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Document 62022CJ0653

Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 23. November 2023.
J. P. Mali Kerékpárgyártó és Forgalmazó Kft. gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága.
Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Art. 42 Abs. 1 – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen für Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften vorzusehen – Unzutreffende Angabe des Ursprungslands der eingeführten Waren – Nationale Regelung, die eine Geldbuße in Höhe von 50 % des Zollfehlbetrags vorsieht – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Rechtssache C-653/22.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:912

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

23. November 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Art. 42 Abs. 1 – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen für Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften vorzusehen – Unzutreffende Angabe des Ursprungslands der eingeführten Waren – Nationale Regelung, die eine Geldbuße in Höhe von 50 % des Zollfehlbetrags vorsieht – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑653/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 10. Oktober 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Oktober 2022, in dem Verfahren

J. P. Mali Kerékpárgyártó és Forgalmazó Kft.

gegen

Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Bottka und F. Moro als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 42 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der J. P. Mali Kerékpárgyártó és Forgalmazó Kft. (im Folgenden: J. P. Mali) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Rechtsbehelfsdirektion) wegen einer Geldbuße, die gegen J. P. Mali wegen der unzutreffenden Angabe des Ursprungslands eingeführter Waren verhängt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 9 und 38 der Verordnung Nr. 952/2013 heißt es:

„(9)

Grundlage der [Europäischen] Union ist eine Zollunion. Die bestehenden zollrechtlichen Vorschriften sollten im Interesse der Wirtschaftsbeteiligten wie der Zollbehörden der Union in einem Zollkodex zusammengefasst werden. Dieser Zollkodex, dem das Konzept eines Binnenmarkts zugrunde liegt, sollte die allgemeinen Vorschriften und Verfahren enthalten, welche die Anwendung der zolltariflichen und sonstigen gemeinsamen politischen Maßnahmen, die auf Unionsebene für den Warenverkehr zwischen der Union und den Ländern oder Gebieten außerhalb des Zollgebiets der Union eingeführt wurden, … gewährleisten.

(38)

Es ist angebracht, dem guten Glauben des Beteiligten in den Fällen, in denen eine Zollschuld auf einer Nichteinhaltung zollrechtlicher Vorschriften beruht, Rechnung zu tragen und die Folgen fahrlässigen Verhaltens des Zollschuldners auf ein Mindestmaß abzumildern.“

4

Art. 15 („Übermittlung von Informationen an die Zollbehörden“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1)   Auf Verlangen der Zollbehörden und innerhalb der gesetzten Frist übermitteln die unmittelbar oder mittelbar an der Erfüllung von Zollformalitäten oder an Zollkontrollen beteiligten Personen den Zollbehörden in geeigneter Form alle erforderlichen Unterlagen und Informationen und gewähren ihnen die erforderliche Unterstützung, damit diese Formalitäten oder Kontrollen abgewickelt werden können.

(2)   Der Beteiligte ist mit Abgabe einer Zollanmeldung … für alle folgenden Umstände verantwortlich

a)

für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Informationen in der Anmeldung …,

b)

für die Echtheit, die Richtigkeit und die Gültigkeit jeder der Anmeldung … beigefügten Unterlage,

Erfolgt die Abgabe der Zollanmeldung … durch einen Zollvertreter des Beteiligten …, so gelten die Pflichten nach Unterabsatz 1 des vorliegenden Absatzes auch für den Zollvertreter.“

5

Art. 42 („Anwendung von Sanktionen“) Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Jeder Mitgliedstaat sieht Sanktionen für Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften vor. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

6

Art. 79 („Entstehen der Zollschuld bei Verstößen“) der Verordnung bestimmt:

„(1)   Für einfuhrabgabenpflichtige Waren entsteht eine Einfuhrzollschuld, wenn Folgendes nicht erfüllt ist:

a)

eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen von Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der Union, …

(3)   In den Fällen nach Absatz 1 Buchstaben a und b ist Zollschuldner,

a)

wer die betreffenden Verpflichtungen zu erfüllen hatte,

…“

7

Art. 124 („Erlöschen“) der Verordnung Nr. 952/2013 sieht vor:

