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Document 62023CJ0114

Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 11. April 2024.
Strafverfahren gegen KB u. a.
Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Okręgowy w Warszawie.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 267 AEUV – Erforderlichkeit der erbetenen Auslegung, damit das vorlegende Gericht sein Urteil erlassen kann – Richterliche Unabhängigkeit – Bedingungen der Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit – Möglichkeit, ein rechtskräftiges Strafurteil im Stadium eines Verfahrens zur Vollstreckung dieses Urteils in Frage zu stellen – Unzulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen.
Verbundene Rechtssachen C-114/23, C-115/23, C-132/23 und C-160/23.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:290

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

11. April 2024 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 267 AEUV – Erforderlichkeit der erbetenen Auslegung, damit das vorlegende Gericht sein Urteil erlassen kann – Richterliche Unabhängigkeit – Bedingungen der Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit – Möglichkeit, ein rechtskräftiges Strafurteil im Stadium eines Verfahrens zur Vollstreckung dieses Urteils in Frage zu stellen – Unzulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen“

In den verbundenen Rechtssachen C‑114/23 [Sapira]i, C‑115/23 [Jurckow]i, C‑132/23 [Kosieski]i und C‑160/23 [Oczka] ( i )

betreffend vier Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) mit Entscheidungen vom 18. Februar 2023 (C‑114/23 und C‑115/23), vom 6. März 2023 (C‑132/23) und vom 14. März 2023 (C‑160/23), beim Gerichtshof eingegangen am 27. Februar 2023 (C‑114/23 und C‑115/23), am 6. März 2023 (C‑132/23) und am 15. März 2023 (C‑160/23), in Strafverfahren gegen

KB (C‑114/23),

RZ (C‑115/23),

AN (C‑132/23),

CG (C‑160/23),

Beteiligte:

Prokuratura Rejonowa Warszawa Ochota (C‑114/23 und C‑160/23),

Prokuratura Okręgowa w Warszawie (C‑115/23 und C‑132/23),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Prokuratura Okręgowa w Warszawie, vertreten durch A. Bortkiewicz,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit, der Unabänderlichkeit rechtskräftiger Entscheidungen, der Verhältnismäßigkeit und der Verfahrensautonomie.

2

Sie ergehen im Rahmen von Verfahren zur Vollstreckung von vier rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidungen, mit denen KB, RZ, AN und CG strafrechtlich verurteilt wurden.

Rechtlicher Rahmen

3

Art. 9 §§ 1 und 2 der Ustawa – Kodeks karny wykonawczy (Gesetz über das Strafvollstreckungsgesetzbuch) vom 6. Juni 1997 (Dz. U. 2023, Pos. 127, im Folgenden: Strafvollstreckungsgesetzbuch) bestimmt:

„§ 1.   Das Vollstreckungsverfahren beginnt unverzüglich, nachdem das Urteil vollstreckbar geworden ist.

§ 2.   Ein Urteil oder ein Beschluss nach Art. 420 der Ustawa – Kodeks postępowania karnego [(Gesetz über die Strafprozessordnung) vom 6. Juni 1997 (Dz. U. 2022, Pos. 1375)] betreffend eine Einziehung oder materielle Beweise wird vorbehaltlich besonderer gesetzlicher Bestimmungen mit Erlangung der Rechtskraft vollstreckbar.“

4

Art. 13 § 1 des Strafvollstreckungsgesetzbuchs sieht vor:

„Die für die Vollstreckung der Entscheidung zuständige Behörde und jede von der Entscheidung unmittelbar betroffene Person können das Gericht, das die Entscheidung erlassen hat, ersuchen, Zweifel hinsichtlich der Vollstreckung der Entscheidung oder Beanstandungen hinsichtlich der Strafbemessung auszuräumen. Gegen den Beschluss des Gerichts kann Rechtsmittel eingelegt werden.“

