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Document 62023CJ0196

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 11. Juli 2024.
CL u. a. gegen DB und Fondo de Garantía Salarial (FOGASA).
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Superior de Justicia de Cataluña.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 98/59/EG – Massenentlassungen – Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und Art. 2 – Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter – Anwendungsbereich – Beendigungen von Arbeitsverträgen aufgrund des Eintritts des Arbeitgebers in den Ruhestand – Art. 27 und 30 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
Rechtssache C-196/23.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:596

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

11. Juli 2024 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 98/59/EG – Massenentlassungen – Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und Art. 2 – Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter – Anwendungsbereich – Beendigungen von Arbeitsverträgen aufgrund des Eintritts des Arbeitgebers in den Ruhestand – Art. 27 und 30 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“

In der Rechtssache C‑196/23 [Plamaro] ( 1 )

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Superior de Justicia de Cataluña (Obergericht Katalonien, Spanien) mit Entscheidung vom 20. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 24. März 2023, in dem Verfahren

CL,

GO,

GN,

VO,

TI,

HZ,

DN,

DL

gegen

DB in ihrer Eigenschaft als Alleinerbin von FC,

Fondo de Garantía Salarial (Fogasa)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von CL, GO, GN, VO, TI, HZ, DN und DL, vertreten durch J. M. Moragues Martínez, Abogado,

von DB in ihrer Eigenschaft als Alleinerbin von FC, vertreten durch L. Sánchez Frías, Abogado,

der spanischen Regierung, vertreten durch M. Morales Puerta als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche‑Duvieusart und I. Galindo Martín als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. 1998, L 225, S. 16).

2

Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen CL, GO, GN, VO, TI, HZ, DN und DL auf der einen Seite und DB, der Alleinerbin ihres ehemaligen Arbeitgebers FC, und dem Fondo de Garantía Salarial (Fogasa) [Lohngarantiefonds (Fogasa), Spanien] auf der anderen Seite über die Beendigung ihrer Arbeitsverträge anlässlich des Eintritts von FC in den Ruhestand.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 1 Abs. 1 in Teil I („Begriffsbestimmungen und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 98/59 bestimmt:

„Für die Durchführung dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

a)

‚Massenentlassungen‘ sind Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, vornimmt und bei denen – nach Wahl der Mitgliedstaaten – die Zahl der Entlassungen

i)

entweder innerhalb eines Zeitraums von 30 Tagen

mindestens 10 in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 100 Arbeitnehmern,

mindestens 10 v. H. der Arbeitnehmer in Betrieben mit in der Regel mindestens 100 und weniger als 300 Arbeitnehmern,

mindestens 30 in Betrieben mit in der Regel mindestens 300 Arbeitnehmern,

ii)

oder innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen mindestens 20, und zwar unabhängig davon, wie viele Arbeitnehmer in der Regel in dem betreffenden Betrieb beschäftigt sind,

beträgt;

Für die Berechnung der Zahl der Entlassungen gemäß Absatz 1 Buchstabe a) werden diesen Entlassungen Beendigungen des Arbeitsvertrags gleichgestellt, die auf Veranlassung des Arbeitgebers und aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, erfolgen, sofern die Zahl der Entlassungen mindestens fünf beträgt.“

4

Art. 2 in Teil II („Information und Konsultation“) der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Beabsichtigt ein Arbeitgeber, Massenentlassungen vorzunehmen, so hat er die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig zu konsultieren, um zu einer Einigung zu gelangen.

(2)   Diese Konsultationen erstrecken sich zumindest auf die Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie auf die Möglichkeit, ihre Folgen durch soziale Begleitmaßnahmen, die insbesondere Hilfen für eine anderweitige Verwendung oder Umschulung der entlassenen Arbeitnehmer zum Ziel haben, zu mildern.

(3)   Damit die Arbeitnehmervertreter konstruktive Vorschläge unterbreiten können, hat der Arbeitgeber ihnen rechtzeitig im Verlauf der Konsultationen

a)

die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und

b)

in jedem Fall schriftlich folgendes mitzuteilen:

i)

die Gründe der geplanten Entlassung;

ii)

die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer;

iii)

die Zahl und die Kategorien der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer;

iv)

den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen;

v)

die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, soweit die innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken dem Arbeitgeber die Zuständigkeit dafür zuerkennen;

vi)

die vorgesehene Methode für die Berechnung etwaiger Abfindungen, soweit sie sich nicht aus den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken ergeben.

Der Arbeitgeber hat der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Unterabsatz 1 Buchstabe b) Ziffern i) bis v) genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln.

…“

5

Art. 3 in Teil III („Massenentlassungsverfahren“) der Richtlinie 98/59 lautet:

„(1)   Der Arbeitgeber hat der zuständigen Behörde alle beabsichtigten Massenentlassungen schriftlich anzuzeigen.