„(1)   Unbeschadet der geltenden Vorschriften über die Nichterhebung des der Zollschuld entsprechenden Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrags im Falle einer gerichtlich festgestellten Insolvenz des Zollschuldners erlischt die Einfuhr- oder Ausfuhrzollschuld:

b)

durch Entrichtung des Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrags,

h)

wenn die Zollschuld nach Artikel 79 oder 82 entstanden ist und die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:

i)

Der Verstoß, durch den die Zollschuld entstanden ist, hatte keine erheblichen Auswirkungen auf die ordnungsgemäße Abwicklung des betreffenden Zollverfahrens und war kein Täuschungsversuch,

ii)

nachträglich werden alle notwendigen Formalitäten erfüllt, um die Situation der Waren zu bereinigen,

k)

wenn vorbehaltlich des Absatzes 6 die Zollschuld nach Artikel 79 entstanden ist und den Zollbehörden nachgewiesen wird, dass die Waren nicht verwendet oder verbraucht, sondern aus dem Zollgebiet der Union verbracht worden sind.

(6)   Im Falle des Absatzes 1 Buchstabe k erlischt die Zollschuld nicht für Personen, die einen Täuschungsversuch unternommen haben.

…“

Ungarisches Recht

8

§ 2 Nr. 6 des Az uniós vámjog végrehajtásáról szóló 2017. évi CLII. törvény (Vámtörvény) (Gesetz Nr. CLII von 2017 über die Durchführung des Zollrechts der Union) in seiner zum Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsbescheids, der Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, geltenden Fassung (im Folgenden: Zollgesetz) definierte den Begriff „Zollfehlbetrag“ wie folgt:

„die Differenz zwischen dem Betrag der entstandenen Zölle und anderen Abgaben und dem Betrag der mitgeteilten Zölle und anderen Abgaben, der unter diesem Betrag liegt, sowie dem Betrag der Zölle und anderen Abgaben, die entstanden, aber nicht mitgeteilt worden sind, es sei denn, dies ist auf eine Rechtsverletzung oder eine fehlerhafte Beurteilung der verfügbaren Angaben durch die Zollbehörden zurückzuführen, ausgenommen die Fälle der Entgegennahme ohne Kontrolle; …“

9

Diese Definition wurde mit Wirkung vom 28. Juli 2022 wie folgt geändert:

„die Differenz zwischen dem Betrag der entstandenen Zölle und anderen Abgaben und dem Betrag der mitgeteilten Zölle und anderen Abgaben, der unter diesem Betrag liegt, sowie dem Betrag der Zölle und anderen Abgaben, die entstanden, aber nicht mitgeteilt worden sind, es sei denn, dies ist auf eine Rechtsverletzung oder eine fehlerhafte Beurteilung der verfügbaren Angaben durch die Zollbehörden zurückzuführen, ausgenommen die Fälle der Entgegennahme ohne Kontrolle, wobei … eine im Sinne von Art. 124 Abs. 1 Buchst. h oder k [der Verordnung Nr. 952/2013] erloschene Zollschuld sowie eine wegen einer im Zusammenhang mit der zollamtlichen Überwachung bzw. einer Zollsache stehenden Rechtsverletzung entstandenen Zollschuld unter zehn Euro kein Zollfehlbetrag ist.“

10

§ 84 des Zollgesetzes bestimmt:

„(1)   Die zuständige Zollbehörde verhängt eine Zollgeldbuße …

a)

bei einer Rechtsverletzung im Zusammenhang mit der Abgabe von Warenanmeldungen, der Richtigkeit der Angaben in der Warenanmeldung, …

(2)   Eine Rechtsverletzung nach Absatz 1 Buchstabe a gilt insbesondere dann als begangen, wenn

a) aa)

der Anmelder zum Zeitpunkt der Abgabe der Zollanmeldung … nicht die Richtigkeit und Vollständigkeit der Informationen in der Anmeldung …

(8)   Führen die in Absatz 1 genannten Rechtsverletzungen oder ein mit diesen zusammenhängendes Unterlassen zu einem Zollfehlbetrag, so ist – vorbehaltlich der Absätze 12 und 13, des § 85 Absätze 1, 3 und 4 sowie des § 86 – eine Zollgeldbuße in Höhe von 50 % des Zollfehlbetrags festzusetzen.

