oder persönlichen Mailboxen und privaten oder persönlichen Mobilgeräten bestimmter Arbeitnehmer und Unternehmensvertreter von Lagardère zu sammeln und der Kommission zu übermitteln, bis zum Erlass des das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes in der Rechtssache C‑89/24 P(R)‑R beendenden Beschlusses oder des Beschlusses, mit dem über das vorliegende Rechtsmittel entschieden wird, je nachdem, welcher von ihnen zuerst ergeht, auszusetzen, unbeschadet der Verpflichtung von Lagardère, alle zweckdienlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Aufbewahrung all dieser Dokumente sicherzustellen.

    Zum Rechtsmittel

    14

    Lagardère stützt ihr Rechtsmittel auf drei Gründe, mit denen sie erstens eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens und des Briefgeheimnisses, zweitens einen offensichtlichen Fehler bei der Beurteilung des geltend gemachten Schadens und drittens eine Verletzung der Verteidigungsrechte rügt.

    Zum ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes

    Vorbringen

    15

    Mit dem ersten Teil ihres ersten Rechtsmittelgrundes macht Lagardère geltend, der Präsident des Gerichts habe ihren Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz dadurch verfälscht, dass er ihn in Rn. 40 des angefochtenen Beschlusses als besonders lückenhaft bezeichnet habe.

    16

    Die in dieser Randnummer enthaltene Feststellung des Präsidenten des Gerichts, dass der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz weder einen Hinweis auf den Straftatbestand noch nähere Angaben zur Strafdrohung enthalte, sei falsch. So seien die einschlägigen französischen Rechtsvorschriften in den Rn. 35 und 38 des Antrags klar und deutlich genannt worden. Außerdem habe sie als Anlage zu diesem Antrag ein Schriftstück über die Konsultation eines auf den Bereich des Schutzes der Privatsphäre im Zusammenhang mit neuen Technologien spezialisierten Rechtsanwalts vorgelegt, in dem auf diese Rechtsvorschriften Bezug genommen werde.

    17

    Daher habe der Präsident des Gerichts in Rn. 41 des angefochtenen Beschlusses zu Unrecht festgestellt, dass der von ihr geltend gemachte Schaden nicht hinreichend belegt sei.

    18

    Die Kommission macht in erster Linie geltend, dass der erste Rechtsmittelgrund insgesamt ins Leere gehe. Mit ihm werde dem Präsidenten des Gerichts nämlich in Wirklichkeit vorgeworfen, die Voraussetzung des fumus boni iuris nicht geprüft zu haben, obwohl es ihm freigestanden habe, sich auf die Feststellung zu beschränken, dass die Voraussetzung der Dringlichkeit nicht erfüllt sei.

    19

    Hilfsweise macht die Kommission geltend, der erste Teil des ersten Rechtsmittelgrundes sei unbegründet. Sie weist insoweit darauf hin, dass im Vorbringen zur Dringlichkeit im Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz weder klargestellt werde, auf welchen Straftatbestand sich Lagardère berufe, noch, welche Strafe ihr angeblich drohe.

    Würdigung

    20

    Da mit dem ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes unmittelbar die Erwägungen zur Voraussetzung der Dringlichkeit in den Rn. 40 und 41 des angefochtenen Beschlusses beanstandet werden, kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Teil auf die Rüge gestützt wird, der Präsident des Gerichts habe es zu Unrecht unterlassen, über die Voraussetzung des fumus boni iuris zu entscheiden.

    21

    Folglich ist das Vorbringen der Kommission, wonach der erste Rechtsmittelgrund insgesamt ins Leere gehe, zurückzuweisen, so dass die Begründetheit seines ersten Teils zu prüfen ist.

    22

    Insoweit ist festzustellen, dass der Präsident des Gerichts in Rn. 40 des angefochtenen Beschlusses den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz in Bezug auf die Gefahr strafrechtlicher Sanktionen, der Lagardère ausgesetzt wäre, als „besonders lückenhaft“ bezeichnet hat, da darin von der „Möglichkeit solcher Sanktionen die Rede [ist], ohne dass auf den Straftatbestand Bezug genommen wird und ohne dass nähere Angaben zur Strafdrohung gemacht würden“. In Rn. 41 dieses Beschlusses hat der Präsident des Gerichts daraus geschlossen, dass der von Lagardère behauptete Schaden nicht hinreichend belegt sei.

