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Document 62022CJ0073

Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 13. Juli 2023.
Grupa Azoty S.A. u. a. gegen Europäische Kommission.
Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Leitlinien für bestimmte Beihilfemaßnahmen im Zusammenhang mit dem System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten – Förderfähige Wirtschaftssektoren – Ausschluss des Sektors der Herstellung von Stickstofferzeugnissen und Düngemitteln – Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Klagerecht natürlicher und juristischer Personen – Art. 263 Abs. 4 AEUV – Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit des Klägers.
Verbundene Rechtssachen C-73/22 P und C-77/22 P.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:570

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

13. Juli 2023 ( *1 )

„Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Leitlinien für bestimmte Beihilfemaßnahmen im Zusammenhang mit dem System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten – Förderfähige Wirtschaftssektoren – Ausschluss des Sektors der Herstellung von Stickstofferzeugnissen und Düngemitteln – Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Klagerecht natürlicher und juristischer Personen – Art. 263 Abs. 4 AEUV – Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit des Klägers“

In den verbundenen Rechtssachen C‑73/22 P und C‑77/22 P

betreffend zwei Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 3. und 4. Februar 2022,

Grupa Azoty S.A. mit Sitz in Tarnów (Polen),

Azomureș SA mit Sitz in Târgu Mureş (Rumänien),

Lipasmata Kavalas LTD Ypokatastima Allodapis mit Sitz in Paleo Faliro (Griechenland),

vertreten durch D. Haverbeke, L. Ruessmann und P. Sellar, Avocats,

Rechtsmittelführerinnen in der Rechtssache C‑73/22 P,

andere Partei des Verfahrens:

Europäische Kommission, zunächst vertreten durch A. Bouchagiar, G. Braga da Cruz und J. Ringborg, dann durch A. Bouchagiar und J. Ringborg als Bevollmächtigte,

Beklagte im ersten Rechtszug,

und

Advansa Manufacturing GmbH mit Sitz in Hamm (Deutschland),

Beaulieu International Group NV mit Sitz in Waregem (Belgien),

Brilen SA mit Sitz in Zaragoza (Spanien),

Cordenka GmbH & Co. KG mit Sitz in Erlenbach am Main (Deutschland),

Dolan GmbH mit Sitz in Kelheim (Deutschland),

Enka International GmbH & Co. KG mit Sitz in Wuppertal (Deutschland),

Glanzstoff Longlaville SAS mit Sitz in Longlaville (Frankreich),

Infinited Fiber Company Oy mit Sitz in Espoo (Finnland),

Kelheim Fibres GmbH mit Sitz in Kelheim,

Nurel SA mit Sitz in Zaragoza,

PHP Fibers GmbH mit Sitz in Erlenbach am Main,

Teijin Aramid BV mit Sitz in Arnhem (Niederlande),

Thrace Nonwovens & Geosynthetics monoprosopi AVEE mi yfanton yfasmaton kai geosynthetikon proïonton S.A. mit Sitz in Magikó (Griechenland),

Trevira GmbH mit Sitz in Bobingen (Deutschland),

vertreten durch D. Haverbeke, L. Ruessmann und P. Sellar, Avocats,

Rechtsmittelführerinnen in der Rechtssache C‑77/22 P,

andere Parteien des Verfahrens:

Dralon GmbH mit Sitz in Dormagen (Deutschland),

Klägerin im ersten Rechtszug,

Europäische Kommission, zunächst vertreten durch A. Bouchagiar, G. Braga da Cruz und J. Ringborg, dann durch A. Bouchagiar und J. Ringborg als Bevollmächtigte,

Beklagte im ersten Rechtszug,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. März 2023

folgendes

Urteil

1

Mit ihren Rechtsmitteln beantragen die Grupa Azoty S.A., die Azomureș SA und Lipasmata Kavalas LTD Ypokatastima Allodapis (C‑73/22 P) sowie die Advansa Manufacturing GmbH, die Beaulieu International Group NV, die Brilen SA, die Cordenka GmbH & Co. KG, die Dolan GmbH, die Enka International GmbH & Co. KG, die Glanzstoff Longlaville SAS, die Infinited Fiber Company Oy, die Kelheim Fibres GmbH, die Nurel SA, die PHP Fibers GmbH, die Teijin Aramid BV, die Thrace Nonwovens & Geosynthetics monoprosopi AVEE mi yfanton yfasmaton kai geosynthetikon proïonton S.A. und die Trevira GmbH (C‑77/22 P) die Aufhebung zum einen des Beschlusses des Gerichts der Europäischen Union vom 29. November 2021, Grupa Azoty u. a./Kommission (T‑726/20) und zum anderen des Beschlusses des Gerichts der Europäischen Union vom 29. November 2021, Advansa Manufacturing u. a./Kommission (T‑741/20) (im Folgenden zusammen: angefochtene Beschlüsse), mit denen das Gericht ihre Klagen auf teilweise Nichtigerklärung der Mitteilung der Kommission mit dem Titel „Leitlinien für bestimmte Beihilfemaßnahmen im Zusammenhang mit dem System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten nach 2021“, veröffentlicht am 25. September 2020 im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. 2020, C 317, S. 5, im Folgenden: streitige Leitlinien) als unzulässig abgewiesen hat.

Rechtlicher Rahmen

Richtlinie 2003/87

2

Mit der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Union und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates (ABl. 2003, L 275, S. 32) in der durch die Richtlinie (EU) 2018/410 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2018 geänderten Fassung (ABl. 2018, L 76, S. 3) (im Folgenden: Richtlinie 2003/87) wurde ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Union (im Folgenden: EU-EHS) geschaffen.