(10)   Führen die in Absatz 1 genannten Rechtsverletzungen oder ein mit diesen zusammenhängendes Unterlassen nicht zu einem Zollfehlbetrag, so ist – vorbehaltlich der Absätze 12 und 13, des § 85 Absätze 1, 3 und 4 sowie des § 86 – eine Zollgeldbuße wie folgt festzusetzen:

a)

im Fall einer Rechtsverletzung im Sinne von Absatz 1 Buchstabe a auf bis zu 100000 [Ungarische Forint (HUF) (etwa 270 Euro)] für eine natürliche Person und auf bis zu 500000 HUF [(etwa 1350 Euro)] für jede andere Person,

…“

11

§ 85 dieses Gesetzes sieht vor:

„(1)   Stellt die Zollbehörde fest, dass

a)

die Rechtsverletzung oder die damit zusammenhängende Unterlassung nicht durch die Fälschung oder Vernichtung von Belegen, Büchern oder Aufzeichnungen begangen wurde,

b)

als Folge der Zuwiderhandlung oder der Unterlassung kein Zollfehlbetrag entsteht oder der daraus resultierende Zollfehlbetrag im Falle einer natürlichen Person 30000 HUF [(etwa 80 Euro)] oder im Falle einer juristischen Person 150000 HUF [(etwa 400 Euro)] nicht übersteigt, und

c)

die betroffene Person zum ersten Mal innerhalb eines Jahres vor Feststellung der betreffenden Zuwiderhandlung oder der Unterlassung eine Zuwiderhandlung oder eine Unterlassung im Sinne von § 84 Absatz 1 begangen hat,

unterlässt die Zollbehörde die Verhängung einer Geldbuße und verwarnt die betroffene Person.

(3)   Mit Ausnahme der Bestimmungen des Absatzes 4 darf im Zusammenhang mit der Abgabe einer Warenanmeldung und der Richtigkeit der Informationen in der Warenanmeldung keine Zollgeldbuße verhängt werden, wenn der Anmelder die Änderung der Anmeldung … der Waren beantragt …

(4)   Beantragt der Anmelder auf der Grundlage der … übermittelten Informationen über Zölle und andere Abgaben eine Änderung der Warenanmeldung den Kontrollgegenstand betreffend, nachdem die Zollbehörde ihre diesbezügliche nachträgliche Kontrolle begonnen hat, jedoch vor der Übermittlung des Berichts mit den Ergebnissen der nachträglichen Kontrolle, so werden – vorbehaltlich Absatz 1 und § 86 – 50 % des Betrags der Geldbuße, der nach § 84 Absätze 8, 10 und 13 festgesetzt werden kann, als Zollgeldbuße verhängt.“

12

§ 86 des Gesetzes bestimmt:

„Wird die Rechtsverletzung oder die Unterlassung durch Fälschung oder Vernichtung von Belegen, Büchern oder Aufzeichnungen begangen und hat sie eine Verpflichtung zur Entrichtung von Zöllen und anderen Abgaben zur Folge, so beträgt die Zollgeldbuße 200 % der als Folge der Zuwiderhandlung oder Unterlassung entstandenen Verpflichtung zur Entrichtung der Zölle und anderen Abgaben. …“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

13

Die Gesellschaft ungarischen Rechts J. P. Mali führte in den Jahren 2017 und 2018 von Unternehmen mit Sitz in Taiwan erworbene Fahrräder und Fahrradteile ein. Ihr Zollvertreter ZeMeX Kereskedelmi és Szállítmányozó Kft. reichte für die Überführung dieser Waren in den zollrechtlich freien Verkehr Zollanmeldungen ein und gab an, dass die Waren ihren Ursprung in Taiwan hätten.