    23

    Wie Lagardère geltend macht, enthalten jedoch mehrere Bestandteile ihres Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz nähere Angaben zu den Bestimmungen des französischen Rechts, aufgrund deren sie ihrer Ansicht nach strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnte, wenn sie dem streitigen Beschluss nachkommen würde, und zu den in einem solchen Fall drohenden Strafen.

    24

    So hat Lagardère zunächst in Rn. 35 ihres Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz dargelegt, dass die Verletzung des Briefgeheimnisses nach französischem Recht gemäß Art. 226-1 des französischen Strafgesetzbuchs strafbar sei. Darüber hinaus hat sie diese Bestimmung wörtlich zitiert und ausgeführt, dass ihre Nichtbeachtung mit einem Jahr Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe in Höhe von 45000 Euro bedroht sei.

    25

    Sodann hat Lagardère in Rn. 38 ihres Antrags mehrere weitere Bestimmungen des französischen Strafrechts angeführt, die ihrer Ansicht nach auf sie anwendbar sein könnten, und zwar die Art. L. 223-6 und R. 226-1 bis 4 des französischen Strafgesetzbuchs, ohne sie jedoch wörtlich zu zitieren.

    26

    Schließlich hat Lagardère in Rn. 75 ihres Antrags als Beleg für das Vorliegen einer Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens auf ein als Anlage beigefügtes Schriftstück über die Konsultation eines Anwalts hingewiesen. Darin werden u. a. der Wortlaut und die Tragweite der Art. 226-1 und 226-15 des französischen Strafgesetzbuchs dargelegt.

    27

    Somit hat der Präsident des Gerichts den Antrag von Lagardère auf vorläufigen Rechtsschutz verfälscht, als er sich in Rn. 40 des angefochtenen Beschlusses das Vorbringen der Kommission zu eigen gemacht hat, wonach dieser Antrag „besonders lückenhaft“ sei, da darin von der Gefahr strafrechtlicher Sanktionen die Rede sei, „ohne dass auf den Straftatbestand Bezug genommen wird und ohne dass nähere Angaben zur Strafdrohung gemacht würden“.

    28

    Diese Beurteilung kann nicht durch den von der Kommission hervorgehobenen Umstand in Frage gestellt werden, dass die in den Rn. 24 bis 26 des vorliegenden Beschlusses angeführten Angaben zu den einschlägigen Vorschriften des französischen Rechts nicht in dem Teil des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz enthalten sind, der sich auf die Voraussetzung der Dringlichkeit bezieht, sondern in dem Teil, der die Voraussetzung des fumus boni iuris betrifft.

    29

    Zum einen ergibt sich schon aus der Formulierung, die der Präsident des Gerichts in Rn. 40 des angefochtenen Beschlusses verwendet hat, dass er die „Lückenhaftigkeit“ nicht in Bezug auf das Vorbringen von Lagardère zur Voraussetzung der Dringlichkeit festgestellt hat, sondern in Bezug auf den gesamten „Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz“.

    30

    Zum anderen kann insbesondere angesichts der das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kennzeichnenden Schnelligkeit und der Anforderungen an den Umfang der beim Gericht eingereichten Verfahrensschriftstücke vom Antragsteller nicht verlangt werden, dass er in dem der Voraussetzung der Dringlichkeit gewidmeten Teil seines Antrags systematisch Ausführungen zu tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten wiederholt, die bereits in einem anderen Teil des Antrags vorgebracht wurden und die für die Beurteilung von zwei oder mehr Voraussetzungen des Erlasses einstweiliger Anordnungen relevant sind.

    31

    Folglich ist dem ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes stattzugeben.

    32

    Allerdings reicht die Feststellung, dass der Antrag in Rn. 40 des angefochtenen Beschlusses verfälscht wurde, für sich allein nicht aus, um zu dessen Aufhebung zu führen. Der Präsident des Gerichts hat nämlich in Rn. 42 dieses Beschlusses die Zurückweisung des Vorbringens von Lagardère zur möglichen Anwendung des französischen Strafrechts ergänzend mit einem weiteren Grund gerechtfertigt.

    33

    Da dieser Grund mit dem ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes beanstandet wird, ist er zu prüfen.

    Zum ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes

    Vorbringen

    34

    Mit dem ersten Teil ihres zweiten Rechtsmittelgrundes macht Lagardère geltend, sie habe in ihrem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz klar dargelegt, dass die Voraussetzung der Dringlichkeit erfüllt sei, weil der streitige Beschluss sie verpflichte, Ermittlungshandlungen vorzunehmen, die nach französischem Recht als Straftaten eingestuft werden könnten.

