Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62023CC0008

    Schlussanträge des Generalanwalts P. Pikamäe vom 29. Februar 2024.


    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:190

    Vorläufige Fassung

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    PRIIT PIKAMÄE

    vom 29. Februar 2024(1)

    Rechtssache C8/23

    FH

    gegen

    Conseil national de l’ordre des médecins,

    Beteiligte:

    Ministre de la Santé et de la Prévention,

    Ministre de l’Économie, des Finances et de la Souveraineté industrielle et numérique

    (Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Staatsrat, Frankreich])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungsverkehr – Anerkennung von Berufsqualifikationen – Richtlinie 2005/36/EG – Recht auf Ausübung des Arztberufs – Regelung der automatischen Anerkennung – Von einem Drittland verliehenes Diplom der ärztlichen Grundausbildung – Vom Herkunftsmitgliedstaat anerkanntes Diplom – Erwerb eines Facharzttitels im Herkunftsmitgliedstaat – Nichtanerkennung dieser Qualifikation durch den Aufnahmemitgliedstaat“






    I.      Einführung

    1.        Das vorliegende, vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) gemäß Art. 267 AEUV vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 21 und 25 Abs. 4 sowie des Anhangs V Nrn. 5.1.1 und 5.1.2 der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates  vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen(2) (im Folgenden: Richtlinie 2005/36). Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen FH und dem Conseil national de l’ordre des médecins (Nationale Ärztekammer, Frankreich) (im Folgenden: CNOM) wegen dessen Weigerung, FH in das Verzeichnis der Kammer einzutragen.

    2.        Die vorliegende Rechtssache wirft eine wichtige und teilweise neue Rechtsfrage unter der Geltung der Richtlinie 2005/36 auf, die die automatische Anerkennung eines Facharztdiploms innerhalb der Europäischen Union und die Aufteilung der Zuständigkeit für die Kontrolle der Ausbildung zum Facharzt und des Zugangs zu diesem Beruf unter den Mitgliedstaaten in dem Fall betrifft, in dem die ärztliche Grundausbildung außerhalb der Union absolviert wurde. Insbesondere wird sich der Gerichtshof zu den Auswirkungen der Anerkennung eines in einem Drittstaat erworbenen Diploms der ärztlichen Grundausbildung durch einen Mitgliedstaat sowie zur etwaigen Verpflichtung der anderen Mitgliedstaaten, dieses Diplom ebenfalls anzuerkennen, zu äußern haben.

    3.        Sollte die Richtlinie 2005/36 keine Bestimmungen enthalten, die sich auf die spezifischen Umstände des Ausgangsverfahrens beziehen, wird es Sache des Gerichtshofs sein, soweit möglich, praktische Lösungen aufzuzeigen, um die Anerkennung der Berufsqualifikationen, die eine Person in der oben beschriebenen Situation erworben hat, zu erleichtern. Bei seinen Erwägungen wird der Gerichtshof die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele zu berücksichtigen haben, nämlich die Förderung des freien Dienstleistungsverkehrs und der Niederlassungsfreiheit innerhalb der Union bei gleichzeitig strikter Wahrung des Schutzes der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit sowie des Verbraucherschutzes.

    II.    Rechtlicher Rahmen

    A.      Unionsrecht

    4.        In den Erwägungsgründen 6, 19 und 44 der Richtlinie 2005/36 heißt es:

    „(6)      Im Rahmen der Erleichterung der Erbringung von Dienstleistungen ist der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit sowie dem Verbraucherschutz unbedingt Rechnung zu tragen. Daher sollten spezifische Bestimmungen für reglementierte Berufe vorgesehen werden, die die öffentliche Gesundheit oder Sicherheit berühren und deren Angehörige vorübergehend oder gelegentlich grenzüberschreitende Dienstleistungen erbringen.

    (19)      Die Freizügigkeit und die gegenseitige Anerkennung der Ausbildungsnachweise der Ärzte … sollte sich auf den Grundsatz der automatischen Anerkennung der Ausbildungsnachweise im Zuge der Koordinierung der Mindestanforderungen an die Ausbildung stützen. Ferner sollte die Aufnahme und Ausübung der [Tätigkeit] des Arztes … vom Besitz eines bestimmten Ausbildungsnachweises abhängig gemacht werden, wodurch gewährleistet wird, dass die betreffenden Personen eine Ausbildung absolviert haben, die den festgelegten Mindestanforderungen genügt. …

    (44)      Diese Richtlinie lässt die Maßnahmen unberührt, die erforderlich sind, um ein hohes Gesundheits- und Verbraucherschutzniveau sicherzustellen.“

    5.        Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2005/36 sieht vor:

    „Diese Richtlinie legt die Vorschriften fest, nach denen ein Mitgliedstaat, der den Zugang zu einem reglementierten Beruf oder dessen Ausübung in seinem Hoheitsgebiet an den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen knüpft (im Folgenden ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ genannt), für den Zugang zu diesem Beruf und dessen Ausübung die in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten (im Folgenden ‚Herkunftsmitgliedstaat‘ genannt) erworbenen Berufsqualifikationen anerkennt, die ihren Inhaber berechtigen, dort denselben Beruf auszuüben.“

    6.        Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 bestimmt:

    „Jeder Mitgliedstaat kann in seinem Hoheitsgebiet nach Maßgabe seiner Vorschriften den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die eine Berufsqualifikation vorweisen können, die nicht in einem Mitgliedstaat erworben wurde, die Ausübung eines reglementierten Berufs im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a gestatten. Für die Berufe in Titel III Kapitel III erfolgt diese erste Anerkennung unter Beachtung der dort genannten Mindestanforderungen an die Ausbildung.“

    7.        Art. 3 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2005/36 sieht vor:

    „(1)      Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

    c)      ‚Ausbildungsnachweise‘ sind Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstige Befähigungsnachweise, die von einer Behörde eines Mitgliedstaats, die entsprechend dessen Rechts- und Verwaltungsvorschriften benannt wurde, für den Abschluss einer überwiegend in der [Union] absolvierten Berufsausbildung ausgestellt werden. Findet Satz 1 keine Anwendung, so sind Ausbildungsnachweise im Sinne des Absatzes 3 den hier genannten Ausbildungsnachweisen gleichgestellt;

    (3)      Einem Ausbildungsnachweis gleichgestellt ist jeder in einem Drittland ausgestellte Ausbildungsnachweis, sofern sein Inhaber in dem betreffenden Beruf drei Jahre Berufserfahrung im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der diesen Ausbildungsnachweis nach Artikel 2 Absatz 2 anerkannt hat, besitzt und dieser Mitgliedstaat diese Berufserfahrung bescheinigt.“

    8.        Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2005/36 ermöglicht die Anerkennung von Berufsqualifikationen durch den Aufnahmemitgliedstaat es den begünstigten Personen, in diesem Mitgliedstaat denselben Beruf wie den, für den sie im Herkunftsmitgliedstaat qualifiziert sind, aufzunehmen und unter denselben Bedingungen wie Inländer auszuüben.

    9.        Art. 10 der Richtlinie 2005/36 bestimmt in Kapitel I („Allgemeine Regelung für die Anerkennung von Ausbildungsnachweisen“):

    „Dieses Kapitel gilt für alle Berufe, die nicht unter Kapitel II und III dieses Titels fallen, sowie für die folgenden Fälle, in denen der Antragsteller aus besonderen und außergewöhnlichen Gründen die in diesen Kapiteln genannten Voraussetzungen nicht erfüllt:

    d)      unbeschadet des Artikels 21 Absatz 1 und der Artikel 23 und 27 für Ärzte, Krankenschwestern und Krankenpfleger, Zahnärzte, Tierärzte, Hebammen, Apotheker und Architekten, die über einen Ausbildungsnachweis für eine Spezialisierung verfügen, der nach der Ausbildung zum Erwerb einer der in Anhang V Nummern 5.1.1., 5.2.2., 5.3.2., 5.4.2., 5.5.2., 5.6.2. und 5.7.1. aufgeführten Bezeichnungen erworben worden sein muss, und zwar ausschließlich zum Zwecke der Anerkennung der betreffenden Spezialisierung,

    g)      für Migranten, die die Anforderungen nach Artikel 3 Absatz 3 erfüllen.“

    10.      Art. 21 („Grundsatz der automatischen Anerkennung“) der Richtlinie 2005/36 sieht vor:

    „(1)      Jeder Mitgliedstaat erkennt die in Anhang V unter den Nummern 5.1.1., 5.1.2. … aufgeführten Ausbildungsnachweise an, die die Mindestanforderungen für die Ausbildung nach den Artikeln 24 [und] 25 … erfüllen und die Aufnahme der beruflichen Tätigkeiten des Arztes mit Grundausbildung und des Facharztes … gestatten, und verleiht diesen Nachweisen in Bezug auf die Aufnahme und Ausübung der beruflichen Tätigkeiten in seinem Hoheitsgebiet dieselbe Wirkung wie den von ihm ausgestellten Ausbildungsnachweisen.