14

Die Nemzeti Adó- és Vámhivatal Baranya Megyei Adó- és Vámigazgatósága (Steuer- und Zolldirektion des Komitats Baranya der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Zollbehörde erster Instanz) stellte fest, dass die eingeführten Fahrräder und Fahrradteile tatsächlich aus China stammten, so dass für ihre Einfuhr ein Antidumpingzoll hätte erhoben werden müssen. Daher verlangte diese Behörde mit Bescheiden vom 10. Dezember 2020, die am 29. Dezember 2020 bestandskräftig wurden, von J. P. Mali die Zahlung eines Betrags von 26077000 HUF (etwa 70000 Euro) zur Begleichung ihrer Zollschuld, den der Zollvertreter dieser Gesellschaft entrichtete.

15

Auf der Grundlage von Informationen, die bei einer nachträglichen Kontrolle bei J. P. Mali erhoben worden waren, vertrat die Zollbehörde erster Instanz die Auffassung, dass diese Gesellschaft als Vertragspartei des Geschäfts über Informationen zu den Umständen des Erwerbs der in Rede stehenden Waren verfügen müsse. Ihr Kontrollprotokoll stützte sich u. a. auf einen Bericht des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF), aus dem hervorging, dass das in Taiwan ansässige Unternehmen, das als Ausführer dieser Waren angegeben war, an falschen Angaben über den Ursprung chinesischer Fahrradteile beteiligt war.

16

Da die Zollbehörde erster Instanz der Ansicht war, dass J. P. Mali eine Rechtsverletzung im Sinne von § 84 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 Buchst. a Buchst. aa des Zollgesetzes begangen habe, verhängte sie gegen J. P. Mali gemäß § 84 Abs. 8 dieses Gesetzes eine Zollgeldbuße in Höhe von 13039000 HUF (etwa 35000 Euro).

17

J. P. Mali legte gegen den Bescheid dieser Zollbehörde einen Rechtsbehelf bei der Rechtsbehelfsdirektion ein. Diese wies den Rechtsbehelf mit Bescheid vom 22. April 2021 mit der Begründung zurück, dass J. P. Mali den Ursprung der Waren ordnungsgemäß hätte angeben, als Fahrradhändlerin die für ihre Tätigkeit geltenden Bestimmungen, darunter die des Antidumpingzolls, kennen und ihre Vertragspartner, einschließlich der Ausführer in Drittländern, mit der gebotenen Sorgfalt auswählen müssen. Die Unrichtigkeit der Zollanmeldungen gehöre zum Geschäftsrisiko, das üblicherweise von der Person getragen werde, die den Zoll zu entrichten habe.

18

Ferner vertrat die Rechtsbehelfsdirektion in diesem Bescheid die Auffassung, dass die gegen J. P. Mali verhängte Geldbuße auf einer ordnungsgemäßen Anwendung des Zollgesetzes beruhe und nicht gegen das Unionsrecht verstoße.

19

Hierzu stellte sie fest, dass der Zollwert der in Rede stehenden Waren aufgrund der unrichtigen Angabe des Ursprungslands deutlich niedriger festgesetzt worden sei als der tatsächliche Wert dieser Waren, was zu einem Zollfehlbetrag geführt habe. Nach § 2 Nr. 6 und § 84 Abs. 8 des Zollgesetzes führe dieser Zollfehlbetrag zur Anwendung einer Geldbuße in Höhe von 50 %, die auf der Grundlage des von den Zollbehörden festgestellten Gesamtbetrags der Verpflichtung berechnet werde, ohne dass geprüft zu werden brauche, ob der Verstoß gegen die zollrechtlichen Vorschriften J. P. Mali zuzurechnen gewesen sei. Von dieser Geldbuße könne weder abgesehen werden, da die hierfür im Zollgesetz genannten Voraussetzungen nicht erfüllt seien, noch könne ihre Höhe herabgesetzt werden, da die Situation von J. P. Mali zwischen dem Beginn der nachträglichen Kontrolle und der Zustellung des Protokolls über diese Kontrolle nicht bereinigt worden sei.

20

J. P. Mali focht den Bescheid der Rechtsbehelfsdirektion beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) an. Sie machte geltend, dass die Geldbuße, die pauschal 50 % des Zollfehlbetrags entspreche, nicht in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung stehe.

