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Document 62023CJ0255

Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 6. Juni 2024.
Strafverfahren gegen AVVA u. a.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäische Ermittlungsanordnung – Richtlinie 2014/41/EU – Art. 24 – Vernehmung per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung – Strafverfolgung in einem Mitgliedstaat gegen eine Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat – Möglichkeit für diese Person, an der Verhandlung per Videokonferenz teilzunehmen, wenn keine Europäische Ermittlungsanordnung vorliegt.
Verbundene Rechtssachen C-255/23 und C-285/23.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:462

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

6. Juni 2024 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäische Ermittlungsanordnung – Richtlinie 2014/41/EU – Art. 24 – Vernehmung per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung – Strafverfolgung in einem Mitgliedstaat gegen eine Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat – Möglichkeit für diese Person, an der Verhandlung per Videokonferenz teilzunehmen, wenn keine Europäische Ermittlungsanordnung vorliegt“

In den verbundenen Rechtssachen C‑255/23 und C‑285/23

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Ekonomisko lietu tiesa (Gericht für Wirtschaftssachen, Lettland) mit Entscheidungen vom 28. März 2023 und vom 21. April 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 19. April 2023 und am 3. Mai 2023, in den Strafverfahren gegen

A,

B,

C,

D,

F,

E,

G,

SIA „AVVA“,

SIA „Liftu alianse“,

Beteiligte:

Rīgas tiesas apgabala prokuratūra (C‑255/23),

und

A,

B,

C,

Z,

F,

AS „Latgales Invest Holding“,

SIA „METEOR HOLDING“,

METEOR Kettenfabrik GmbH,

SIA „Tool Industry“,

AS „Ditton pievadķēžu rūpnīca“,

Beteiligte:

Latvijas Investīciju un attīstības aģentūra,

Rīgas tiesas apgabala prokuratūra (C‑285/23),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Sechsten Kammer und des Richters P. G. Xuereb,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von A, vertreten durch I. Balmaks, Advokāts,

der lettischen Regierung, vertreten durch J. Davidoviča und K. Pommere als Bevollmächtigte,

der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und Zs. Biró-Tóth als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Baumgart, V. Hitrovs, H. Leupold und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 1 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 Buchst. a und Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1) sowie von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1).

2

Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Strafverfahren gegen A, B, C, D, F, E, G, die SIA „AVVA“ und die SIA „Liftu alianse“ (C‑255/23) sowie gegen A, B, C, Z, F, die AS „Latgales Invest Holding“, die SIA „METEOR HOLDING“, die METEOR Kettenfabrik GmbH, die SIA „Tool Industry“ und die AS „Ditton pievadķēžu rūpnīca“ (C‑285/23) wegen schweren bandenmäßigen Betrugs, organisierter Geldwäsche, Amtsmissbrauchs und Beihilfe zu schwerem Betrug und schwerer Geldwäsche.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2014/41

3

Nach dem achten Erwägungsgrund Satz 1 der Richtlinie 2014/41 „[sollte die Europäische Ermittlungsanordnung] übergreifenden Charakter haben und sollte daher für alle Ermittlungsmaßnahmen gelten, die der Beweiserhebung dienen.“

4

Art. 1 („Die Europäische Ermittlungsanordnung und die Verpflichtung zu ihrer Vollstreckung“) dieser Richtlinie sieht in den Abs. 1 und 3 vor:

„(1)   Eine Europäische Ermittlungsanordnung (im Folgenden‚EEA‘) ist eine gerichtliche Entscheidung, die von einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats (‚Anordnungsstaat‘) zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) in einem anderen Mitgliedstaat (‚Vollstreckungsstaat‘) zur Erlangung von Beweisen gemäß dieser Richtlinie erlassen oder validiert wird.

Die Europäische Ermittlungsanordnung kann auch in Bezug auf die Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, erlassen werden.

