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Document 62022CC0622

    Schlussanträge des Generalanwalts M. Campos Sánchez-Bordona vom 25. Januar 2024.


    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:86

    Vorläufige Fassung

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ‑BORDONA

    vom 25. Januar 2024(1)

    Rechtssache C622/22

    Europäische Kommission

    gegen

    Malta (DatalinkDienste)

    „Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 29/2009 – Verpflichtung, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass eine von Malta benannte Flugsicherungsorganisation Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung nachkommt – Flugsicherungsstellen – Erbringung und Betrieb von Datalink‑Diensten – Fehlende Rechtfertigung der Verzögerung“






    1.        Die Kommission wirft Malta vor, dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 29/2009(2) verstoßen zu haben, dass es nicht die erforderlichen Maßnahmen getroffen habe, um sicherzustellen, dass der von ihm benannte Erbringer von Flugverkehrsdiensten (im Folgenden: ATS)(3) über die Fähigkeit verfüge, die in Anhang II dieser Verordnung festgelegten Datalink‑Dienste zu erbringen und zu betreiben.

    2.        Malta ist der Ansicht, dass unvorhersehbare Umstände vorgelegen hätten, die die verspätete Einrichtung des Systems rechtfertigten, weshalb die Auffassung der Kommission nicht zutreffe.

    I.      Rechtlicher Rahmen. Verordnung Nr. 29/2009

    3.        Art. 3 („Datalink‑Dienste“) bestimmt:

    „(1)      Die ATS‑Dienstleister stellen sicher, dass ATS‑Stellen, die Flugverkehrsdienste innerhalb des in Artikel 1 Absatz 3 genannten Luftraums erbringen, über die Fähigkeit verfügen, die in Anhang II festgelegten Datalink‑Dienste zu erbringen und zu betreiben.

    …“

    4.        Art. 15 („Inkrafttreten und Geltung“)(4) lautet:

    „Diese Verordnung tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.

    Sie gilt ab 5. Februar 2018.

    Diese Verordnung ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.“

    5.        In Anhang II sind die u. a. in Art. 3 genannten Datalink‑Dienste festgelegt.

    II.    Vorverfahren

    6.        Am 11. Oktober 2018 richtete die Kommission ein Schreiben an die Direktion für zivile Luftfahrt Maltas, in dem sie sich besorgt hinsichtlich der Verzögerung bei der Erbringung der in der Verordnung Nr. 29/2009 festgelegten Datalink‑Dienste zeigte und Malta aufforderte, deren Einrichtung zu beschleunigen.

    7.        Nach einer Aktualisierung durch SESAR(5) im Dezember 2019 erbrachte der von Malta benannte ATS‑Dienstleister(6) noch immer keine Datalink‑Dienste.

    8.        Mit Schreiben vom 15. Mai 2020 forderte die Kommission Malta auf, zu dem angeblichen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 29/2009 Stellung zu nehmen. Der Verstoß bestehe darin, dass nicht alle in Anhang II dieser Verordnung festgelegten Datalink‑Dienste für alle Luftfahrzeugbetreiber, die Flüge im maltesischen Luftraum durchführten und mit einer Datalink‑Kommunikationsfunktion im Sinne von Art. 6 dieser Verordnung ausgestattet seien, erbracht und betrieben worden seien.

    9.        Am 5. Oktober 2020 antwortete Malta auf das Aufforderungsschreiben der Kommission und erläuterte die Schwierigkeiten, auf die sein ATS‑Dienstleister gestoßen sei, den Geltungsbeginn der Verordnung Nr. 29/2009 einzuhalten, insbesondere aufgrund der Notwendigkeit, das Flugverkehrsmanagementsystem zu ersetzen.