Die Mitgliedstaaten können jedoch vorsehen, dass im Fall einer geplanten Massenentlassung, die aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung über die Einstellung der Tätigkeit des Betriebs erfolgt, der Arbeitgeber diese der zuständigen Behörde nur auf deren Verlangen schriftlich anzuzeigen hat.

Die Anzeige muss alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung und die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter gemäß Artikel 2 enthalten, insbesondere die Gründe der Entlassung, die Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer und den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen.

(2)   Der Arbeitgeber hat den Arbeitnehmervertretern eine Abschrift der in Absatz 1 genannten Anzeige zu übermitteln.

Die Arbeitnehmervertreter können etwaige Bemerkungen an die zuständige Behörde richten.“

6

In Art. 4 der Richtlinie, der ebenfalls zu Teil III gehört, heißt es:

„(1)   Die der zuständigen Behörde angezeigten beabsichtigten Massenentlassungen werden frühestens 30 Tage nach Eingang der in Artikel 3 Absatz 1 genannten Anzeige wirksam; die im Fall der Einzelkündigung für die Kündigungsfrist geltenden Bestimmungen bleiben unberührt.

Die Mitgliedstaaten können der zuständigen Behörde jedoch die Möglichkeit einräumen, die Frist des Unterabsatzes 1 zu verkürzen.

(4)   Die Mitgliedstaaten können davon absehen, diesen Artikel im Fall von Massenentlassungen infolge einer Einstellung der Tätigkeit des Betriebs anzuwenden, wenn diese Einstellung aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung erfolgt.“

7

Gemäß Art. 5 der Richtlinie 98/59 „lässt [diese] die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt, für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder für die Arbeitnehmer günstigere tarifvertragliche Vereinbarungen zuzulassen oder zu fördern“.

Spanisches Recht

8

Art. 49 („Beendigung des Vertrags“) Abs. 1 des Estatuto de los Trabajadores (Arbeitnehmerstatut) in der Fassung des Real Decreto legislativo 2/2015, por el que se aprueba el texto refundido de la Ley del Estatuto de los Trabajadores (Königliches gesetzesvertretendes Dekret 2/2015 zur Billigung der Neufassung des Gesetzes über das Arbeitnehmerstatut) vom 23. Oktober 2015 (BOE Nr. 255 vom 24. Oktober 2015, S. 100224) (im Folgenden: Arbeitnehmerstatut) bestimmt:

„Der Arbeitsvertrag endet

g)

durch Tod, Zurruhesetzung in den nach der einschlägigen Regelung über die soziale Sicherheit vorgesehenen Fällen, oder Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, unbeschadet der Regelung des Art. 44, oder durch Auflösung der Rechtspersönlichkeit des Vertragspartners.

Der Arbeitnehmer hat bei Tod, Zurruhesetzung oder Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit des Arbeitgebers Anspruch auf Zahlung in Höhe eines Monatsgehalts.

Im Fall der Auflösung der Rechtspersönlichkeit des Vertragspartners ist das Verfahren nach Art. 51 dieses [Statuts] einzuhalten.

i)

im Fall von Massenentlassungen aus wirtschaftlichen, technischen, organisatorischen oder produktionsbedingten Gründen;

…“

9

Art. 51 des Arbeitnehmerstatuts bestimmt:

„1.   Als ‚Massenentlassung‘ im Sinne dieses [Statuts] gilt die Beendigung von Arbeitsverträgen aus wirtschaftlichen, technischen, organisatorischen oder produktionsbedingten Gründen, wenn sich die Beendigung innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen mindestens auswirkt auf

a)

10 Arbeitnehmer in Unternehmen, die weniger als 100 Arbeitnehmer beschäftigen;

b)

10 % der Arbeitnehmer in Unternehmen, die zwischen 100 und 300 Arbeitnehmer beschäftigen;

c)

30 Arbeitnehmer in Unternehmen, die mehr als 300 Arbeitnehmer beschäftigen.

Wirtschaftliche Gründe liegen vor, wenn das Unternehmensergebnis eine negative wirtschaftliche Lage widerspiegelt, etwa im Fall von bereits realisierten oder zu erwartenden Verlusten oder bei einem anhaltenden Rückgang der gewöhnlichen Einnahmen oder der Umsätze. Von einem anhaltenden Rückgang ist jedenfalls dann auszugehen, wenn in drei aufeinanderfolgenden Quartalen das Niveau der gewöhnlichen Einnahmen oder des Umsatzes eines jeden Quartals niedriger ausfällt als das im gleichen Quartal des Vorjahrs verzeichnete Niveau.