5

Art. 15 § 1 des Strafvollstreckungsgesetzbuchs lautet:

„Bei Vollstreckungsverjährung, Tod des Verurteilten oder Vorliegen anderer Gründe, die ein Vollstreckungsverfahren ausschließen, stellt das Gericht das Vollstreckungsverfahren ein.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6

Mit Urteil des Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) vom 28. Dezember 2022 wurde KB wegen öffentlicher Beleidigung des Präsidenten der Republik Polen am 1. und 2. März 2022 über das soziale Netzwerk Twitter zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten auf Bewährung und zu einer Geldstrafe verurteilt (Rechtssache C‑114/23).

7

Mit Urteil desselben Gerichts vom 28. November 2022 wurde RZ wegen der auf einen eigenen finanziellen Vorteil ausgerichteten Veranlassung einer anderen Person, eine für sie ungünstige Vermögensverfügung zu treffen, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung und zu einer Geldstrafe verurteilt (Rechtssache C‑115/23).

8

Mit Urteil wiederum desselben Gerichts vom 9. Februar 2023 wurde AN wegen zweier Computerbetrugsdelikte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt (Rechtssache C‑132/23).

9

Diese drei Urteile ergingen durch die Einzelrichter LM (in den Rechtssachen C‑114/23 und C‑132/23) und OP (in der Rechtssache C‑115/23). Sie wurden rechtskräftig, ohne dass gegen sie Rechtsmittel eingelegt worden wäre.

10

CG wurde mit Urteil des Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) vom 30. Dezember 2022 wegen physischer und psychischer Misshandlung eines Säuglings zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt (Rechtssache C‑160/23). Dieses Urteil, das durch einen mit drei Richtern, nämlich JL, KS und MP, besetzten Spruchkörper in der Berufungsinstanz erging, erlangte ebenfalls Rechtskraft.

11

Der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau), das vorlegende Gericht, hat über die Vollstreckung der vier vorstehend in den Rn. 6 bis 10 genannten rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen zu entscheiden.

12

Er führt aus, dass sowohl die Einzelrichter LM und OP des Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) als auch die drei Richter JL, KS und MP des Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) (im Folgenden zusammen: in Rede stehende Richter) durch Entscheidungen des Präsidenten der Republik Polen auf Antrag der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) in ihrer Zusammensetzung aufgrund der Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 3) ernannt worden seien. Es stehe jedoch fest, dass dieses Organ nicht unabhängig sei.

13

Infolgedessen sei ein Gericht in der Besetzung mit einem Richter, der auf Antrag des Landesjustizrats in der Zusammensetzung, die sich aus dem in der vorstehenden Randnummer genannten Gesetz ergebe, ernannt worden sei, nicht ordnungsgemäß besetzt und könne nicht als unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne insbesondere von Art. 47 der Charta angesehen werden.

14

In seinem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑160/23 führt das vorlegende Gericht darüber hinaus aus, dass der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) bereits mit mehreren Urteilen Berufungsurteile aufgehoben habe, die durch einen Spruchkörper des Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) ergangen seien, dem der Richter JL angehört habe, u. a. in einer Rechtssache, in der er mit den Richtern KS und MP entschieden habe. Der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) habe in jenen Urteilen die Umstände der Ernennung des Richters JL, seine Verbindungen zu den politischen Machthabern und seine Tätigkeit als Disziplinarbeauftragter für die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit herausgestellt. Entsprechende Erwägungen gälten für den Richter KS. Hinsichtlich des Richters MP habe der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) dessen nicht ordnungsgemäße Ernennung sowie seine die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter untergrabende Tätigkeit im Landesjustizrat berücksichtigt.