21

Nach Ansicht von J. P. Mali verfügen die Einführer nur über begrenzte Informationen zu Produktion und Ursprung der Waren und seien insoweit auf die Angaben der Ausführer angewiesen. Im vorliegenden Fall habe ihr eine unabhängige öffentliche Einrichtung, die Handelskammer von Taiwan, Bescheinigungen ausgestellt, die die Angaben der Ausführer zum Ursprung der in Rede stehenden Waren bestätigten. Die ungarischen Rechtsvorschriften verstießen gegen das Unionsrecht, insbesondere gegen die Bestimmungen der Verordnung Nr. 952/2013 über Sanktionen, da sie es nicht zuließen, derartige Umstände zu berücksichtigen, und dem Einführer im Fall eines Verstoßes gegen die zollrechtlichen Vorschriften auch dann eine hohe Geldbuße auferlegten, wenn ihm dieser Verstoß nicht zuzurechnen sei.

22

Nach Ansicht der Rechtsbehelfsdirektion, der Beklagten des Ausgangsverfahrens, ist dieses Vorbringen von J. P. Mali unbegründet. Das Zollgesetz unterscheide nach der Art der Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften und deren Folgen. Dieses Gesetz sehe nämlich unterschiedliche Sanktionen vor, je nachdem, ob die Zuwiderhandlung zu einem Zollfehlbetrag geführt habe oder nicht. Zudem werde die Sanktion nach den §§ 85 und 86 dieses Gesetzes selbst bei einer Zuwiderhandlung, die zu einem Zollfehlbetrag geführt habe, in Abhängigkeit von bestimmten Gewichtungsfaktoren angepasst.

23

Nach Ansicht des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) bestehen Zweifel an der Vereinbarkeit der in § 84 Abs. 8 des Zollgesetzes vorgesehenen Sanktion mit dem in Art. 42 Abs. 1 der Verordnung Nr. 952/2013 aufgestellten Erfordernis der Verhältnismäßigkeit.

24

Diese Bestimmung des Zollgesetzes erlaube es nicht, zu prüfen, ob ein Verhalten dem betreffenden Wirtschaftsteilnehmer zuzurechnen ist, so dass nicht beurteilt werden kann, ob dieser Wirtschaftsteilnehmer alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat, die von ihm hätten erwartet werden können, um die zum Zollfehlbetrag führende Zuwiderhandlung zu vermeiden.

25

Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass der ungarische Gesetzgeber mit Wirkung vom 28. Juli 2022 den Begriff „Zollfehlbetrag“ in § 2 Nr. 6 des Zollgesetzes mit der Ergänzung geändert habe, dass „eine im Sinne von Art. 124 Abs. 1 Buchst. h oder k [der Verordnung Nr. 952/2013] erloschene Zollschuld sowie eine wegen einer im Zusammenhang mit der zollamtlichen Überwachung bzw. einer Zollsache stehenden Rechtsverletzung entstandenen Zollschuld unter zehn Euro kein Zollfehlbetrag ist“. Mit dieser Änderung, die auf anhängige Rechtssachen in diesen Fallkonstellationen sofort anwendbar sei, habe der Gesetzgeber anerkannt, dass zum Zweck der Festsetzung der Höhe der Geldbuße das Verhalten, das durch eine Verletzung der Gestellungspflicht oder durch die Entziehung der Ware aus der zollamtlichen Überwachung zum Ausdruck komme, nicht ebenso beurteilt werden dürfe wie weniger schwerwiegendes Unterlassen zollrechtlicher Verpflichtungen.

26

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist zu prüfen, ob die in § 84 Abs. 8 des Zollgesetzes vorgesehene Sanktion vor dem Hintergrund verhältnismäßig ist, dass im vorliegenden Fall die Ausführer und die Handelskammer Taiwan angegeben hätten, dass die in Rede stehenden Waren aus Taiwan stammten und sich der tatsächliche Ursprung der Waren erst aus einem Bericht des OLAF ergeben habe, der nach der Zollanmeldung eingegangen sei.