3

Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sollten zugunsten von Sektoren oder Teilsektoren, die aufgrund erheblicher indirekter Kosten, die durch die Weitergabe der Kosten von Treibhausgasemissionen über die Strompreise tatsächlich entstehen, einem tatsächlichen Risiko einer Verlagerung von CO2-Emissionen ausgesetzt sind, finanzielle Maßnahmen … erlassen, vorausgesetzt, dass diese finanziellen Maßnahmen mit den Vorschriften für staatliche Beihilfen im Einklang stehen und insbesondere keine ungerechtfertigten Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt verursachen. …“

4

Art. 10b Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Sektoren und Teilsektoren, bei denen das Produkt aus der Multiplikation der Intensität ihres Handels mit Drittländern, definiert als das Verhältnis des Gesamtwerts der Ausfuhren in Drittländer zuzüglich des Wertes der Einfuhren aus Drittländern zur Gesamtgröße des Marktes des Europäischen Wirtschaftsraums (Jahresumsatz plus Gesamteinfuhren aus Drittländern), mit ihrer Emissionsintensität in kg CO2, dividiert durch ihre Bruttowertschöpfung (in EUR) 0,2 überschreitet, gelten als Sektoren bzw. Teilsektoren, bei denen davon ausgegangen wird, dass ein Risiko einer Verlagerung von CO2-Emissionen besteht. …“

5

Art. 10b Abs. 2 und 3 der Richtlinie sieht die Voraussetzungen vor, unter denen auch bei Sektoren und Teilsektoren, die diesen Schwellenwert nicht überschreiten, davon ausgegangen werden kann, dass ein Risiko einer Verlagerung von CO2-Emissionen besteht, und unter denen diese Sektoren und Teilsektoren in die in Abs. 1 dieser Bestimmung genannte Gruppe aufgenommen werden können.

Die streitigen Leitlinien

6

In Rn. 7 der streitigen Leitlinien teilt die Europäische Kommission mit, dass sie in diesen Leitlinien die Voraussetzungen darlegt, „die Beihilfen im Zusammenhang mit dem EU-EHS erfüllen müssen, damit sie nach Artikel 107 Absatz 3 Buchstabe c AEUV als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können“.

7

Rn. 9 der Leitlinien bestimmt:

„Die in diesen Leitlinien dargelegten Grundsätze gelten nur für die spezifischen Beihilfemaßnahmen nach Artikel 10a Absatz 6 und Artikel 10b der Richtlinie [2003/87].“

8

In den Rn. 19 bis 21 der Leitlinien heißt es:

„19. Beihilfen für indirekte CO2-Kosten werden als nach Artikel 107 Absatz 3 Buchstabe c AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen, sofern die nachstehenden Voraussetzungen erfüllt sind.

20. Mit dieser Art von Beihilfen wird das Ziel verfolgt, einer erheblichen Gefahr der Verlagerung von CO2-Emissionen zu begegnen, die insbesondere aufgrund der Einpreisung der [Kosten der EU-Zertifikate] in die vom Beihilfeempfänger getragenen Strompreise besteht, wenn die in Drittländern ansässigen Wettbewerber des Beihilfeempfängers keine vergleichbaren Kosten über ihre Strompreise zu tragen haben und der Beihilfeempfänger nicht die Möglichkeit hat, diese Kosten ohne einen wesentlichen Verlust von Marktanteilen über die Produktpreise abzuwälzen. Die Gefahr einer Verlagerung von CO2-Emissionen zu bekämpfen, indem Beihilfeempfänger dabei unterstützt werden, das Maß, in dem sie der Verlagerungsgefahr ausgesetzt sind, zu verringern, dient einem Umweltziel, da die Beihilfen in Ermangelung einer bindenden internationalen Vereinbarung über die Verringerung von Treibhausgasemissionen darauf abzielen, einen durch die Verlagerung von Produktionstätigkeiten an Standorte außerhalb der Union bedingten Anstieg der globalen Treibhausgasemissionen zu verhindern.

21. Um die Gefahr von Wettbewerbsverfälschungen im Binnenmarkt zu begrenzen, muss die Beihilfe auf Sektoren begrenzt sein, die aufgrund erheblicher indirekter Kosten, die durch die Weitergabe der Kosten von Treibhausgasemissionen über die Strompreise tatsächlich entstehen, einem tatsächlichen Risiko einer Verlagerung von CO2-Emissionen ausgesetzt sind. Für die Zwecke dieser Leitlinien gilt ein tatsächliches Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen nur dann als gegeben, wenn der Beihilfeempfänger in einem der in Anhang I genannten Sektoren tätig ist.“

9

Dieser Anhang I enthält eine Liste von 14 Sektoren, für die angesichts der indirekten CO2-Kosten davon ausgegangen wird, dass ein tatsächliches Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen besteht.

10

Rn. 64 der streitigen Leitlinien sieht vor, dass diese ab dem 1. Januar 2021 die Leitlinien für bestimmte Beihilfemaßnahmen im Zusammenhang mit dem System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten nach 2012, die am 5. Juni 2012 veröffentlicht wurden (ABl. 2012, C 158, S. 4), ersetzen. In den Rn. 65 und 66 der streitigen Leitlinien sieht die Kommission vor, dass sie die in diesen Leitlinien festgehaltenen Grundsätze im Zeitraum vom 1. Januar 2021 bis zum 31. Dezember 2030 auf alle angemeldeten Beihilfemaßnahmen anwenden wird, zu denen sie ab dem 1. Januar 2021 einen Beschluss erlassen muss, auch wenn diese Vorhaben bereits vor der Veröffentlichung der Leitlinien angemeldet wurden.

Vorgeschichte des Rechtsstreits

11

Die Klägerinnen sind Unternehmen, die im Sektor der Herstellung von Stickstofferzeugnissen und Düngemitteln tätig sind.