    10.      In dieser Antwort auf das Aufforderungsschreiben der Kommission

    –      wies Malta darauf hin, dass der Erwerb, die Installation und die Inbetriebnahme des Systems im Jahr 2019 abgeschlossen worden seien und dass die Betriebsfähigkeit der Datalink‑Dienste ursprünglich für Februar 2020 vorgesehen gewesen, aber aufgrund der Covid‑19‑Pandemie unterbrochen worden sei;

    –      führte Malta aus, dass unter der Annahme, dass die Tätigkeit des Auftragnehmers im Jahr 2020 wieder aufgenommen werden könne, das Datalink‑Projekt vorrangig in der ersten Hälfte des Jahres 2022 vollständig durchgeführt werden solle.

    11.      In einer weiteren Mitteilung vom 15. Dezember 2020 berichtete Malta über die jüngsten Maßnahmen, die ergriffen worden seien, um den ATS‑Dienstleistern die Erbringung und den Betrieb von Datalink‑Diensten zu ermöglichen, und verpflichtete sich, der Kommission vierteljährliche Aktualisierungen der laufenden Fortschritte vorzulegen.

    12.      Am 18. Februar 2021 übersandte die Kommission ein ergänzendes Schreiben, mit dem sie Malta aufforderte, zu dem angeblichen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 29/2009 Stellung zu nehmen.

    13.      Malta antwortete am 18. März 2021 wie folgt:

    –      Das (im Jahr 2019 abgeschlossene) Flugverkehrsmanagementsystem habe vor der Einführung der Datalink‑Dienste erneuert werden müssen. Die durch die Covid‑19‑Pandemie verursachten Einschränkungen hätten die Aktivitäten des für Datalink‑Dienste verantwortlichen Auftragnehmers behindert.

    –      Seit Januar 2021 habe Malta trotz dieser Einschränkungen neue Schritte unternommen und sei in der Lage, die Anforderungen bis Juni 2022 zu erfüllen.

    –      Malta sei hinsichtlich des Stands der Durchführung der Verordnung Nr. 29/2009 völlig offen und transparent gegenüber der Kommission gewesen, was die Einhaltung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit und der Anforderungen von Art. 4 Abs. 3 EUV belege.

    14.      Am 15. Juli 2021 richtete die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme an Malta, in der sie feststellte, dass Malta dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen habe, dass es nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen habe, um sicherzustellen, dass der benannte ATS‑Dienstleister Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 29/2009 nachkomme. Laut der mit Gründen versehenen Stellungnahme musste Malta ihr innerhalb einer Frist von zwei Monaten ab Erhalt nachkommen.

    15.      Malta antwortete auf die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission mit Schreiben vom 20. September 2021, vom 25. November 2021 und vom 27. Januar 2022. In diesen Schreiben wies Malta auf die Hauptgründe für die Verzögerungen seit 2017 hin, gab einen Überblick über die erzielten Fortschritte und bestätigte das bereits mitgeteilte Datum der Durchführung von Juni 2022.

    16.      Auf ein Erinnerungsschreiben der Kommission vom 7. Februar 2022 hin legte Malta sieben aktualisierte Informationen vor, mit denen es im Wesentlichen Folgendes ausführte:

    –      Malta habe einer Verschiebung des Datums der Durchführung auf den 28. Dezember 2022 aus folgenden Gründen zugestimmt: Durchführung eines Aufforstungsprojekts für den Einbau von Ausrüstung für Datalink‑Dienste, weltweite Verknappung des Angebots an elektronischen Bauteilen, unvorhergesehene Softwareaktualisierungen und Zuweisung von Fluglotsen während der Ausbildungsphase.

    –      Zur Einhaltung der Verordnung Nr. 29/2009 sollte eine erforderliche Grundschulung durchgeführt werden, die bis spätestens 30. September 2022 abgeschlossen sein würde. Die gesamte Ausbildung würde nicht vor dem 30. November 2023 abgeschlossen sein.

    –      Andere Zwischenziele würden erst im Jahr 2023 erreicht werden (Interoperabilitätstests und bestimmte Aufgaben bezüglich Sicherheit, Qualität und Erfüllung).