    Diese Ausbildungsnachweise müssen von den zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten ausgestellt und gegebenenfalls mit den Bescheinigungen versehen sein, die in Anhang V unter den Nummern 5.1.1. [und] 5.1.2. … aufgeführt sind.

    Die Bestimmungen der Unterabsätze 1 und 2 gelten unbeschadet der erworbenen Rechte nach den Artikeln 23 [und] 27 …

    (6)      Jeder Mitgliedstaat macht die Aufnahme und Ausübung der beruflichen Tätigkeiten des Arztes … vom Besitz eines in Anhang V Nummern 5.1.1. [und] 5.1.2. … aufgeführten Ausbildungsnachweises abhängig, der nachweist, dass die betreffende Person im Verlauf ihrer Gesamtausbildungszeit die in Artikel 24 Absatz 3 … aufgeführten Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat.

    …“

    11.      Art. 24 der Richtlinie 2005/36, der sich auf die ärztliche Grundausbildung bezieht, bestimmt:

    „(1)      Die Zulassung zur ärztlichen Grundausbildung setzt den Besitz eines Diploms oder eines Prüfungszeugnisses voraus, das für das betreffende Studium die Zulassung zu den Universitäten ermöglicht.

    (2)      Die ärztliche Grundausbildung umfasst mindestens fünf Jahre (kann zusätzlich in der entsprechenden Anzahl von ECTS[Europäisches System zur Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen]-Punkten ausgedrückt werden) und besteht aus mindestens 5 500 Stunden theoretischer und praktischer Ausbildung an einer Universität oder unter Aufsicht einer Universität.

    (3)      Die ärztliche Grundausbildung gewährleistet, dass die betreffende Person die folgenden [unter Buchst. a bis d genannten] Kenntnisse und Fähigkeiten erwirbt“.

    12.      Art. 25 („Fachärztliche Weiterbildung“) der Richtlinie 2005/36 sieht vor:

    „(1)      Die Zulassung zur fachärztlichen Weiterbildung setzt voraus, dass eine ärztliche Grundausbildung nach Artikel 24 Absatz 2 abgeschlossen und als gültig anerkannt worden ist, mit der angemessene medizinische Grundkenntnisse erworben wurden.

    (4)      Die Mitgliedstaaten machen die Ausstellung eines Ausbildungsnachweises des Facharztes vom Besitz eines der in Anhang V Nummer 5.1.1. aufgeführten Ausbildungsnachweise für die ärztliche Grundausbildung abhängig.

    …“

    13.      Art. 50 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 bestimmt:

    „Hat der Aufnahmemitgliedstaat berechtigte Zweifel, so kann er von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Bestätigung der Authentizität der in jenem Mitgliedstaat ausgestellten Bescheinigungen und Ausbildungsnachweise sowie gegebenenfalls eine Bestätigung darüber verlangen, dass der Antragsteller für die in Kapitel III genannten Berufe die Mindestanforderungen der Ausbildung erfüllt, die in den Artikeln 24, 25, 28, 31, 34, 35, 38, 40, 44 und 46 verlangt werden.“

    14.      Anhang V der Richtlinie 2005/36 hat die Überschrift „Anerkennung auf der Grundlage der Koordinierung der Mindestanforderungen an die Ausbildung“. Unter der Rubrik „V.1. Arzt“ werden in Nr. 5.1.1 dieses Anhangs die „Ausbildungsnachweise für die ärztliche Grundausbildung“ aufgeführt, und zwar in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland das „Zeugnis über die Ärztliche Prüfung“ und das „Zeugnis über die Ärztliche Staatsprüfung und Zeugnis über die Vorbereitungszeit als Medizinalassistent, soweit diese nach den deutschen Rechtsvorschriften noch für den Abschluss der ärztlichen Ausbildung vorgesehen war“.

    15.      In Nr. 5.1.2 des genannten Anhangs sind die „Ausbildungsnachweise für den Facharzt“ der Mitgliedstaaten aufgeführt, und zwar in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland die „Fachärztliche Anerkennung“.

    B.      Französisches Recht

    16.      Der Code de la santé publique (Gesetzbuch über das öffentliche Gesundheitswesen) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung sieht in Art. L. 4111‑1 vor:

    „Den Beruf des Arztes … kann nur ausüben, wer

    1.      Inhaber eines Diploms, Prüfungszeugnisses oder sonstigen Befähigungsnachweises, der in Art. L. 4131‑1 … aufgeführt wird, ist;

    3.      in ein Verzeichnis der Ärztekammer, … eingetragen ist, vorbehaltlich der Bestimmungen der Art. L. 4112‑6 und L. 4112‑7.

    …“

    17.      In Art. L. 4111‑2 des Code la santé publique heißt es:

    „…

    II.      Die zuständige Behörde kann, nach Stellungnahme einer Kommission, die insbesondere aus Berufsangehörigen zusammengesetzt ist, auch Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, wenn sie Inhaber von in einem Drittstaat ausgestellten Ausbildungsnachweisen sind, die in einem anderen Mitglied- oder Vertragsstaat außer Frankreich anerkannt worden sind und die dort die rechtmäßige Ausübung des Berufs erlauben, die Ausübung des Arztberufs in der betreffenden Fachrichtung … individuell gestatten. Bei Ärzten … bezieht sich die Anerkennung sowohl auf den Titel der Grundausbildung als auch auf den Facharzttitel.

    …“

    18.      Art. L. 4131‑1 des Code la santé publique bestimmt:

    „Die nach Art. L. 4111‑1 Nr. 1 erforderlichen Ausbildungsnachweise für die Ausübung des Arztberufs sind:

    1.      entweder das französische Staatsdiplom eines Doktors der Medizin;

    2.      oder, falls die betreffende Person die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum besitzt:

    a)      die ärztlichen Ausbildungsnachweise, die von einem dieser Staaten gemäß den gemeinschaftlichen Verpflichtungen ausgestellt worden und in einer Liste aufgeführt sind, die im Wege eines Erlasses der für Hochschulbildung und Gesundheit zuständigen Minister aufgestellt worden ist;

    b)      die ärztlichen Ausbildungsnachweise, die von einem Mitglied- oder Vertragsstaat gemäß den gemeinschaftlichen Verpflichtungen ausgestellt worden und nicht auf der unter Buchst. a genannten Liste aufgeführt sind, wenn ihnen eine Bescheinigung dieses Staates beigefügt ist, die bestätigt, dass sie eine Ausbildung nachweisen, die diesen Verpflichtungen entspricht, und dass sie von ihm den in dieser Liste aufgeführten Ausbildungsnachweisen angeglichen worden sind;

    …“

    19.      Das in Nr. 2 Buchst. a durch Erlass vom 13. Juli 2009 zur Festlegung der in Art. L. 4131‑1 Nr. 2 des Code de la santé publique aufgeführten Listen und Bedingungen für die Anerkennung der von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder den Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ausgestellten Ausbildungsnachweise für Ärzte und Fachärzte aufgestellte Verzeichnis entspricht demjenigen in Anhang V Nrn. 5.1.1 und 5.1.2 der Richtlinie 2005/36.