Technische Gründe liegen vor, wenn Änderungen u. a. auf der Ebene der Produktionsmittel oder ‑instrumente eintreten, organisatorische Gründe liegen vor, wenn Änderungen u. a. im Bereich der Systeme und Methoden der Arbeit des Personals oder in der Art und Weise der Organisation der Produktion eintreten, und produktionsbedingte Gründe liegen vor, wenn Änderungen u. a. bei der Nachfrage nach den Waren oder Dienstleistungen eintreten, die das Unternehmen auf dem Markt platzieren will.

Als Massenentlassung gilt auch die Beendigung der Arbeitsverträge der gesamten Belegschaft eines Unternehmens, sofern mehr als fünf Arbeitnehmer betroffen sind und sie infolge einer völligen Aufgabe der Geschäftstätigkeit aus den bereits genannten Gründen erfolgt.

Bei der Berechnung der Zahl der Vertragsbeendigungen nach Unterabs. 1 dieses Absatzes werden auch alle sonstigen Beendigungen berücksichtigt, die auf Veranlassung des Arbeitgebers im Bezugszeitraum aus Gründen erfolgt sind, die nicht in der Person des Arbeitnehmers liegen und sich von den in Art. 49 Abs. 1 Buchst. c genannten Gründen unterscheiden, sofern die Zahl der Beendigungen mindestens fünf beträgt.

Beendet ein Unternehmen in aufeinanderfolgenden Zeiträumen von 90 Tagen und zur Umgehung der Bestimmungen dieses Artikels gemäß Art. 52 Buchst. c Arbeitsverträge in einer Zahl, die unter den angegebenen Schwellenwerten liegt, und ohne dass neue Gründe vorliegen, die ein solches Vorgehen rechtfertigen, so gelten diese neuen Beendigungen als Gesetzesumgehung und sind für nichtig zu erklären.

2.   Der Massenentlassung müssen Konsultationen der gesetzlichen Arbeitnehmervertreter für eine Dauer von nicht mehr als 30 Kalendertagen oder – bei Unternehmen mit weniger als 50 Arbeitnehmern – 15 Kalendertagen vorausgehen. Die Konsultation der gesetzlichen Arbeitnehmervertreter erstreckt sich zumindest auf die Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie auf die Möglichkeit, ihre Folgen durch soziale Begleitmaßnahmen wie Verlagerungsmaßnahmen oder Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung oder Umschulung zwecks Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit zu mildern. Die Konsultation findet in einem einzigen Verhandlungsausschuss statt, wobei sie sich, wenn es mehrere Betriebe gibt, auf die von dem Verfahren betroffenen Betriebe beschränkt. Der Verhandlungsausschuss setzt sich aus höchstens 13 Mitgliedern zusammen, die die einzelnen Parteien vertreten.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10

Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens waren in einem der acht Betriebe des Unternehmens von FC beschäftigt. Am 17. Juni 2020 teilte ihnen dieser mit, dass ihre Arbeitsverträge aufgrund seines Eintritts in den Ruhestand mit Wirkung vom 17. Juli 2020 beendet würden. Der Eintritt in den Ruhestand, der dann am 3. August 2020 erfolgte, führte zur Beendigung der in den acht Betrieben laufenden 54 Arbeitsverträge, darunter die acht Arbeitsverträge der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens.

11

Am 10. Juli 2020 erhoben diese eine Klage gegen FC und den Fogasa vor dem Juzgado de lo Social de Barcelona (Arbeits- und Sozialgericht Barcelona, Spanien), um ihre Entlassung anzufechten, die sie für rechtswidrig halten. Mit Urteil vom 12. Januar 2022 wies das Gericht die Klage ab.

12

Das Tribunal Superior de Justicia de Cataluña (Obergericht Katalonien, Spanien), bei dem ein Rechtsmittel gegen dieses Urteil eingelegt wurde, hat u. a. darüber zu befinden, ob die Beendigungen der Arbeitsverträge der Klägerinnen im Ausgangsverfahren als nichtige Entlassungen anzusehen sind, weil es kein Verfahren zur Konsultation der Arbeitnehmervertreter gemäß Art. 51 des Arbeitnehmerstatuts gegeben hat, obwohl diese Beendigungen durch den Eintritt von FC in den Ruhestand verursacht wurden.

13

Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Bestimmungen von Art. 51 des Arbeitnehmerstatuts über diese Konsultation in einer solchen Situation grundsätzlich keine Anwendung fänden. Dies ergebe sich aus einer Zusammenschau von Art. 51 Abs. 1 Unterabs. 5 des Arbeitnehmerstatuts, wonach die Beendigung eines Arbeitsvertrags aus nicht in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen nur dann berücksichtigt werden dürfe, wenn auch Entlassungen aus wirtschaftlichen, organisatorischen oder produktionsbedingten Gründen im Sinne von Abs. 1 desselben Absatzes stattgefunden hätten, und Art. 49 Abs. 1 Buchst. g des Arbeitnehmerstatuts, wonach das in Art. 51 genannte Konsultationsverfahrens nur dann vorgesehen sei, wenn die Beendigung der Arbeitsverträge auf der Auflösung der Rechtspersönlichkeit des Vertragspartners beruhe, nicht aber, wenn sie auf den Eintritt des Arbeitgebers, einer natürlichen Person, in den Ruhestand zurückzuführen sei.