    III. Verfahren vor dem Gerichtshof

    17.      Am 29. September 2022 hat die Kommission eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV eingereicht. Damit hat sie den Gerichtshof ersucht, festzustellen, dass „die Republik Malta dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV … in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 29/2009 verstoßen hat, dass sie nicht die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, um sicherzustellen, dass der von ihr benannte ATS‑Dienstleister Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 29/2009 der Kommission einhält“. Außerdem beantragte sie, der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

    18.      Mit Schreiben vom 15. Dezember 2022 trat Malta der Klage der Kommission entgegen.

    19.      Die Kommission reichte am 25. Januar 2023 eine Erwiderung und Malta am 8. März 2023 eine Gegenerwiderung ein.

    20.      Der Gerichtshof beschloss, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.

    IV.    Vorbringen der Parteien im Verfahren vor dem Gerichtshof

    21.      In ihrer Klageschrift sah die Kommission, nachdem sie die Eventualitäten des Vorverfahrens geprüft hatte, das Vorbringen Maltas im Vorverfahren zur Erläuterung der Gründe für die Verzögerung, die sich auf interne Schwierigkeiten bei der Durchführung der Projekte oder Versorgungsprobleme sowie die Covid‑19‑Pandemie beschränkten, als nicht akzeptabel an.

    22.      Die Kommission machte geltend, dass diese Umstände nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs(7) keine stichhaltigen Gründe darstellten, die einen Verstoß gegen das Unionsrecht rechtfertigten.

    23.      Malta trat der Klage der Kommission entgegen und berief sich im Wesentlichen auf die vor und nach dem in der Verordnung Nr. 29/2009 festgelegten Geltungsbeginn (5. Februar 2018) aufgetretenen Schwierigkeiten:

    –      Im Jahr 2013 sei Malta mit Engpässen bei Unternehmen konfrontiert gewesen, die Verbindungsdienste anböten, was es dazu veranlasst habe, (vergeblich) zu versuchen, mit SITA, einem der beiden Betreiber des Duopols auf diesem Markt, einen Vertrag abzuschließen.

    –      Im Jahr 2017 habe Malta versucht, sich durch einen Vertragsabschluss mit dem italienischen Unternehmen Leonardo SpA und dem italienischen ATS‑Dienstleister(8) von der Abhängigkeit externer Unternehmen zu befreien, was ein selbständiges Vorgehen ermöglichen würde.

    –      Während MATS auf die Realisierung des Projekts durch Leonardo SpA gewartet habe, seien zwei unvorhersehbare Ereignisse eingetreten: drei Blitzeinschläge in der Flugsicherungszentrale Maltas (2. Oktober 2017) und der Bruch eines Lüftungsrohrs (9. Juni 2019) im Hauptbetriebsraum. Beide Vorfälle hätten es erforderlich gemacht, die Aufmerksamkeit und Ressourcen der Gewährleistung der Erbringung der Flugsicherungsdienste zu widmen.

    –      Im Jahr 2020 habe die Covid‑19‑Pandemie ebenfalls zu unvermeidbaren Verzögerungen des Projekts geführt.

    24.      Im Zuge der Einreichung seiner Klagebeantwortung räumte Malta ein, dass das Projekt zur Erbringung und zum Betrieb von Datalink‑Diensten zu diesem Zeitpunkt (15. Dezember 2022) noch nicht durchführbar gewesen sei.

    25.      In ihrer Erwiderung weist die Kommission darauf hin, dass keiner der von Malta geltend gemachten und vor 2018 aufgetretenen Umstände „unvorhersehbar“ gewesen sei. Das „bereits vorhandene Marktversagen“ sei gerade „bereits vorhanden“ und daher bekannt und „vorhersehbar“ gewesen. Auch die „allgemein anerkannten technischen Probleme im Zusammenhang mit der Anwendung der Verordnung“ seien bekannt und vorhersehbar gewesen. Die geltend gemachten Fälle höherer Gewalt (Blitzeinschlag, Bruch eines Lüftungsrohrs, Covid‑19‑Pandemie und Verzögerungen durch den Auftragnehmer) seien nach dem Geltungsbeginn der Verordnung Nr. 29/2009 eingetreten und daher irrelevant. Außerdem wirft sie Malta vor, dass es weder irgendeinen dieser Umstände belegt noch dessen Auswirkungen auf die Verzögerung begründet habe.