    35

    Somit ergebe sich die Dringlichkeit, auf die sie sich berufe, daraus, dass sie erstens bei der Umsetzung des streitigen Beschlusses eine Straftat begehen würde, wegen der ihr zweitens strafrechtliche Sanktionen drohten. Die Begehung einer solchen Straftat stelle als solche einen Schaden für sie dar. Der Präsident des Gerichts habe daher zu Unrecht angenommen, dass der von ihr geltend gemachte Schaden hypothetischer Natur sei.

    36

    Die Kommission macht in erster Linie geltend, im vorliegenden Fall könne nicht davon ausgegangen werden, dass der mit der Anwendung des französischen Strafrechts verbundene Schaden hinreichend gewiss sei, da der Präsident des Gerichts in den Rn. 40 und 41 des angefochtenen Beschlusses entschieden habe, dass die Gefahr für Lagardère, mit strafrechtlichen Sanktionen belegt zu werden, nicht hinreichend untermauert worden sei.

    37

    Hilfsweise trägt die Kommission vor, der Präsident des Gerichts habe die in Rn. 42 dieses Beschlusses dargelegte Beurteilung zu Recht vorgenommen, da das Strafverfahren darauf abziele, sowohl das Vorliegen einer Straftat als auch die Sanktion für sie festzustellen. Das Vorliegen einer Straftat sei zum Zeitpunkt seiner Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hypothetisch gewesen.

    38

    Äußerst hilfsweise trägt die Kommission vor, Lagardère weise nicht nach, dass es rechtlich unmöglich sei, den streitigen Beschluss umzusetzen, da ein Arbeitgeber nicht verpflichtet sei, die Einwilligung seiner Arbeitnehmer einzuholen, um in Anwendung eines Beschlusses der Kommission personenbezogene Daten zu erheben.

    Würdigung

    39

    Da die Prüfung des ersten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes ergeben hat, dass die Rn. 40 und 41 des angefochtenen Beschlusses auf einer Verfälschung des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz beruhen, ist vorab festzustellen, dass die in diesen Randnummern dargelegten Beurteilungen nicht mit Erfolg geltend gemacht werden können, um die Zurückweisung des ersten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes zu rechtfertigen.

    40

    In Rn. 42 des angefochtenen Beschlusses hat der Präsident des Gerichts festgestellt, dass die von Lagardère geltend gemachte Gefahr hypothetischer Natur sei. Er hat ausgeführt, dass die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen notwendigerweise auf einer Gesamtheit von Handlungen beruhe, die insbesondere von den auf nationaler Ebene zuständigen Strafverfolgungsbehörden oder den potenziellen Opfern von Vorgängen, die als Straftaten eingestuft werden könnten, vorzunehmen seien. Er hat daraus geschlossen, dass es in diesem Stadium des Verfahrens zumindest verfrüht sei, geltend zu machen, dass die Umsetzung des streitigen Beschlusses Lagardère aller Wahrscheinlichkeit nach der Gefahr einer strafrechtlichen Sanktion aussetzen würde.

    41

    Insoweit ist hervorzuheben, dass mit dem Vorbringen von Lagardère in ihrem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach ihren Angaben insbesondere dargetan werden sollte, dass der streitige Beschluss, indem er sie zur Verletzung ihrer rechtlichen Verpflichtungen zwinge, sie und ihre Vertreter einem schweren Schaden aussetze, „einschließlich strafrechtlicher Sanktionen in Form von Geldstrafen und Freiheitsstrafen“. In Rn. 148 dieses Antrags hieß es weiter, dass der geltend gemachte Schaden irreparabel wäre, „da der Verstoß gegen die [in Rede stehenden] Rechtsvorschriften endgültig und unabänderlich eingetreten sei“.

    42

    Folglich ist zum einen festzustellen, dass der von Lagardère geltend gemachte Schaden nicht nur auf die etwaige Verhängung strafrechtlicher Sanktionen zurückzuführen ist, sondern auch darauf, dass Lagardère zur Begehung von Straftaten gezwungen wird.

    43

    Rn. 42 des angefochtenen Beschlusses bezieht sich nur auf die Gefahr, mit einer strafrechtlichen Sanktion belegt zu werden, und enthält daher keine Antwort auf das Vorbringen von Lagardère, mit dem ein Schaden geltend gemacht wird, der sich daraus ergibt, dass sie zur Begehung von Straftaten gezwungen wäre.