15

Das polnische Recht, ausgelegt im Licht des Unionsrechts und der Rechtsprechung des Gerichtshofs, erlaube den in Strafsachen entscheidenden Gerichten, den Einwand zu prüfen, dass den Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta nicht genügt sei. Dieser Einwand könne vom Angeklagten und den sonstigen Verfahrensbeteiligten geltend gemacht werden, aber auch vom Gericht von Amts wegen geprüft werden. Vorliegend sei jedoch im Rahmen der vier Strafverfahren, in denen die rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen ergangen seien, die Gegenstand der Vollstreckungsverfahren in den Ausgangsverfahren seien, kein Einwand in diesem Sinne geltend gemacht worden, und die in Rede stehenden Richter hätten die Einhaltung der besagten Anforderungen nicht geprüft.

16

In diesem Zusammenhang hält es das vorlegende Gericht für erforderlich, zu klären, ob nach dem Unionsrecht die Einhaltung dieser Anforderungen in einem späteren Stadium, namentlich in einem gerichtlichen Vollstreckungsverfahren – gegebenenfalls von Amts wegen –, geprüft werden kann. Seiner Ansicht nach sollte dies so sein.

17

Vorliegend müsste es somit wegen der nicht ordnungsgemäßen Bedingungen, unter denen die in Rede stehenden Richter ernannt worden seien, den rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen, die Gegenstand der Vollstreckungsverfahren vor ihm seien, die Existenz absprechen. Es müsste dann, so das vorlegende Gericht, die Vollstreckungsverfahren einstellen, und die strafrechtliche Verantwortlichkeit von KB, RZ, AN und CG müsste Gegenstand neuer gerichtlicher Entscheidungen sein.

18

Unter diesen Umständen hat der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und die als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts geltenden Grundsätze der Rechtssicherheit, der Unabänderlichkeit rechtskräftiger Entscheidungen, der Verhältnismäßigkeit sowie der Verfahrensautonomie dahin auszulegen, dass sie jeder nationalen Regelung entgegenstehen, die es verhindert, dass ein Gericht im Rahmen der Vollstreckung einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung prüft, ob das zu vollstreckende Urteil durch ein Gericht erlassen wurde, das den Anforderungen der Errichtung durch Gesetz, der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit genügt, und im Fall der Feststellung, dass die betreffenden Anforderungen nicht erfüllt wurden, der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs entsprechend alle Konsequenzen daraus zieht, einschließlich der Nichtberücksichtigung des so erlassenen Urteils und der Einstellung des Vollstreckungsverfahrens?

2.

Falls die erste Frage bejaht wird: Erfordert die Vornahme einer solchen Prüfung ein Tätigwerden des Verurteilten bzw. eines anderen Berechtigten oder hat das Gericht in Anbetracht der angeführten Grundsätze des Unionsrechts diese Prüfung im Rahmen der Vollstreckung einer rechtskräftigen Verurteilung von Amts wegen vorzunehmen?

Verfahren vor dem Gerichtshof

Zur Verbindung der Rechtssachen C‑114/23, C‑115/23, C‑132/23 und C‑160/23

19

Mit Entscheidungen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 4. und 18. April 2023 sind die Rechtssachen C‑114/23, C‑115/23, C‑132/23 und C‑160/23 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.

Zu den Anträgen auf Anwendung des beschleunigten Vorabentscheidungsverfahrens

20

Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegenden Vorlagen zur Vorabentscheidung im beschleunigten Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu behandeln. Es hat dies damit begründet, dass die Ausgangsverfahren strafrechtlichen Bezug hätten, dass es in ihnen um Grundrechte gehe und dass es im Allgemeininteresse liege, dass Straftäter unverzüglich strafrechtlich zur Verantwortung gezogen würden.