    26.      In seiner Gegenerwiderung legt Malta Belege für die drei Blitzeinschläge und den Bruch des Lüftungsrohrs vor und macht geltend, dass es unmöglich sei, einen Nachweis für die Weigerung von SITA zu erbringen, seinen Aufforderungen zur Angebotsabgabe nachzukommen. Die Einrichtung des Dienstes sei in einer Region, in der es bis dahin keinen Datalink‑Zugang gegeben habe, besonders kompliziert gewesen, und es habe Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem System von ENAV gegeben.

    V.      Würdigung

    A.      Vorbemerkung: Verpflichtung zur Erbringung von DatalinkDiensten für die Flugsicherung

    27.      Im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 29/2009 heißt es: „Der bereits festzustellende und noch zu erwartende Zuwachs des Luftverkehrs in Europa erfordert eine damit einhergehende Steigerung der Flugsicherungskapazität. Dies führt zur Forderung operationeller Verbesserungen, insbesondere einer verbesserten Effizienz der Kommunikation zwischen Fluglotsen und Luftfahrzeugführern. Sprechfunkkanäle sind immer stärker ausgelastet und sollten durch Datalink‑Kommunikation zwischen dem Boden und dem Luftfahrzeug ergänzt werden.“

    28.      Diese Bestimmung findet ihren normativen Niederschlag in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 29/2009, wonach „[d]ie ATS‑Dienstleister … sicher[stellen], dass ATS‑Stellen, die Flugverkehrsdienste innerhalb des in Artikel 1 Absatz 3 genannten Luftraums erbringen, über die Fähigkeit verfügen, die in Anhang II festgelegten Datalink‑Dienste zu erbringen und zu betreiben“.

    29.      Der Geltungsbeginn der Verordnung Nr. 29/2009 ist der 5. Februar 2018. Dieses Datum ersetzt das in der ursprünglichen Fassung der Verordnung vorgesehene Datum (7. Februar 2013)(9).

    B.      Nichterfüllung der Verpflichtungen aus Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 29/2009 durch Malta

    30.      Bekanntlich beruht das Verfahren nach Art. 258 AEUV auf der objektiven Feststellung eines Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen aus den Verträgen oder einem sekundären Rechtsakt.

    31.      Die Regierung Maltas stellte weder im Vorverfahren noch vor dem Gerichtshof die ihr von der Kommission vorgeworfene Vertragsverletzung in objektiver Hinsicht in Abrede.

    32.      Malta macht geltend, dass jedoch die Schwierigkeiten zu berücksichtigen seien, auf die es bei der Erbringung und dem Betrieb der Datalink‑Dienste gestoßen sei.

    33.      Nach Darlegung der für die Beurteilung relevanten Kriterien lassen sich drei Zeiträume im Zusammenhang mit der vorgeworfenen Vertragsverletzung unterscheiden, die im Laufe der Zeit fortbestanden hat (und noch weiter fortbesteht):

    –      Erster Zeitraum. Umfasst den Zeitraum zwischen der Veröffentlichung der Verordnung Nr. 29/2009 und dem 5. Februar 2018, ihrem Geltungsbeginn. Am Ende dieses Zeitraums war Malta den Verpflichtungen aus dieser Verordnung nicht nachgekommen.

    –      Übergangszeitraum. Umfasst den Zeitraum zwischen dem 5. Februar 2018 und dem 15. September 2021, d. h. dem Tag, an dem die Zweimonatsfrist ablief, die die Kommission Malta gesetzt hatte, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 15. Juli 2021 nachzukommen. Am 15. September 2021 war Malta den Verpflichtungen aus der Verordnung Nr. 29/2009 nach wie vor nicht nachgekommen.

    –      Letzter Zeitraum. Vom 15. September 2021 bis zum Abschluss des schriftlichen Verfahrens dieses Klageverfahrens vor dem Gerichtshof hatte Malta das in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 29/2009 vorgesehene System nach wie vor nicht eingerichtet.