27

Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist die Verordnung Nr. 952/2013 dahin auszulegen, dass § 84 Abs. 8 des Zollgesetzes, der es der Zollbehörde nicht erlaubt, im Fall der zwingend zu verhängenden Zollgeldbuße wegen eines Zollfehlbetrags, der sich aus einer Rechtsverletzung im Zusammenhang mit unzutreffenden Angaben in der Anmeldung ergibt, alle Umstände des Falls, einschließlich des dem Anmelder zurechenbaren Verhaltens, abzuwägen, sondern als zwingende Vorschrift anordnet, 50 % des festgestellten Zollfehlbetrags als Zollgeldbuße zu verhängen, und zwar unabhängig von der Schwere der begangenen Rechtsverletzung und unabhängig von der Prüfung und Bewertung des dem Anmelder zurechenbaren Verhaltens, dem in Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex vorgeschriebenen Erfordernis der Verhältnismäßigkeit genügt?

Zur Vorlagefrage

28

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 15 der Verordnung Nr. 952/2013 jede Person, die unmittelbar oder mittelbar an der Erfüllung von Zollformalitäten beteiligt ist, verpflichtet, in der Zollanmeldung richtige und vollständige Informationen zu übermitteln.

29

Die Nichtbeachtung dieser Verpflichtung stellt eine „Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften“ im Sinne von Art. 42 Abs. 1 dieser Verordnung dar. Dieser Begriff bezieht sich nämlich nicht nur auf betrügerische Handlungen, sondern umfasst jede Nichtbeachtung des Zollrechts der Union, unabhängig davon, ob es vorsätzlich oder fahrlässig nicht beachtet wurde oder ob der betreffende Wirtschaftsteilnehmer nicht schuldhaft gehandelt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. März 2020, Schenker, C‑655/18, EU:C:2020:157, Rn. 30 bis 32 und 45, sowie vom 8. Juni 2023, ZES Zollner Electronic, C‑640/21, EU:C:2023:457, Rn. 59).

30

In Bezug auf die Folgen einer solchen Nichtbeachtung sieht gemäß Art. 42 Abs. 1 der Verordnung Nr. 952/2013 jeder Mitgliedstaat wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen u. a. für den Fall unrichtiger Informationen in einer Zollanmeldung vor, und zwar auch in den Fällen – zu denen nach Ansicht des vorlegenden Gerichts das Ausgangsverfahren gehört –, die durch die Gutgläubigkeit des Einführers gekennzeichnet sind, der sich auf amtliche Bescheinigungen verlassen hat, die in einem Land oder Gebiet außerhalb des Zollgebiets der Union ausgestellt wurden.

31

Eine Sanktion wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die in einer Geldbuße in Höhe von 50 % des durch die übermittelten unrichtigen Informationen verursachten Zollfehlbetrags besteht, kann als wirksam und abschreckend im Sinne von Art. 42 Abs. 1 der Verordnung Nr. 952/2013 angesehen werden. Eine solche Sanktion ist nämlich geeignet, die Wirtschaftsteilnehmer der Union anzuhalten, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass sie über richtige Informationen zu den von ihnen eingeführten Waren verfügen und dass die Informationen, die sie in den Zollanmeldungen übermitteln, richtig und vollständig sind. Sie trägt somit zur Verwirklichung des im neunten Erwägungsgrund dieser Verordnung genannten Ziels bei, die Anwendung der zolltariflichen und sonstigen gemeinsamen politischen Maßnahmen für den Warenverkehr zwischen der Union und den Ländern oder Gebieten außerhalb des Zollgebiets der Union zu gewährleisten.

32

Zur Verhältnismäßigkeit der in Rede stehenden Sanktion ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, befugt sind, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind allerdings verpflichtet, bei der Ausübung ihrer Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten. Nach diesem Grundsatz dürfen die administrativen oder repressiven Maßnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften in legitimer Weise verfolgten Ziele erforderlich ist und im Verhältnis zu diesen Zielen nicht unangemessen sein (Urteil vom 8. Juni 2023, Zes Zollner Electronic, C‑640/21, EU:C:2023:457, Rn. 60 und 61 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Die Mitgliedstaaten müssen diesen Grundsatz nicht nur in Bezug auf die Festlegung der Tatbestandsmerkmale eines Verstoßes sowie der Regeln über die Höhe der Geldbußen beachten, sondern auch in Bezug auf die Würdigung der Gesichtspunkte, die in die Festsetzung der Geldbuße einfließen können (Urteil vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép, C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass der ungarische Gesetzgeber eine Sanktionsregelung für den Fall einer Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften eingeführt hat, die eine Geldbuße vorsieht, deren Höhe direkt proportional zum Betrag des durch die Zuwiderhandlung verursachten Zollfehlbetrags ist.

