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Document 62022CJ0196

    Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 16. November 2023.
    IB gegen Regione Lombardia und Provincia di Pavia.
    Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Agrarpolitik – Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL), Abteilung Garantie – Gemeinschaftliche Beihilferegelung für Aufforstungsmaßnahmen in der Landwirtschaft – Verordnung (EWG) Nr. 2080/92 – Art. 4 – Anwendung der Beihilferegelung durch die Mitgliedstaaten im Rahmen von Mehrjahresprogrammen – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 – Art. 1 – Begriff ‚Unregelmäßigkeit‘ – Art. 2 – Wirksamkeit, Verhältnismäßigkeit und abschreckende Wirkung verwaltungsrechtlicher Maßnahmen und Sanktionen – Art. 4 – Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils – Einzelheiten der Anwendung eines integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems in Bezug auf bestimmte Beihilferegelungen der Union – Nationale Regelung, die im Fall festgestellter Unregelmäßigkeiten den Verlust der Beihilfe und die Rückzahlung der erhaltenen Beträge vorsieht – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
    Rechtssache C-196/22.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:870

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

    16. November 2023 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Agrarpolitik – Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL), Abteilung Garantie – Gemeinschaftliche Beihilferegelung für Aufforstungsmaßnahmen in der Landwirtschaft – Verordnung (EWG) Nr. 2080/92 – Art. 4 – Anwendung der Beihilferegelung durch die Mitgliedstaaten im Rahmen von Mehrjahresprogrammen – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 – Art. 1 – Begriff ‚Unregelmäßigkeit‘ – Art. 2 – Wirksamkeit, Verhältnismäßigkeit und abschreckende Wirkung verwaltungsrechtlicher Maßnahmen und Sanktionen – Art. 4 – Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils – Einzelheiten der Anwendung eines integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems in Bezug auf bestimmte Beihilferegelungen der Union – Nationale Regelung, die im Fall festgestellter Unregelmäßigkeiten den Verlust der Beihilfe und die Rückzahlung der erhaltenen Beträge vorsieht – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz“

    In der Rechtssache C‑196/22

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichthof, Italien) mit Entscheidung vom 22. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 11. März 2022, in dem Verfahren

    IB

    gegen

    Regione Lombardia,

    Provincia di Pavia

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

    unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter N. Piçarra, M. Safjan, N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),

    Generalanwältin: L. Medina,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von IB, vertreten durch L. Zanuttigh, Avvocata,

    der Regione Lombardia, vertreten durch A. Forloni und L. Tamborino, Avvocati,

    der Provincia di Pavia, vertreten durch G. Roccioletti, Avvocato,

    der griechischen Regierung, vertreten durch E. Leftheriotou, M. Tassopoulou und A.‑E. Vasilopoulou als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Rossi und A. Sauka als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 2080/92 des Rates vom 30. Juni 1992 zur Einführung einer gemeinschaftlichen Beihilferegelung für Aufforstungsmaßnahmen in der Landwirtschaft (ABl. 1992, L 215, S. 96) und der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen IB auf der einen Seite und der Regione Lombardia (Region Lombardei, Italien) sowie der Provincia di Pavia (Provinz Pavia, Italien) auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit eines Bescheids, mit dem der vollständige Verlust von Aufforstungsbeihilfen für landwirtschaftliche Nutzflächen festgestellt und die vollständige Rückerstattung dieser Beihilfen angeordnet wurde.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    Verordnung Nr. 2080/92

    3

    Die Verordnung Nr. 2080/92 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 1257/1999 des Rates vom 17. Mai 1999 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) und zur Änderung bzw. Aufhebung bestimmter Verordnungen (ABl. 1999, L 160, S. 80) mit Wirkung vom 2. Juli 1999 aufgehoben. Gemäß Art. 55 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1257/1999 gilt die Verordnung Nr. 2080/92 jedoch weiterhin für Aktionen, die von der Europäischen Kommission vor dem 1. Januar 2000 auf der Grundlage der Verordnung Nr. 1257/1999 genehmigt wurden; für den Ausgangsrechtsstreit gelten daher weiterhin die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1257/1999.

    4

    Die Erwägungsgründe 1 bis 3 und 5 der Verordnung Nr. 2080/92 lauten:

    „Die Aufforstung landwirtschaftlicher Nutzflächen ist sowohl für die Bodennutzung als auch für den Umweltschutz von besonderer Bedeutung und stellt einen Beitrag zur Verringerung des Defizits an forstwirtschaftlichen Ressourcen in der Gemeinschaft sowie eine Ergänzung der Gemeinschaftspolitik zur Steuerung der Agrarproduktion dar.

    Die Erfahrung mit der Aufforstung landwirtschaftlicher Nutzflächen durch Landwirte hat gezeigt, dass die bestehenden Aufforstungsbeihilfen nicht ausreichen und dass in den letzten Jahren stillgelegte Ackerflächen nur in unzureichendem Maße aufgeforstet wurden.

    Die Maßnahmen nach Titel VIII der Verordnung (EWG) Nr. 2328/91 des Rates vom 15. Juli 1991 zur Verbesserung der Effizienz der Agrarstruktur [(ABl. 1991, L 218, S. 1)] müssen daher durch Maßnahmen ersetzt werden, die einen wirksameren Anreiz zur Aufforstung landwirtschaftlicher Nutzflächen bieten.