    34.      Da die Regierung Maltas die objektiven Gegebenheiten der gerügten Vertragsverletzung nicht in Abrede stellen kann, versucht sie, ihre Verzögerung mit einer Reihe von Gründen zu rechtfertigen, die ihrer Ansicht nach die fehlende Anpassung ihrer Flugsicherungsdienste an Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 29/2009 erklären.

    35.      Nach ständiger Rechtsprechung „ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung aufgrund der Situation zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde, und können spätere Veränderungen vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden“(10).

    36.      Wenngleich die Kommission ihr Augenmerk offenbar darauf legt, dass die von Malta angeführten Umstände (die angeblich dessen Vertragsverletzung erklären) die Vertragsverletzung nicht im Zeitpunkt des Geltungsbeginns der Verordnung Nr. 29/2009 (5. Februar 2018) rechtfertigten, so lässt sich den Schriftsätzen der Kommission doch zumindest implizit entnehmen, dass auch am Tag des Ablaufs der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist (15. September 2021) keine Rechtfertigungsgründe für die Nichteinhaltung von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 29/2009 vorlagen.

    37.      Tatsächlich räumte Malta ein, dass der Verstoß gegen die Verpflichtung, den nach der Verordnung Nr. 29/2009 erforderlichen Datalink‑Dienst zu erbringen und zu betreiben, im Zeitpunkt des Ablaufs der durch die mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission gesetzten Frist fortbestanden habe.

    38.      Ich werde im Folgenden die von Malta vorgebrachten Rechtfertigungsgründe für die Vertragsverletzung in Bezug auf jeden der drei oben genannten Zeiträume prüfen und meine Beurteilung dieser Rechtfertigungsgründe darlegen. Letztere geht von der Prämisse aus, dass es, da die Kommission die Nichteinhaltung der aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtungen durch einen Mitgliedstaat in objektiver Hinsicht nachgewiesen hat, Sache des säumigen Mitgliedstaats ist, die entsprechenden Rechtfertigungsgründe zu beweisen.

    C.      Die von Malta geltend gemachten Rechtfertigungsgründe für die Vertragsverletzung und ihre Beurteilung

    1.      Erster Zeitraum (bis zum 5. Februar 2018)

    39.      Die maltesische Regierung bringt Folgendes vor, um die Verzögerung bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen in diesem Zeitraum zu erklären:

    –      Die Schwierigkeiten, auf die MATS gestoßen sei, seien auf ein Marktversagen zurückzuführen, das sich aus einer Duopolstruktur bei der Bereitstellung von ATN‑Verbindungen ergebe(11). Im Jahr 2013 habe sich MATS an den Betreiber SITA gewandt, der jedoch kein Angebot abgegeben und Malta damit die Möglichkeit zur Erfüllung seiner Verpflichtungen genommen habe, was völlig außerhalb der Kontrolle Maltas gelegen habe.

    –      Am 2. Oktober 2017 seien drei Blitze in die Flugsicherungszentrale eingeschlagen und hätten einen Stromausfall verursacht.

    –      Im Jahr 2017 habe MATS erfahren, dass ENAV als italienischer ATS‑Dienstleister mit dem Unternehmen Leonardo SpA eine alternative Lösung gefunden habe, um die Dienste unabhängig von Dritten zu erbringen. Am 18. Dezember 2017 habe MATS einen Vertrag mit ENAV und Leonardo SpA unterzeichnet. Eurocontrol habe MATS jedoch eine Studie über ATN‑Router (wie den, den Malta habe) übermittelt, die eine Gefährdung für das ATN‑Netzwerk darstellten, was es notwendig gemacht habe, auf die ursprüngliche Lösung zurückzugreifen, die von externen Dienstleistern abhängig gewesen sei. Dies habe zu Verzögerungen bei der Einrichtung des Datalink‑Dienstes geführt.