21

Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

22

Nach ständiger Rechtsprechung ist ein solches beschleunigtes Verfahren ein Verfahrensinstrument, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23

Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 4. und 18. April 2023 nach Anhörung der Berichterstatterin und der Generalanwältin entschieden, den oben in Rn. 20 genannten Anträgen nicht stattzugeben. Das vorlegende Gericht hat nämlich keine besonderen Gründe im Zusammenhang mit den Umständen der Vollstreckungsverfahren, um die es in den Ausgangsverfahren geht, angeführt, die eine rasche Entscheidung über die Vorabentscheidungsersuchen erforderlich gemacht hätten. Der Umstand, dass die Ausgangsverfahren strafrechtlichen Bezug haben, rechtfertigt als solcher noch keine beschleunigte Behandlung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a.,C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 26). Schließlich ist das bloße – wenn auch legitime – Interesse der Rechtsuchenden daran, den Umfang der ihnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte möglichst schnell zu klären, nicht geeignet, das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands zu belegen (Urteil vom 28. April 2022, Phoenix Contact,C‑44/21, EU:C:2022:309, Rn. 16).

Zum Auskunftsersuchen in der Rechtssache C‑160/23

24

Im Anschluss an ein Auskunftsersuchen, das der Gerichtshof am 4. April 2023 an das vorlegende Gericht gerichtet hat, hat dieses u. a. nähere Angaben zu seiner Rolle in den Vollstreckungsverfahren gemacht. Es hat ausgeführt, dass es in Bezug auf rechtskräftige Strafurteile der Spruchkörper des Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) für den Erlass der im Strafvollstreckungsgesetzbuch vorgesehenen Maßnahmen zuständig sei. Dabei handle es sich um Maßnahmen wie erstens die Anordnung der Strafvollstreckung, zweitens – unter Einschaltung der Polizei – die Einweisung des Verurteilten in eine Justizvollzugsanstalt zur Verbüßung der verhängten Strafe, drittens die Vollstreckung eines solchen Urteils, soweit es dem Verurteilten die Zahlung von Gerichtskosten an die Staatskasse auferlege, viertens gegebenenfalls die Prüfung eines Antrags auf Aufschub der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und fünftens den Erlass eines Haftbefehls zur Fahndung nach dem Verurteilten im Fall seiner Flucht.

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

25

Die polnische Regierung macht im Wesentlichen geltend, Fragen der Gerichtsorganisation der Mitgliedstaaten fielen in deren ausschließliche Zuständigkeit und nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts.

26

Nach ständiger Rechtsprechung fällt zwar insoweit die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten gewiss in deren Zuständigkeit, doch haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben, was insbesondere dann zum Tragen kommen kann, wenn es um nationale Vorschriften betreffend den Erlass von Entscheidungen über die Ernennung von Richtern und gegebenenfalls um Vorschriften über die im Zusammenhang mit solchen Ernennungsverfahren anwendbare gerichtliche Kontrolle geht (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Außerdem geht aus dem Wortlaut der Vorlagefragen klar hervor, dass es bei diesen um die Auslegung nicht etwa des polnischen Rechts, sondern der Bestimmungen und allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, auf die sie sich beziehen, geht.

28

Folglich ist der Gerichtshof für die Entscheidung über die Vorabentscheidungsersuchen zuständig.

Zur Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen

29

Die Prokuratura Okręgowa w Warszawie (Regionalstaatsanwaltschaft Warschau, Polen) und die polnische Regierung stellen die Zulässigkeit der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen im Wesentlichen damit in Abrede, dass eine Beantwortung der Vorlagefragen nicht erforderlich sei.

30

So trägt die Regionalstaatsanwaltschaft Warschau im Wesentlichen vor, dass die Vollstreckungsverfahren, um die es in den Ausgangsverfahren gehe, die Durchsetzung von in Strafverfahren ergangenen rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen zum Gegenstand hätten. Es handle sich nicht darum, in einer Sache eine Entscheidung im Hinblick auf den Erlass einer materiellen Entscheidung zu treffen. Das vorlegende Gericht sei als Vollstreckungsgericht an den Inhalt der vollstreckbaren rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen gebunden und habe keine Befugnis zur Überprüfung ihrer Gültigkeit.

