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Document 62023CJ0385

    Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 13. Juni 2024.
    Matkustaja A gegen Finnair Oyj.
    Vorabentscheidungsersuchen des Korkein oikeus.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 5 Abs. 3 – Ausgleichszahlungen an die Fluggäste bei großer Verspätung oder Annullierung eines Fluges – Befreiung von der Ausgleichspflicht – Außergewöhnliche Umstände – Technische Störungen, die durch einen vom Hersteller nach der Flugannullierung aufgedeckten versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurden – System zur Messung der Treibstoffmenge des Flugzeugs.
    Rechtssache C-385/23.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:497

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

    13. Juni 2024 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 5 Abs. 3 – Ausgleichszahlungen an die Fluggäste bei großer Verspätung oder Annullierung eines Fluges – Befreiung von der Ausgleichspflicht – Außergewöhnliche Umstände – Technische Störungen, die durch einen vom Hersteller nach der Flugannullierung aufgedeckten versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurden – System zur Messung der Treibstoffmenge des Flugzeugs“

    In der Rechtssache C‑385/23

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein oikeus (Oberstes Gericht, Finnland) mit Entscheidung vom 22. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Juni 2023, in dem Verfahren

    Matkustaja A

    gegen

    Finnair Oyj

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),

    Generalanwältin: L. Medina,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    des Matkustaja A, vertreten durch K. Väänänen, Kuluttaja-asiamies, sowie J. Suurla, Johtava asiantuntija,

    der Finnair Oyj, vertreten durch T. Väätäinen, Asianajaja,

    der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,

    der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch T. Simonen und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Matkustaja A (im Folgenden A), einem Fluggast, und dem Luftfahrtunternehmen Finnair Oyj wegen dessen Weigerung, diesem Fluggast, dessen Flug annulliert wurde, einen Ausgleich zu leisten.

    Rechtlicher Rahmen

    3

    In den Erwägungsgründen 1, 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es:

    „(1)

    Die Maßnahmen der [Europäischen] Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.

    (14)

    Wie nach dem Übereinkommen [zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, geschlossen am 28. Mai 1999 in Montreal und genehmigt im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 38)] sollten die Verpflichtungen für ausführende Luftfahrtunternehmen in den Fällen beschränkt oder ausgeschlossen sein, in denen ein Vorkommnis auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solche Umstände können insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten.

    (15)

    Vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände sollte ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung, einer Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.“

    4

    Art. 5 („Annullierung“) dieser Verordnung bestimmt:

    „(1)   Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen

    c)

    vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

    i)

    sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder

    ii)

    sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder

    iii)

    sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

    (3)   Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

    …“

    5

    Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

    „Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

    a)

    250 [Euro] bei allen Flügen über eine Entfernung von 1500 km oder weniger,

    b)

    400 [Euro] bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1500 km und 3500 km,

    c)

    600 [Euro] bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

    …“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    6

    A hatte bei Finnair einen für den 25. März 2016 geplanten Flug von Helsinki (Finnland) nach Bangkok (Thailand) gebucht. Dieser Flug sollte mit einem Flugzeug durchgeführt werden, das seit etwas mehr als fünf Monaten im Einsatz war.

    7

    Beim Befüllen des Treibstofftanks kurz vor dem Start kam es zu einer technischen Störung bei der Treibstoffanzeige dieses Flugzeugs. Da diese Störung als wesentliche Beeinträchtigung der Flugsicherheit angesehen wurde, annullierte Finnair den geplanten Flug und führte ihn, wie das vorlegende Gericht ausführt, erst am nächsten Tag, d. h. am 26. März 2016, mit einem Reserveflugzeug durch. Der Flug erreichte den Zielort mit einer Verspätung von etwa 20 Stunden.

    8

    Da es sich bei dem ursprünglich vorgesehenen Flugzeug um ein neues Modell handelte, war der in Rede stehende Fehler, der weltweit erstmals auftrat, vor dem Auftreten dieser Störung unbekannt. Daher hatten weder der Flugzeughersteller noch die Flugsicherheitsbehörde Kenntnis von diesem Fehler und konnten ihn deshalb nicht melden.

    9

    Finnair leitete sofort Ermittlungen zur Klärung der Ursache der Störung der Treibstoffanzeige ein. Nach etwa 24 Stunden wurde die Störung behoben, indem der Treibstofftank entleert und danach wieder aufgefüllt wurde. Anschließend war die Maschine wieder flugfähig.

    10

    Spätere, eingehendere Untersuchungen des Herstellers des Flugzeugs ergaben, dass diese Störung auf einen versteckten, sämtliche Flugzeuge dieses Typs betreffenden Konstruktionsfehler zurückzuführen war.