35

Da sich die in dieser Regelung vorgesehene Geldbuße nämlich grundsätzlich auf 50 % dieses Zollfehlbetrags beläuft, ist der Betrag der Geldbuße umso höher, je höher der Zollfehlbetrag ist, der sich z. B. aus der unzutreffenden Angabe des Landes oder Gebiets des Warenursprungs ergibt. Umgekehrt ist der Betrag der Geldbuße umso geringer, je geringer dieser Zollfehlbetrag ist. Außerdem kann es zu einer Befreiung kommen, wenn der Zollfehlbetrag vernachlässigbar ist.

36

Dieser Satz von 50 % erscheint im Übrigen angesichts der Bedeutung des Ziels der zollrechtlichen Vorschriften der Union, auf das in Rn. 31 des vorliegenden Urteils hingewiesen wird, nicht übermäßig.

37

Eine Regelung wie die in Rede stehende ermöglicht darüber hinaus, in erheblichem Maße das Verhalten des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers zu berücksichtigen, indem u. a. der Satz der Geldbuße auf 200 % der Verpflichtung zur Entrichtung von Zöllen und anderen Abgaben bei betrügerischer Tätigkeit erhöht und der Satz der Geldbuße auf 25 % des Zollfehlbetrags herabgesetzt wird, wenn dieser Wirtschaftsteilnehmer gutgläubig ist und zwischen dem Beginn der nachträglichen Kontrolle und der Übermittlung des Berichts mit den Ergebnissen der nachträglichen Kontrolle die Änderung der Zollanmeldung beantragt und dabei die richtigen Informationen übermittelt.

38

Im Bereich der Zölle können solche Modalitäten die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gewährleisten. Insbesondere unterscheiden sie im Einklang mit dem 38. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 952/2013 hinreichend zwischen den Fällen, in denen der betreffende Wirtschaftsteilnehmer gutgläubig ist, und denen, in denen er es nicht ist.

39

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 42 Abs. 1 der Verordnung Nr. 952/2013 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, die im Fall eines durch die Übermittlung unrichtiger Informationen in einer Zollanmeldung für in die Union eingeführte Waren entstandenen Zollfehlbetrags eine Geldbuße vorsieht, die grundsätzlich 50 % dieses Zollfehlbetrags entspricht und ungeachtet des guten Glaubens des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers und der von ihm getroffenen Vorkehrungen angewandt wird, nicht entgegensteht, sofern dieser Satz von 50 % deutlich niedriger ist als der Satz, der für den Fall der Bösgläubigkeit dieses Wirtschaftsteilnehmers vorgesehen ist, und im Übrigen in bestimmten in dieser Regelung genannten Fällen, u. a. dann, wenn der gutgläubige Wirtschaftsteilnehmer seine Zollanmeldung vor Abschluss der nachträglichen Kontrolle berichtigt, erheblich verringert wird.

Kosten

40

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 42 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die im Fall eines durch die Übermittlung unrichtiger Informationen in einer Zollanmeldung für in die Europäische Union eingeführte Waren entstandenen Zollfehlbetrags eine Geldbuße vorsieht, die grundsätzlich 50 % dieses Zollfehlbetrags entspricht und ungeachtet des guten Glaubens des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers und der von ihm getroffenen Vorkehrungen angewandt wird, nicht entgegensteht, sofern dieser Satz von 50 % deutlich niedriger ist als der Satz, der für den Fall der Bösgläubigkeit dieses Wirtschaftsteilnehmers vorgesehen ist, und im Übrigen in bestimmten in dieser Regelung genannten Fällen, u. a. dann, wenn der gutgläubige Wirtschaftsteilnehmer seine Zollanmeldung vor Abschluss der nachträglichen Kontrolle berichtigt, erheblich verringert wird.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.

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