    Eine degressive Prämie, die als Beitrag für die Pflege der Neuaufforstungen für die ersten fünf Jahre gezahlt wird, kann einen besonderen Anreiz für die Aufforstung darstellen.“

    5

    Art. 1 („Ziele der Beihilferegelung“) der Verordnung Nr. 2080/92 sieht vor:

    „Es wird eine vom Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL), Abteilung Garantie, kofinanzierte gemeinschaftliche Beihilferegelung geschaffen, um

    die im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisationen vorgesehenen Änderungen abzustützen,

    zu einer langfristigen Verbesserung der Waldressourcen beizutragen,

    zu einer Bewirtschaftung des natürlichen Raums beizutragen, die mit dem ökologischen Gleichgewicht besser vereinbar ist,

    gegen den Treibhauseffekt vorzugehen und die Kohlendioxidabsorption zu unterstützen.

    Ziel der gemeinschaftlichen Beihilferegelung ist es,

    a)

    eine alternative Nutzung der landwirtschaftlichen Flächen durch Aufforstung zu fördern;

    b)

    zur Entwicklung forstwirtschaftlicher Tätigkeiten in den landwirtschaftlichen Betrieben beizutragen.“

    6

    Art. 2 („Beihilferegelung“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 2080/92 bestimmt:

    „Die Beihilferegelung kann Folgendes umfassen:

    a)

    Beihilfen zu den Aufforstungskosten;

    b)

    eine jährliche Prämie je aufgeforsteten Hektar zur Deckung der Kosten für die Pflege der aufgeforsteten Flächen in den ersten fünf Jahren;

    c)

    eine jährliche Hektarprämie zum Ausgleich von Einkommensverlusten aufgrund der Aufforstung landwirtschaftlicher Nutzflächen;

    …“

    7

    In Art. 3 („Beihilfebeträge“) Abs. 1 Buchst. a bis c der Verordnung Nr. 2080/92 heißt es:

    „Die Beihilfen gemäß Artikel 2 kommen bis zu folgenden Höchstbeträgen für eine Erstattung in Betracht:

    a)

    Aufforstungskosten:

    2000 [Euro]/ha für die Anpflanzung von Eucalyptus,

    b)

    Pflegekosten:

    bei Nadelbäumen 250 [Euro]/ha jährlich in den ersten beiden Jahren und 150 [Euro]/ha jährlich in den folgenden Jahren,

    bei Laubbäumen oder gemischten Pflanzungen mit mindestens 75 v. H. Laubbäumen 500 [Euro]/ha jährlich in den ersten beiden Jahren und 300 [Euro]/ha jährlich in den folgenden Jahren.

    c)

    Prämie zum Ausgleich von Einkommensverlusten:

    600 [Euro]/ha jährlich, wenn die Aufforstung von einem landwirtschaftlichen Betriebsinhaber oder einer Vereinigung von landwirtschaftlichen Betriebsinhabern vorgenommen wird, die die Flächen vor der Aufforstung bewirtschaftet haben,

    150 [Euro]/ha jährlich, wenn die Aufforstung von einem anderen in Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b) genannten Begünstigten vorgenommen wird,

    während einer Höchstdauer von zwanzig Jahren ab der Erstaufforstung.“

    8

    Art. 4 („Beihilfeprogramme“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 2080/92 bestimmt:

    „Die Mitgliedstaaten wenden die in Artikel 2 genannte Beihilferegelung im Rahmen einzelstaatlicher oder regionaler Mehrjahresprogramme an, die sich auf Ziele des Artikels 1 beziehen und in denen insbesondere Folgendes festgelegt ist:

    die Beträge und der Zeitraum der Beihilfen gemäß Artikel 2 nach Maßgabe der tatsächlichen Ausgaben für die Aufforstung und die Pflege der für die Aufforstung verwendeten Baumarten oder ‑typen bzw. nach Maßgabe der Einkommensverluste;

    die Bedingungen für die Gewährung der Beihilfen, insbesondere in Bezug auf die Aufforstung;

    …“

    Verordnung (EWG) Nr. 3887/92

    9

    Die Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 der Kommission vom 23. Dezember 1992 mit Durchführungsbestimmungen zum integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen (ABl. 1992, L 391, S. 36) wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 der Kommission vom 11. Dezember 2001 mit Durchführungsbestimmungen zum mit der Verordnung (EWG) Nr. 3508/92 des Rates eingeführten integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen (ABl. 2001, L 327, S. 11) mit Wirkung vom 13. Dezember 2001 aufgehoben. Gemäß Art. 53 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2419/2001 gilt die Verordnung Nr. 3887/92 jedoch weiter für Beihilfeanträge, die sich wie im Ausgangsverfahren auf vor dem 1. Januar 2002 beginnende Wirtschaftsjahre oder Prämienzeiträume beziehen.