12

Dieser Sektor ist nicht in der Liste in Anhang I („Sektoren, für die angesichts der indirekten CO2-Kosten davon ausgegangen wird, dass ein tatsächliches Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen besteht“) der streitigen Leitlinien aufgeführt, obwohl er in der Liste in Anhang II („Sektoren bzw. Teilsektoren, bei denen angesichts der indirekten CO2-Kosten ex ante davon ausgegangen wird, dass ein erhebliches Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen besteht“) der am 5. Juni 2012 veröffentlichten Leitlinien enthalten war, die bis zum 31. Dezember 2020 galt.

Verfahren vor dem Gericht und angefochtene Beschlüsse

13

Mit Klageschriften, die am 15. und 16. Dezember 2020 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben die Rechtsmittelführerinnen gemäß Art. 263 AEUV Klagen auf Nichtigerklärung von Anhang I der streitigen Leitlinien erhoben.

14

Mit gesonderten Schriftsätzen, die am 1. und 12. März 2021 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, hat die Kommission nach Art. 130 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts Einreden der Unzulässigkeit erhoben.

15

Mit den angefochtenen Beschlüssen hat das Gericht die Klagen mit der Begründung für unzulässig erklärt, dass die Rechtsmittelführerinnen, die nicht Adressatinnen der streitigen Leitlinien seien, von diesen nicht im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV unmittelbar betroffen seien, da sich diese Leitlinien nicht unmittelbar auf die Rechtsstellung der Rechtsmittelführerinnen auswirkten.

16

Zur Begründung dieser Auffassung hat das Gericht in den Rn. 39 bis 43 der angefochtenen Beschlüsse insbesondere ausgeführt, dass trotz der in den streitigen Leitlinien getroffenen Annahme, dass eine tatsächliche Gefahr der Verlagerung von CO2-Emissionen nur dann bestehe, wenn der Beihilfeempfänger seine Tätigkeit in einem der in Anhang I dieser Leitlinien aufgeführten Sektoren ausübe, dies nicht ausschließe, dass die Mitgliedstaaten bei der Kommission Beihilfemaßnahmen zugunsten von Unternehmen anmelden könnten, die in anderen als den in diesem Anhang aufgeführten Sektoren tätig seien, und versuchen könnten, nachzuweisen, dass eine für diese Unternehmen bestimmte Beihilfe trotz Nichterfüllung eines der in den genannten Leitlinien aufgestellten Kriterien unter Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV falle. Ausgehend davon, dass es in einem solchen Fall sehr wahrscheinlich sei, dass die Kommission gemäß der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV] (ABl. 2015, L 248, S. 9) einen Beschluss erlasse, in dem festgestellt werde, dass die geplante Beihilfe mit dem Binnenmarkt unvereinbar sei, hat das Gericht darauf hingewiesen, dass nur dieser Beschluss gegenüber denjenigen Unternehmen, denen die Beihilfe hätte zugutekommen sollen, unmittelbare Rechtswirkungen entfalten könne.

17

Das Gericht hat ferner in Rn. 38 der angefochtenen Beschlüsse ausgeführt, dass die Kommission in dem Fall, dass ein Mitgliedstaat keine unter die streitigen Leitlinien fallende Beihilfemaßnahme erlasse, keinen Beschluss nach der Verordnung 2015/1589 erlasse. Folglich hätten diese Leitlinien auch in diesem Fall keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Rechtsstellung der Rechtsmittelführerinnen.

Anträge der Parteien und Verfahren vor dem Gerichtshof

18

Mit ihren Rechtsmitteln beantragen die Rechtsmittelführerinnen,

die angefochtenen Beschlüsse aufzuheben;

die Klagen für zulässig zu erklären;

hilfsweise, die angefochtenen Beschlüsse nur mit der Begründung aufzuheben, dass das Gericht die Entscheidung über die Zulässigkeit bis zur Prüfung der Begründetheit der Klagen hätte zurückstellen müssen;

die Rechtssachen zur Prüfung der Begründetheit an das Gericht zurückzuverweisen;

der Kommission die Kosten des vorliegenden Verfahrens aufzuerlegen;

die Frage der Kosten des Verfahrens vor dem Gericht zurückzustellen und dem Gericht aufzugeben, über diese Kosten zu entscheiden, wenn es die Prüfung der Begründetheit vorgenommen hat.

19

Die Kommission beantragt,

die Rechtsmittel zurückzuweisen und

den Rechtsmittelführerinnen die Kosten aufzuerlegen,

hilfsweise, dass der Gerichtshof, falls er die angefochtenen Beschlüsse aufheben sollte, selbst über die Rechtsmittel entscheidet, diese als unzulässig abweist und den Rechtsmittelführerinnen die Kosten auferlegt.

20

Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 16. September 2022 sind die Rechtssachen C‑73/22 P und C‑77/22 P zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

21

Mit Schriftsatz, der am 21. April 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, haben die Rechtsmittelführerinnen in der Rechtssache C‑73/22 P die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt.

22

Zur Stützung dieses Antrags machen sie geltend, dass die Frage, ob die streitigen Leitlinien sie im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV unmittelbar beträfen, in den Schlussanträgen des Generalanwalts nicht ordnungsgemäß geprüft und vor dem Gerichtshof nicht vollständig erörtert worden sei.

23

Die Erörterung dieser Frage müsse im Rahmen einer mündlichen Verhandlung fortgesetzt werden und den Inhalt, die Natur, die Ziele und die Rechtswirkungen der angefochtenen Handlung sowie das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz betreffen. In der Analyse in den Schlussanträgen würden diese Gesichtspunkte nicht gebührend berücksichtigt.

24

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.

25

Im vorliegenden Fall ist zum einen hinsichtlich der Erklärungen der Rechtsmittelführerinnen zu den Schlussanträgen des Generalanwalts darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung des Gerichtshofs keine Möglichkeit für die Parteien vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen. Der Generalanwalt stellt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden. Dass eine Partei nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 37 und 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Was zum anderen die Erörterung zwischen den Parteien betrifft, ist der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er nach dem vor ihm durchgeführten schriftlichen Verfahren über alle für die Entscheidung erforderlichen Angaben verfügt, zumal die im Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens angeführten Argumente während dieser schriftlichen Phase umfassend erörtert worden sind.