    44

    Was zum anderen die Gefahr einer strafrechtlichen Sanktion betrifft, so geht sowohl aus dem Antrag von Lagardère auf vorläufigen Rechtsschutz als auch aus der Zusammenfassung ihres Vorbringens in Rn. 21 des angefochtenen Beschlusses hervor, dass Lagardère, wie sie zur Stützung ihres Rechtsmittels geltend macht, das Bestehen dieser Gefahr nachweisen wollte, indem sie sich darauf berief, dass sie, um dem streitigen Beschluss nachzukommen, notwendigerweise Straftaten begehen müsste, die die Verhängung einer solchen Sanktion rechtfertigen könnten.

    45

    Daraus folgt, dass der Zusammenhang zwischen der Anwendung des streitigen Beschlusses und der möglichen Verhängung strafrechtlicher Sanktionen, auf den sich Lagardère berufen hat, nicht darin bestand, dass solche Sanktionen auf der Grundlage dieses Beschlusses gegen sie verhängt werden konnten, sondern darin, dass Lagardère nach ihren Angaben, um dem in diesem Beschluss enthaltenen Auskunftsverlangen der Kommission nachzukommen, wegen des Verstoßes gegen das einschlägige Strafrecht zwangsläufig strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnte.

    46

    Die Begehung von Handlungen, aufgrund deren Lagardère strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnte, hängt jedoch allein von ihrem Verhalten ab und nicht von der Einleitung oder dem späteren Ausgang eines Strafverfahrens gegen sie.

    47

    Da der Präsident des Gerichts das in Rn. 44 des vorliegenden Beschlusses dargelegte Vorbringen nicht zurückgewiesen hat, konnte er die Gefahr, dass Lagardère tatsächlich gezwungen sein könnte, Straftaten zu begehen, um dem streitigen Beschluss nachzukommen, nicht mit der Begründung ausschließen, dass die Einleitung oder der Ausgang eines Strafverfahrens von späteren Verfahrenshandlungen der Strafverfolgungsbehörden oder potenzieller Opfer abhänge.

    48

    Da die Begehung solcher Straftaten die Einleitung eines Strafverfahrens gegen Lagardère und die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen gegen sie nachträglich rechtfertigen könnte und eine etwaige Aussetzung der Wirkungen des streitigen Beschlusses zu einem Zeitpunkt, zu dem ein Strafverfahren eingeleitet würde, die Verhängung solcher Sanktionen nicht mehr verhindern könnte, wäre ein auf die Aussetzung abzielender Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zu diesem Zeitpunkt zwangsläufig nicht mehr sinnvoll.

    49

    Daraus folgt, dass der Präsident des Gerichts in Rn. 42 des angefochtenen Beschlusses rechtsfehlerhaft festgestellt hat, dass Lagardère die Gefahr, im Fall der Umsetzung des streitigen Beschlusses strafrechtliche Sanktionen zu erleiden, verfrüht geltend gemacht habe.

    50

    Das äußerst hilfsweise vorgetragene Vorbringen der Kommission ist nicht geeignet, diese Beurteilung in Frage zu stellen. Es stützt sich nämlich im Wesentlichen darauf, dass die Maßnahmen, die Lagardère ergreifen müsse, um dem streitigen Beschluss nachzukommen, nicht mit dem anwendbaren Recht unvereinbar seien; dem ist der Präsident des Gerichts in Rn. 42 seines Beschlusses aber nicht gefolgt.

    51

    Daher ist dem ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes stattzugeben.

    52

    Aus den Fehlern, mit denen die Rn. 40 bis 42 des angefochtenen Beschlusses behaftet sind, ergibt sich, dass dieser Beschluss keinen Grund enthält, der die Zurückweisung des Vorbringens von Lagardère zur Gefahr eines Schadens im Zusammenhang mit der Anwendung des französischen Strafrechts zu rechtfertigen vermag.

    53

    Da der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz mit der Begründung zurückgewiesen worden ist, dass Lagardère das Vorliegen der Voraussetzung der Dringlichkeit nicht nachgewiesen habe, ergibt sich aus diesen Fehlern, dass der Tenor des angefochtenen Beschlusses einer Grundlage entbehrt.

    54

    Folglich ist der angefochtene Beschluss in vollem Umfang aufzuheben, ohne dass die übrigen Teile des ersten und des zweiten Rechtsmittelgrundes oder der dritte Rechtsmittelgrund geprüft zu werden brauchen.