    10

    Art. 9 Abs. 2 der Verordnung Nr. 3887/92 sieht vor:

    „Wird festgestellt, dass die in einem Beihilfeantrag ‚Flächen‘ angegebene Fläche über der ermittelten Fläche liegt, so wird der Beihilfebetrag auf der Grundlage der bei der Kontrolle tatsächlich ermittelten Fläche berechnet. Außer in Fällen höherer Gewalt wird die tatsächlich ermittelte Fläche jedoch wie folgt gekürzt:

    um das Doppelte der festgestellten Fläche, wenn diese über 2 % oder über 2 ha liegt und bis zu 10 % der ermittelten Fläche beträgt;

    um 30 %, wenn die Flächendifferenz über 10 % liegt und bis zu 20 % der ermittelten Fläche beträgt.

    Liegt die festgestellte Differenz über 20 % der ermittelten Fläche, so wird keinerlei Beihilfe für Flächen gewährt.

    …“

    Verordnung Nr. 2988/95

    11

    Die Erwägungsgründe 3 und 10 der Verordnung Nr. 2988/95 lauten:

    „Die Einzelheiten dieser dezentralen Verwaltung und der Kontrollsysteme werden in ausführlichen Vorschriften geregelt, die sich je nach Bereich der Gemeinschaftspolitik unterscheiden. Es ist jedoch wichtig, in allen Bereichen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zu bekämpfen.

    Gemäß dem allgemeinen Erfordernis der Billigkeit und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie unter Berücksichtigung des Grundsatzes ‚ne bis in idem‘ sind unter Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstands und unter Beachtung der Vorschriften der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung geltenden spezifischen Gemeinschaftsregelungen geeignete Bestimmungen vorzusehen, um eine Kumulierung finanzieller Sanktionen der Gemeinschaft und einzelstaatlicher strafrechtlicher Sanktionen bei ein und derselben Person für dieselbe Tat zu verhindern.“

    12

    Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 bestimmt:

    „(1)   Zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften wird eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht getroffen.

    (2)   Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die [durch eine ungerechtfertigte Ausgabe] einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde …“

    13

    In Art. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 heißt es:

    „(1)   Kontrollen und verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen werden eingeführt, soweit sie erforderlich sind, um die ordnungsgemäße Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen. Sie müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein, um einen angemessenen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zu gewährleisten.

    (2)   Eine verwaltungsrechtliche Sanktion kann nur verhängt werden, wenn sie in einem Rechtsakt der Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unregelmäßigkeit vorgesehen wurde. Bei späterer Änderung der in einer Gemeinschaftsregelung enthaltenen Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen gelten die weniger strengen Bestimmungen rückwirkend.

    (4)   Vorbehaltlich des anwendbaren Gemeinschaftsrechts unterliegen die Verfahren für die Anwendung der gemeinschaftlichen Kontrollen, Maßnahmen und Sanktionen dem Recht der Mitgliedstaaten.“

    14

    Art. 4 der Verordnung Nr. 2988/95 lautet:

    „(1)   Jede Unregelmäßigkeit bewirkt in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils

    durch Verpflichtung zur Zahlung des geschuldeten oder Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags;

    durch vollständigen oder teilweisen Verlust der Sicherheit, die für einen Antrag auf Gewährung eines Vorteils oder bei Zahlung eines Vorschusses geleistet wurde.

    (2)   Die Anwendung der Maßnahmen nach Absatz 1 beschränkt sich auf den Entzug des erlangten Vorteils, zuzüglich – falls dies vorgesehen ist – der Zinsen, die pauschal festgelegt werden können.

    (3)   Handlungen, die nachgewiesenermaßen die Erlangung eines Vorteils, der den Zielsetzungen der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften zuwiderläuft, zum Ziel haben, indem künstlich die Voraussetzungen für die Erlangung dieses Vorteils geschaffen werden, haben zur Folge, dass der betreffende Vorteil nicht gewährt bzw. entzogen wird.

    (4)   Die in diesem Artikel vorgesehenen Maßnahmen stellen keine Sanktionen dar.“

    15

    Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 bestimmt:

    „Unregelmäßigkeiten, die vorsätzlich begangen oder durch Fahrlässigkeit verursacht werden, können zu folgenden verwaltungsrechtlichen Sanktionen führen:

    c)

    vollständiger oder teilweiser Entzug eines nach Gemeinschaftsrecht gewährten Vorteils auch dann, wenn der Wirtschaftsteilnehmer nur einen Teil dieses Vorteils rechtswidrig erlangt hat;

    d)

    Ausschluss von einem Vorteil oder Entzug eines Vorteils für einen Zeitraum, der nach dem Zeitraum der Unregelmäßigkeit liegt;

    …“

    Italienisches Recht

    16

    Art. 13 („Ergebnisse der Kontrollen nach Auszahlung der Beihilfen“) des Decreto ministeriale n. 494 – Regolamento recante norme di attuazione del regolamento (CEE) n. 2080/92 in materia di gestione, pagamenti, controlli e decadenze dell’erogazione di contributi per l’esecuzione di rimboschimenti o miglioramenti boschivi (Ministerialdekret Nr. 494 – Verordnung mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung [EWG] Nr. 2080/92 im Bereich von Verwaltung, Zahlung, Kontrolle und Verlust von Zuschüssen für die Durchführung von Aufforstungsmaßnahmen und die Verbesserung des Forstbestands) vom 18. Dezember 1998 (GURI Nr. 16 vom 21. Januar 1999, im Folgenden: Dekret Nr. 494/98) sieht vor:

    „(1)   Werden bei den Kontrollen nach Art. 12 Unregelmäßigkeiten festgestellt, die zum Verlust der Beihilfe führen, ordnet die zuständige regionale Behörde gemäß Art. 4 der Verordnung [Nr. 2988/95] den teilweisen oder vollständigen Verlust mit den Folgen nach Art. 14 an.