27

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör keine absolute Verpflichtung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung in allen Verfahren begründet. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Rechtssache keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen ließen (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 123 und die dort angeführte Rechtsprechung). Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs sieht gerade vor, dass der Gerichtshof entscheiden kann, keine mündliche Verhandlung abzuhalten, wenn er sich durch die im schriftlichen Verfahren eingereichten Schriftsätze oder Erklärungen für ausreichend unterrichtet hält, um eine Entscheidung zu erlassen.

28

Aus diesen Gründen ist dem Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens nicht stattzugeben.

Zu den Rechtsmitteln

29

Die Rechtsmittelführerinnen stützen ihr jeweiliges Rechtsmittel in erster Linie auf zwei identische Rechtsmittelgründe, nämlich erstens eine unzureichende Begründung und zweitens einen Rechtsfehler bei der Anwendung der Voraussetzung, dass die natürliche oder juristische Person, die eine Nichtigkeitsklage gegen eine nicht an sie gerichtete Handlung erhebt, von dieser Handlung unmittelbar betroffen sein muss. Mit einem in beiden Rechtssachen ebenfalls identischen Rechtsmittelgrund machen sie hilfsweise geltend, dass das Gericht die Prüfung der Unzulässigkeitseinreden der Kommission mit der Prüfung der Begründetheit der Klagen hätte verbinden müssen.

Zum ersten Rechtsmittelgrund

Vorbringen der Parteien

30

Mit dem ersten Teil ihres ersten Rechtsmittelgrundes machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe den Sachverhalt nicht festgestellt und sei nicht auf das vor ihm geltend gemachte Vorbringen eingegangen.

31

In diesem Zusammenhang weisen die Rechtsmittelführerinnen darauf hin, dass sie vor dem Gericht dargelegt hätten, dass die streitigen Leitlinien im Unterschied zu anderen Leitlinien nicht nur Hinweischarakter hätten, sondern für die Mitgliedstaaten rechtliche Verpflichtungen begründeten. Indem die Kommission in Anhang I der streitigen Leitlinien eine abschließende Liste der Sektoren aufgestellt habe, für die Beihilfen nach Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 gewährt werden müssten, habe sie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit genommen, gemäß dieser Bestimmung eine mit dem Binnenmarkt vereinbare staatliche Beihilfe für einen Sektor zu gewähren, der nicht in diesem Anhang aufgeführt sei. Daraus folge, dass dieser Anhang für die Mitgliedstaaten verbindlich sei.

32

Trotz dieser Argumentation habe das Gericht jedoch keine Tatsachenfeststellung zum Inhalt, zur Natur oder zum Kontext der streitigen Leitlinien getroffen. Dieses Versäumnis habe zu einer unzureichenden Begründung geführt, die insbesondere der Begründung des Urteils des Gerichtshofs vom 19. Juli 2016, Kotnik u. a. (C‑526/14, EU:C:2016:570), und des Beschlusses des Gerichts vom 23. November 2015, EREF/Kommission (T‑694/14, EU:T:2015:915), widerspreche. In diesen beiden Gerichtsentscheidungen zu einer Bankenmitteilung bzw. zu Leitlinien im Bereich des Umweltschutzes hätten die Unionsgerichte ihre Beurteilung auf eine eingehende Analyse der in Rede stehenden Handlungen gestützt.

33

Mit dem zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe seine in Rn. 38 der angefochtenen Beschlüsse enthaltene Beurteilung nicht hinreichend begründet, wonach selbst in dem Fall, dass ein Mitgliedstaat keine unter die streitigen Leitlinien fallende Beihilfemaßnahme erlasse, die Voraussetzung nicht erfüllt sei, dass die natürliche oder juristische Person, die eine Klage gegen eine Handlung erhebe, die nicht an sie gerichtet sei, von dieser Handlung unmittelbar betroffen sein müsse.

34

Dieser Fall könne eintreten, da Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 die Mitgliedstaaten nicht zum Erlass von Beihilfemaßnahmen verpflichte. Es sei daher wichtig zu verstehen, aus welchen Gründen das Gericht der Auffassung sei, dass die Rechtsmittelführerinnen mangels Beihilfemaßnahmen der Mitgliedstaaten von den streitigen Leitlinien nicht unmittelbar betroffen sein könnten. Die Beurteilung des Gerichts, die auf die Feststellung hinauslaufe, dass nur ein Beschluss der Kommission gemäß Verordnung 2015/1589 die Rechtsmittelführerinnen unmittelbar betreffen könne, sei jedoch unzureichend begründet.

35

Die Kommission ist der Auffassung, dass der erste Rechtsmittelgrund zurückzuweisen sei.

Würdigung durch den Gerichtshof

36

Was die Begründungspflicht betrifft, die dem Gericht nach Art. 36 und Art. 53 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union obliegt, müssen nach ständiger Rechtsprechung aus der Entscheidung des Gerichts die Überlegungen des Gerichts klar und eindeutig hervorgehen, so dass die Betroffenen die Gründe für die Entscheidung des Gerichts erkennen können und der Gerichtshof seine Kontrollfunktion ausüben kann (vgl. u. a. Urteile vom 13. Januar 2022, Deutschland u. a./Kommission, C‑177/19 P bis C‑179/19 P, EU:C:2022:10, Rn. 37, und vom 9. März 2023, Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission, C‑682/20 P, EU:C:2023:170, Rn. 40).

37

In den angefochtenen Beschlüssen hat das Gericht zunächst in einem Abschnitt über die Vorgeschichte des Rechtsstreits Inhalt und Kontext der streitigen Leitlinien beschrieben und dann in einem ersten Teil seiner Würdigung auf die Rechtsprechung zu den Voraussetzungen für die Zulässigkeit von Klagen natürlicher oder juristischer Personen gegen nicht an sie gerichtete Handlungen verwiesen.