    11

    Diese Flugzeuge flogen jedoch weiter, bis eine Software-Aktualisierung im Februar 2017 die Störung endgültig beseitigte.

    12

    Da sich Finnair weigerte, A eine pauschale Ausgleichszahlung in Höhe von 600 Euro gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 zu zahlen, erhob A Klage beim Käräjäoikeus (Gericht erster Instanz, Finnland). Finnair machte geltend, dass die in Rede stehende Störung einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung darstelle und dass Finnair alle ihr zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe.

    13

    Das Gericht gab der Klage von A mit der Begründung statt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Störung zwar auf einen schwer vorhersehbaren Konstruktionsfehler zurückzuführen sei, aber Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens sei. Der bloße Umstand, dass der Flugzeughersteller Finnair keine Anweisungen dazu gegeben habe, wie sie sich im Fall einer derartigen, einen neuen Flugzeugtyp betreffenden Störung verhalten sollte, habe das betreffende Vorkommnis nicht außergewöhnlich werden lassen.

    14

    Finnair legte gegen das Urteil des Käräjäoikeus (Gericht erster Instanz) Berufung beim Hovioikeus (Berufungsgericht, Finnland) ein. Dieses Gericht stellte fest, dass die Störung der Treibstoffanzeige als „außergewöhnlicher Umstand“ anzusehen sei, da sie nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit von Finnair sei und aufgrund ihrer Natur oder Ursache auch nicht von ihr tatsächlich beherrschbar sei.

    15

    A legte Rechtsmittel beim Korkein oikeus (Oberstes Gericht, Finnland), dem vorlegenden Gericht, ein.

    16

    Dieses Gericht fragt sich, ob eine technische Störung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die ein neues Flugzeug betrifft, einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellt.

    17

    Das Gericht hat insbesondere Zweifel daran, ob eine technische Störung ein Vorkommnis mit externer Ursache im Sinne des Urteils vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines (Ausfall des Betankungssystems) (C‑308/21, EU:C:2022:533) und daher einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung darstellt, wenn sie die Sicherheit eines Fluges beeinträchtigt und der Flugzeughersteller erst nach Annullierung dieses Fluges anerkennt, dass sie auf einen versteckten Konstruktionsfehler zurückzuführen ist, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betrifft.

    18

    Falls dies zu verneinen ist, fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum vorzeitigen Auftreten von Störungen an bestimmten technischen Teilen auf den Fall eines versteckten Konstruktionsfehlers, der sich erstmals an einem neuen Flugzeugtyp zeigt, übertragbar ist. Es sei nämlich nicht ungewöhnlich, dass ein neues Flugzeugmodell in den ersten Phasen seiner Inbetriebnahme versteckte Fehler aufweise.

    19

    Unter diesen Umständen hat der Korkein oikeus (Oberstes Gericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.

    Kann sich ein Luftfahrtunternehmen auf außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 allein deshalb berufen, weil der Flugzeughersteller gemeldet hat, dass ein versteckter, sämtliche Flugzeuge dieses Typs betreffender und die Flugsicherheit beeinträchtigender Konstruktionsfehler vorlag, obwohl diese Meldung erst nach Verspätung oder Annullierung des Fluges erfolgte?

    2.

    Falls die erste Frage verneint wird und zu prüfen ist, ob die Umstände auf Vorkommnisse zurückzuführen sind, die Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind und aufgrund ihrer Natur oder Ursache von ihm tatsächlich zu beherrschen sind, ist dann die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum vorzeitigen Auftreten von Störungen an bestimmten technischen Teilen in einem Fall wie dem vorliegenden anwendbar, in dem weder der Hersteller noch das Luftfahrtunternehmen zum Zeitpunkt der Annullierung des Fluges wussten, welcher Art der Fehler des in Rede stehenden neuen Flugzeugtyps war und wie er behoben werden konnte?

    Zu den Vorlagefragen

    20

    Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass das Auftreten einer unerwarteten und neuartigen technischen Störung, die ein neues, vor Kurzem in Betrieb genommenes Flugzeugmodell betrifft und das Luftfahrtunternehmen zur Annullierung eines Fluges veranlasst, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn der Hersteller dieses Flugzeugs nach der Annullierung dieses Fluges anerkennt, dass diese Störung durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurde, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte.

    21

    Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 für den Fall der Annullierung eines Fluges vorsieht, dass den betroffenen Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung eingeräumt wird, es sei denn, sie wurden über diese Annullierung innerhalb der in Art. 5 Abs. 1 vorgesehenen Fristen unterrichtet.