    Zu dem beim Gericht gestellten Antrag auf einstweilige Anordnungen

    55

    Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Gerichtshof, wenn er die Entscheidung des Gerichts aufhebt, den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, sofern dieser zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen. Diese Bestimmung gilt auch für Rechtsmittel, die gemäß Art. 57 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union eingelegt wurden (Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 24. Mai 2022, Puigdemont i Casamajó u. a./Parlament und Spanien, C‑629/21 P[R], EU:C:2022:413, Rn. 172 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    56

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 156 Abs. 4 der Verfahrensordnung des Gerichts in Anträgen auf vorläufigen Rechtsschutz der Streitgegenstand, die Umstände, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt, sowie die den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung dem ersten Anschein nach rechtfertigenden Sach- und Rechtsgründe anzuführen sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs können die Aussetzung der Vollziehung und sonstige einstweilige Anordnungen von dem für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter gewährt werden, wenn ihre Notwendigkeit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht (fumus boni iuris) und dargetan ist, dass sie in dem Sinne dringlich sind, dass sie zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für die Interessen des Antragstellers bereits vor der Entscheidung über die Klage erlassen werden und ihre Wirkungen entfalten müssen. Diese Voraussetzungen sind kumulativ, so dass Anträge auf einstweilige Anordnungen zurückzuweisen sind, sofern eine von ihnen nicht erfüllt ist. Der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter nimmt gegebenenfalls auch eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vor (Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 24. Mai 2022, Puigdemont i Casamajó u. a./Parlament und Spanien, C‑629/21 P[R], EU:C:2022:413, Rn. 175 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    57

    Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen verfügt der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter über ein weites Ermessen; er kann im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls die Art und Weise, in der diese verschiedenen Voraussetzungen zu prüfen sind, sowie die Reihenfolge ihrer Prüfung frei bestimmen, da keine Vorschrift des Unionsrechts ihm ein feststehendes Prüfungsschema für die Beurteilung der Erforderlichkeit einer vorläufigen Entscheidung vorschreibt (Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 16. Juli 2021, Symrise/ECHA, C‑282/21 P[R], EU:C:2021:631, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    58

    Im vorliegenden Fall verfügt der Vizepräsident des Gerichtshofs angesichts der bereits vom Präsidenten des Gerichts vorgenommenen Beurteilungen und des schriftlichen Verfahrens zwischen den Parteien über ausreichende Angaben, um in der vorliegenden Rechtssache endgültig über die Voraussetzung der Dringlichkeit zu entscheiden.

    Vorbringen

    59

    Zum Nachweis dafür, dass die Voraussetzung der Dringlichkeit erfüllt sei, macht Lagardère mehrere verschiedene Schäden geltend.

    60

    Zu dem vorab zu prüfenden Vorbringen, der streitige Beschluss würde Lagardère verpflichten, die Grundrechte ihrer Arbeitnehmer und Unternehmensvertreter zu verletzen, trägt sie vor, dass sie ihren rechtlichen Verpflichtungen gegenüber diesen Personen nicht nachkommen würde, wenn sie diesen Beschluss umsetze.

    61

    Zum einen sei sie verpflichtet, nach Dokumenten zu suchen, auf die sie nicht zugreifen dürfe, und sie dann der Kommission zu übermitteln, auch wenn sie sich auf das Privatleben der betreffenden Personen bezögen. Sie laufe daher Gefahr, einen schweren Schaden zu erleiden, da sie gezwungen wäre, gegen ihre rechtlichen Verpflichtungen zu verstoßen und sich damit, ebenso wie ihre Vertreter, u. a. strafrechtlichen Sanktionen wie Geldstrafen und Freiheitsstrafen auszusetzen. Ein solcher Schaden wäre irreparabel, da der Verstoß gegen die in Rede stehenden rechtlichen Verpflichtungen endgültig und unabänderlich eintreten würde.

    62

    Zum anderen würde der streitige Beschluss sie dazu verpflichten, den Quellenschutz der für sie tätigen Journalisten zu missachten, so dass sie von ihnen verklagt werden könnte.

    63

    Insoweit macht die Kommission erstens geltend, die Gefahr, mit strafrechtlichen Sanktionen belegt zu werden, sei im vorliegenden Fall nicht dargetan. Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz sei somit besonders lückenhaft, da darin von möglichen strafrechtlichen Sanktionen die Rede sei, ohne dass auf den Straftatbestand Bezug genommen werde und ohne dass nähere Angaben zur Strafdrohung gemacht würden. Außerdem sei diese Gefahr hypothetisch, da die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen notwendigerweise auf einer Gesamtheit von Handlungen beruhe, die insbesondere von den Strafverfolgungsbehörden oder den potenziellen Opfern vorzunehmen seien. Überdies sei Lagardère nicht verpflichtet, die Einwilligung ihrer Arbeitnehmer oder Unternehmensvertreter zur Umsetzung des streitigen Beschlusses einzuholen.