(3)   Der Erlass einer EEA kann von einer verdächtigen oder beschuldigten Person oder in deren Namen von einem Rechtsanwalt im Rahmen der geltenden Verteidigungsrechte im Einklang mit dem nationalen Strafverfahrensrecht beantragt werden.“

5

In Art. 3 („Anwendungsbereich der EEA“) der Richtlinie 2014/41 heißt es:

„Die EEA erfasst alle Ermittlungsmaßnahmen, mit Ausnahme der in Artikel 13 des Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union … und in dem Rahmenbeschluss 2002/465/JI des Rates [vom 13. Juni 2002 über gemeinsame Ermittlungsgruppen (ABl. 2002, L 162, S. 1)] vorgesehenen Bildung einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe und der Erhebung von Beweismitteln innerhalb einer solchen Ermittlungsgruppe, es sei denn, dies erfolgt zum Zwecke der Anwendung des Artikels 13 Absatz 8 [dieses] Übereinkommens und des Artikels 1 Absatz 8 des Rahmenbeschlusses.“

6

Art. 6 („Bedingungen für den Erlass und die Übermittlung einer EEA“) Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 sieht vor:

„Die Anordnungsbehörde darf nur dann eine EEA erlassen, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind:

a)

Der Erlass der EEA ist für die Zwecke der Verfahren nach Artikel 4 unter Berücksichtigung der Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person notwendig und verhältnismäßig und

b)

die in der EEA angegebene(n) Ermittlungsmaßnahme(n) hätte(n) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen angeordnet werden können.“

7

Art. 24 („Vernehmung per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung“) Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 bestimmt:

„Befindet sich eine Person im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats und soll diese Person als Zeuge oder Sachverständiger von den zuständigen Behörden des Anordnungsstaats vernommen werden, so kann die Anordnungsbehörde eine EEA erlassen, um den Zeugen oder Sachverständigen per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung nach Maßgabe der Absätze 5 bis 7 zu vernehmen.

Die Anordnungsbehörde kann eine EEA auch zum Zweck der Vernehmung einer verdächtigen oder beschuldigten Person per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung erlassen.“

Richtlinie 2016/343

8

Nach dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 „[soll m]it dieser Richtlinie … das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren gestärkt werden, indem gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung festgelegt werden.“

9

Art. 8 („Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt in den Abs. 1 und 2:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

(2)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern

a)

der Verdächtige oder die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder

b)

der Verdächtige oder die beschuldigte Person, nachdem er bzw. sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde.“

Lettisches Recht

10

Art. 140 der Kriminālprocesa likums (Strafprozessordnung) lautet:

„(1)   Die für das Verfahren zuständige Person kann Verfahrenshandlungen unter Einsatz technischer Mittel (Telefonkonferenz, Videokonferenz) vornehmen, wenn dies im Interesse des Strafverfahrens erforderlich ist.

(2)   Während einer Verfahrenshandlung, bei der technische Mittel eingesetzt werden, muss sichergestellt sein, dass die für das Verfahren zuständige Person und die Personen, die an der Verfahrenshandlung beteiligt sind und sich in anderen Räumlichkeiten oder Gebäuden befinden, einander bei einer Telefonkonferenz hören und bei einer Videokonferenz hören und sehen können.

(21)   In dem in Abs. 2 dieses Artikels genannten Fall ermächtigt die für das Verfahren zuständige Person – oder überträgt diese Aufgabe dem Leiter der Institution am zweiten Ort, an dem die Verfahrenshandlung vorgenommen werden soll – eine Person, die die Vornahme dieser Verfahrenshandlung an dem Ort, an dem sie sich befindet, sicherzustellen hat (im Folgenden: ermächtigte Person).

(5)   Die ermächtigte Person überprüft und bescheinigt die Identität der Personen, die an der Verfahrenshandlung beteiligt sind, sich aber nicht in derselben Räumlichkeit befinden wie die für das Verfahren zuständige Person.

(7)   Die ermächtigte Person stellt eine Bescheinigung aus, die Ort, Datum und Uhrzeit der Durchführung der Verfahrenshandlung, ihre eigene Dienstbezeichnung und ihren Vor- und Nachnamen angibt, ferner Angaben zur Identität und die Anschrift jeder der am Ort der Verfahrenshandlung anwesenden Person sowie die Angabe enthält, dass diesen Personen der entsprechende Hinweis erteilt worden ist, wenn das Gesetz eine Haftung für eine Verletzung ihrer jeweiligen Verpflichtungen vorsieht. Die entsprechend unterrichteten Personen bestätigen durch ihre Unterschrift, diese Information erhalten zu haben. Auch Unterbrechungen der Verfahrenshandlung und die Uhrzeit ihrer Beendigung sind in die Bescheinigung aufzunehmen. Die Bescheinigung ist von allen am Ort der Durchführung der Verfahrenshandlung anwesenden Personen zu unterschreiben und der für das Verfahren zuständigen Person zur Aufnahme in das Protokoll der Verfahrenshandlung zu übermitteln.