38

Sodann hat es in Rn. 34 dieser Beschlüsse ausgeführt, dass die Liste der Wirtschaftssektoren in Anhang I der streitigen Leitlinien die Kommission grundsätzlich dazu zwinge, im Anwendungsbereich dieser Leitlinien nur staatliche Beihilfen zugunsten der in dieser Liste aufgeführten Sektoren als mit dem Binnenmarkt vereinbar anzusehen.

39

Vor diesem Hintergrund hat das Gericht in den Rn. 36 bis 43 der angefochtenen Beschlüsse die verschiedenen Fallgestaltungen untersucht, die bei den in den streitigen Leitlinien genannten Beihilfen auftreten können, deren Gewährung in Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 gefördert wird. Die Rn. 36 und 37 dieser Beschlüsse betreffen Fälle, in denen ein Mitgliedstaat beschließt, diese Beihilfen zu gewähren, während ihre Rn. 38 den Fall behandelt, in der ein Mitgliedstaat beschließt, sie nicht zu gewähren. Die Rn. 39 bis 43 dieser Beschlüsse betreffen den Fall, dass ein Mitgliedstaat beabsichtigt, solche Beihilfen für einen nicht in Anhang I der streitigen Leitlinien aufgeführten Sektor zu gewähren, und er diese Beihilfen bei der Kommission anmeldet, wobei er sich auf das Primärrecht der Union, nämlich Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV, stützt.

40

Mit dieser Analyse hat das Gericht detaillierte Ausführungen gemacht, die eindeutig erklären, warum die Argumentation der Rechtsmittelführerinnen zurückgewiesen wurde. Diese hatten nämlich geltend gemacht, dass die streitigen Leitlinien für die Mitgliedstaaten verbindlich seien, diese daran hinderten, Beihilfen für Wirtschaftssektoren zu gewähren, die nicht in ihrem Anhang I aufgeführt sind, und sich somit unmittelbar auf die Rechtsstellung der in diesen Sektoren tätigen Unternehmen auswirkten.

41

Was insbesondere den von den Rechtsmittelführerinnen aufgezeigten Fall betrifft, dass ein Mitgliedstaat beschließt, keine unter die streitigen Leitlinien fallende Beihilfemaßnahme zu erlassen, hat das Gericht in Rn. 38 dieser Beschlüsse klar seine Beurteilung zum Ausdruck gebracht, dass sich diese Leitlinien in einer solchen Situation nicht unmittelbar auf die Rechtsstellung der Rechtsmittelführerinnen auswirken könnten, da für die Kommission, wenn keine Beihilfe vorliege, keine Veranlassung bestehe, diese Leitlinien anzuwenden.

42

Im Übrigen hat das Gericht in den Rn. 39 bis 43 der angefochtenen Beschlüsse, deren Inhalt in Rn. 16 des vorliegenden Urteils zusammengefasst ist, ausführlich dargelegt, dass es den Mitgliedstaaten weiterhin freisteht, bei der Kommission Beihilfemaßnahmen zugunsten eines Wirtschaftssektors anzumelden, der zwar nicht in diesem Anhang aufgeführt ist, aber aufgrund außergewöhnlicher Umstände einem tatsächlichen Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen ausgesetzt sein und für die Gewährung einer Beihilfe nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV in Betracht kommen könnte.

43

Daher hat das Gericht entgegen dem Vorbringen im ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes die Einreden der Unzulässigkeit im Licht des Inhalts und des Kontexts der streitigen Leitlinien geprüft, ist in den Rn. 36 bis 43 der angefochtenen Beschlüsse auf das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen eingegangen und hat damit die Gründe für seine Entscheidung klar dargelegt. Rn. 38 dieser Beschlüsse, die mit dem zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes speziell beanstandet wird, fügt sich in die Argumentation des Gerichts ein und ermöglicht es ohne Schwierigkeiten, die Gründe nachzuvollziehen, aus denen das Gericht der Ansicht war, dass sich Anhang I der streitigen Leitlinien nicht unmittelbar auf die Rechtsstellung der Rechtsmittelführerinnen auswirke, wenn keine von diesen Leitlinien erfasste Beihilfe gewährt werde.

44

Folglich ist keiner der beiden Teile des ersten Rechtsmittelgrundes begründet. Dieser Rechtsmittelgrund ist somit zurückzuweisen.

Zum zweiten Rechtsmittelgrund

Vorbringen der Parteien

45

Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es festgestellt habe, dass sie von den streitigen Leitlinien nicht unmittelbar betroffen seien.

46

Bei der Bestimmung der Rechtswirkungen eines Unionsrechtsakts sei insbesondere auf den Gegenstand und den Inhalt dieses Rechtsakts sowie auf den Kontext, in dem er ergangen sei, abzustellen. Die angefochtenen Beschlüsse stützten sich jedoch nicht auf eine solche konkrete Prüfung, sondern auf eine allgemeinere Argumentation, die mit mehreren Fehlern behaftet sei.

47

So sei das Gericht von der falschen Prämisse ausgegangen, dass im Licht von Art. 263 AEUV alle Leitlinien der Kommission gleich zu bewerten seien. Insoweit weisen die Rechtsmittelführerinnen darauf hin, dass sich die angefochtenen Beschlüsse am Urteil des Gerichtshofs vom 19. Juli 2016,Kotnik u. a. (C‑526/14, EU:C:2016:570), und am Beschluss des Gerichts vom 23. November 2015, EREF/Kommission (T‑694/14, EU:T:2015:915), orientierten, obwohl diese Gerichtsentscheidungen Rechtsakte beträfen, die den Mitgliedstaaten, anders als die streitigen Leitlinien, ein Ermessen ließen.