14

Allerdings stelle sich die Frage, ob es mit der Richtlinie 98/59 vereinbar sei, dass für eine solche Situation kein Konsultationsverfahren vorgesehen sei, und ob sich, wenn dies nicht der Fall sei, die betroffenen Arbeitnehmer gegenüber ihrem Arbeitgeber, einer natürlichen Person, auf die Richtlinie berufen könnten, obwohl diese nicht ordnungsgemäß in innerstaatliches Recht umgesetzt worden sei. Insoweit sei zwar klar, dass den Bestimmungen einer Richtlinie in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten keine sogenannte „horizontale“ unmittelbare Wirkung zuerkannt werden könne. Da der Gerichtshof jedoch in bestimmten Fällen bereits Ausnahmen von dieser Regel zugelassen habe, wenn das in Rede stehende Recht auch in einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts oder in einer Bestimmung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert sei, dessen bzw. deren konkrete Umsetzung durch eine Richtlinie gewährleistet werde, sei zu klären, ob im vorliegenden Fall angesichts der Bestimmungen der Art. 27 und/oder 30 der Charta nicht eine entsprechende Ausnahme zur Anwendung kommen könnte.

15

Unter diesen Umständen hat das Tribunal Superior de Justicia de Cataluña (Obergericht Katalonien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist eine gesetzliche Regelung wie die spanische, die gemäß Art. 49 Abs. 1 Buchst. g des Arbeitnehmerstatuts keinen Konsultationszeitraum für Fälle vorsieht, in denen wegen des Eintritts des Arbeitgebers, einer natürlichen Person, in den Ruhestand eine Beendigung von Arbeitsverträgen in einer Zahl stattfindet, die die in Art. 1 der Richtlinie 98/59 vorgesehene übersteigt, mit Art. 2 dieser Richtlinie vereinbar?

2.

Falls diese Frage nicht bejaht wird: Entfaltet die Richtlinie 98/59 horizontale unmittelbare Wirkung zwischen Privaten?

Zu den Vorlagefragen

Zur Zulässigkeit

16

Die Europäische Kommission weist darauf hin, dass die 54 bei dem Unternehmen von FC beschäftigten Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Eintritts von FC in den Ruhestand auf die acht Betriebe des Unternehmens verteilt gewesen seien, und wirft die Frage auf, ob die Schwellenwerte, die in Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59 für die Zahl der Arbeitnehmer, die von einer Massenentlassung betroffen sein müssten, genannt seien, im vorliegenden Fall tatsächlich erreicht seien. In dieser Bestimmung sei der Anwendungsbereich der Richtlinie nämlich allein unter Bezugnahme auf den Begriff „Betrieb“ definiert, in dem in der Regel mindestens 20 Personen beschäftigt sein müssten.

17

Hierzu ist festzustellen, dass es allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Frage zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über eine ihm vorgelegte Frage zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung betrifft. Folglich gilt für eine Vorlagefrage, die das Unionsrecht betrifft, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer solchen Vorlagefrage nur dann ablehnen, wenn die erbetene Auslegung einer unionsrechtlichen Regelung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a.,C‑426/16, EU:C:2018:335, Rn. 30 und 31).

18

Im vorliegenden Fall ist zum einen festzustellen, dass die Vorlageentscheidung keine tatsächlichen oder rechtlichen Angaben zu den Merkmalen der Betriebe des Unternehmens von FC zum Zeitpunkt der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beendigungen der Arbeitsverträge enthält. Zum anderen ersucht das vorlegende Gericht mit seinen Vorlagefragen nicht um eine Auslegung der in Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59 genannten Schwellenwerte oder der Tragweite des Begriffs „Betrieb“, auf den sich diese Bestimmung bezieht. Vielmehr ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der ersten Vorlagefrage, dass diese speziell im Zusammenhang mit Fällen der Beendigung von Arbeitsverträgen „in einer Zahl …, die die in Art. 1 der Richtlinie 98/59 vorgesehene übersteigt“, gestellt wird.

19

Unter diesen Umständen ist es Sache des vorlegenden Gerichts, gegebenenfalls im Licht der Erkenntnisse, die sich insoweit aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs und insbesondere aus dem Urteil vom 13. Mai 2015, Rabal Cañas (C‑392/13, EU:C:2015:318), ergeben, den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anhand des Begriffs „Betrieb“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59 und der in dieser Bestimmung vorgesehenen quantitativen Schwellenwerte zu beurteilen und einzustufen.