(71)   Von der Einhaltung der Bestimmungen in den Abs. 21, 5 und 7 dieser Vorschrift kann abgesehen werden, wenn die für das Verfahren zuständige Person die Möglichkeit hat, die Identität der Personen, die sich in anderen Räumlichkeiten oder Gebäuden befinden, über technische Mittel festzustellen.

…“

11

Art. 463 Abs. 1 und 2 der Strafprozessordnung bestimmt:

„(1)   Die Teilnahme des Beschuldigten am gerichtlichen Verfahren in der Strafsache ist verpflichtend.

(2)   Erscheint der Beschuldigte nicht zur mündlichen Verhandlung, ist das gerichtliche Verfahren zu vertagen.“

12

Art. 464 der Strafprozessordnung sieht vor:

„(1)   Das Gericht kann Strafsachen betreffend Vergehen, minder schwere Straftaten oder Straftaten, die mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft werden, ohne die Teilnahme des Beschuldigten verhandeln, wenn dieser wiederholt und ohne ausreichenden Grund zur mündlichen Verhandlung nicht erscheint oder wenn er beim Gericht einen Antrag gestellt hat, die Strafsache ohne seine Teilnahme durchzuführen.

(2)   Eine Strafsache kann ohne die Teilnahme des Beschuldigten entschieden werden, wenn er an einer schweren Krankheit leidet, die ihn daran hindert, im Strafverfahren anwesend zu sein.

(3)   Eine Strafsache mit mehreren Beschuldigten kann ohne die Teilnahme eines Beschuldigten verhandelt werden, wenn in der fraglichen Verhandlung die die anderen Beschuldigten betreffenden Anklagepunkte erörtert werden, sofern die Teilnahme dieses Beschuldigten nicht erforderlich ist und der betreffende Beschuldigte dem Gericht mitgeteilt hat, an der Verhandlung nicht teilnehmen zu wollen.“

13

Art. 465 Abs. 1 der Strafprozessordnung bestimmt:

„Das Gericht kann in folgenden Fällen eine Strafsache ohne die Anwesenheit des Beschuldigten (in absentia) verhandeln:

1)

wenn der Ort, an dem sich der Beschuldigte befindet, unbekannt ist, was in der Mitteilung über das Ergebnis der Ermittlungen vermerkt ist;

2)

wenn der Beschuldigte sich im Ausland befindet und nicht sichergestellt werden kann, dass er vor dem Gericht erscheint.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rechtssache C‑255/23

14

Bei der Ekonomisko lietu tiesa (Gericht für Wirtschaftssachen, Lettland), dem vorlegenden Gericht, ist ein Strafverfahren u. a. gegen E anhängig, der der schweren Geldwäsche beschuldigt ist. E ist ein litauischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Litauen.

15

In der mündlichen Verhandlung vom 22. September 2022 erhob die Staatsanwaltschaft angesichts des Antrags von E einen Einwand dagegen, dass dieser per Videokonferenz aus der Ferne an den mündlichen Verhandlungen teilnehmen sollte, und stützte sich dabei auf Art. 140 Abs. 71 der Strafprozessordnung in der Auslegung durch die Vollversammlung der Richter der Strafabteilung der Augstākā tiesa (Oberstes Gericht, Lettland) in ihrer Entscheidung vom 4. November 2021.

16

Am 16. Oktober 2022 beantragte der Verteidiger von E beim vorlegenden Gericht, dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung der Vorschriften der Richtlinie 2014/41 zur Vorabentscheidung vorzulegen, um die Natur des Rechts von E zu klären, aus der Ferne unter Einsatz technischer Mittel am gerichtlichen Verfahren teilzunehmen.