    40.      Auch wenn es mir – bei Annahme des 15. September 2021 als Stichtag für die Beurteilung der Vertragsverletzung – unnötig erscheint, eine tiefer gehende Suche nach einer Rechtfertigung auf der Grundlage von vor dem 5. Februar 2018 liegenden Umständen durchzuführen, habe ich keine Einwände gegen die Berücksichtigung dieser Umstände.

    41.      Die Probleme im Zusammenhang mit dem Vertragsabschluss mit einem externen Betreiber im Jahr 2013 gehören – abgesehen davon, dass sie die Verzögerung im Jahr 2018 nicht erklären – zu den technischen oder strukturellen Schwierigkeiten, die für den Gerichtshof für diese Art von Klagen nicht relevant sind(12).

    42.      Das Gleiche gilt für die Eurocontrol zugeschriebene Mitteilung, die in Anhang 3 der Klagebeantwortung aufgeführt ist. Bei diesem Anhang handelt es sich nämlich um ein Dokument mit dem Titel „Weißbuch über die Verbreitung von ATN‑A/G‑Routern“, dessen Veröffentlichung am 10. März 2009 erfolgte und den maltesischen Behörden seither zur Verfügung stand bzw. hätte stehen können. Jedenfalls könnte sich Malta nicht darauf berufen, dass es keine Kenntnis von der Nichtdurchführbarkeit der technischen Lösungen habe, für die es sich selbst entschieden habe.

    43.      Hinsichtlich der Blitzeinschläge auf dem Flughafen Maltas (für die im Rahmen der Gegenerwiderung ein schriftliches Beweisstück vorgelegt wurde) ist nicht ersichtlich, welche Auswirkung dieses Einzelereignis, durch das die Stromversorgung beeinträchtigt wurde, auf die fortdauernde Nichteinhaltung der Verpflichtungen Maltas bezüglich der Einrichtung des Datalink‑Dienstes haben könnte.

    2.      Übergangszeitraum (vom 5. Februar 2018 bis zum 15. September 2021)

    44.      Malta macht folgende Umstände geltend, die sich negativ auf die Nichteinhaltung seiner Verpflichtungen in diesem Zeitraum ausgewirkt hätten:

    –      Am 9. Juni 2019 sei es am Sitz von MATS zum Bruch eines Lüftungsrohrs gekommen und die Verwendung der technischen Ressourcen habe sich auf dieses unvorhergesehene Problem konzentrieren müssen.

    –      Die Covid‑19‑Pandemie habe zu weiteren unvermeidbaren Verzögerungen geführt: i) Leonardo SpA habe sich auf höhere Gewalt aufgrund der Verhängung von Reiseverboten als Reaktion auf die Pandemie berufen und sei zwischen März und September 2020 nicht in der Lage gewesen, das Projekt der Datalink‑Dienste voranzutreiben, was zu weiteren Verzögerungen bei der Durchführung des Projekts geführt habe; ii) MATS habe eine Reihe von Sicherheitsmaßnahmen ergreifen müssen, um die Gesundheitsrisiken im Zusammenhang mit der Pandemie einzudämmen, insbesondere durch Personalabbau, die Durchführung von Vernebelungen, Personalrotation zur Verringerung des Infektionsrisikos und die Ergreifung aller möglichen Sicherheitsvorkehrungen, um die Erbringung einer sicheren Dienstleistung für die Öffentlichkeit zu gewährleisten; iii) aufgrund der strengen Beschränkungen, die infolge der Pandemie auferlegt worden seien, sei die Notwendigkeit, einen Betriebsraum für Notfälle einzurichten, dringend erforderlich gewesen, und MATS habe diesem Projekt, dem es aus praktischen und sicherheitstechnischen Gründen Vorrang eingeräumt habe, den Großteil seiner Anstrengungen gewidmet.