    III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

    20.      FH ist ein deutsch-französischer Staatsangehöriger, der Inhaber eines von der Universität Monastir (Tunesien) am 18. September 2012 verliehenen Diploms eines staatlichen Doktors der Medizin ist.

    21.      Mit Entscheidung vom 6. November 2015 erkannten die zuständigen deutschen Behörden dieses Diplom als Diplom der ärztlichen Grundausbildung an und erteilten FH die Erlaubnis, den Arztberuf auszuüben. Mit Entscheidung vom 1. August 2016 trugen diese Behörden ihn als Mitglied bei der Ärztekammer Niedersachsen (Deutschland) ein. Am 28. Januar 2021 erwarb FH das von der Universität Hannover (Deutschland) verliehene Diplom eines Facharztes für Anästhesiologie.

    22.      Am 25. März 2021 stellte FH beim Conseil départemental de Saône-et-Loire de l’ordre des médecins (Ärztekammer des Departements Saône-et-Loire, Frankreich) einen Antrag auf Aufnahme in das Verzeichnis der Kammer auf der Grundlage von Art. L. 4111‑1 des Code de la santé publique. Mit Entscheidung vom 20. Mai 2021 lehnte der Conseil départemental diesen Antrag ab.

    23.      Nach einer Beschwerde von FH gegen die Entscheidung des zuständigen Ausschusses des Conseil régional de Bourgogne-Franche-Comté de l’ordre des médecins (Ärztekammer der Region Bourgogne-Franche-Comté, Frankreich), der seinerseits mit Entscheidung vom 15. Juli 2021 seinen Antrag auf Eintragung in das Verzeichnis der Kammer zurückgewiesen hatte, bestätigte der zuständige Ausschuss des CNOM am 17. September 2021 die Ablehnung der Eintragung in das Verzeichnis der Kammer.

    24.      FH legte daraufhin eine Klage gegen die letztgenannte Entscheidung ein, die vor dem Conseil d’État (Staatsrat) anhängig ist.

    25.      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Kann ein Arzt, der die Staatsangehörigkeit eines der Mitgliedstaaten der Europäischen Union besitzt und Inhaber eines in einem Mitgliedstaat ausgestellten Ausbildungsnachweises des Facharztes ist, der in Anhang V Nr. 5.1.2 der Richtlinie 2005/36 aufgeführt ist, sich allein mit diesem Befähigungsnachweis in einem anderen Mitgliedstaat auf die in Art. 21 dieser Richtlinie niedergelegte Regelung über die automatische Anerkennung von Ausbildungsnachweisen berufen, obwohl er Inhaber eines von einem Drittstaat ausgestellten Nachweises für die ärztliche Grundausbildung ist, der nur von dem Mitgliedstaat, in dem er sein Facharztdiplom erworben hat, anerkannt worden ist und nicht zu denen zählt, die in Anhang V Nr. 5.1.1 dieser Richtlinie aufgeführt sind, und obwohl Art. 25 Abs. 4 der Richtlinie die Erteilung eines Ausbildungsnachweises des Facharztes vom Besitz eines dieser Ausbildungsnachweise für die ärztliche Grundausbildung abhängig macht?

    IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

    26.      Die Vorlageentscheidung vom 27. Dezember 2022 ist am 12. Januar 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

    27.      FH, der CNOM, die französische, die italienische, die niederländische und die polnische Regierung, die EFTA[Europäische Freihandelsassoziation]-Überwachungsbehörde sowie die Europäische Kommission haben innerhalb der Frist des Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union schriftliche Erklärungen eingereicht.

    28.      In der mündlichen Verhandlung vom 11. Januar 2024 haben die Prozessbevollmächtigten von FH, des CNOM, der französischen Regierung, der EFTA-Überwachungsbehörde sowie der Kommission Erklärungen abgegeben.

    V.      Rechtliche Würdigung

    A.      Vorbemerkungen

    29.      Die vorliegende Rechtssache betrifft die Auslegung und Anwendung von Bestimmungen der Richtlinie 2005/36, die die Rechte und Pflichten der Berufsangehörigen bei der Anerkennung von in der Union erworbenen Ausbildungsnachweisen und bei der Ausübung eines Berufs in einem anderen Mitgliedstaat festlegt. Gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2005/36 ermöglicht die Anerkennung von Berufsqualifikationen durch einen Aufnahmemitgliedstaat den begünstigten Personen, in diesem Mitgliedstaat „denselben Beruf wie den, für den sie in ihrem Herkunftsmitgliedstaat qualifiziert [sind],“ aufzunehmen und „unter denselben Voraussetzungen wie Inländer“ auszuüben, wie der Gerichtshof entschieden hat(3).

    30.      Die Richtlinie 2005/36 hat eine Reihe von sektorspezifischen und allgemeinen Richtlinien, die die Anerkennung von Berufsqualifikationen regeln, aufgehoben und ersetzt; sie legt im Wesentlichen drei alternative Regelungen für die Anerkennung dieser Qualifikationen fest. Zunächst existiert eine allgemeine Regelung (Kapitel I, Art. 10 bis 15), die für alle Berufe gilt, die nicht in den Anwendungsbereich der beiden anderen Regelungen fallen (Art. 10). Ferner gibt es eine Anerkennungsregelung, die auf die Berufserfahrung abstellt (Kapitel II, Art. 16 bis 20) und für bestimmte Tätigkeiten gilt, die in Anhang IV dieser Richtlinie aufgeführt sind.

    31.      Schließlich existiert eine Regelung der automatischen Anerkennung (Kapitel III, Art. 21 bis 49), die durch eine Mindestharmonisierung der Ausbildung gekennzeichnet ist. Der Beruf des Arztes ist neben den Berufen der Krankenschwester und des Krankenpflegers, der Hebamme, des Zahnarztes, des Apothekers, des Architekten und des Tierarztes einer der sieben Berufe, die in den Anwendungsbereich der Regelung über die automatische Anerkennung fallen(4). Die automatische Anerkennung setzt die Erfüllung der Mindestanforderungen an die Ausbildung voraus, die für den jeweiligen Beruf in den Art. 24 ff. dieser Richtlinie aufgeführt sind. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass es den Mitgliedstaaten untersagt ist, die Anerkennung von anderen Anforderungen als der Vorlage eines Nachweises über eine angemessene Ausbildung abhängig zu machen(5).

    32.      Mit seinem Vorabentscheidungsersuchen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Arzt, der Staatsangehöriger eines der Mitgliedstaaten der Union ist und einen in einem Mitgliedstaat ausgestellten Ausbildungsnachweis des Facharztes besitzt, sich in einem anderen Mitgliedstaat allein mit diesem Nachweis auf die oben genannte Regelung über die automatische Anerkennung von Ausbildungsnachweisen berufen kann, obwohl er einen von einem Drittstaat ausgestellten Ausbildungsnachweis für die ärztliche Grundausbildung besitzt, der nur von dem Mitgliedstaat, in dem er sein Facharztdiplom erworben hat, anerkannt worden ist.

    33.      Wie ich in meiner Analyse auf der Grundlage einer Auslegung der Richtlinie 2005/36 und der in der Rechtsprechung anerkannten Auslegungsmethoden darlegen werde, ist diese Frage mit der Begründung zu verneinen, dass die Regelung der automatischen Anerkennung auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Dies vorausgeschickt, werde ich mich nicht auf die Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Frage beschränken, sondern auch erläutern, welche Mittel einer Person in der oben beschriebenen Situation zur Verfügung stehen, um ihr Ziel bestmöglich zu erreichen. Ein solches Vorgehen ist tunlich, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, und entspricht dem Geist der Zusammenarbeit, der das Vorabentscheidungsverfahren bestimmen sollte.

    B.      Zur Möglichkeit des Klägers des Ausgangsverfahrens, sich auf die Regelung der automatischen Anerkennung zu berufen

    1.      Zur untrennbaren Verbindung zwischen einer ärztlichen Spezialisierung und einer Grundausbildung

    34.      Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung von Unionsvorschriften nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele der Regelung, zu der sie gehören, zu berücksichtigen(6).