17

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass Art. 140 Abs. 71 der Strafprozessordnung die Möglichkeiten erweitere, Verfahrenshandlungen aus der Ferne vorzunehmen, und dass der nationale Gesetzgeber durch diese Ergänzung des Gesetzes den Einsatz technischer Mittel im Strafverfahren habe fördern und auf diese Weise die Durchführung von Strafverfahren habe beschleunigen und vereinfachen wollen, insbesondere in den Fällen, in denen sich die Verfahrensbeteiligten in unterschiedlichen Städten oder Ländern befänden.

18

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hat die Auslegung von Art. 140 Abs. 71 der Strafprozessordnung durch die Vollversammlung der Richter der Strafabteilung der Augstākā tiesa (Oberstes Gericht) zur Folge, dass der Einsatz technischer Mittel bei der Vornahme einer Verfahrenshandlung nur über eine Europäische Ermittlungsanordnung oder ein anderes Instrument der justiziellen Zusammenarbeit möglich sei, wenn sich ein Verfahrensbeteiligter nicht im Bereich der Zuständigkeit der Gerichte der Republik Lettland, d. h. im nationalen Hoheitsgebiet, befinde. Ein Beschuldigter mit Wohnsitz in einem anderen Land als Lettland könne demnach nicht unter Einsatz technischer Mittel aus der Ferne an einer Verhandlung teilnehmen, auch wenn er passiv an der Durchführung des Strafprozesses teilnehme.

19

Da E seinen Wohnsitz in Litauen habe, würde seine Teilnahme an dem Gerichtsverfahren in Lettland aus der Ferne unter Einsatz technischer Mittel voraussetzen, dass das lettische Gericht im Rahmen einer Europäischen Ermittlungsanordnung ein litauisches Gericht ersucht, die Möglichkeit einer Teilnahme aus der Ferne für einen längeren Zeitraum sicherzustellen. In Anbetracht der Dauer und der mit ihrer Vollstreckung verbundenen Kosten ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass der Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung zur Sicherstellung der passiven Teilnahme des Beschuldigten an den Verhandlungen nicht im Sinne von Art. 6 der Richtlinie 2014/41 verhältnismäßig sei.

20

Da E der schweren Geldwäsche beschuldigt werde, sei seine Teilnahme an den Verhandlungen angesichts der Schwere der vorgeworfenen Straftat bei der Prüfung der Beweise, die die Anklage gegen ihn beträfen, verpflichtend, auch wenn er nicht an den Verhandlungen teilnehmen wolle. In Anbetracht der Auslegung durch die Vollversammlung der Richter der Strafabteilung der Augstākā tiesa (Oberstes Gericht) müsse E bei der Prüfung dieser Beweise entweder regelmäßig und über längere Zeit zu den mündlichen Verhandlungen in Lettland erscheinen oder ein litauisches Gericht im Rahmen einer Europäischen Ermittlungsanordnung ersuchen, seine Fernteilnahme an der mündlichen Verhandlung über einen längeren Zeitraum zu ermöglichen.

21

Da die Ekonomisko lietu tiesa (Gericht für Wirtschaftssachen) Zweifel hat, ob die Richtlinie 2014/41 auf die Teilnahme eines Beschuldigten an Verhandlungen anwendbar ist, in denen er nicht vernommen wird, hat sie beschlossen, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Gestatten es Art. 1 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 Buchst. a sowie Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2014/41 einem Mitgliedstaat, vorzusehen, dass auch ohne Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung die Teilnahme einer Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat in ihrer Eigenschaft als beschuldigte Person an der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens per Videokonferenz erlaubt ist, auch wenn in diesem Abschnitt der Durchführung des gerichtlichen Verfahrens die beschuldigte Person nicht vernommen wird, d. h. keine Beweiserhebung stattfindet, sofern die für das Verfahren zuständige Person in dem Mitgliedstaat, in dem das gerichtliche Verfahren stattfindet, die Möglichkeit hat, die Identität der Person, die sich in dem anderen Mitgliedstaat befindet, zu überprüfen, und die Wahrung der Verteidigungsrechte dieser Person sowie der Beistand durch einen Dolmetscher gewährleistet sind?

2.