48

Mit diesem Ansatz habe das Gericht verkannt, dass sich die streitigen Leitlinien an die Mitgliedstaaten richteten und diesen kein Ermessen in Bezug auf die Wirtschaftssektoren ließen, die für Beihilfen nach Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 in Betracht kämen.

49

In Anbetracht dieses fehlenden Ermessens der Mitgliedstaaten hätte das Gericht nach Ansicht der Rechtsmittelführerinnen den Überlegungen im Urteil vom 5. Mai 1998, Dreyfus/Kommission (C‑386/96 P, EU:C:1998:193), folgen müssen, in dessen Rn. 44 es heiße, dass ein Einzelner, der nicht Adressat eines Unionsrechtsakts sei, als von diesem Rechtsakt unmittelbar betroffen angesehen werden könne, wenn für die Adressaten nur eine rein theoretische Möglichkeit bestehe, dem Unionsrechtsakt nicht nachzukommen.

50

Das Gericht habe zu Unrecht die Möglichkeit berücksichtigt, dass ein Mitgliedstaat bei der Kommission Beihilfemaßnahmen zugunsten von Unternehmen anmelde, die in anderen als den in Anhang I der streitigen Leitlinien aufgeführten Sektoren tätig seien, und dieser Mitgliedstaat zu belegen versuche, dass diese Maßnahmen gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar seien.

51

Auch wenn diese Möglichkeit rechtlich gesehen bestehe, ändere dieser Umstand nichts daran, dass die streitigen Leitlinien die Gewährung von Beihilfen nach Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 an Wirtschaftsteilnehmer ausschlössen, die in Sektoren tätig seien, die nicht in ihrem Anhang I genannt seien. Dieser Ausschluss werde nicht durch die Möglichkeit kompensiert, staatliche Beihilfen gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV zu gewähren. Denn jegliche Aussicht auf die Gewährung solcher Beihilfen wäre rein spekulativ, während die Beihilfen, auf die sich Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 beziehe, durch diese Bestimmung förmlich vorgesehen seien und gefördert würden.

52

Das Gericht habe sich zudem auf die falsche Prämisse gestützt, dass ein Wirtschaftsteilnehmer nur dann unmittelbar betroffen sein könne, wenn die Kommission einen Beschluss nach der Verordnung 2015/1589 erlasse. Der Gerichtshof habe im Bereich der staatlichen Beihilfen bereits festgestellt, dass ein Wirtschaftsteilnehmer von einer Stellungnahme der Kommission unmittelbar betroffen sein könne, ohne dass die Kommission ihm gegenüber förmlich eine Entscheidung erlassen habe (Urteil vom 17. September 2009, Kommission/Koninklijke FrieslandCampina, C‑519/07 P, EU:C:2009:556, Rn. 48 bis 50).

53

Aufgrund der fehlerhaften Würdigung durch das Gericht werde den Rechtsmittelführerinnen jeder Rechtsbehelf genommen, obwohl ihr Fall unter die u. a. in Rn. 33 des Urteils vom 25. Juli 2002, Unión de Pequeños Agricultores/Rat (C‑50/00 P, EU:C:2002:462), genannte Situation falle, in der eine Nichtigkeitsklage möglich sein müsse, damit ein gerichtlicher Rechtsschutz gewährleistet sei.

54

Zum letztgenannten Punkt heben die Rechtsmittelführerinnen hervor, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet seien, Beihilfemaßnahmen nach Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 zu erlassen. Es sei wahrscheinlich, dass keine Beihilfe im Sinne dieser Bestimmung gewährt werde und die Kommission daher keine Entscheidung über eine solche Beihilfe erlasse. Finanziell sei eine solche Situation mit derjenigen vergleichbar, in der die Kommission eine angemeldete Beihilfe für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erkläre. Im ersten Fall verfügten die Rechtsmittelführerinnen jedoch nach der Argumentation des Gerichts über keinen Rechtsbehelf, während sie im zweiten Fall über einen solchen verfügten. Dieser Unterschied sei unzulässig, da die Rechtsmittelführerinnen in beiden Fällen in gleicher Weise betroffen seien.

55

Der Gerichtshof habe im Übrigen anerkannt, dass von Wirtschaftsteilnehmern, die von einem Unionsrechtsakt betroffen seien, nicht erwartet werden könne, dass sie eine negative Entscheidung eines Mitgliedstaats herbeiführten, um diesen Unionsrechtsakt anfechten zu können (Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 66). Es sei auch nicht plausibel, zu erwarten, dass die Mitgliedstaaten gegen ihre Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV verstießen, indem sie Beihilfen für den Sektor der Herstellung von Stickstofferzeugnissen und Düngemitteln anmeldeten, obwohl dieser Sektor in Anhang I der streitigen Leitlinien nicht erwähnt werde.

56

Nach Ansicht der Kommission ist auch dieser zweite Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.

Würdigung durch den Gerichtshof

57

Wie aus den Rn. 7 und 9 der streitigen Leitlinien hervorgeht, werden darin die Anforderungen genannt, die erfüllt sein müssen, damit die Beihilfen im Zusammenhang mit dem EU-EHS, insbesondere die in Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 genannten, nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können.

58

Der Erlass solcher Leitlinien fügt sich in die Ausübung der ausschließlichen Zuständigkeit der Kommission für die Beurteilung der Vereinbarkeit von Beihilfemaßnahmen mit dem Binnenmarkt nach Art. 107 Abs. 3 AEUV ein. Die Kommission verfügt hierbei über ein weites Ermessen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 19. Juli 2016, Kotnik u. a., C‑526/14, EU:C:2016:570, Rn. 37 bis 39, und vom 15. Dezember 2022, Veejaam und Espo, C‑470/20, EU:C:2022:981, Rn. 29).