    35.      Nach Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2005/36 erkennt jeder Mitgliedstaat unter anderem die jeweils in Anhang V Nrn. 5.1.1 und 5.1.2 aufgeführten Ausbildungsnachweise, die die Mindestanforderungen für die Ausbildung nach den Art. 24 und 25 erfüllen und die Aufnahme der beruflichen Tätigkeiten des Arztes mit Grundausbildung und des Facharztes gestatten, an und verleiht diesen Nachweisen in Bezug auf die Aufnahme und Ausübung der beruflichen Tätigkeiten in seinem Hoheitsgebiet dieselbe Wirkung wie den von ihm ausgestellten Ausbildungsnachweisen.

    36.      Folglich müsste, sobald, wie im vorliegenden Fall, ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats Inhaber eines in diesem Anhang V Nr. 5.1.2 aufgeführten Ausbildungsnachweises des Facharztes ist, dieser grundsätzlich im Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage dieses Art. 21 Abs. 1 die automatische Anerkennung dieses Nachweises erhalten, um dort den Beruf des Arztes auszuüben, auf den sich das betreffende Fachgebiet bezieht. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Tatsache, dass die betreffende Person im Übrigen nicht über einen in einem Mitgliedstaat ausgestellten Ausbildungsnachweis für die medizinische Grundausbildung verfügt, einer solchen automatischen Anerkennung entgegensteht.

    37.      Insoweit sei darauf hingewiesen, dass der genannte Art. 21 Abs. 1 die Anforderung aufstellt, dass die Ausbildungsnachweise „die Mindestanforderungen für die Ausbildung [unter anderem] nach [Art. 25] [der genannten Richtlinie] erfüllen“ müssen. Aus Art. 25 Abs. 4 geht hervor, dass „die Mitgliedstaaten … die Ausstellung eines Ausbildungsnachweises des Facharztes vom Besitz eines der in Anhang V Nummer 5.1.1. aufgeführten Ausbildungsnachweise für die ärztliche Grundausbildung abhängig [machen]“. Im Hinblick auf die Bundesrepublik Deutschland nennt diese Nr. 5.1.1 zwei Arten von deutschen Ausbildungsnachweisen für die ärztliche Grundausbildung(7).

    38.      Die wörtliche Auslegung dieses Art. 25 Abs. 4 scheint zu implizieren, dass die automatische Anerkennung eines in Anhang V Nr. 5.1.2 dieser Richtlinie aufgeführten Ausbildungsnachweises des Facharztes untrennbar mit der Anerkennung eines in Anhang V Nr. 5.1.1 aufgeführten Ausbildungsnachweises für die ärztliche Grundausbildung verknüpft ist und den vorherigen Erwerb eines solchen Nachweises voraussetzt.

    39.      Denn es ist festzustellen, dass in den Bestimmungen von Art. 21 der Richtlinie 2005/36 der Ausbildungsnachweis für die ärztliche Grundausbildung und der Ausbildungsnachweis des Facharztes immer gemeinsam genannt werden. Insbesondere beziehen sich diese Bestimmungen nie isoliert auf Nr. 5.1.2 des Anhangs V dieser Richtlinie, die die Ausbildungsnachweise des Facharztes betrifft, sondern immer in Verbindung mit Nr. 5.1.1 dieses Anhangs, die die Ausbildungsnachweise für die ärztliche Grundausbildung betrifft.

    40.      So werden in Abs. 1 dieses Art. 21 „die Ausbildungsnachweise [für die ärztliche Tätigkeit]“ in ihrer Gesamtheit genannt, wobei präzisiert wird, dass sie die Aufnahme der beruflichen Tätigkeiten des Arztes mit Grundausbildung und des Facharztes ermöglichen. Darüber hinaus werden diese Ausbildungsnachweise, auch wenn sie in diesem Anhang V unter zwei verschiedenen Nummern aufgeführt sind, unter derselben Überschrift „V.1 Arzt“ zusammengefasst, die zunächst die Ausbildungsnachweise für die ärztliche Grundausbildung und dann die Ausbildungsnachweise des Facharztes auflistet.

    41.      Darüber hinaus geht bereits aus der Überschrift von Art. 24 der Richtlinie 2005/36 („Ärztliche Grundausbildung“ [Hervorhebung nur hier]) hervor, dass die ärztliche Grundausbildung von grundlegender Bedeutung ist, um den Erwerb der Mindestkenntnisse und fähigkeiten zu gewährleisten, die für die Ausübung des Arztberufs erforderlich sind. Gemäß Abs. 2 dieses Artikels dauert diese Grundausbildung mindestens fünf Jahre, d. h. länger als die Mindestdauer aller fachärztlichen Ausbildungen.

    42.      Die in der ärztlichen Grundausbildung erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten, die in Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2005/36 beschrieben werden, bilden somit einen Grundstock, der nicht im Rahmen der fachärztlichen Ausbildung, wie sie in Art. 25 dieser Richtlinie beschrieben wird, vermittelt wird, der jedoch für die Ausübung der beruflichen Tätigkeiten eines Facharztes, unabhängig von der jeweiligen Fachrichtung, unerlässlich ist.

    43.      Im Rahmen einer kontextbezogenen Auslegung von Art. 21 Abs. 1 und Art. 25 Abs. 4 der Richtlinie 2005/36 ist auf Art. 21 Abs. 6 dieser Richtlinie hinzuweisen, der bestimmt, das „[j]eder Mitgliedstaat … die Aufnahme und Ausübung der beruflichen Tätigkeiten des Arztes … vom Besitz eines in Anhang V Nummern 5.1.1. [und] 5.1.2. … aufgeführten Ausbildungsnachweises abhängig [macht], der nachweist, dass die betreffende Person im Verlauf ihrer Gesamtausbildungszeit die in Artikel 24 Absatz 3 … aufgeführten Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat“. Diese Bestimmung zeigt eindeutig, dass der Ausbildungsnachweis des Facharztes für sich genommen kein Nachweis dafür ist, dass die betreffende Person die genannten Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen erworben hat, und dass daher die automatische Anerkennung dieses Nachweises untrennbar mit der Anerkennung eines Ausbildungsnachweises für die Grundausbildung verbunden sein muss.

    44.      Schließlich ist daran zu erinnern, dass die automatische Anerkennung nur für die in diesem Anhang V unter den Nrn. 5.1.1 und 5.1.2 aufgeführten ärztlichen Ausbildungsnachweise gilt, bei denen die Mitgliedstaaten davon ausgehen, dass sie die Mindestanforderungen an die Ausbildung nachweisen. Dies gilt auch für die in Nr. 5.1.1 aufgeführten deutschen Ausbildungsnachweise, die der Antragsteller nicht besitzt. Folglich kann ein in einem Drittstaat erworbener Ausbildungsnachweis nicht automatisch anerkannt werden, ungeachtet der Tatsache, dass ein Mitgliedstaat ihn gemäß Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 auf der Grundlage seines innerstaatlichen Rechts einseitig anerkannt hat.

    45.      Dieser letzte Aspekt erfordert einige zusätzliche Anmerkungen meinerseits, zumal mehrere Mitgliedstaaten, die in der vorliegenden Rechtssache als Beteiligte aufgetreten sind, Bedenken hinsichtlich der möglichen rechtlichen Folgen der Anerkennung eines solchen in einem Drittland erworbenen Ausbildungsnachweises durch einen Mitgliedstaat geäußert haben.

    2.      Zu den rechtlichen Folgen der einseitigen Anerkennung eines Ausbildungsnachweises durch einen Mitgliedstaat nach Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36

    46.      Abhängig davon, wo die Berufsqualifikationen erworben worden ist, gelten unterschiedliche Regeln. Eine von einem Mitgliedstaat der Union ausgestellte Berufsqualifikation, die eine Ausbildung abschließt, die überwiegend in der Union stattgefunden hat, wird einfacher anerkannt als ein Diplom, das von einem Drittland ausgestellt worden ist. In Art. 1 der Richtlinie 2005/36 heißt es nämlich, dass diese „die in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten erworbenen Berufsqualifikationen anerkennt“(8). Art. 3 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie präzisiert ferner, dass Ausbildungsnachweise sind: „Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstige Befähigungsnachweise, die … für den Abschluss einer überwiegend in der [Union] absolvierten Berufsausbildung ausgestellt werden“(9). Im Fall einer in einem Drittstaat erworbenen Berufsqualifikation sieht das Unionsrecht eine Anerkennung nur dann vor, wenn diese in einem Mitgliedstaat der Union in Anwendung seines innerstaatlichen Rechts verliehen wird.