20

In diesem Zusammenhang kann das vorlegende Gericht im Übrigen auch berücksichtigen, dass, wie sich aus dem Wortlaut von Art. 51 Abs. 1 des Arbeitnehmerstatuts ergibt und vom Gerichtshof bereits im Urteil vom 13. Mai 2015, Rabal Cañas (C‑392/13, EU:C:2015:318), und im Urteil vom 10. Dezember 2009, Rodríguez Mayor u. a. (C‑323/08, EU:C:2009:770), festgestellt wurde, der spanische Gesetzgeber, indem er sich insoweit auf Art. 5 der Richtlinie 98/59 berufen hat, im vorliegenden Fall eine Definition des Begriffs „Massenentlassungen“ gewählt hat, die für die Berechnung der Zahl der Arbeitnehmer, die von solchen Entlassungen betroffen sein müssen, als Referenzeinheit das Unternehmen und nicht den Betrieb verwendet.

21

Nach alledem ist nicht offensichtlich, dass die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 98/59 in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünde oder dass das von diesem Gericht aufgeworfene Problem hypothetischer Natur wäre.

22

Folglich sind die Vorlagefragen zulässig.

Zur ersten Frage

23

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 der Richtlinie 98/59 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Beendigung der Arbeitsverträge einer Zahl von Arbeitnehmern, die die in diesem Art. 1 Abs. 1 vorgesehene übersteigt, aufgrund des Eintritts des Arbeitgebers in den Ruhestand nicht als „Massenentlassung“ eingestuft wird und daher nicht zu der in diesem Art. 2 vorgesehenen Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter führt.

24

Nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59 sind für die Durchführung der Richtlinie unter „Massenentlassungen“ solche Entlassungen zu verstehen, die ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, vornimmt, sofern bestimmte quantitative und zeitliche Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 12. Oktober 2004, Kommission/Portugal,C‑55/02, EU:C:2004:605, Rn. 43).

25

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 98/59 den Begriff „Entlassung“ zwar nicht ausdrücklich definiert. Nach ständiger Rechtsprechung ist dieser Begriff, der einen autonomen Begriff des Unionsrechts darstellt und damit einheitlich auszulegen ist und nicht anhand der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestimmt werden kann, in Anbetracht des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels und des Zusammenhangs, in den sich ihr Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a einfügt, aber dahin auszulegen, dass er jede vom Arbeitnehmer nicht gewollte, also ohne seine Zustimmung erfolgte Beendigung des Arbeitsvertrags umfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2015, Pujante Rivera,C‑422/14, EU:C:2015:743, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass die den Anwendungsbereich der Richtlinie 98/59 festlegenden Begriffe – wie der Begriff „Entlassung“ in Art. 1 Abs. 1 Buchst. a – in Anbetracht der Zielsetzung der Richtlinie, die ausweislich ihres zweiten Erwägungsgrundes insbesondere den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen verstärken soll, nicht eng ausgelegt werden dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2015, Pujante Rivera,C‑422/14, EU:C:2015:743, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

DB wendet sich gegen eine solche Einstufung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beendigungen der Arbeitsverträge und macht geltend, dass ein Arbeitgeber wie FC ebenso wie der von ihm beschäftigte Arbeitnehmer berechtigt sein müsse, in den Ruhestand zu treten und die von ihm geschlossenen Arbeitsverträge zu beenden, was im Übrigen ein für den Arbeitnehmer, der einen unbefristeten Arbeitsvertrag mit einer natürlichen Person eingehe, vorhersehbares Ereignis sei. Ein Konsultationsverfahren wie das in der Richtlinie 98/59 vorgesehene sei außerdem nicht sachdienlich, wenn die beabsichtigten Beendigungen der Arbeitsverträge damit zusammenhingen, dass der Arbeitgeber in den Ruhestand trete, was die betreffenden Entlassungen, wie im vorliegenden Fall, unvermeidbar mache.

28

Insoweit ist jedoch zum einen festzustellen, dass der Begriff „Entlassung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59 insbesondere nicht verlangt, dass die Gründe, auf denen die Beendigung des Arbeitsvertrags beruht, dem Willen des Arbeitgebers entsprechen, und zum anderen, dass die Anwendung der Richtlinie auf eine Beendigung des Arbeitsvertrags nicht allein deshalb ausgeschlossen ist, weil diese von Umständen abhängt, die außerhalb des Willens des Arbeitgebers liegen (Urteil vom 12. Oktober 2004, Kommission/Portugal,C‑55/02, EU:C:2004:605, Rn. 50 und 60).

29

Der Gerichtshof hat außerdem präzisiert, dass selbst in Fällen, in denen die endgültige Einstellung der Tätigkeit des Unternehmens nicht vom Willen des Arbeitgebers abhängt und sich herausstellt, dass die vollständige Anwendung der Richtlinie nicht möglich ist, die Anwendung der Richtlinie nicht insgesamt ausgeschlossen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Oktober 2004, Kommission/Portugal,C‑55/02, EU:C:2004:605, Rn. 57).