    (2)   Wurde im Antrag eine geringere Fläche als die festgestellte Fläche angegeben, stellt dies keine Unregelmäßigkeit dar. Maßgeblich für die Berechnung des Betrags der jährlichen Beihilfe ist jedoch weiterhin die angemeldete Fläche.“

    17

    Art. 14 („Sonstige Fälle des Verlusts“) des Dekrets Nr. 494/98 bestimmt:

    „(1)   Liegen Verstöße im Sinne der Abs. 2 und 3 vor bzw. werden die Voraussetzungen und Bedingungen für eine Teilnahme am Programm nicht mehr erfüllt, wird der vollständige Verlust angeordnet.

    (3)   Der vollständige Verlust wird auch in Fällen angeordnet, in denen die festgestellte aufgeforstete oder verbesserte Fläche bzw. die festgestellten Kilometer an Forstwegen nach abschließender Überprüfung und außer im Fall höherer Gewalt nach Art. 8 um 20 % unter derjenigen bzw. denjenigen liegen, die als beihilfefähig anerkannt und abgerechnet wurde bzw. wurden.

    (4)   Differenzen unterhalb des im vorstehenden Absatz genannten Schwellenwerts führen zum teilweisen Verlust der Beihilfe.“

    18

    Art. 15 („Wirkungen des Verlusts“) Abs. 1 des Dekrets Nr. 494/98 lautet:

    „Der vollständige Verlust hat die Rückzahlung aller rechtswidrig erhaltenen Beihilfen und den vollständigen Ausschluss von der Beihilfe für die restlichen Jahre der Verpflichtung zur Folge.“

    Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

    19

    Am 16. Juni 1997 beantragte IB, der Inhaber eines landwirtschaftlichen Betriebs ist, bei der Provinz Pavia die Teilnahme an der Beihilferegelung zur Förderung der Wiederaufforstung landwirtschaftlicher Nutzflächen gemäß der Verordnung Nr. 2080/92. Im Rahmen dieses Antrags verpflichtete sich IB zur Aufforstung einer landwirtschaftlichen Nutzfläche im Umfang von 104 Hektar, die bis zu diesem Zeitpunkt dem Anbau von Reis und Mais diente, sowie zum Erhalt der Aufforstung auf der gesamten Fläche für eine Dauer von 20 Jahren, d. h. in den Jahren von 1997 bis 2017.

    20

    Nachdem entschieden worden war, dass IB diese Regelung in Anspruch nehmen könne, erhielt er in den Jahren von 1997 bis 2008 Beihilfen in Höhe von insgesamt 1324246,35 Euro, die sich gemäß Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2080/92 aus der ursprünglichen Beihilfe zu den Aufforstungskosten, jährlichen Prämien zur Deckung der Kosten für die Pflege der aufgeforsteten Flächen und aus jährlichen Prämien zum Ausgleich von Einkommensverlusten zusammensetzten.

    21

    Eine im September 2009 vor Ort durchgeführte Kontrolle durch die hierzu von der Region Lombardei beauftragte Provinz Pavia ergab, dass die mit Unionsmitteln aufgeforstete Fläche nicht 104 Hektar, sondern wegen der vorzeitigen Abholzung der Anpflanzungen durch IB 70 Hektar betrug. Nachdem sie festgestellt hatte, dass die Differenz zwischen der angemeldeten Fläche und der tatsächlich aufgeforsteten Fläche in Höhe von 38 % den Schwellenwert nach Art. 14 Abs. 3 des Dekrets Nr. 494/98 überschritt, entzog die Provinz Pavia IB die ihm gewährten Beihilfen, ordnete an, dass er sämtliche Beihilfen gemäß Art. 15 Abs. 1 dieses Dekrets zurückzuzahlen habe, und schloss ihn für die restlichen Jahre der Verpflichtung von der Beihilfe aus.

    22

    Den angeordneten Verlust der Beihilfe und den Rückerstattungsbescheid focht IB vor dem Tribunale di Pavia (Gericht Pavia, Italien) an, das seine Klage für begründet erklärte.

    23

    Die mit der Berufung befasste Corte d’appello di Milano (Berufungsgericht Mailand, Italien) änderte das erstinstanzliche Urteil ab und entschied im Wesentlichen, dass die IB zur Last gelegte Vertragsverletzung eine schwerwiegende Unregelmäßigkeit darstelle, die den mit der Beihilferegelung der Union verfolgten Zielen zuwiderlaufe. Diese Unregelmäßigkeit führe zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Beihilfeempfängers, der sowohl die Beihilfen der Union als auch die Einnahmen aus dem Holzverkauf bezogen habe, und rechtfertige außer im Fall höherer Gewalt und bei Vorliegen anderer Gründe, auf die der Begünstigte keinen Einfluss habe, die vollständige Rückzahlung der erhaltenen Beihilfen.

    24

    Gegen dieses Urteil legte IB beim vorlegenden Gericht, der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien), Kassationsbeschwerde ein.