    47.      Denn gemäß Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 „[kann] [j]eder Mitgliedstaat … in seinem Hoheitsgebiet nach Maßgabe seiner Vorschriften den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die eine Berufsqualifikation vorweisen können, die nicht in einem Mitgliedstaat erworben wurde, die Ausübung eines reglementierten Berufs im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a gestatten“(10). Diese Bestimmung erlaubt es den Mitgliedstaaten, bilaterale Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen mit Drittstaaten zu schließen. Somit steht es den Mitgliedstaaten frei, die Bedingungen für eine solche Anerkennung festzulegen, solange die Mindestanforderungen an die Ausbildung, die für unter Titel III Kapitel III dieser Richtlinie fallende sektorspezifische Berufe gefordert werden, erfüllt sind. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht jedoch klar hervor, dass die Rechtswirkungen einer solchen Anerkennung auf der Grundlage einer nationalen Regelung auf das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats beschränkt sind und keine Verpflichtungen für andere Mitgliedstaaten begründen können.

    48.      Diese Auslegung wird im Übrigen durch das Urteil Haim(11) bestätigt, in dem der Gerichtshof Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 78/687/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Zahnarztes(12) ausgelegt hat, der ähnlich wie Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 in dem Sinne formuliert war(13), dass die Anerkennung von in Drittstaaten ausgestellten Befähigungsnachweisen durch einen Mitgliedstaat, selbst wenn diese in einem oder mehreren Mitgliedstaaten als gleichwertig anerkannt worden sind, für die anderen Mitgliedstaaten nicht bindend ist. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 es ausschließt, dass sich der Kläger des Ausgangsverfahrens auf die Anerkennung seiner in Tunesien erworbenen Berufsqualifikation durch die deutschen Behörden berufen kann, um die französischen Behörden zu verpflichten, diese Qualifikation ihrerseits in Anwendung der Regelung der automatischen Anerkennung anzuerkennen.

    49.      Unabhängig von der Anwendbarkeit dieser Bestimmung ist darauf hinzuweisen, dass Art. 21 Abs. 6 der Richtlinie 2005/36 bestimmt, dass die Kenntnisse und Fähigkeiten, die zu einer ärztlichen Grundausbildung gehören, „im Verlauf [der] Gesamtausbildungszeit … erworben“(14) werden müssen, was grundsätzlich jede Entscheidung seitens der nationalen Behörden ausschließt, die zur Folge hat, dass eine in einem Drittstaat erworbene Ausbildung mit einer in einem Mitgliedstaat erworbenen Ausbildung gleichgesetzt wird. Mit anderen Worten: Diese Bestimmung setzt einen Lernprozess im Rahmen eines akademischen Lehrgangs voraus. Daher kann nur eine in der Union „erworbene“ ärztliche Ausbildung die Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, die für die Zwecke einer automatischen Anerkennung auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 dieser Richtlinie erforderlich sind.

    3.      Zur Möglichkeit der Anerkennung eines in einem Drittland ausgestellten Ausbildungsnachweises gemäß Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2005/36

    50.      Dies bedeutet jedoch nicht, dass einer Person in der Situation des Klägers des Ausgangsverfahrens, die einen Ausbildungsnachweis im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2005/36 in einem Drittland erworben hat, die Möglichkeit genommen wird, ihren Beruf in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben. Im Gegenteil bestimmt Art. 3 Abs. 3 dieser Richtlinie, dass „[e]inem Ausbildungsnachweis … jeder in einem Drittland ausgestellte Ausbildungsnachweis [gleichgestellt ist], sofern sein Inhaber in dem betreffenden Beruf drei Jahre Berufserfahrung im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der diesen Ausbildungsnachweis nach Artikel 2 Absatz 2 anerkannt hat, besitzt und dieser Mitgliedstaat diese Berufserfahrung bescheinigt“(15).

    51.      Die Anerkennung von Berufsqualifikationen, die in Drittstaaten erworben wurden, unterliegt also recht strengen Bestimmungen. Ein Unionsbürger, der über solche Berufsqualifikationen verfügt, kann sich nur unter zwei Voraussetzungen auf Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2005/36 berufen: Erstens muss das Diplom von einem Mitgliedstaat der Union nach dessen innerstaatlichem Recht anerkannt worden sein, und zweitens muss der Inhaber der Berufsqualifikation im ersten Anerkennungsmitgliedstaat eine dreijährige Berufspraxis erworben haben. Die letztgenannte Bedingung zielt eindeutig darauf ab, zu verhindern, dass Bürger die Regelung dieser Richtlinie missbrauchen oder versuchen, die Regeln im Wege der „Anerkennung der Anerkennung“ zu umgehen(16).

    52.      Die Modalitäten dieser „Anerkennung der Anerkennung“ sind jedoch besonderen Regeln unterworfen. Zunächst einmal unterliegt diese Anerkennung ausschließlich der allgemeinen Regelung in Titel III Kapitel I der Richtlinie 2005/36(17). Jeder Mitgliedstaat muss also eine zuvor in der Union anerkannte Qualifikation aus einem Drittstaat anerkennen, ist aber nicht verpflichtet, eine automatische Anerkennung zu gewähren. Diese Regel hat zunächst zur Folge, dass der zweite Mitgliedstaat durch Ausgleichsmaßnahmen sicherstellen kann, dass der Inhaber des Drittstaatsdiploms nicht nur das in dieser Richtlinie vorgeschriebene Mindestausbildungsniveau erreicht, sondern auch ein Ausbildungsniveau, das über die Mindestanforderungen der Union hinausgeht und das der betreffende Staat von seinen eigenen Staatsangehörigen verlangen würde. Sodann ist der zweite Anerkennungsmitgliedstaat nicht verpflichtet, die Wahl zwischen zwei Ausgleichsmaßnahmen anzubieten, wenn er wesentliche Unterschiede in den Ausbildungen festgestellt hat. Gemäß Art. 14 dieser Richtlinie kann er sich dafür entscheiden, die Art der Ausgleichsmaßnahme vorzuschreiben, d. h. entweder eine Eignungsprüfung oder einen Anpassungslehrgang.

    53.      Für die Zwecke der Prüfung der Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts ist festzustellen, dass die deutschen Behörden zwar den tunesischen Ausbildungsnachweis des Klägers des Ausgangsverfahrens gemäß Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 anerkannt haben, die Positionen der Parteien des Ausgangsverfahrens jedoch in Bezug auf die Frage, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens tatsächlich eine dreijährige Berufserfahrung im deutschen Hoheitsgebiet erworben hat, auseinandergehen. Aus diesem Grund ist in Ermangelung genauerer Informationen von der Prämisse auszugehen, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens eine der beiden in Art. 3 Abs. 3 dieser Richtlinie aufgestellten Anforderungen nicht erfüllt.

    C.      Zur Möglichkeit des Klägers des Ausgangsverfahrens, sich auf die allgemeine Anerkennungsregelung zu berufen

    54.      Sodann stellt sich die Frage, ob sich ein Unionsbürger in der in der Vorlagefrage beschriebenen Situation gleichwohl auf die allgemeine Regelung zur Anerkennung von Ausbildungsnachweisen berufen kann. Wie aus Art. 10 der Richtlinie 2005/36 hervorgeht, hat diese Regelung subsidiären Charakter, da sie „für alle Berufe, die nicht unter Kapitel II und III dieses Titels fallen, sowie für die … Fälle, in denen der Antragsteller aus besonderen und außergewöhnlichen Gründen die in diesen Kapiteln genannten Voraussetzungen nicht erfüllt“, gilt.