Falls die erste Frage bejaht wird: Könnte die Einwilligung der zu vernehmenden Person ein Kriterium oder eine eigenständige oder ergänzende Voraussetzung für ihre Teilnahme per Videokonferenz an der Durchführung dieses gerichtlichen Verfahrens, in dem keine Beweise erhoben werden, sein, wenn die für das Verfahren zuständige Person in dem Mitgliedstaat, in dem das gerichtliche Verfahren stattfindet, die Möglichkeit hat, die Identität der Person, die sich in dem anderen Mitgliedstaat befindet, zu überprüfen, und die Wahrung der Verteidigungsrechte dieser Person sowie der Beistand durch einen Dolmetscher gewährleistet sind?

22

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass zum Zeitpunkt des Erlasses der Vorlageentscheidung noch etwa 60 Zeugenaussagen zu prüfen seien, die nicht die Anklage gegen E beträfen. Würde es beschließen, das Verfahren auszusetzen, würde ihm dies die Entscheidung im Ausgangsverfahren in angemessener Frist erheblich erschweren. Das vorlegende Gericht ist daher der Ansicht, dass es das gerichtliche Verfahren zumindest bis zur Prüfung der Beweise, auf die die Anklage gegen E gestützt sei, fortsetzen könne und dessen Anwesenheit nicht verpflichtend sei.

23

Nachdem der Gerichtshof in dieser Rechtssache am 7. März 2024 ein Ersuchen um Klarstellung gemäß Art. 101 seiner Verfahrensordnung an das vorlegende Gericht gerichtet hatte, hat dieses mit Schreiben, das am 21. März 2024 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, geantwortet und mitgeteilt, dass die von der Staatsanwaltschaft und die von der Verteidigung benannten Zeugen alle vernommen worden seien. Insbesondere hätten die verschiedenen Verhandlungen es ermöglicht, zwölf Zeugen zu befragen, deren Aussage für den Beweis der Schuld der beschuldigten Person relevant sei, wobei diese an den mündlichen Verhandlungen sowohl persönlich als auch per Videokonferenz aus der Ferne teilgenommen habe.

Rechtssache C‑285/23

24

Bei der Ekonomisko lietu tiesa (Gericht für Wirtschaftssachen), dem vorlegenden Gericht, ist ein Strafverfahren anhängig, in dem einer der Beschuldigten, A, ein deutscher Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Deutschland, wegen schweren bandenmäßigen Betrugs und schwerer organisierter Geldwäsche beschuldigt ist. Diese Straftaten werden als schwere Straftaten eingestuft und mit einer Freiheitsstrafe geahndet.

25

Bei den Straftaten, die A vorgeworfen werden, handelt es sich nach lettischem Recht um schwere Straftaten. Aufgrund dieser Einstufung und da die in Art. 465 der Strafprozessordnung genannten Voraussetzungen für die Verhandlung einer Strafsache in Abwesenheit des Beschuldigten nicht erfüllt sind, ist demnach gemäß den Art. 463 und 464 der Strafprozessordnung eine Verhandlung ohne Teilnahme des Beschuldigten nicht möglich und seine Anwesenheit verpflichtend.

26

A und sein Rechtsbeistand informierten das vorlegende Gericht über Umstände, insbesondere im Zusammenhang mit dem Alter sowie der persönlichen und familiären Situation von A, die ihn daran hinderten, in den meisten Verhandlungen in der vorliegenden Rechtssache persönlich anwesend zu sein. Er möchte sich der Justiz nicht entziehen und per Videokonferenz von Deutschland aus in der Verhandlung anwesend sein.

27

Sowohl die Europäische Ermittlungsanordnung des vorlegenden Gerichts als auch das Rechtshilfeersuchen des lettischen Justizministeriums stießen auf die Ablehnung der zuständigen deutschen Behörden. Diese wiesen darauf hin, dass die Europäische Ermittlungsanordnung nicht vollstreckbar sei, da darum ersucht werde, nicht die Vollstreckung einer Ermittlungsmaßnahme, sondern die Teilnahme einer beschuldigten Person an einer Verhandlung per Videokonferenz sicherzustellen. Außerdem gebe es im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens keine Rechtsgrundlage für die Teilnahme am Verfahren per Videokonferenz. Nach deutschem Recht sei die körperliche Anwesenheit des Beschuldigten in der Verhandlung verpflichtend, und die Teilnahme an der Verhandlung per Videokonferenz aus der Ferne würde den Grundsätzen des deutschen Rechts widersprechen.