    22

    Nach Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 14 und 15 ist das Luftfahrtunternehmen von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen befreit, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf „außergewöhnliche Umstände“ zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, und wenn es bei Eintritt eines solchen Umstands zudem nachweisen kann, dass es die der Situation angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, indem es alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel eingesetzt hat, um zu vermeiden, dass dieser zur Annullierung oder zur großen Verspätung des betreffenden Fluges führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    23

    Da dieser Art. 5 Abs. 3 eine Ausnahme vom Grundsatz des Ausgleichsanspruchs der Fluggäste darstellt, und in Anbetracht des mit der Verordnung Nr. 261/2004 verfolgten Ziels, das nach ihrem ersten Erwägungsgrund darin besteht, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, ist der Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. April 2018, Krüsemann u. a., C‑195/17, C‑197/17 bis C‑203/17, C‑226/17, C‑228/17, C‑254/17, C‑274/17, C‑275/17, C‑278/17 bis C‑286/17 und C‑290/17 bis C‑292/17, EU:C:2018:258, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    24

    Als „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 werden Vorkommnisse angesehen, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ sind und ihr Vorliegen von Fall zu Fall zu beurteilen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    25

    Somit stellen technische Störungen als solche, sofern sie nicht die beiden in der vorstehenden Randnummer genannten kumulativen Voraussetzungen erfüllen, keine „außergewöhnlichen Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 25, und vom 12. März 2020, Finnair, C‑832/18, EU:C:2020:204, Rn. 39).

    26

    Vor diesem Hintergrund ist zu beurteilen, ob es einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellen kann, wenn eine unerwartete und neuartige technische Störung ein neues, vor Kurzem in Betrieb genommenes Flugzeugmodell betrifft und sich nach der Annullierung eines Fluges herausstellt, dass sie durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurde, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte.

    27

    Als Erstes ist zu bestimmen, ob es sich bei einer technischen Störung, die die in der vorstehenden Randnummer genannten Merkmale aufweist, ihrer Natur oder Ursache nach um ein Vorkommnis handeln kann, das nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens ist.

    28

    Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass Luftfahrtunternehmen angesichts der besonderen Bedingungen, unter denen der Luftverkehr durchgeführt wird, und des Maßes an technologischer Komplexität der Flugzeuge, das dazu führt, dass der Betrieb von Flugzeugen unausweichlich technische Probleme, Pannen oder das vorzeitige und unerwartete Auftreten von Störungen an bestimmten Teilen eines Flugzeugs mit sich bringt, im Rahmen ihrer Tätigkeit gewöhnlich solchen Problemen gegenüberstehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    29

    Daraus folgt, dass die Behebung eines technischen Problems, das aus einer Panne, der mangelhaften Wartung eines Flugzeugs oder dem vorzeitigen und unerwarteten Auftreten von Störungen an bestimmten Teilen eines Flugzeugs resultiert, als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens gilt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 25, vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 41 und 42, sowie vom 12. März 2020, Finnair, C‑832/18, EU:C:2020:204, Rn. 41).

    30

    Eine technische Störung ist jedoch nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und kann daher unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ fallen, wenn der Hersteller der Maschinen, aus denen die Flotte des betroffenen Luftfahrtunternehmens besteht, oder eine zuständige Behörde nach der Inbetriebnahme der Maschinen entdeckt, dass diese einen versteckten Fabrikationsfehler aufweisen, der die Flugsicherheit beeinträchtigt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 26, und vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 38).

    31

    Im vorliegenden Fall steht, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, fest, dass die technische Störung auf einen versteckten Konstruktionsfehler zurückzuführen ist, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte, so dass dieses Vorkommnis nach der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens ist.

    32

    Als Zweites ist zu prüfen, ob eine technische Störung, die die in Rn. 26 des vorliegenden Urteils genannten Merkmale aufweist, als ein Vorkommnis anzusehen ist, das vom betreffenden Luftfahrtunternehmen in keiner Weise tatsächlich beherrschbar ist, d. h. als ein Vorkommnis, das für das Luftfahrtunternehmen überhaupt nicht kontrollierbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 36).

    33

    Grundsätzlich sind technische Störungen oder Pannen vom Luftfahrtunternehmen zwar tatsächlich beherrschbar, da die Vermeidung bzw. Behebung solcher Störungen und Pannen Teil der Aufgabe des Luftfahrtunternehmens ist, für die Wartung und den reibungslosen Betrieb des von ihm zu wirtschaftlichen Zwecken genutzten Flugzeugs zu sorgen (Urteil vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 43). Anders verhält es sich jedoch bei einem versteckten Konstruktionsfehler eines Flugzeugs.