    25

    Das vorlegende Gericht fragt sich, ob die Verordnungen Nrn. 2080/92 und 2988/95 der in den Art. 14 und 15 des Dekrets Nr. 494/98 festgelegten Regelung des vollständigen Verlusts der Beihilfe entgegenstehen.

    26

    Insbesondere bezweifelt es, ob die Regelung des vollständigen Verlusts als eine „Maßnahme“ im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 2988/95 angesehen werden könne. Während nämlich Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung vorsehe, dass jede Unregelmäßigkeit in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils durch Verpflichtung zur Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags bewirke, hätte der vollständige Verlust nach den Art. 14 und 15 des Dekrets Nr. 494/98 nicht nur die Rückzahlung sämtlicher rechtswidrig erhaltener Beihilfen zur Folge, sondern auch den vollständigen Ausschluss von der Beihilfe für die restlichen Jahre der Verpflichtung.

    27

    Das vorlegende Gericht fragt sich, ob diese nationale Regelung die in Art. 4 der Verordnung Nr. 2988/95 festgelegten Grenzen überschreite, da sie die vollständige Rückzahlung der erhaltenen Beihilfen verlange, sobald die aufgeforstete Fläche um 20 % unter der für die Beihilfe angemeldeten Fläche liege.

    28

    Ferner sei fraglich, ob die nationale Regelung verhältnismäßig sei, da sie für den Fall des vollständigen Verlusts die Rückzahlung sämtlicher erhaltenen Beihilfen vorsehe und nicht nur derjenigen, die das Jahr beträfen, in dem die Unregelmäßigkeit festgestellt worden sei.

    29

    Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Stehen die Bestimmungen der Verordnung Nr. 2080/92 zur Einführung einer gemeinschaftlichen Beihilferegelung für forstwirtschaftliche Maßnahmen in der Landwirtschaft, die allerdings keine Verlust- und Sanktionsmaßnahmen vorsehen, auch unter Berücksichtigung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 2988/95 der Anwendung einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegen, die in den Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 2080/92 im Fall einer festgestellten Unregelmäßigkeit im Rahmen der Gewährung von Beihilfen den Verlust dieser Beihilfen und die Rückzahlung der als Beihilfe erhaltenen Beträge vorsieht?

    2.

    Falls die erste Frage zu verneinen ist: Stehen die Bestimmungen der Verordnung Nr. 2080/92, auch unter Berücksichtigung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 2988/95 und der im zehnten Erwägungsgrund niedergelegten Grundsätze der Billigkeit und der Verhältnismäßigkeit, der Anwendung einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegen, die in den Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 2080/92 im Fall einer festgestellten Unregelmäßigkeit im Rahmen der Gewährung von Beihilfen deren Verlust und die Rückzahlung der als Beihilfe erhaltenen Beträge vorsieht, wenn die aufgeforstete oder verbesserte Fläche weniger als 20 % unter der als beihilfefähig anerkannten und abgerechneten Fläche liegt?

    3.

    Falls die erste Frage zu verneinen ist: Stehen die Bestimmungen der Verordnung Nr. 2080/92, auch unter Berücksichtigung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 2988/95, der rückwirkenden Anwendung einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegen, die in den Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 2080/92 im Fall einer festgestellten Unregelmäßigkeit im Rahmen der Gewährung von Beihilfen deren Verlust und die Rückzahlung der als Beihilfe erhaltenen Beträge vorsieht?

    4.

    Falls die erste Frage zu verneinen ist: Stehen die Bestimmungen der Verordnung Nr. 2080/92, auch unter Berücksichtigung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 2988/95, einer Auslegung einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegen, die in den Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 2080/92 im Fall einer festgestellten Unregelmäßigkeit im Rahmen der Gewährung von Beihilfen deren Verlust und die Rückzahlung der als Beihilfe erhaltenen Beträge in dem Sinne vorsieht, dass der Begünstigte die aufgrund dieser Beihilfe erhaltenen Beträge vollständig zurückzahlen muss, und nicht nur die Beträge für das Jahr, für das die Unregelmäßigkeit im Rahmen der Gewährung der Beihilfe festgestellt wurde?

    Zu den Vorlagefragen

    Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

    30

    Die Region Lombardei macht im Wesentlichen geltend, dass die Vorlagefragen aus zwei Gründen unzulässig seien. Zum einen seien diese Fragen unerheblich, da die italienische Regelung sich auf eine Durchführung von Art. 9 der Verordnung Nr. 3887/92 beschränke, bei dem es sich um eine unmittelbar anwendbare Bestimmung handele. Zum anderen hätte eine Antwort auf diese Fragen keine Auswirkung auf die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits, da IB im Jahr 2011 die gesamte aufgeforstete Fläche abgeholzt habe, so dass die Frage nach der Auswirkung einer Verringerung der Fläche um über 20 % hypothetisch geworden sei.

    31

    Insoweit ist es nach ständiger Rechtsprechung allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    32

    Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    33

    Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der Antwort des Gerichtshofs auf dieses Ersuchen abhängt, denn sie ermöglicht dem vorlegenden Gericht in einem Kontext, in dem festgestellt wurde, dass die aufgeforstete Fläche um mehr als 20 % unter der aufgrund einer mehrjährigen Verpflichtung als beihilfefähig anerkannten Fläche lag, über den Umfang der Rückerstattung der von IB erhaltenen Aufforstungsbeihilfen zu entscheiden.