28

Nach der Klarstellung in der Entscheidung der Vollversammlung der Richter der Strafabteilung der Augstākā tiesa (Oberstes Gericht) vom 4. November 2021 beschränkt sich die gerichtliche Zuständigkeit der Republik Lettland angesichts des räumlichen Anwendungsbereichs der Strafprozessordnung auf das nationale Hoheitsgebiet. Daher sei die Durchführung einer Videokonferenz außerhalb der internationalen Rechtshilfe nur möglich, wenn die Verfahrenshandlung im Bereich der gerichtlichen Zuständigkeit der Republik Lettland stattfinde.

29

Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob die Vernehmung einer beschuldigten Person per Videokonferenz, wie sie in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 vorgesehen sei, die Teilnahme dieser Person am Strafverfahren umfasse, einschließlich des Rechts, in der Verhandlung anwesend zu sein und ihr zu folgen. Das vorlegende Gericht möchte auch wissen, ob in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 das Recht der beschuldigten Person verankert ist, per Videokonferenz von ihrem Wohnsitzmitgliedstaat aus am Strafverfahren teilzunehmen.

30

Unter diesen Umständen hat die Ekonomisko lietu tiesa (Gericht für Wirtschaftssachen) beschlossen, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 dahin auszulegen, dass die Vernehmung der beschuldigten Person in einer Strafsache per Videokonferenz auch deren Teilnahme per Videokonferenz von ihrem Wohnsitzmitgliedstaat aus einschließt, wenn das gerichtliche Strafverfahren in einem anderen Mitgliedstaat stattfindet?

2.

Ist Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen, dass das Recht der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung, wenn das gerichtliche Strafverfahren in einem anderen Mitgliedstaat stattfindet, auch durch ihre Teilnahme per Videokonferenz von ihrem Wohnsitzmitgliedstaat aus gewährleistet werden kann?

3.

Steht die Teilnahme der beschuldigten Person per Videokonferenz von ihrem Wohnsitzmitgliedstaat aus an einem in einem anderen Mitgliedstaat stattfindenden gerichtlichen Strafverfahren ihrer körperlichen Anwesenheit in der Verhandlung beim Gericht des Mitgliedstaats, bei dem der Fall verhandelt wird, gleich?

4.

Darf, falls die erste und/oder die zweite Vorlagefrage bejaht werden sollte, die Videokonferenz nur unter Mitwirkung der zuständigen Behörden des Mitgliedstaats durchgeführt werden?

5.

Falls die vierte Frage verneint wird: Darf das Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem das Verfahren anhängig ist, direkt mit einer beschuldigten Person in einem anderen Mitgliedstaat Kontakt aufnehmen und ihr den Verbindungslink zur Videokonferenz übermitteln?

6.

Ist die Durchführung der Videokonferenz ohne die Mitwirkung der zuständigen Behörden des Mitgliedstaats mit der Beibehaltung des einheitlichen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Union unvereinbar?

31

Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass es, da die nach Unionsrecht zu entscheidende Frage nur die Art der Teilnahme des Beschuldigten, d. h. persönlich oder per Videokonferenz, betreffe, das Verfahren bis zu einer Entscheidung über die Vorlage wie bisher in körperlicher Anwesenheit von A fortsetzen könne. Somit werde im Ausgangsstrafverfahren das Recht beschuldigter Personen auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist gemäß Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nicht beeinträchtigt. Folglich wird das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache nicht ausgesetzt.

Verfahren vor dem Gerichtshof

32

Mit Beschluss vom 14. Juni 2023 sind die Rechtssachen C‑255/23 und C‑285/23 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

33

In Anbetracht der Art der vorgelegten Fragen hat der Präsident des Gerichtshofs mit Entscheidung vom 14. Juni 2023 den Rechtssachen C‑255/23 und C‑285/23 gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung eine vorrangige Behandlung gewährt.

34

Nachdem das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑285/23 gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung beantragt hatte, diese Rechtssache einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, hat der Präsident des Gerichtshofs nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts diesen Antrag hingegen mit Entscheidung vom 21. Juli 2023 zurückgewiesen.