31

Die polnische Regierung macht ihrerseits im Wesentlichen geltend, dass die Vorlagefragen hypothetisch seien. Die Vorabentscheidungsersuchen ließen keine konkreten Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der Gerichte erkennen, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen erlassen hätten. Die Zweifel des vorlegenden Gerichts bezögen sich lediglich darauf, dass die in Rede stehenden Richter auf Antrag eines Organs ernannt worden seien, dessen Mitglieder zur Hälfte von der Legislative gewählt worden seien. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs gehe jedoch hervor, dass eine solche Ernennung für sich nicht geeignet sei, eine Verletzung des Rechts auf ein unabhängiges, unparteiisches und durch Gesetz errichtetes Gericht zu begründen.

32

Der Gerichtshof hat wiederholt hervorgehoben, dass das durch Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen, und dass die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen liegt, sondern darin, dass es für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die Vorabentscheidung, um die ersucht wird, „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Der Gerichtshof hat daher darauf hingewiesen, dass sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV folgt, dass das Vorabentscheidungsverfahren insbesondere voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Urteil berücksichtigt werden kann (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Im vorliegenden Fall geht aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass es im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden hat, das der Vollstreckung von rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen dient, mit denen eine strafrechtliche Verurteilung ausgesprochen wurde und gegen die kein Rechtsmittel mehr eingelegt werden kann. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts hätte die Besetzung der Spruchkörper, die diese Entscheidungen erließen, im strafrechtlichen Hauptverfahren überprüft werden können, das nach den dem Gerichtshof vorliegenden Akten vom Vollstreckungsverfahren gesondert ist.

36

Dagegen erscheint eine solche Überprüfung in Anbetracht der Angaben des vorlegenden Gerichts im Stadium der Vollstreckung dieser Entscheidungen ausgeschlossen. So führt das vorlegende Gericht keine Bestimmung des polnischen Verfahrensrechts an, die ihm die Befugnis verleihen würde, die Vereinbarkeit dieser Entscheidungen insbesondere mit dem Unionsrecht zu prüfen. Außerdem sind nach den Erläuterungen, die das vorlegende Gericht in Beantwortung des oben in Rn. 24 genannten Auskunftsersuchens gegeben hat, seine Befugnisse im Stadium der Vollstreckung solcher Entscheidungen auf den Erlass der im Strafvollstreckungsgesetzbuch vorgesehenen Maßnahmen beschränkt.

37

In Anbetracht dessen ist nicht ersichtlich, dass das vorlegende Gericht nach den polnischen Rechtsvorschriften zu der Beurteilung befugt wäre, ob es sich, namentlich mit Blick auf das Unionsrecht, bei den Spruchkörpern, die die rechtskräftigen Strafurteile erlassen haben, die Gegenstand der bei ihm anhängigen Vollstreckungsverfahren sind, um rechtmäßige Spruchkörper handelt.

38

Somit betreffen die Vorlagefragen in den vorliegenden verbundenen Rechtssachen ihrem Wesen nach einen rechtskräftig abgeschlossenen und gesonderten Abschnitt im Vorfeld dieser Vollstreckungsverfahren. Sie sind daher nicht für die Entscheidungen in den Ausgangsverfahren erforderlich, sondern zielen auf eine allgemeine, von den Erfordernissen dieser Verfahren losgelöste Beurteilung durch den Gerichtshof ab (vgl. entsprechend Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Daraus folgt, dass diese Fragen über den Rahmen des dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV zugewiesenen Rechtsprechungsauftrags hinausgehen (vgl. entsprechend Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sind.

Kosten

41

Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) mit Entscheidungen vom 18. Februar 2023 (C‑114/23 und C‑115/23), vom 6. März 2023 (C‑132/23) und vom 14. März 2023 (C‑160/23) eingereichten Vorabentscheidungsersuchen sind unzulässig.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.

( i ) Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.

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