    34

    Unter diesen Umständen ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig, da die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung des Unionsrechts nicht offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht.

    Zur Begründetheit

    35

    Mit seinen vier Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 2 und 4 der Verordnung Nr. 2988/95, die Art. 2 und 4 der Verordnung Nr. 2080/92 sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die für den Fall, dass während der Erfüllung einer mehrjährigen Verpflichtung festgestellt wird, dass die aufgeforstete Fläche um 20 % unter der aufgrund dieser Verpflichtung als beihilfefähig anerkannten Fläche liegt, den vollständigen Verlust der Aufforstungsbeihilfen und damit die Verpflichtung zur vollständigen Rückerstattung dieser Beihilfen sowie den vollständigen Ausschluss von den Beihilfen vorsieht, die für die restlichen Jahre der Verpflichtung zu zahlen gewesen wären.

    36

    Erstens ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 2080/92, wie sich aus Art. 1 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 1 bis 3 ergibt, eine Beihilferegelung für die Aufforstung landwirtschaftlicher Nutzflächen eingeführt hat, deren Ziel es ist, insbesondere eine alternative Nutzung der landwirtschaftlichen Flächen durch Aufforstung zu fördern und zugleich zur Entwicklung forstwirtschaftlicher Tätigkeiten in den landwirtschaftlichen Betrieben beizutragen, zu einer Bewirtschaftung des natürlichen Raums beizutragen, die mit dem ökologischen Gleichgewicht besser vereinbar ist, gegen den Treibhauseffekt vorzugehen, die Kohlendioxidabsorption zu unterstützen und zu einer langfristigen Verbesserung der Waldressourcen beizutragen.

    37

    Die Verordnung Nr. 2080/92 verfolgt somit agrarpolitische Ziele zur Unterstützung der Forstwirtschaft sowie das Ziel des Umweltschutzes, wobei diese Ziele ihrem Wesen nach auf mehrere Jahre angelegt sind sowie eine tatsächliche und dauerhafte Aufforstung der landwirtschaftlichen Nutzflächen erfordern.

    38

    Weiter ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1 Buchst. a bis c der Verordnung Nr. 2080/92, dass die mit ihr eingeführte Beihilferegelung für die Aufforstung landwirtschaftlicher Nutzflächen Beihilfen zu den Aufforstungskosten, eine jährliche Prämie zur Deckung der Kosten für die Pflege der aufgeforsteten Flächen in den ersten fünf Jahren und eine jährliche Prämie zum Ausgleich von Einkommensverlusten aufgrund der Aufforstung landwirtschaftlicher Nutzflächen umfassen kann, wobei diese Prämien „je aufgeforsteten Hektar“ gezahlt werden.

    39

    Ferner beschränkt sich Art. 3 Abs. 1 Buchst. a bis c der Verordnung Nr. 2080/92 darauf, die beihilfefähigen Höchstbeträge nach Maßgabe der aufgeforsteten Fläche (in Hektar) sowie die Höchstdauer festzulegen, während der diese Beihilfen gezahlt werden können. Während Art. 3 Abs. 1 Buchst. b im Licht des fünften Erwägungsgrundes dieser Verordnung vorsieht, dass Pflegekosten über einen Zeitraum von fünf Jahren gestaffelt ausgezahlt werden können, bestimmt Art. 3 Abs. 1 Buchst. c, dass die Prämie zum Ausgleich von Einkommensverlusten während einer Höchstdauer von 20 Jahren ab der Erstaufforstung gewährt werden kann.

    40

    Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2080/92 überlässt es den Mitgliedstaaten, diese Beihilferegelung im Rahmen einzelstaatlicher oder regionaler Mehrjahresprogramme anzuwenden, deren Einzelheiten sie festlegen. In diesem Rahmen bestimmen die Mitgliedstaaten u. a. die Beträge und den Zeitraum der Beihilfen nach Maßgabe der tatsächlichen Ausgaben für die Aufforstung und die Pflege der für die Aufforstung verwendeten Baumarten oder ‑typen bzw. nach Maßgabe der Einkommensverluste sowie die Bedingungen für die Gewährung der Beihilfen in Bezug auf die Aufforstung.

    41

    Aus einer Zusammenschau dieser Bestimmungen ergibt sich zum einen, dass die Verordnung Nr. 2080/92 zwar nicht unmittelbar die Bedingungen für die Zahlung der verschiedenen Aufforstungsbeihilfen festlegt, sie die Gewährung dieser Beihilfen jedoch mit der tatsächlichen Aufforstung der Flächen verknüpft, die während der gesamten Laufzeit einer mehrjährigen Verpflichtung unterliegen.

    42

    Zum anderen ist festzustellen, dass diese Verordnung weder die Kontrollverfahren noch die Sanktionsregelung festlegt, mit denen die Einhaltung der Bedingungen für die Gewährung der Beihilfen sichergestellt werden soll. Die Kontrollverfahren und die Sanktionsregelung unterliegen folglich weiterhin dem Recht der Mitgliedstaaten.