30

Ferner ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 98/59 die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter nicht nur Massenentlassungen beschränken oder vermeiden sollen, sondern sich u. a. auch auf die Möglichkeit erstrecken, die Folgen solcher Entlassungen durch soziale Begleitmaßnahmen, die insbesondere Hilfen für eine anderweitige Verwendung oder Umschulung der entlassenen Arbeitnehmer zum Ziel haben, zu mildern (Urteil vom 12. Oktober 2004, Kommission/Portugal,C‑55/02, EU:C:2004:605, Rn. 58). Diese Konsultationen bleiben daher relevant, wenn die beabsichtigten Beendigungen der Arbeitsverträge mit dem Eintritt des Arbeitgebers in den Ruhestand zusammenhängen.

31

Zwar hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 10. Dezember 2009, Rodríguez Mayor u. a. (C‑323/08, EU:C:2009:770), das ebenfalls Bestimmungen des Arbeitnehmerstatuts betraf, entschieden, dass Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 98/59 dahin auszulegen ist, dass er einer innerstaatlichen Regelung nicht entgegensteht, die vorsieht, dass die Beendigung der Arbeitsverträge mehrerer Arbeitnehmer durch den Tod von deren Arbeitgeber weder als Massenentlassung eingestuft wird noch den nationalen Bestimmungen zur Umsetzung dieser Richtlinie unterliegt.

32

Allerdings ist der Gerichtshof erst zu dieser Auslegung gelangt, nachdem er insbesondere in den Rn. 34 bis 41 des Urteils ausgeführt hatte, dass sich aus der Zusammenschau des Wortlauts von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 98/59 und des Wortlauts von Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 2, Art. 2 Abs. 1 und 3 sowie Art. 3 dieser Richtlinie ergibt, dass der Begriff „Massenentlassungen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie die Existenz eines Arbeitgebers voraussetzt, der solche Entlassungen beabsichtigt hat und in der Lage ist, zum einen im Hinblick darauf die in den Art. 2 und 3 der Richtlinie genannten Handlungen auszuführen und zum anderen gegebenenfalls solche Entlassungen vorzunehmen. In Rn. 42 des Urteils hat der Gerichtshof dann festgestellt, dass diese Voraussetzungen im Fall des Todes eines Arbeitgebers, der als natürliche Person ein Unternehmen betreibt, nicht mehr gegeben sind.

33

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof in Rn. 44 des Urteils vom 10. Dezember 2009, Rodríguez Mayor u. a. (C‑323/08, EU:C:2009:770), außerdem darauf hingewiesen, dass das Hauptziel der Richtlinie 98/59, nämlich Massenentlassungen Konsultationen mit Arbeitnehmervertretern und die Unterrichtung der zuständigen Behörde vorangehen zu lassen, nicht erreicht werden kann, wenn die Beendigung der Arbeitsverträge der gesamten Belegschaft eines von einer natürlichen Person geführten Unternehmens aufgrund der Einstellung der Tätigkeiten dieses Unternehmens wegen des Todes des Arbeitgebers als Massenentlassung angesehen wird, da solche Konsultationen nicht stattfinden können und es somit nicht möglich wäre, die Beendigung der Arbeitsverträge zu vermeiden oder zu beschränken oder ihre Folgen zu mildern.

34

Schließlich hat der Gerichtshof in diesem Urteil in Rn. 48 daran erinnert, dass die Konsultations- und Anzeigepflichten vor einer Entscheidung zur Kündigung von Arbeitsverträgen entstehen, und in Rn. 50 darauf hingewiesen, dass es im Fall des Todes eines Arbeitgebers, der eine natürliche Person ist, weder eine Entscheidung gibt, die Arbeitsverträge zu kündigen, noch die Absicht besteht, eine solche Kündigung vorzunehmen.

35

Die in den Rn. 32 bis 34 des vorliegenden Urteils angeführten Besonderheiten, die den Fall kennzeichnen, dass der Arbeitgeber, eine natürliche Person, verstorben ist, sind jedoch nicht gegeben, wenn die Beendigung der Arbeitsverträge darauf zurückzuführen ist, dass ein solcher Arbeitgeber in den Ruhestand tritt.

36

In diesem letzteren Fall ist der Arbeitgeber, der solche Beendigungen von Arbeitsverträgen im Hinblick auf seinen Eintritt in den Ruhestand beabsichtigt, nämlich grundsätzlich in der Lage, die in den Art. 2 und 3 der Richtlinie 98/59 genannten Handlungen vorzunehmen und in diesem Zusammenhang Konsultationen durchzuführen, um insbesondere die Beendigungen zu vermeiden, ihre Zahl zu verringern oder jedenfalls ihre Folgen abzumildern.