    55.      Diese erste Bedingung scheint mir im vorliegenden Fall von vornherein erfüllt zu sein, da die in einem Drittland erworbene ärztliche Ausbildung nicht unter Titel III Kapitel II und III der Richtlinie 2005/36 bezüglich der Niederlassungsfreiheit fällt. Konkret ist, wie ich im Rahmen meiner Analyse erläutert habe, die Regelung der automatischen Anerkennung auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, da der Kläger des Ausgangsverfahrens keinen der in Anhang V Nr. 5.1.1 dieser Richtlinie aufgeführten Ausbildungsnachweise für die ärztliche Grundausbildung besitzt. Mit anderen Worten: Die Anerkennung des tunesischen Diploms des Klägers des Ausgangsverfahrens durch die deutschen Behörden gemäß Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie hat nicht zur Folge, dass dieses Diplom in eines der in dieser Nummer aufgeführten deutschen Diplome umgewandelt wird.

    56.      Dies vorausgeschickt, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 10 der Richtlinie 2005/36 einige Besonderheiten aufweist, da er eine Anwendung der allgemeinen Regelung für die Anerkennung von Ausbildungsnachweisen nur in „besonderen und außergewöhnlichen“ Fällen vorsieht, die in dieser Bestimmung ausdrücklich genannt werden(18). Es handelt sich um die zweite der beiden kumulativen Bedingungen. Der in diesem Art. 10 Buchst. d genannte Fall könnte sich vorliegend als relevant erweisen, da er den Arzt betrifft, der „nach der Ausbildung … [eine] der in Anhang V [Nr. 5.1.1. dieser Richtlinie] aufgeführten Bezeichnungen erworben [haben muss]“. Es ist jedoch zu beachten, dass diese Bestimmung eine wichtige Klarstellung enthält, nämlich dass die allgemeine Regelung „ausschließlich zum Zwecke der Anerkennung der betreffenden Spezialisierung“ gilt.

    57.      Ich bezweifle jedoch, dass diese Bedingung im vorliegenden Fall erfüllt ist, da der Kläger nicht nur die Anerkennung seiner Spezialisierung als Anästhesist, die er in einem Mitgliedstaat erworben hat, sondern auch die Anerkennung seiner ärztlichen Grundausbildung, die er in einem Drittland erworben hat, beantragt. Folglich scheint mir der Wortlaut dieser Bestimmung bereits ein Hindernis für ihre Anwendung auf den vorliegenden Fall darzustellen. Darüber hinaus geht aus den Ausführungen des Klägers des Ausgangsverfahrens nicht hervor, dass dieser das Vorliegen „besonderer und außergewöhnlicher“ Gründe im Sinne von Art. 10 der Richtlinie 2005/36, der eine Anwendung der allgemeinen Anerkennungsregelung rechtfertigt, geltend macht und nachweist.

    58.      Meiner Ansicht nach gibt es auch auf einer kontextuellen Auslegung beruhende Erwägungen, die gegen eine Anwendung von Art. 10 Buchst. d der Richtlinie 2005/36 sprechen. Wie ich in den vorangegangenen Abschnitten erläutert habe, sieht diese Richtlinie in ihrem Art. 3 Abs. 3 ein besonderes Verfahren vor, das die Anerkennung von Berufsqualifikationen aus Drittstaaten ermöglicht und verlangt, dass die betreffende Person den betreffenden Beruf mindestens drei Jahre lang im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats ausübt, in dem sie eine erste Anerkennung nach Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie erhalten hat. Wenn diese Bedingung erfüllt ist, erfolgt die Anerkennung ihrer Qualifikationen nach der allgemeinen Regelung. Angesichts dieser Feststellung ist es schwer zu verstehen, warum die Richtlinie 2005/36 einen parallelen, weitaus weniger restriktiven Weg vorsehen sollte, der Zugang zu derselben Anerkennungsregelung bieten sollte. Mir scheint, dass eine alternative Anwendung dieses Art. 10 Buchst. d, um die Anerkennung von in Drittstaaten erworbenen Berufsqualifikationen in einer Situation wie der vorliegenden zu erleichtern, diesen Art. 3 Abs. 3 jeglicher praktischen Wirksamkeit berauben würde.

    59.      Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass dieser Art. 10 als Ausnahme eng auszulegen ist(19). Aus den Vorarbeiten geht nämlich hervor, dass der ursprüngliche Vorschlag der Kommission weder den Begriff „besondere und außergewöhnliche Gründe“ noch Art. 10 Buchst. a bis g der Richtlinie 2005/36 erwähnte(20). Dieser Begriff und diese Bestimmungen wurden auf Initiative des Rates hinzugefügt. Aus der Begründung des Rates geht hervor, dass er der Ansicht war, der ursprüngliche Vorschlag der Kommission zu Art. 10 dieser Richtlinie sei zu weit gefasst(21).

    60.      In diesem Zusammenhang ist das Urteil Angerer(22) zu erwähnen, in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Systematik, das Ziel und die Entstehungsgeschichte der Richtlinie 2005/36 einer weiten Auslegung des Begriffs „besondere und außergewöhnliche Gründe“ entgegenstehen(23). Abgesehen davon, dass die anderen Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 10 Buchst. d dieser Richtlinie im vorliegenden Fall offensichtlich nicht erfüllt sind, kann ich mich dem Standpunkt des Gerichtshofs nur anschließen. Ich kann nicht erkennen, wie diese Bestimmung so ausgelegt werden könnte, dass ihr Anwendungsbereich die Umstände des vorliegenden Falls umfasst.

    61.      Aus den oben dargelegten Gründen bin ich der Ansicht, dass Art. 10 Buchst. d der Richtlinie 2005/36 nicht auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache anzuwenden ist.

    62.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist in diesem Stadium der Analyse als Zwischenergebnis festzuhalten, dass weder die Regelung der automatischen Anerkennung noch die allgemeine Anerkennungsregelung auf den vorliegenden Fall anwendbar sind.

    63.      Die Tatsache, dass sich keine Bestimmung der Richtlinie 2005/36 auf eine Situation wie die vom vorlegenden Gericht beschriebene bezieht, eröffnet grundsätzlich die Möglichkeit, direkt auf die Bestimmungen des Primärrechts und konkret auf die Art. 45 und 49 AEUV zurückzugreifen, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und das Niederlassungsrecht regeln(24), was ich im Folgenden ausführlich untersuchen werde.

    D.      Zur Möglichkeit des Klägers des Ausgangsverfahrens, sich auf die Grundfreiheiten zu berufen

    64.      Aus der obigen Analyse ergibt sich, dass die Richtlinie 2005/36 nicht anwendbar ist, wenn ein Berufsangehöriger aus der Union sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen möchte, ohne die in Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie geforderte dreijährige Berufserfahrung in dem Mitgliedstaat vorweisen zu können, der die Qualifikation des Drittstaats anerkannt hat(25).

    65.      Dies vorausgeschickt, ist daran zu erinnern, dass es nicht Zweck der Richtlinie 2005/36 ist, die Anerkennung von Berufsqualifikationen in Situationen, die nicht in ihren Anwendungsbereich fallen, zu erschweren, und sie kann eine solche Wirkung auch nicht haben(26). Denn die in dieser Richtlinie vorgesehene Regelung der automatischen Anerkennung ergänzt die durch die Grundfreiheiten garantierten Rechte, ersetzt aber nicht eine Beurteilung nach diesen Bestimmungen. Folglich kann sich der Berufsangehörige außerhalb des Anwendungsbereichs der genannten Richtlinie(27), auch wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung von Berufsqualifikationen nicht erfüllt sind(28), auf die Grundfreiheiten berufen(29).

    66.      Wie der Gerichtshof im Urteil Vlassopoulou(30) festgestellt hat, können nationale Qualifikationsvoraussetzungen, selbst wenn sie ohne Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit angewandt werden, sich dahin auswirken, dass sie die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten der Union in der Ausübung ihres Niederlassungsrechts beeinträchtigen(31); die spätere Rechtsprechung ist in Bezug auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu denselben Schlussfolgerungen gelangt(32). Folglich hat ein Mitgliedstaat, bei dem die Zulassung zu einem Beruf beantragt worden ist, dessen Aufnahme nach nationalem Recht vom Besitz eines Diploms oder einer beruflichen Qualifikation abhängt, die Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise sowie die einschlägige Erfahrung in der Weise zu berücksichtigen, dass er die durch diese Befähigungsnachweise und diese Erfahrung bescheinigten Fachkenntnisse mit den nach nationalem Recht vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten vergleicht(33).