    43

    Zweitens ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 2988/95 zum Schutz der finanziellen Interessen der Union gemäß Art. 1 eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das Unionsrecht erlassen hat, um, wie sich aus dem dritten Erwägungsgrund dieser Verordnung ergibt, in allen Bereichen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zu bekämpfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2014, Cruz & Companhia, C‑341/13, EU:C:2014:2230, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    44

    Mit dem Erlass der Verordnung wollte der Gesetzgeber eine Reihe allgemeiner Grundsätze aufstellen und vorschreiben, dass diese Grundsätze bei allen sektorbezogenen Verordnungen wie der Verordnung Nr. 2080/92 beachtet werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Oktober 2010, SGS Belgium u. a., C‑367/09, EU:C:2010:648, Rn. 37, und vom 18. Dezember 2014, Somvao, C‑599/13, EU:C:2014:2462, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    45

    So regelt Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95, dass die in dieser Bestimmung vorgesehenen Kontrollen sowie verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen.

    46

    Der Gerichtshof hat den Begriff „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 dahin ausgelegt, dass er nicht nur bei jedem Verstoß gegen eine Vorschrift des Unionsrechts als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben ist, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Union bewirkt oder bewirken würde, sondern auch bei einem Verstoß gegen die Vorschriften des nationalen Rechts, die für die von einem Fonds geförderten Vorhaben gelten, wie die Vorschriften, die die Bedingungen für die Gewährung einer Beihilfe festlegen (vgl. entsprechend Urteile vom 26. Mai 2016, Județul Neamț und Județul Bacău, C‑260/14 und C‑261/14, EU:C:2016:360, Rn. 36, 37 und 43, sowie vom 1. Oktober 2020, Elme Messer Metalurgs, C‑743/18, EU:C:2020:767, Rn. 52, 53 und 63).

    47

    Nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 bewirkt jede „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils durch Verpflichtung zur Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags.

    48

    Wie sich im vorliegenden Fall aus der Vorlageentscheidung ergibt, erfolgt nach Art. 14 Abs. 1 und 3 des Dekrets Nr. 494/98 ein vollständiger Verlust von Beihilfen, bei denen nach der abschließenden Überprüfung und außer im Fall höherer Gewalt die festgestellte Fläche um 20 % unter der als beihilfefähig anerkannten und abgerechneten Fläche liegt, sowie von Beihilfen, bei denen die Voraussetzungen und Bedingungen für die Teilnahme an dem Programm nicht mehr erfüllt sind. Außerdem erfolgt nach Art. 14 Abs. 4 dieses Dekrets ein teilweiser Verlust von Beihilfen, bei denen eine Differenz von unter 20 % zwischen der aufgeforsteten und der als beihilfefähig anerkannten Fläche festgestellt wird. Ferner sieht Art. 15 Abs. 1 des Dekrets vor, dass der vollständige Verlust die Rückzahlung aller rechtswidrig erhaltenen Beihilfen und den vollständigen Ausschluss von der Beihilfe für die restlichen Jahre der Verpflichtung zur Folge hat.

    49

    Daraus folgt, dass eine Bestimmung wie Art. 14 Abs. 1 und 3 des Dekrets Nr. 494/98 über die Beibehaltung der Aufforstung auf mindestens 80 % der von der eingegangenen mehrjährigen Verpflichtung erfassten Fläche eine Vorschrift des nationalen Rechts ist, die für ein von einem Fonds gefördertes Vorhaben gilt und deren Verletzung eine „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 darstellen und somit zur Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags gemäß Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung führen kann.

    50

    Das vorlegende Gericht möchte jedoch wissen, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren entgegensteht, die für den Fall, dass die aufgeforstete Fläche um 20 % unter der als beihilfefähig anerkannten Fläche liegt, anstelle nur der Rückerstattung der Beihilfen für die Fläche, die mit einer Unregelmäßigkeit behaftet ist, oder nur der Beträge für das Jahr, für das die Unregelmäßigkeit festgestellt wurde, den vollständigen Verlust der Unionsbeihilfe und deren vollständige Rückzahlung vorsieht.

    51

    Insoweit verlangt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass die aufgrund einer nationalen Bestimmung angewandten Mittel geeignet sind, das angestrebte Ziel zu verwirklichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgehen (Urteil vom 7. April 2022, Avio Lucos, C‑176/20, EU:C:2022:274, Rn. 42).

    52

    Erstens ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung des Verlusts der Beihilfe ein legitimes Ziel verfolgt. Mit ihr wird nämlich Art. 2 Abs. 4 und Art. 4 der Verordnung Nr. 2988/95 durchgeführt, wie sich aus Art. 13 Abs. 1 des Dekrets Nr. 494/98 ergibt, und sie dient dem Schutz der Interessen der Union und insbesondere der von der Union gemäß der Verordnung Nr. 2080/92 finanzierten Aufforstungsbeihilfen.