    45.      Auch dieses Vorbringen erscheint mir nicht überzeugend, um die gerügte Vertragsverletzung zu rechtfertigen.

    46.      Hinsichtlich des Rohrbruchs der Klimaanlage reicht es aus, Anhang R.6 der Gegenerwiderung Maltas zu lesen, wonach der Vorfall etwa 25 Minuten gedauert habe und danach behoben gewesen sei. Jedenfalls kann ein solcher Rohrbruch nicht als höhere Gewalt eingestuft werden, da es sich nicht um ein von der eigentlichen Tätigkeit losgelöstes, ungewöhnliches und unvorhersehbares Ereignis handelt.

    47.      In Bezug auf die Auswirkungen der Covid‑19‑Pandemie räumt die maltesische Regierung ein, dass ihre Beziehungen zu Leonardo SpA nur sechs Monate lang beeinträchtigt gewesen seien, ohne dass es Hinweise auf eine weitere Verlängerung gibt. Sie erläutert auch nicht hinreichend, welchen konkreten Einfluss die aus gesundheitlichen Gründen getroffenen Vorsorgemaßnahmen auf die Verzögerung bei der Einrichtung des Datalink‑Systems gehabt haben könnten. Vielmehr scheinen sich die Behauptungen Maltas auf interne organisatorische Probleme (beschränkte Verfügbarkeit von Mitteln) zu beziehen, die es dazu veranlassten, anderen Tätigkeitsbereichen Vorrang einzuräumen.

    48.      Jedenfalls hat Malta – auch für diesen Zeitraum – nicht nachgewiesen, dass es völlig unmöglich gewesen sei, seine Verpflichtungen zu erfüllen(13).

    3.      Letzter Zeitraum (ab dem 15. September 2021)

    49.      Die maltesische Regierung räumt in ihrem letzten Schriftsatz (Gegenerwiderung vom 8. März 2023) ein, dass MATS die Einrichtung der Datalink‑Dienste, obwohl dies die höchste Priorität gehabt habe, nicht abgeschlossen habe. Der ATS‑Betreiber habe ein neues Leitungsteam aufgestellt, das Projekt befinde sich im Gange und sei beachtlich weit ausgereift. Sie werde weiterhin alles tun, um ihren Verpflichtungen aus der Verordnung Nr. 29/2009 nachzukommen, und verpflichte sich in vollem Umfang zur sicheren Einrichtung des Dienstes.

    50.      Auch wenn die nach Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgesetzt wurde (15. September 2021), eingetretenen Umstände nicht berücksichtigt werden können(14), meine ich, dass die Augen vor der Realität nicht verschlossen werden können: Die maltesische Regierung räumt selbst ein, dass die Einrichtung des Datalink‑Dienstes auch im Jahr 2023 nicht stattgefunden habe und dass die angeblichen Schwierigkeiten für diese Verzögerung (wie in früheren Zeiträumen) technischer oder struktureller Art seien, die diesem Mitgliedstaat zuzurechnen sind.

    51.      Im Ergebnis bin ich der Ansicht, dass es der maltesischen Regierung nicht gelungen ist, nachzuweisen, dass die zur Erklärung der Verzögerung bei der Durchführung von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 29/2009 angeführten Umstände die Verzögerung rechtfertigen können.

    VI.    Ergebnis

    52.      Aus den dargestellten Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, der Klage der Kommission stattzugeben und

    –      festzustellen, dass die Republik Malta gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 29/2009 der Kommission vom 16. Januar 2009 zur Festlegung der Anforderungen an Datalink‑Dienste im einheitlichen europäischen Luftraum verstoßen hat;

    –      der Republik Malta die Kosten aufzuerlegen.


    1      Originalsprache: Spanisch.


    2      Verordnung der Kommission vom 16. Januar 2009 zur Festlegung der Anforderungen an Datalink‑Dienste im einheitlichen europäischen Luftraum (ABl. 2009, L 13, S. 3). Sie wurde aufgehoben durch die Durchführungsverordnung (EU) 2023/1770 der Kommission vom 12. September 2023 zur Festlegung von Bestimmungen über die für die Nutzung des einheitlichen europäischen Luftraums erforderliche Luftfahrzeugausrüstung und von Betriebsvorschriften für die Nutzung des einheitlichen europäischen Luftraums sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 29/2009 und der Durchführungsverordnungen (EU) Nr. 1206/2011, (EU) Nr. 1207/2011 und (EU) Nr. 1079/2012 (ABl. 2023, L 228, S. 39).