    67.      Im Urteil Hocsman(34) hat der Gerichtshof entschieden, dass die im Urteil Vlassopoulou aufgestellten Anerkennungsgrundsätze auch für Qualifikationen gelten, die in einem Drittland erworben wurden. Das Urteil Hocsman betraf einen Arzt, dessen argentinisches Diplom der ärztlichen Grundausbildung in einem Mitgliedstaat als dem nationalen Diplom gleichwertig anerkannt worden war, so dass er in diesem Staat ein Spezialisierungsstudium aufnehmen und dort ein Facharztdiplom erwerben konnte, das nach dem Unionsrecht als gleichwertig anerkannt worden wäre, wenn das Grunddiplom ebenfalls in einem Mitgliedstaat verliehen worden wäre. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im oben erwähnten Urteil Haim die Gültigkeit der in dieser Rechtsprechung entwickelten Grundsätze ungeachtet der Feststellung bekräftigt hat, dass die einseitige Anerkennung der von Drittstaaten verliehenen Titel durch einen Mitgliedstaat nicht geeignet ist, die anderen Mitgliedstaaten der Union zu binden(35).

    68.      Die Konsequenz dieser Rechtsprechung ist, dass der Aufnahmemitgliedstaat bei der Beurteilung der Kenntnisse und Fähigkeiten eines Berufsangehörigen in Situationen, die nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2005/36 fallen, verpflichtet ist, alle relevanten Unterlagen über die von den anderen Mitgliedstaaten der Union bescheinigten Kenntnisse und Fähigkeiten zu berücksichtigen(36), insbesondere die Dokumentation hinsichtlich der Gleichwertigkeit, unabhängig davon, wo die Ausbildung stattgefunden hat, einschließlich in Drittländern, und unabhängig von der Bezeichnung dieser Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat, und dass dieser Aufnahmemitgliedstaat auch sämtliche einschlägige Berufserfahrung, insbesondere die im Rahmen der Fachausbildung erworbene, zu berücksichtigen hat(37).

    69.      Führt diese vergleichende Prüfung zu der Feststellung, dass die Kenntnisse und Fähigkeiten den nach den nationalen Rechtsvorschriften verlangten entsprechen, so hat der Mitgliedstaat die Qualifikationen so anzuerkennen, als erfüllten sie die in diesen Rechtsvorschriften aufgestellten Voraussetzungen(38). Im Rahmen der vergleichenden Prüfung kann nur objektiven Unterschieden Rechnung getragen werden(39). Sind die durch das Diplom und die einschlägige Erfahrung nachgewiesenen Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers nicht gleichwertig oder entsprechen sie nur teilweise den vom Aufnahmemitgliedstaat geforderten, muss der Aufnahmemitgliedstaat die fehlende Ausbildung angeben, um dem Antragsteller die Möglichkeit zu geben, seine Ausbildung zu vervollständigen oder eine neue Ausbildung zu absolvieren(40). Die vom Aufnahmemitgliedstaat vorgeschriebenen Ausgleichsmaßnahmen dürfen nicht unverhältnismäßig sein(41).

    70.      Ich bin der Auffassung, dass eine andere Auslegung nicht geeignet wäre, die wirksame Ausübung der durch den AEU‑Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu erleichtern. Insoweit ist daran zu erinnern, dass das Unionsrecht eine Begründungspflicht für nationale Entscheidungen vorsieht, die die Ausübung eines dem Einzelnen durch den Vertrag verliehenen Grundrechts berühren(42). Daher muss ein Antragsteller, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, in der Lage sein, die Gründe für die Ablehnung zu erfahren, insbesondere die ihm fehlende Ausbildung(43).

    71.      Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass die Nichtanerkennung der in einem anderen Mitgliedstaat der Union erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten sich dahin auswirken kann, dass sie die Freizügigkeit und die Niederlassung von Berufsangehörigen beeinträchtigt, selbst wenn die nationalen Vorschriften ohne Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit angewandt werden(44). Der Aufnahmemitgliedstaat darf daher die in einem anderen Mitgliedstaat der Union erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht außer Acht lassen. Ich bin der Ansicht, dass das Gleiche für die Nichtanerkennung von in einem Drittland erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten gelten sollte, die von einem anderen Mitgliedstaat als gleichwertig anerkannt werden, und dass der Aufnahmemitgliedstaat diese Qualifikationen folglich nicht außer Acht lassen darf. Insbesondere dürfen die hierzu ergangenen nationalen Rechtsvorschriften keine ungerechtfertigte Behinderung der tatsächlichen Ausübung der durch das Unionsrecht garantierten Grundfreiheiten darstellen(45).

    72.      Ich bin der Auffassung, dass in einer Situation wie der vorliegenden, in der eine Ausbildung zum Facharzt, die von einem Berufsangehörigen mit Unionsbürgerschaft absolviert wurde, an sich die Voraussetzungen für die automatische Anerkennung nach der Richtlinie 2005/36 erfüllt und in der die in einem Drittland absolvierte Grundausbildung von einem anderen Mitgliedstaat als gleichwertig anerkannt wurde, der Spielraum für eine gerechtfertigte Beschränkung der Grundfreiheiten begrenzt ist. Dies gilt umso mehr, als die Mitgliedstaaten gemäß Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie bei der einseitigen Anerkennung von in Drittstaaten erworbenen Berufsqualifikationen verpflichtet sind, die für den Arztberuf vorgesehenen „Mindestanforderungen an die Ausbildung“ einzuhalten, was grundsätzlich ausschließt, dass der Schutz der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit in der Union beeinträchtigt wird. So gesehen frage ich mich ernsthaft, ob es nicht fair und angemessen wäre, zu erwägen, dass unter solchen Umständen eine Vermutung der Gleichwertigkeit der Grundausbildung im Aufnahmemitgliedstaat besteht(46). In diesem Zusammenhang möchte ich feststellen, dass keine der beteiligten Parteien überzeugende Argumente vorgebracht hat, die eine solche Auslegung in Frage stellen würden.

    73.      Auf jeden Fall kann sich der Aufnahmemitgliedstaat nicht auf praktische oder administrative Schwierigkeiten berufen, um zu rechtfertigen, dass er die Beurteilung, zu der er gemäß dem Urteil Vlassopoulou verpflichtet ist, nicht vornimmt(47). Die Grundfreiheiten der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit sind so auszulegen, dass der Aufnahmemitgliedstaat verpflichtet ist, eine Beurteilung der Kenntnisse und der Ausbildung vorzunehmen, die durch die beruflichen Qualifikationen eines Antragstellers belegt werden. Dabei muss der Aufnahmemitgliedstaat, wie ich in den vorliegenden Schlussanträgen dargelegt habe, alle Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise sowie die einschlägige Erfahrung berücksichtigen. Die Weigerung, diese Beurteilung aufgrund praktischer oder administrativer Schwierigkeiten vorzunehmen, würde an sich schon eine ungerechtfertigte Beschränkung der oben genannten Freiheiten darstellen.

    VI.    Ergebnis

    74.      Im Licht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage des Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) wie folgt zu beantworten:

    Die Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen

    ist dahin auszulegen, dass

    die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats einen in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Ausbildungsnachweis des Facharztes, der in Anhang V Nr. 5.1.2 dieser Richtlinie aufgeführt ist, nur dann nach der in Art. 21 dieser Richtlinie festgelegten Regelung der automatischen Anerkennung anerkennen müssen, wenn der Arzt, der Inhaber dieses Nachweises ist, auch einen in einem Mitgliedstaat ausgestellten Nachweis für die ärztliche Grundausbildung vorweisen kann, der in Anhang V Nr. 5.1.1 dieser Richtlinie aufgeführt ist. Diese Auslegung lässt die Möglichkeit unberührt, bei Fehlen eines solchen Nachweises für die ärztliche Grundausbildung einen Ausbildungsnachweis des Facharztes auf der Grundlage der in Titel III Kapitel I der Richtlinie 2005/36 festgelegten allgemeinen Regelung für die Anerkennung von Ausbildungsnachweisen oder gegebenenfalls auf der Grundlage von Art. 45 oder Art. 49 AEUV anzuerkennen.