59

Indem die Kommission durch Leitlinien die Voraussetzungen festlegt, unter denen Beihilfemaßnahmen als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können, und indem sie durch die Veröffentlichung dieser Leitlinien ankündigt, dass sie die darin enthaltenen Regeln anwenden werde, beschränkt die Kommission sich selbst in der Ausübung dieses Ermessens in dem Sinne, dass sie, wenn ein Mitgliedstaat ein Beihilfevorhaben anmeldet, das mit diesen Regeln im Einklang steht, dieses Vorhaben grundsätzlich genehmigen muss. Sie kann grundsätzlich nicht von diesen Normen abweichen, ohne dass dies gegebenenfalls wegen eines Verstoßes gegen allgemeine Rechtsgrundsätze wie die der Gleichbehandlung oder des Vertrauensschutzes geahndet würde (Urteile vom 19. Juli 2016, Kotnik u. a., C‑526/14, EU:C:2016:570, Rn. 40, und vom 31. Januar 2023, Kommission/Braesch u. a., C‑284/21 P, EU:C:2023:58, Rn. 90).

60

Art. 263 Abs. 4 AEUV sieht vor, dass jede natürliche oder juristische Person gegen an sie gerichtete oder sie unmittelbar und individuell betreffende Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben kann.

61

Die Rechtsmittelführerinnen können nicht als Adressaten der streitigen Leitlinien angesehen werden. Folglich setzt die Klagebefugnis der Rechtsmittelführerinnen, wie das Gericht in Rn. 27 der angefochtenen Beschlüsse ausgeführt hat, schon nach dem Wortlaut von Art. 263 Abs. 4 AEUV zumindest voraus, dass diese Leitlinien sie unmittelbar betreffen.

62

Die Voraussetzung, dass der Kläger von der angefochtenen Handlung unmittelbar betroffen sein muss, die mit identischem Wortlaut sowohl in der zweiten als auch in der dritten Variante von Art. 263 Abs. 4 AEUV enthalten ist, muss in beiden Varianten dieselbe Bedeutung haben (Urteil vom 12. Juli 2022, Nord Stream 2/Parlament und Rat, C‑348/20 P, EU:C:2022:548, Rn. 73). Nach ständiger Rechtsprechung verlangt diese Voraussetzung, dass zwei Kriterien kumulativ erfüllt sind, nämlich zum einen, dass sich diese Handlung unmittelbar auf die Rechtsstellung dieser Person auswirkt, und zum anderen, dass sie den Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, ihre Umsetzung vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ohne Anwendung weiterer Durchführungsvorschriften ergibt (Urteil vom 16. März 2023, Kommission/Jiangsu Seraphim Solar System und Rat/Jiangsu Seraphim Solar System und Kommission, C‑439/20 P und C‑441/20 P, EU:C:2023:211, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63

Die streitigen Leitlinien, die u. a. die Beihilfemaßnahmen betreffen, die von den Mitgliedstaaten nach Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 erlassen werden sollten, haben nach der in Rn. 59 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zur Folge, dass die Kommission im Fall der Anmeldung eines Vorhabens staatlicher Beihilfen, das die in diesen Leitlinien aufgestellten Kriterien, darunter die Liste der förderfähigen Sektoren in Anhang I dieser Leitlinien, befolgt, dieses Vorhaben grundsätzlich genehmigen muss.

64

Da die Rechtsmittelführerinnen in einem Sektor tätig sind, der nicht unter diesen Anhang fällt, ist es ausgeschlossen, dass ihnen eine solche Verpflichtung der Kommission zugutekommen kann.

65

Wie das Gericht in den Rn. 39 bis 41 der angefochtenen Beschlüsse im Wesentlichen ausgeführt hat, haben diese Leitlinien jedoch rechtlich nicht zur Folge, dass die Rechtsmittelführerinnen nicht für die Gewährung staatlicher Beihilfen im Sinne von Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 in Betracht kommen können.

66

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Erlass von Leitlinien die Kommission nicht von ihrer Pflicht entbindet, die spezifischen außergewöhnlichen Umstände zu prüfen, auf die sich ein Mitgliedstaat in einem bestimmten Fall bei dem Ersuchen um unmittelbare Anwendung von Art. 107 Abs. 3 AEUV berufen kann. Die Mitgliedstaaten behalten die Möglichkeit, bei der Kommission geplante Beihilfen anzumelden, die nicht den in den Leitlinien festgelegten Voraussetzungen entsprechen, und die Kommission kann solche Vorhaben in Ausnahmefällen genehmigen (vgl. u. a. Urteile vom 19. Juli 2016, Kotnik u. a., C‑526/14, EU:C:2016:570, Rn. 41 und 43, und vom 31. Januar 2023, Kommission/Braesch u. a., C‑284/21 P, EU:C:2023:58, Rn. 92 und 93).

67

Somit ist ein Mitgliedstaat im Rahmen des EU-EHS durch nichts daran gehindert, bei der Kommission zugunsten von Unternehmen eines nicht in Anhang I der streitigen Leitlinien aufgeführten Wirtschaftssektors ein Beihilfevorhaben anzumelden, das gemäß Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 darauf abzielt, ein tatsächliches Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen, dem dieser Sektor seiner Ansicht nach ausgesetzt ist, zu verringern, und die Umstände darzulegen, die die Genehmigung dieses Vorhabens nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV rechtfertigen können, auch wenn die Kommission diesen Sektor in diesen Leitlinien nicht als einem solchen Risiko ausgesetzt identifiziert hat.

68

Wie das Gericht zu Recht festgestellt hat, folgt daraus, dass die streitigen Leitlinien zwar die Chancen der Rechtsmittelführerinnen verringern, eine Beihilfe nach Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 zu erhalten, als solche aber nicht bestimmen, ob die Rechtsmittelführerinnen für eine solche Beihilfe in Betracht kommen, und daher keine unmittelbaren Auswirkungen auf deren Rechtsstellung haben.