    64

    Zweitens sei es unvermeidlich, dass die Kommission bei der Durchführung ihrer Untersuchung personenbezogene Daten verarbeite. Der bloße Umstand, dass sie die Relevanz solcher Daten prüfe, könne für sich genommen keinen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden verursachen, da Lagardère nicht geltend mache, dass die Gefahr der Verbreitung sensibler und intimster Daten bestehe. Jedenfalls obläge es Lagardère, das Bestehen einer solchen Gefahr nachzuweisen. Zudem habe die Kommission insoweit spezielle Verfahrensgarantien vorgesehen.

    Würdigung

    65

    Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs besteht der Zweck des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes darin, die volle Wirksamkeit der künftigen endgültigen Entscheidung zu gewährleisten, um eine Lücke in dem vom Gerichtshof gewährten Rechtsschutz zu verhindern. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Dringlichkeit im Hinblick darauf zu beurteilen, ob eine einstweilige Anordnung erforderlich ist, um den Eintritt eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens bei der Partei, die vorläufigen Rechtsschutz beantragt, zu verhindern. Dieser Partei obliegt der Nachweis, dass sie den Ausgang des Verfahrens zur Hauptsache nicht abwarten kann, ohne dass ihr ein derartiger Schaden entstünde. Zwar ist es für den Nachweis dieses Schadens nicht erforderlich, dass sein Eintritt und sein unmittelbares Bevorstehen mit absoluter Sicherheit belegt werden, und es genügt, dass er mit einem hinreichenden Grad an Wahrscheinlichkeit vorhersehbar ist; jedoch obliegt es weiterhin dem Antragsteller, der den Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt, die Tatsachen zu beweisen, die die Erwartung eines solchen Schadens begründen sollen (Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 24. Mai 2022, Puigdemont i Casamajó u. a./Parlament und Spanien, C‑629/21 P[R], EU:C:2022:413, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    66

    Um zu klären, ob die Voraussetzung der Dringlichkeit erfüllt ist, ist das Vorbringen zu prüfen, wonach Lagardère Gefahr laufe, einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden zu erleiden, weil sie, um dem streitigen Beschluss nachzukommen, gezwungen wäre, Straftaten zu begehen.

    67

    Das Vorbringen der Kommission, der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz sei hinsichtlich des Inhalts der Vorschriften des französischen Rechts, auf die sich Lagardère insoweit berufen wolle, lückenhaft, ist zurückzuweisen, wie sich aus den Rn. 23 bis 30 des vorliegenden Beschlusses ergibt.

    68

    Zum Inhalt dieser Vorschriften geht aus dem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, dessen Tragweite von der Kommission insoweit nicht in Frage gestellt wird, insbesondere hervor, dass nach französischem Recht die Verletzung der Privatsphäre anderer Personen durch die Weiterleitung privater Äußerungen ohne Einwilligung ihres Urhebers oder die bösgläubige Verbreitung auf elektronischem Weg gesendeter, übermittelter oder erhaltener Korrespondenz mit Freiheitsstrafe und Geldstrafe bedroht ist.

    69

    Der streitige Beschluss verpflichtet Lagardère u. a. dazu, den gesamten Austausch, der während eines Zeitraums von mehreren Jahren über verschiedene Kommunikationsmittel zwischen mehreren natürlichen Personen stattgefunden hat, sowie einen bestimmten Austausch zwischen anderen natürlichen Personen zu erfassen und sodann die erfassten Daten der Kommission zu übermitteln.

    70

    Es steht fest, dass sich diese Verpflichtung nach Rn. 2 des streitigen Beschlusses u. a. auf den Austausch mittels privater oder persönlicher Mailboxen und privater oder persönlicher Mobilgeräte der betreffenden Mitarbeiter und Unternehmensvertreter erstreckt, sofern diese Mailboxen und Geräte mindestens einmal für berufliche Kommunikationen verwendet wurden.