37

Im Übrigen ist es unerheblich, dass Fälle wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nach spanischem Recht nicht als Entlassungen, sondern als Beendigungen von Arbeitsverträgen kraft Gesetzes eingestuft werden. Es handelt sich nämlich um nicht vom Arbeitnehmer gewollte Beendigungen der Arbeitsverträge und somit um Entlassungen im Sinne der Richtlinie 98/59 (vgl. entsprechend Urteil vom 12. Oktober 2004, Kommission/Portugal,C‑55/02, EU:C:2004:605, Rn. 62).

38

Daher würde jede nationale Regelung oder Auslegung dieser Regelung, die darauf hinausliefe, dass die Beendigung von Arbeitsverträgen, die durch den Eintritt eines Arbeitgebers, der eine natürliche Person ist, verursacht wird, keine „Entlassung“ im Sinne der Richtlinie 98/59 darstellen kann, deren Anwendungsbereich verändern und ihr damit ihre volle Wirksamkeit nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2015, Pujante Rivera,C‑422/14, EU:C:2015:743, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 der Richtlinie 98/59 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Beendigung der Arbeitsverträge einer Zahl von Arbeitnehmern, die die in diesem Art. 1 Abs. 1 vorgesehene übersteigt, aufgrund des Eintritts des Arbeitgebers in den Ruhestand nicht als „Massenentlassung“ eingestuft wird und daher nicht zu der in diesem Art. 2 vorgesehenen Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter führt.

Zur zweiten Frage

40

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es ein mit einem Rechtsstreit zwischen Privaten befasstes nationales Gericht verpflichtet, eine nationale Regelung wie die in Rn. 39 des vorliegenden Urteils angeführte unangewendet zu lassen, wenn sie mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der Richtlinie 98/59 unvereinbar ist.

41

Zunächst ist daran zu erinnern, dass die nationalen Gerichte nach ständiger Rechtsprechung bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts dieses so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der fraglichen Richtlinie auszulegen haben, um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen und damit Art. 288 Abs. 3 AEUV nachzukommen (Urteil vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth, C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42

Insoweit ist ferner darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts verlangt, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel im Einklang steht (Urteil vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth, C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Wie der Gerichtshof jedoch wiederholt festgestellt hat, unterliegt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung bestimmten Schranken. So findet die Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts das Unionsrecht heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (Urteil vom 19. April 2016, DI,C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Im vorliegenden Fall vertreten DB und die spanische Regierung unterschiedliche Auffassungen zu der Frage, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung so ausgelegt werden kann, dass sie mit Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 der Richtlinie 98/59 vereinbar ist. DB ist der Ansicht, dass der klare und präzise Wortlaut von Art. 49 Abs. 1 Buchst. g des Arbeitnehmerstatuts einer solchen unionsrechtskonformen Auslegung entgegenstehe, während die spanische Regierung die Auffassung vertritt, dass eine solche Auslegung möglich sei und nicht contra legem wäre.

45

Es ist jedoch nicht Sache des Gerichtshofs, sondern allein die der nationalen Gerichte, über die Auslegung des nationalen Rechts zu befinden, so dass es das vorlegende Gericht ist, das gegebenenfalls darüber zu entscheiden haben wird, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung so ausgelegt werden kann, dass sie mit der Richtlinie 98/59 vereinbar ist.

46

Sodann ist darauf hinzuweisen, dass eine Richtlinie nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist. Eine Ausdehnung der Möglichkeit, sich auf eine Bestimmung einer nicht oder unrichtig umgesetzten Richtlinie zu berufen, auf den Bereich der Beziehungen zwischen Privaten liefe nämlich darauf hinaus, der Europäischen Union die Befugnis zuzuerkennen, mit unmittelbarer Wirkung zulasten der Einzelnen Verpflichtungen anzuordnen, obwohl sie dies nur dort darf, wo ihr die Befugnis zum Erlass von Verordnungen zugewiesen ist (Urteil vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth, C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47

Daraus folgt, dass Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 der Richtlinie 98/59 nicht als solcher in einem Rechtsstreit zwischen Privaten wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden geltend gemacht werden kann, um die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen zu gewährleisten, indem eine nationale Regelung, die als mit diesen Bestimmungen unvereinbar erachtet wird, unangewendet bleibt (vgl. entsprechend Urteil vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth, C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 78).

48

Schließlich ist die jeweilige Tragweite der Art. 27 und 30 der Charta zu prüfen, um – wie das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen erbittet – zu klären, ob die eine und/oder die andere dieser Bestimmungen dahin auszulegen ist, dass sie allein oder in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der Richtlinie 98/59 in einem Rechtsstreit zwischen Privaten wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden geltend gemacht werden kann, um zu erreichen, dass das nationale Gericht eine nationale Regelung unangewendet lässt, die es als mit den genannten Bestimmungen der Richtlinie unvereinbar erachtet.