    53

    Was zweitens die Eignung dieser nationalen Regelung zur Erreichung des angestrebten Ziels betrifft, ist festzustellen, dass der in Art. 14 Abs. 1 und 3 des Dekrets Nr. 494/98 vorgesehene vollständige Verlust der Unionsbeihilfe geeignet ist, Aufforstungsbeihilfen effizient zu gewähren und damit die mit der Verordnung Nr. 2080/92 verfolgten Ziele, wie sie in Rn. 37 des vorliegenden Urteils wiedergegeben worden sind, wirksam zu verfolgen. Der vollständige Verlust und die damit gemäß Art. 15 Abs. 1 dieses Dekrets verbundenen Folgen sind nämlich geeignet, eine Zuweisung von Unionsmitteln an ein Aufforstungsvorhaben zu verhindern, das nicht im Einklang mit den mit dieser Verordnung verfolgten Zielen einer tatsächlichen und dauerhaften Aufforstung stünde.

    54

    Im Übrigen ermöglicht die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung, soweit sie den vollständigen Verlust mit einem vollständigen Ausschluss von den Beihilfen verknüpft, die für die restlichen Jahre der Verpflichtung zu zahlen gewesen wären, wegen ihrer abschreckenden Wirkung auch den Schutz der finanziellen Interessen der Union.

    55

    Was drittens die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit des vollständigen Verlusts und der damit verbundenen Folgen nach Art. 14 Abs. 1 und 3 sowie Art. 15 Abs. 1 des Dekrets Nr. 494/98 anbelangt, so geht diese Regelung nicht über das hinaus, was erforderlich ist. Da es, wie sich aus Rn. 40 des vorliegenden Urteils ergibt, Sache der Mitgliedstaaten ist, die Bedingungen für die Gewährung der Aufforstungsbeihilfen festzulegen, dürfen diese Staaten davon ausgehen, dass der Verstoß gegen eine Bedingung der Beihilfefähigkeit wie die in Bezug auf den Schwellenwert von 20 % der aufzuforstenden Fläche einen schweren Schaden für die Verwirklichung der mit der Verordnung Nr. 2080/92 verfolgten Ziele verursachen kann, und daraus den Schluss ziehen, dass die ursprüngliche Verpflichtung so schlecht eingehalten wird, dass dies mit einem vollständigen Verlust geahndet wird.

    56

    Im Übrigen ist auch darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung des Verlusts durch ihre Staffelung gekennzeichnet ist, da eine Differenz von unter 20 % zwischen der festgestellten und der als beihilfefähig anerkannten Fläche zu einem teilweisen Verlust führt, eine Differenz in Höhe oder oberhalb dieses Schwellenwerts zum vollständigen Verlust und zur vollständigen Rückerstattung der erhaltenen Beihilfen sowie zum vollständigen Ausschluss von den Beihilfen für die restlichen Jahre der Verpflichtung führt.

    57

    Da die Regelung des vollständigen Verlusts von Beihilfen nur begrenzte Fälle erfasst, nämlich solche, in denen festgestellt wird, dass die aufgeforstete Fläche um 20 % unter der als beihilfefähig anerkannten Fläche liegt, und die Möglichkeit vorsieht, dass sich ein Begünstigter auf höhere Gewalt beruft, wahrt sie außerdem den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

    58

    Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften erweisen sich ferner auch insoweit als verhältnismäßig, als sie im Fall der Feststellung, dass die aufgeforstete Fläche um 20 % unter der als beihilfefähig anerkannten Fläche liegt, anstelle einer Rückerstattung nur der Beträge für das Jahr, für das die Unregelmäßigkeit festgestellt wurde, die Rückzahlung aller aufgrund der mehrjährigen Verpflichtung erhaltenen Aufforstungsbeihilfen vorsehen. Denn nur eine vollständige Rückerstattung dieser Beihilfen vermag die Gefahr von Betrug gegenüber dem Unionshaushalt abzuwenden und die tatsächliche und dauerhafte Aufforstung der landwirtschaftlichen Nutzflächen zu gewährleisten.

    59

    Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 2 und 4 der Verordnung Nr. 2988/95, die Art. 2 und 4 der Verordnung Nr. 2080/92 sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die für den Fall, dass während der Erfüllung einer mehrjährigen Verpflichtung festgestellt wird, dass die aufgeforstete Fläche um 20 % unter der aufgrund dieser Verpflichtung als beihilfefähig anerkannten Fläche liegt, den vollständigen Verlust der Aufforstungsbeihilfen und damit die Verpflichtung zur vollständigen Rückerstattung dieser Beihilfen sowie den vollständigen Ausschluss von den Beihilfen vorsieht, die für die restlichen Jahre der Verpflichtung zu zahlen gewesen wären.

    Kosten

    60

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Die Art. 2 und 4 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, die Art. 2 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 2080/92 des Rates vom 30. Juni 1992 zur Einführung einer gemeinschaftlichen Beihilferegelung für Aufforstungsmaßnahmen in der Landwirtschaft sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

     

    sind dahin auszulegen, dass

     

    sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die für den Fall, dass während der Erfüllung einer mehrjährigen Verpflichtung festgestellt wird, dass die aufgeforstete Fläche um 20 % unter der aufgrund dieser Verpflichtung als beihilfefähig anerkannten Fläche liegt, den vollständigen Verlust der Aufforstungsbeihilfen und damit die Verpflichtung zur vollständigen Rückerstattung dieser Beihilfen sowie den vollständigen Ausschluss von den Beihilfen vorsieht, die für die restlichen Jahre der Verpflichtung zu zahlen gewesen wären.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

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