    71

    Unter diesen Umständen ist es unstreitig, dass Lagardère, bei der es sich nicht um eine Behörde handelt, zur vollständigen Umsetzung des streitigen Beschlusses in großem Umfang auf die Mitteilungen bestimmter Arbeitnehmer und Unternehmensvertreter zugreifen müsste, obwohl ihr das französische Recht eine solche Befugnis nicht ausdrücklich verleiht und sie, ohne dass ihr insoweit substantiiert widersprochen worden ist, vorbringt, dass sie nicht in der Lage gewesen sei, die Einwilligung der betreffenden Personen einzuholen.

    72

    In Anbetracht des Wortlauts der von Lagardère angeführten Strafvorschriften und der in ihrem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz und dessen Anlagen enthaltenen Informationen zum französischen Recht, die von der Kommission nicht unmittelbar bestritten werden, weist das Vorbringen, dass das Verhalten, das Lagardère an den Tag legen müsste, um dem streitigen Beschluss nachzukommen, nach französischem Recht eine Straftat darstellen könnte, daher den nach der in Rn. 65 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad auf.

    73

    Zwar kann nicht von vornherein völlig ausgeschlossen werden, dass sich Lagardère ihrer strafrechtlichen Verantwortung ganz oder teilweise entziehen könnte, indem sie sich auf Verpflichtungen oder den Zwang beruft, die sich für sie aus dem streitigen Beschluss ergeben, doch handelt es sich dabei im Wesentlichen um eine das französische Recht betreffende Frage, zu der die Parteien dem für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter keine Informationen geliefert haben.

    74

    Soweit die Kommission insbesondere geltend macht, Lagardère sei nicht verpflichtet, die Einwilligung ihrer Arbeitnehmer oder Unternehmensvertreter zur Sammlung der vom streitigen Beschluss erfassten Dokumente und deren anschließender Weiterleitung an sie einzuholen, ist festzustellen, dass die Kommission nicht dartut, dass Lagardère nach den anwendbaren Vorschriften oder der bisherigen Praxis der zuständigen nationalen Behörden jeder strafrechtlichen Verantwortung enthoben wäre, wenn sie alle von dem Beschluss erfassten Dokumente sammelt und an sie weiterleitet, ohne zuvor von den Betroffenen dazu ermächtigt worden zu sein.

    75

    Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass in Anbetracht der Informationen, die dem für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter vorgelegt worden sind, davon auszugehen ist, dass Lagardère in rechtlich hinreichender Weise nachgewiesen hat, dass sie gezwungen wäre, bei der Umsetzung des streitigen Beschlusses ein Verhalten an den Tag zu legen, das es wahrscheinlich rechtfertigen könnte, sie strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, so dass ihr strafrechtliche Sanktionen drohen würden.

    76

    Aus den in den Rn. 44 bis 49 des vorliegenden Beschlusses dargelegten Gründen ist der Umstand, dass die Verhängung solcher Sanktionen Verfahrenshandlungen der zuständigen Behörden oder potenzieller Opfer voraussetzt, nicht geeignet, die von Lagardère angeführte Gefahr auszuschließen.

    77

    Der Schaden, den Lagardère somit zu erleiden droht, ist als schwerwiegend anzusehen, insbesondere im Hinblick auf den rufschädigenden Charakter einer strafrechtlichen Verurteilung und den Bruch des zwischen ihr und ihren Unternehmensvertretern und Arbeitnehmern bestehenden Vertrauensverhältnisses, der durch die Begehung von Straftaten ihnen gegenüber eintreten könnte.

    78

    Ein solcher immaterieller Schaden wäre zudem irreparabel, da eine etwaige Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses es weder ermöglichen würde, Lagardère von ihrer strafrechtlichen Verantwortung freizustellen, noch die in Bezug auf sie wegen der Begehung von Straftaten vorgenommenen Beurteilungen in Frage stellen könnte.

    79

    Die Voraussetzung der Dringlichkeit ist daher im vorliegenden Fall als erfüllt anzusehen.

    80

    Da der Präsident des Gerichts im Übrigen zu Unrecht zu dem Schluss gelangt ist, dass diese Voraussetzung nicht erfüllt sei, ohne die Voraussetzung des fumus boni iuris geprüft zu haben, deren Prüfung sowohl tatsächliche als auch rechtliche Feststellungen voraussetzt, ist die Sache zur Entscheidung über diese Voraussetzung und gegebenenfalls zur Vornahme einer Abwägung der widerstreitenden Interessen an das Gericht zurückzuverweisen.