    34

    Auch wenn das Luftfahrtunternehmen für die Wartung und den reibungslosen Betrieb des von ihm zu wirtschaftlichen Zwecken genutzten Flugzeugs zu sorgen hat, ist zum einen nämlich fraglich, ob in dem Fall, dass ein versteckter Konstruktionsfehler vom Hersteller des betreffenden Flugzeugs oder von der zuständigen Behörde erst nach der Annullierung eines Fluges aufgedeckt wird, tatsächlich über die Kompetenz verfügt, den Fehler ausfindig zu machen und zu beheben, so dass nicht davon auszugehen ist, dass das Zutagetreten eines solchen Fehlers für das Unternehmen kontrollierbar ist.

    35

    Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004, dass Vorkommnisse mit im Hinblick auf das ausführende Luftfahrtunternehmen „interner“ Ursache von solchen mit „externer“ Ursache zu unterscheiden sind und nur Vorkommnisse der letzteren Art vom Luftfahrtunternehmen möglicherweise nicht tatsächlich beherrschbar sind. Unter den Begriff „Vorkommnisse mit externer Ursache“ fallen solche, die auf die Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und auf äußere Umstände zurückzuführen sind, die in der Praxis mehr oder weniger häufig vorkommen, aber vom Luftfahrtunternehmen nicht beherrschbar sind, weil sie auf die Handlung eines Dritten, etwa eines anderen Luftfahrtunternehmens oder einer öffentlichen oder privaten Stelle, zurückgehen, die in den Flug- oder den Flughafenbetrieb eingreifen (Urteil vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    36

    Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob die nach der Entscheidung des Luftfahrtunternehmens, einen Flug zu annullieren, erfolgte Meldung oder Anerkenntnis des Herstellers, dass ein versteckter Konstruktionsfehler vorliegt, der eine Maschine betrifft und die Flugsicherheit beeinträchtigen kann, die Handlung eines in den Flugbetrieb des Luftfahrtunternehmens eingreifenden Dritten darstellen und somit ein Vorkommnis mit externer Ursache sein kann.

    37

    Insoweit ist klarzustellen, dass sich aus der in den Rn. 30 und 35 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht ergibt, dass der Gerichtshof die Einstufung eines versteckten Konstruktionsfehlers als „außergewöhnlichen Umstand“ von der Voraussetzung abhängig gemacht hätte, dass der Flugzeughersteller oder die zuständige Behörde das Vorliegen dieses Fehlers vor dem Auftreten der dadurch verursachten technischen Störung aufgedeckt hat. Auf den Zeitpunkt, zu dem der Zusammenhang zwischen der technischen Störung und dem versteckten Konstruktionsfehler vom Flugzeughersteller oder von der zuständigen Behörde aufgedeckt wird, kommt es nämlich nicht an, sofern der versteckte Konstruktionsfehler zum Zeitpunkt der Annullierung des Fluges vorlag und das Luftfahrtunternehmen über keine Kontrollmittel verfügte, um diesen Fehler zu beheben.

    38

    Die Einstufung einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 steht im Einklang mit dem Ziel dieser Verordnung, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, wie es in ihrem ersten Erwägungsgrund heißt. Dieses Ziel impliziert nämlich, dass für Luftfahrtunternehmen keine Anreize geschaffen werden sollten, die aufgrund eines solchen Vorfalls erforderlichen Maßnahmen zu unterlassen, indem sie der Aufrechterhaltung und der Pünktlichkeit ihrer Flüge einen höheren Stellenwert einräumen als deren Sicherheit (vgl. entsprechend Urteile vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C‑315/15, EU:C:2017:342, Rn. 25, sowie vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 28).

    39

    Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass das Auftreten einer unerwarteten und neuartigen technischen Störung, die ein neues, vor Kurzem in Betrieb genommenes Flugzeugmodell betrifft und das Luftfahrtunternehmen zur Annullierung eines Fluges veranlasst, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn der Hersteller dieses Flugzeugs nach der Annullierung anerkennt, dass diese Störung durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurde, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte.

    Kosten

    40

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

     

    ist dahin auszulegen, dass

     

    das Auftreten einer unerwarteten und neuartigen technischen Störung, die ein neues, vor Kurzem in Betrieb genommenes Flugzeugmodell betrifft und das Luftfahrtunternehmen zur Annullierung eines Fluges veranlasst, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn der Hersteller dieses Flugzeugs nach der Annullierung anerkennt, dass diese Störung durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurde, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Finnisch.

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