    3      Das Akronym ATS steht für „Air Traffic Services“ (Flugverkehrsdienste).


    4      In der durch die Durchführungsverordnung (EU) 2015/310 der Kommission vom 26. Februar 2015 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 29/2009 zur Festlegung der Anforderungen an Datalink‑Dienste im einheitlichen europäischen Luftraum und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 441/2014 (ABl. 2015, L 56, S. 30) geänderten Fassung.


    5      Das Akronym steht für „Single European Sky ATM Research“. Es handelt sich um „[e]ine institutionalisierte europäische Partnerschaft zwischen Akteuren des privatwirtschaftlichen und des öffentlichen Sektors mit dem Ziel, die Verwirklichung des digitalen europäischen Luftraums durch Forschung und Innovation zu beschleunigen“. Zu diesem Zweck „[b]ündel[t] [sie] d[ie] [kritische] Masse an Ressourcen und Fachwissen aus der gesamten Luftverkehrs-Wertschöpfungskette zur Entwicklung modernster technologischer Lösungen für das Flugverkehrsmanagement in Bezug auf konventionelle Luftfahrzeuge, Drohnen, Lufttaxis und sowie in größeren Höhen verkehrende Luftfahrzeuge“ (https://european-union.europa.eu/institutions-law-budget/institutions-and-bodies/search-all-eu-institutions-and-bodies/sesar-3-joint-undertaking_de).


    6      „Malta Air Traffic Services“ (Flugverkehrsdienste Maltas). Im Folgenden: MATS.


    7      Urteile vom 25. Februar 2016, Kommission/Spanien (C‑454/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:117, Rn. 45), vom 2. März 2017, Kommission/Griechenland (C‑160/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:161, Rn. 13), und vom 3. Oktober 1984, Kommission/Italien (254/83, EU:C:1984;302).


    8      Ente Nazionale per l’Assistenza al Volo (Nationale Flugsicherungsbehörde). Im Folgenden: ENAV.


    9      Im siebten Erwägungsgrund der Durchführungsverordnung 2015/310 heißt es, dass „insbesondere wegen der festgestellten technischen Schwierigkeiten und Mängel bezüglich der Leistung der eingesetzten DLS‑Infrastruktur, die bereits zu bestimmten Maßnahmen zur Risikominderung Veranlassung gaben, und ihre möglichen Auswirkungen auf die Flugsicherheit sowie in Anbetracht der Tatsache, dass die zu deren Ermittlung und Behebung erforderlichen Studien und Maßnahmen voraussichtlich im Laufe des Jahres 2018 abgeschlossen sein werden, … der Geltungsbeginn der Verordnung (EG) Nr. 29/2009 verschoben werden [sollte]“.


    10      Vgl. u. a. Urteil vom 16. Juli 2020, Kommission/Rumänien (Bekämpfung der Geldwäsche) (C‑549/18, EU:C:2020:563, Rn. 19).


    11      Das Akronym ATN steht für „Aeronautical Telecommunication Network“ (Datenkommunikationsnetzwerk für Luftfahrt). In der Klagebeantwortung Maltas werden zwei Dienstleister genannt, die auf dem Markt für Kommunikationsdienste miteinander im Wettbewerb stehen: SITA mit Sitz in Europa und ARINC mit Sitz in den Vereinigten Staaten von Amerika.


    12      Urteil vom 10. November 2020, Kommission/Italien (Grenzwerte für PM10) (C‑644/18, EU:C:2020:895, Rn. 87).


    13      Urteil vom 27. Juni 2000, Kommission/Portugal (C‑404/97, EU:C:2000:345, Rn. 39).


    14      Urteil vom 30. Januar 2002, Kommission/Griechenland (C‑103/00, EU:C:2002:60, Rn. 23 bis 25).

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