    Zum Antrag auf Aussetzung des streitigen Beschlusses in der durch den Beschluss C(2024) 572 final der Kommission vom 24. Januar 2024 geänderten Fassung

    81

    Aus der Rechtsmittelschrift geht nicht klar hervor, ob der Antrag, den streitigen Beschluss in der durch den Beschluss C(2024) 572 final der Kommission vom 24. Januar 2024 geänderten Fassung bis zur erneuten Entscheidung des Präsidenten des Gerichts über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz in der Rechtssache T‑1119/23 R oder, hilfsweise, bis zur Entscheidung des Gerichts über die Klage in der Rechtssache T‑1119/23 (im Folgenden: zusätzlicher Antrag) dahin zu verstehen ist, dass er sich mit dem Begehren deckt, den Anträgen in der Rechtssache T‑1119/23 R stattzugeben, oder ob in ihm ein gesonderter Antrag zu sehen ist.

    82

    Sollte der zusätzliche Antrag so auszulegen sein, dass er sich mit dem Begehren deckt, den Anträgen in der Rechtssache T‑1119/23 R stattzugeben, ist über ihn bereits in den Rn. 58 und 80 des vorliegenden Beschlusses entschieden worden.

    83

    Sollte der zusätzliche Antrag hingegen so auszulegen sein, dass er einen gesonderten Antrag darstellt, ist zum einen festzustellen, dass ein solcher Antrag nicht den Anforderungen von Art. 170 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entspricht, wonach der Rechtsmittelführer seine erstinstanzlichen Anträge nicht ergänzen darf.

    84

    Der zusätzliche Antrag unterscheidet sich aber teilweise von den erstinstanzlichen Anträgen von Lagardère.

    85

    Sollte der zusätzliche Antrag so zu verstehen sein, dass er ergänzend zu den erstinstanzlichen Anträgen gestellt worden ist, müsste er daher als unzulässig zurückgewiesen werden, da es sich um einen neuen Antrag handeln würde (vgl. entsprechend Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 20. März 2023, Xpand Consortium u. a./Kommission, C‑739/22 P[R], EU:C:2023:228, Rn. 20).

    86

    Der zusätzliche Antrag kann aber auch nicht als Antrag auf einstweilige Anordnungen nach Art. 160 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs angesehen werden, da Art. 160 Abs. 4 der Verfahrensordnung die Zulässigkeit eines solchen Antrags davon abhängig macht, dass er mit gesondertem Schriftsatz eingereicht wird (vgl. entsprechend Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 20. März 2023, Xpand Consortium u. a./Kommission, C‑739/22 P[R], EU:C:2023:228, Rn. 21).

    87

    Überdies hat Lagardère im vorliegenden Fall beim Gerichtshof einen Antrag auf einstweilige Anordnungen gestellt, der unter dem Aktenzeichen C‑89/24 P(R)‑R in das Register eingetragen worden ist und keine dem zusätzlichen Antrag entsprechenden Anträge enthält.

    88

    Folglich ist dieser Antrag als unzulässig zurückzuweisen.

    Kosten

    89

    Da die vorliegende Rechtssache an das Gericht zurückverwiesen wird, ist die Kostenentscheidung vorzubehalten.

     

    Aus diesen Gründen hat der Vizepräsident des Gerichtshofs beschlossen:

     

    1.

    Der Beschluss des Präsidenten des Gerichts der Europäischen Union vom 19. Januar 2024, Lagardère/Kommission (T‑1119/23 R, EU:T:2024:16), wird aufgehoben.

     

    2.

    Die Sache wird zur Entscheidung über die Voraussetzung des fumus boni iuris und gegebenenfalls zur Vornahme einer Abwägung der widerstreitenden Interessen an das Gericht der Europäischen Union zurückverwiesen.

     

    3.

    Der Antrag der Lagardère SA, die ihr durch den Beschluss C(2023) 6429 final der Kommission vom 19. September 2023 in einem Verfahren nach Artikel 11 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates (Sache M.11184 – Vivendi/Lagardère) in der durch den Beschluss C(2024) 572 final der Kommission vom 24. Januar 2024 geänderten Fassung auferlegte Verpflichtung, Dokumente in privaten oder persönlichen Mailboxen und privaten oder persönlichen Mobilgeräten einiger ihrer Mitarbeiter und Unternehmensvertreter zu sammeln und der Europäischen Kommission zu übermitteln, bis zur erneuten Entscheidung des Präsidenten des Gerichts der Europäischen Union über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz in der Rechtssache T‑1119/23 R oder, hilfsweise, bis zur Entscheidung des Gerichts der Europäischen Union über die Klage in der Rechtssache T‑1119/23 auszusetzen, wird zurückgewiesen.

     

    4.

    Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

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