    1      Originalsprache: Französisch.


    2      ABl. 2005, L 255, S. 22, berichtigt in ABl. 2008, L 93, S. 28.


    3      Vgl. Urteile vom 8. Juli 2021, Lietuvos Respublikos sveikatos apsaugos ministerija (C‑166/20, EU:C:2021:554, Rn. 25), und vom 3. März 2022, Sosiaali- ja terveysalan lupa- ja valvontavirasto (Ärztliche Grundausbildung) (C‑634/20, EU:C:2022:149, Rn. 34).


    4      Von Lewinski, K., Europarecht (Schulze/Janssen/Kadelbach), 4. Aufl., Baden-Baden 2020, Rn. 72.


    5      Vgl. Urteil vom 30. April 2014, Ordre des architectes (C‑365/13, EU:C:2014:280, Rn. 21 und 22).


    6      Vgl. Urteile vom 2. September 2021, LG und MH (Selbstgeldwäsche) (C‑790/19, EU:C:2021:661, Rn. 47), und vom 16. März 2023, Colt Technology Services u. a. (C‑339/21, EU:C:2023:214, Rn. 39).


    7      Wie ich in Nr. 14 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, handelt es sich dabei um das „Zeugnis über die Ärztliche Prüfung“ und das „Zeugnis über die Ärztliche Staatsprüfung und Zeugnis über die Vorbereitungszeit als Medizinalassistent, soweit diese nach den deutschen Rechtsvorschriften noch für den Abschluss der ärztlichen Ausbildung vorgesehen war“.


    8      Hervorhebung nur hier.


    9      Hervorhebung nur hier.


    10      Hervorhebung nur hier.


    11      Urteil vom 9. Februar 1994 (C‑319/92, EU:C:1994:47, Rn. 20 und 21).


    12      ABl. 1978, L 233, S. 10.


    13      Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 78/687 lautete: „Diese Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten in keiner Weise daran, den Inhabern von Diplomen, Prüfungszeugnissen oder sonstigen Befähigungsnachweisen, die nicht in einem Mitgliedstaat erworben wurden, die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeiten des Zahnarztes in ihrem Gebiet nach ihren innerstaatlichen Vorschriften zu gestatten.“ (Hervorhebung nur hier).


    14      Hervorhebung nur hier.


    15      Hervorhebung nur hier.


    16      Vgl. hierzu Bethoud, F., „La reconnaissance des qualifications professionnelles“, Dossiers de droit européen, Nr. 30, Genf 2016, S. 104 ff.


    17      Vgl. in diesem Sinne Guide de l’utilisateur – Directive 2005/36/CE: tout ce que vous voulez savoir sur la reconnaissance des qualifications professionnelles, S. 25.


    18      Vgl. Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 25. März 2021, Lindberg (E‑3/20, EFTA Court Report 2021, Rn. 60).


    19      Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑346/08, EU:C:2009:772, Nr. 15).


    20      Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (KOM[2002] 119 endg.) (ABl. 2002, C 181 E, S. 183).


    21      Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr. 10/2005 vom 21. Dezember 2004, vom Rat festgelegt gemäß dem Verfahren des Artikels 251 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. 2005, C 58 E, S. 1 und 119).


    22      Urteil vom 16. April 2015 (C‑477/13, EU:C:2015:239).


    23      Urteil vom 16. April 2015, Angerer (C‑477/13, EU:C:2015:239, Rn. 27 ff.).


    24      Vgl. Urteil vom 2. März 2023, A (Erzieher) (C‑270/21, EU:C:2023:147, Rn. 66).


    25      Vgl. in diesem Sinne Guide de l’utilisateur – Directive 2005/36/CE: tout ce que vous voulez savoir sur la reconnaissance des qualifications professionnelles, S. 8, 25 und 28.


    26      Vgl. Urteil vom 22. Januar 2002, Dreessen (C‑31/00, EU:C:2002:35, Rn. 26).


    27      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2015, Brouillard (C‑298/14, EU:C:2015:652, Rn. 46).


    28      Vgl. Urteil vom 22. Januar 2002, Dreessen (C‑31/00, EU:C:2002:35, Rn. 31).


    29      Vgl. in diesem Sinne Zaglmayer, B., Anerkennung von Gesundheitsberufen in Europa, Wien 2016, S. 184 ff.; vgl. auch Urteile des EFTA-Gerichtshofs vom 25. März 2021, Lindberg (E‑3/20, EFTA Court Report 2021, Rn. 60 und 61) und Martinez Haugland (E‑4/20, EFTA Court Report 2021, Rn. 83).


    30      Urteil vom 7. Mai 1991 (C‑340/89, im Folgenden: Urteil Vlassopoulou, EU:C:1991:193).


    31      Urteile Vlassopoulou (Rn. 15) und vom 8. Mai 2008, Kommission/Spanien (C‑39/07, EU:C:2008:265, Rn. 37).


    32      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2015, Brouillard (C‑298/14, EU:C:2015:652, Rn. 52).


    33      Vgl. Urteil Vlassopoulou (Rn. 16).


    34      Urteil vom 14. September 2000 (C‑238/98, EU:C:2000:440).


    35      Urteil vom 9. Februar 1994, Haim (C‑319/92, EU:C:1994:47, Rn. 26).


    36      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2015, Brouillard (C‑298/14, EU:C:2015:652, Rn. 54).


    37      Vgl. hierzu Peeters, M., „Free Movement of Medical Doctors: The New Directive 2005/36/EC on the Recognition of Professional Qualifications“, European Journal of Health Law, Bd. 12, Nr. 4, Oktober 2005, S. 377 ff., der die Auffassung vertritt, dass ein Mitgliedstaat die Anerkennung eines in einem Drittstaat erworbenen Diploms nicht einfach verweigern kann.


    38      Vgl. Urteile vom 6. Oktober 2015, Brouillard (C‑298/14, EU:C:2015:652, Rn. 57), und vom 3. März 2022, Sosiaali- ja terveysalan lupa- ja valvontavirasto (Ärztliche Grundausbildung) (C‑634/20, EU:C:2022:149, Rn. 43).


    39      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2015, Brouillard (C‑298/14, EU:C:2015:652, Rn. 56).


    40      Vgl. Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 25. März 2021, Lindberg (E‑3/20, EFTA Court Report 2021, Rn. 70).


    41      Vgl. Urteil vom 3. März 2022, Sosiaali- ja terveysalan lupa- ja valvontavirasto (Ärztliche Grundausbildung) (C‑634/20, EU:C:2022:149, Rn. 45).


    42      Vgl. Urteile vom 15. Oktober 1987, Heylens u. a. (222/86, EU:C:1987:442, Rn. 17), Vlassopoulou (Rn. 22) und vom 2. April 1998, Norbrook Laboratories (C‑127/95, EU:C:1998:151, Rn. 103).


    43      Vgl. Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 25. März 2021, Lindberg (E‑3/20, EFTA Court Report 2021, Rn. 69).


    44      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2015, Brouillard (C‑298/14, EU:C:2015:652, Rn. 53).


    45      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2015, Brouillard (C‑298/14, EU:C:2015:652, Rn. 52).


    46      Vgl. entsprechend Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 25. März 2021, Martinez Haugland (E‑4/20, EFTA Court Report 2021, Rn. 51).


    47      Vgl. u. a. Urteile vom 16. Dezember 1986, Kommission/Griechenland (124/85, EU:C:1986:490, Rn. 12), vom 12. Juli 1990, Kommission/Italien (C‑128/89, EU:C:1990:311, Rn. 22), vom 27. November 2008, Papillon (C‑418/07, EU:C:2008:659, Rn. 54), und vom 3. Juli 2019, Delfarma (C‑387/18, EU:C:2019:556, Rn. 30).

    Top