49

Was zum einen Art. 27 („Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen“) der Charta anbelangt, wonach für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf verschiedenen Ebenen eine Unterrichtung und Anhörung in den Fällen und unter den Voraussetzungen gewährleistet sein muss, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind, genügt im vorliegenden Fall der Hinweis, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass aus dem Wortlaut dieser Bestimmung klar hervorgeht, dass sie, damit sie ihre volle Wirksamkeit entfaltet, durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss (Urteile vom 15. Januar 2014, Association de médiation sociale,C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 44 und 45, sowie vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth, C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 84).

50

Insoweit lassen sich Regelungen wie die in Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der Richtlinie 98/59 enthaltenen – die an die Mitgliedstaaten gerichtet sind und die Fälle, in denen bei der Massenentlassung von Arbeitnehmern ein Verfahren zur Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter durchzuführen ist, sowie die materiellen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen festlegen, denen diese Information und Konsultation genügen muss – nicht als unmittelbar anwendbare Rechtsnormen aus dem Wortlaut von Art. 27 der Charta herleiten (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Januar 2014, Association de médiation sociale,C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 46).

51

Demnach kann Art. 27 der Charta als solcher in einem Rechtsstreit zwischen Privaten wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht geltend gemacht werden, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass die mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der Richtlinie 98/59 nicht vereinbaren nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen sind (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Januar 2014, Association de médiation sociale,C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 48).

52

Diese Feststellung kann nicht dadurch entkräftet werden, dass Art. 27 der Charta im Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der Richtlinie 98/59 betrachtet wird. Da dieser Art. 27 nämlich für sich allein nicht ausreicht, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das dieser als solches geltend machen kann, kann bei einer solchen Zusammenschau nichts anderes gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Januar 2014, Association de médiation sociale,C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 49).

53

Was zum anderen Art. 30 der Charta betrifft, wonach jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung hat, ist festzustellen, dass die in den Rn. 49 bis 52 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründe mutatis mutandis zu derselben Schlussfolgerung führen müssen, wie sie sich aus diesen Randnummern in Bezug auf Art. 27 der Charta ergibt.

54

Wie in Rn. 49 des vorliegenden Urteils zu Art. 27 der Charta ausgeführt, geht nämlich aus dem Wortlaut von Art. 30 der Charta klar hervor, dass diese Bestimmung, damit sie ihre volle Wirksamkeit entfaltet, durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss.

55

Unabhängig davon, ob die Nichtbeachtung von Regelungen über die Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter bei Massenentlassungen wie den in Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der Richtlinie 98/59 vorgesehenen in den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 30 der Charta und unter den Begriff „ungerechtfertigte Entlassung“ im Sinne dieser Bestimmung fallen, genügt daher die Feststellung, dass sich solche Regelungen – die an die Mitgliedstaaten gerichtet sind und die Fälle, in denen bei der Massenentlassung von Arbeitnehmern ein Verfahren zur Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter durchzuführen ist, sowie die materiellen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen festlegen, denen diese Information und Konsultation genügen muss – nicht als unmittelbar anwendbare Rechtsnormen aus dem Wortlaut von Art. 30 der Charta herleiten lassen.

56

Daher kann Art. 30 der Charta – ebenso wie dies in den Rn. 51 und 52 des vorliegenden Urteils in Bezug auf Art. 27 der Charta ausgeführt ist – als solcher oder in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der Richtlinie 98/59 in einem Rechtsstreit zwischen Privaten wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht geltend gemacht werden, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass nationale Bestimmungen, die mit diesen Bestimmungen der Richtlinie 98/59 unvereinbar sind, unangewendet zu lassen sind.

57

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es ein mit einem Rechtsstreit zwischen Privaten befasstes nationales Gericht nicht verpflichtet, eine nationale Regelung wie die in Rn. 39 des vorliegenden Urteils angeführte unangewendet zu lassen, wenn sie mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der Richtlinie 98/59 unvereinbar ist.

Kosten

58

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Beendigung der Arbeitsverträge einer Zahl von Arbeitnehmern, die die in diesem Art. 1 Abs. 1 vorgesehene übersteigt, aufgrund des Eintritts des Arbeitgebers in den Ruhestand nicht als „Massenentlassung“ eingestuft wird und daher nicht zu der in diesem Art. 2 vorgesehenen Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter führt.

 

2.

Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es ein mit einem Rechtsstreit zwischen Privaten befasstes nationales Gericht nicht verpflichtet, eine nationale Regelung wie die in Nr. 1 des vorliegenden Tenors angeführte unangewendet zu lassen, wenn sie mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der Richtlinie 98/59 unvereinbar ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Spanisch.

( 1 ) Fiktiver Name, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.

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