69

Entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen nimmt ihnen der Umstand, dass sie keinen unmittelbaren Rechtsbehelf gegen die streitigen Leitlinien einlegen können, nicht den effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Nach dem Verfahrensrecht der Union kann sich eine natürliche oder juristische Person nämlich auf die Rechtswidrigkeit von Leitlinien berufen, um eine Klage gegen eine im Hinblick auf diese Leitlinien erlassene Handlung zu stützen, die sie in einer Weise betrifft, die die Voraussetzungen von Art. 263 Abs. 4 AEUV erfüllt (vgl. entsprechend Urteil vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, EU:C:2005:408, Rn. 209 bis 212).

70

Soweit sich die Rechtsmittelführerinnen auf den Fall berufen, dass die Mitgliedstaaten nicht beschließen, eine Beihilfe im Sinne von Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 zu gewähren, so dass die Kommission keine Entscheidung über die Genehmigung oder die Versagung der Genehmigung eines Beihilfevorhabens im Hinblick auf die streitigen Leitlinien erlässt, ist im Übrigen davon auszugehen, dass sich die Rechtsmittelführerinnen in einem solchen Fall nicht in einer ungünstigeren Wettbewerbssituation als andere Unternehmen befinden können, deren wirtschaftliche Tätigkeit im selben Sektor wie die ihre liegt. Unter solchen Umständen verlangt das in Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nicht, dass sie die Rechtmäßigkeit dieser Leitlinien in Frage stellen können.

71

Insoweit entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass die Einzelnen einen effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte in Anspruch nehmen können müssen, die sie aus der Unionsrechtsordnung herleiten (Urteil vom 5. November 2019, EZB u. a./Trasta Komercbanka u. a., C‑663/17 P, C‑665/17 P und C‑669/17 P, EU:C:2019:923, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Recht, das dem Einzelnen aus den unionsrechtlichen Vorschriften über staatliche Beihilfen erwächst, besteht aber darin, keinem verfälschten Wettbewerb ausgesetzt zu sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

72

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Erwägungen des Gerichts keinen Rechtsfehler aufweisen und dass der zweite Rechtsmittelgrund unbegründet ist.

Zu dem hilfsweise geltend gemachten Rechtsmittelgrund

Vorbringen der Parteien

73

Nach Ansicht der Rechtsmittelführerinnen hätte das Gericht vor der Entscheidung über die Zulässigkeit der Klagen deren Begründetheit prüfen müssen. Nach Art. 130 Abs. 7 der Verfahrensordnung des Gerichts behalte dieses die Entscheidung über Einreden oder Zwischenstreit dem Endurteil vor, „wenn besondere Umstände dies rechtfertigen“. Im Interesse einer geordneten Rechtspflege hätte das Gericht davon ausgehen müssen, dass solche Umstände im vorliegenden Fall vorlägen. Um die Rechtswirkungen der streitigen Leitlinien beurteilen zu können, wäre es nämlich erforderlich gewesen, das Vorbringen in der Sache zu hören.

74

Nach Ansicht der Kommission geht dieser hilfsweise geltend gemachte Rechtsmittelgrund ins Leere und ist jedenfalls unbegründet.

Würdigung durch den Gerichtshof

75

Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, ist es Sache des Gerichts, zu beurteilen, ob es unter dem Gesichtspunkt der geordneten Rechtspflege gerechtfertigt ist, die Entscheidung über eine Unzulässigkeitseinrede sofort zu treffen oder sie dem Endurteil vorzubehalten. Es ist nicht geboten, die Entscheidung über die Unzulässigkeitseinrede dem Endurteil vorzubehalten, wenn deren Beurteilung nicht davon abhängt, wie die materiell-rechtlichen Klagegründe des Klägers zu beurteilen sind (Urteil vom 25. Oktober 2017, Rumänien/Kommission, C‑599/15 P, EU:C:2017:801, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

76

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Prüfung des zweiten der beiden im Rahmen des Hauptantrags geltend gemachten Rechtsmittelgründe, dass das Gericht ohne Prüfung der Klagen in der Sache zu dem Schluss kommen durfte, dass die Rechtsmittelführerinnen nicht klagebefugt waren.

77

Daher ist dieser hilfsweise geltend gemachte Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.

78

Da keiner der Rechtsmittelgründe begründet ist, sind die Rechtsmittel insgesamt zurückzuweisen.

Kosten

79

Nach Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

80

Da die Rechtsmittelführerinnen mit ihren Rechtsmittelgründen unterlegen sind, sind ihnen gemäß dem Antrag der Kommission ihre eigenen Kosten und die durch die Rechtsmittel entstandenen Kosten der Kommission aufzuerlegen.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Rechtsmittel in den Rechtssachen C‑73/22 P und C‑77/22 P werden zurückgewiesen.

 

2.

Die Grupa Azoty S.A., die Azomureș SA und die Lipasmata Kavalas LTD Ypokatastima Allodapis tragen ihre eigenen Kosten sowie die Kosten, die der Europäischen Kommission im Zusammenhang mit dem Rechtsmittel in der Rechtssache C‑73/22 P entstanden sind.

 

3.

Die Advansa Manufacturing GmbH, die Beaulieu International Group NV, die Brilen SA, die Cordenka GmbH & Co. KG, die Dolan GmbH, die Enka International GmbH & Co. KG, die Glanzstoff Longlaville SAS, die Infinited Fiber Company Oy, die Kelheim Fibres GmbH, die Nurel SA, die PHP Fibers GmbH, die Teijin Aramid BV, die Thrace Nonwovens & Geosynthetics monoprosopi AVEE mi yfanton yfasmaton kai geosynthetikon proïonton S.A. und die Trevira GmbH tragen neben ihren eigenen Kosten die Kosten, die der Kommission im Zusammenhang mit dem Rechtsmittel in der Rechtssache C‑77/22 P entstanden sind.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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