Zu den Vorlagefragen

35

Nach ständiger Rechtsprechung führt Art. 267 AEUV einen Dialog von Gericht zu Gericht zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten ein, um die einheitliche Auslegung des Unionsrechts zu gewährleisten und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts zu ermöglichen (Urteil vom 17. Mai 2023, BK und ZhP [Teilweise Aussetzung des Ausgangsverfahrens], C‑176/22, EU:C:2023:416, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Somit bindet ein Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren das nationale Gericht hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts bei der Entscheidung über den Rechtsstreit, mit dem es befasst ist (Urteil vom 17. Mai 2023, BK und ZhP [Teilweise Aussetzung des Ausgangsverfahrens], C‑176/22, EU:C:2023:416, Rn. 27).

37

Die Wahrung der praktischen Wirksamkeit dieses Verfahrens wird in der Praxis nicht unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert durch eine nationale Regelung, nach der das Ausgangsverfahren zwischen dem Tag, an dem ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet wird, und dem Tag, an dem der Gerichtshof dieses Ersuchen durch einen Beschluss oder ein Urteil beantwortet, fortgesetzt werden darf, um Verfahrenshandlungen vorzunehmen, die das vorlegende Gericht für erforderlich hält und die Aspekte ohne Bezug zu den Vorlagefragen betreffen, nämlich Verfahrenshandlungen, die das vorlegende Gericht nicht daran hindern würden, diesem Beschluss oder Urteil im Rahmen des Ausgangsverfahrens nachzukommen (Urteil vom 17. Mai 2023, BK und ZhP [Teilweise Aussetzung des Ausgangsverfahrens], C‑176/22, EU:C:2023:416, Rn. 28).

38

Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑255/23 darauf hingewiesen, dass es trotz Einreichung seines Vorabentscheidungsersuchens das Verfahren nicht ausgesetzt habe und die Verhandlungen, an denen E sowohl persönlich als auch per Videokonferenz teilgenommen habe, fortgesetzt habe. In der Rechtssache C‑285/23 hat das vorlegende Gericht klargestellt, dass es das Verfahren ebenfalls nicht ausgesetzt habe und beabsichtige, die Verhandlungen in körperlicher Anwesenheit von A fortzusetzen. Durch solche Verfahrenshandlungen, die u. a. die Prüfung der Beweise einschließen, auf die die Anklage gegen die beschuldigten Personen gestützt ist, können den Vorlagefragen, die die Möglichkeit für die beschuldigte Person betreffen, am Verfahren per Videokonferenz teilzunehmen, ihr Gegenstand und ihre Bedeutung für die Ausgangsverfahren genommen und damit das vorlegende Gericht daran gehindert werden, im Rahmen der Ausgangsverfahren den Entscheidungen nachzukommen, mit denen der Gerichtshof die Vorabentscheidungsersuchen beantworten würde.

39

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nicht dafür zuständig ist, im Vorabentscheidungsverfahren Antworten zu geben, die eine bloß beratende Bedeutung haben (Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 12).

40

Darüber hinaus sieht Art. 23 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union vor, dass durch das Vorabentscheidungsersuchen das nationale Verfahren durch das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt wird. Der Gerichtshof hat zwar unter besonderen Umständen Ausnahmen hiervon zugelassen, doch setzt dies, wie sich aus der in Rn. 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, voraus, dass solche Ausnahmen die praktische Wirksamkeit des Mechanismus der Zusammenarbeit gemäß Art. 267 AEUV nicht beeinträchtigen. Im vorliegenden Fall würde diese praktische Wirksamkeit beeinträchtigt, wenn die Vorlagefragen in den Rechtssachen C‑255/23 und C‑285/23 für zulässig erklärt würden, da das vorlegende Gericht die Ausgangsverfahren nach dem Zeitpunkt der Einreichung der Vorabentscheidungsersuchen fortgesetzt hat, um Verfahrenshandlungen vorzunehmen, die Aspekte mit Bezug zu den Vorlagefragen betreffen.

41

Demnach sind die in den Rechtssachen C‑255/23 und C‑285/23 gestellten Vorlagefragen nicht zu beantworten.

Kosten

42

Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

 

Über die von der Ekonomisko lietu tiesa (Gericht für Wirtschaftssachen, Lettland) mit Entscheidungen vom 28. März 2023 und vom 21. April 2023 vorgelegten Vorabentscheidungsersuchen ist nicht zu entscheiden.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Lettisch.

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