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Document 62022CC0608

    Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 9. November 2023.


    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:856

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    JEAN RICHARD DE LA TOUR

    vom 9. November 2023(1)

    Verbundene Rechtssachen C608/22 und C609/22

    AH (C608/22),

    FN (C609/22),

    Beteiligter:

    Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl

    (Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs [Österreich])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Gewährung internationalen Schutzes und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – Art. 9 Abs. 1 Buchst. b – Begriff ‚Verfolgungshandlungen‘ – Kumulierung diskriminierender Handlungen und Maßnahmen gegenüber Mädchen und Frauen – Art und Weise der Prüfung der erforderlichen Erheblichkeit – Art. 4 Abs. 3 – Individuelle Prüfung des Antrags – Berücksichtigung nur des Geschlechts und keiner anderen Anhaltspunkte, die sich aus der persönlichen Situation ergeben – Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten“






    I.      Einleitung

    1.        Seit der Rückkehr des Taliban-Regimes in Afghanistan hat sich die Lage der Mädchen und Frauen im Land rapide verschlechtert, und zwar in einem Maße, dass man von der Verleugnung ihrer Identität sprechen kann. Um dieser unerträglichen Situation nicht ausgesetzt zu sein, fliehen afghanische Mädchen und Frauen aus ihrem Land oder weigern sich, dorthin zurückzukehren, und suchen u. a. in der Europäischen Union Asyl. Angesichts dieser Situation sind die Behörden der Mitgliedstaaten unschlüssig, ob sie diesen Frauen allein aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen oder ob sie individuell prüfen sollen, ob eine Verfolgungsgefahr besteht.

    2.        Der vorliegende Fall wird es dem Gerichtshof ermöglichen, diese Situation zu klären.

    3.        Genauer gesagt wird der Gerichtshof mit den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen ersucht, zu präzisieren, wie das Vorliegen einer begründeten Furcht vor einer „Verfolgungshandlung“ im Sinne von Art. 9 der Richtlinie 2011/95/EU(2) beurteilt werden kann, wenn der Antrag auf internationalen Schutz von einer Frau mit der Begründung gestellt wird, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland einer Kumulierung an diskriminierenden Handlungen und Maßnahmen ausgesetzt sein könnte, die die Ausübung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte einschränken.

    4.        Insbesondere fragt der Verwaltungsgerichtshof (Österreich) den Gerichtshof, ob Handlungen wie die des Taliban-Regimes seit dem 15. August 2021, die den Zugang von Mädchen und Frauen zur Bildung, zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit und zur Gesundheitsversorgung, ihre Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben sowie ihre Bewegungsfreiheit und die Ausübung einer sportlichen Tätigkeit einschränken, die sie darüber hinaus verpflichten, ihren gesamten Körper und ihr Gesicht zu bedecken, und die ihnen den Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt verwehren, in Anbetracht ihrer kumulativen Wirkung und Intensität geeignet sind, als „Verfolgungshandlungen“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 angesehen zu werden. In diesem Zusammenhang ist der Gerichtshof daher aufgefordert, die Grundsätze zu ergänzen, die er bereits in den Urteilen vom 5. September 2012, Y und Z(3), und vom 7. November 2013, X u. a.(4), zur Auslegung des Begriffs „Verfolgungshandlungen“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der durch die Richtlinie 2011/95 aufgehobenen und ersetzten Richtlinie 2004/83/EG(5) aufgestellt hat, wobei Art. 9 in beiden Richtlinien nahezu identisch formuliert ist.

    5.        Darüber hinaus fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob die zuständige Behörde im Rahmen der Prüfung der individuellen Lage und der persönlichen Umstände der Antragstellerin, die für die individuelle Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlich ist, zu dem Schluss kommen kann, dass eine begründete Furcht vor einer solchen Verfolgung aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit besteht, ohne dass sie nach weiteren Anhaltspunkten suchen muss, die sich aus der persönlichen Situation der Antragstellerin ergeben.

    6.        Diese zweite Frage, die sich auf den Umfang der vom Unionsgesetzgeber in Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 geforderten Einzelfallprüfung bezieht, steht in einem besonderen Kontext. Einige Mitgliedstaaten, wie die Königreiche Schweden(6) und Dänemark(7) oder die Republik Finnland(8), haben bereits beschlossen, afghanischen Staatsangehörigen allein aufgrund ihres Geschlechts quasi automatisch die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, womit sie sich in die Reihe der Staaten einreihen, die ab August 2021 die Umsetzung der mit der Richtlinie 2001/55/EG(9) eingeführten Regelung für die Gewährung vorübergehenden Schutzes planen. Die Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) kommt in ihrem jüngsten Informationsbericht zu Afghanistan (2023) zu dem Schluss, dass afghanische Mädchen und Frauen angesichts der vom Taliban-Regime ergriffenen Maßnahmen im Allgemeinen eine begründete Furcht vor Verfolgung haben würden(10). Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hat in seiner Erklärung im Zusammenhang mit den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen betont, dass bei afghanischen Mädchen und Frauen die Vermutung einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bestehe(11).

    7.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich die Gründe darlegen, aus denen ich die vom vorlegenden Gericht genannten Maßnahmen als „Verfolgungshandlung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 betrachte. Ich werde erläutern, dass die schwerwiegende, systematische und institutionalisierte Diskriminierung afghanischer Mädchen und Frauen dazu führt, dass ihnen ihre grundlegendsten Rechte in einem Leben in der Gesellschaft vorenthalten werden und die in Art. 2 EUV sowie in Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(12) verankerte Menschenwürde nicht uneingeschränkt geachtet wird.

    8.        Ich werde auch die Gründe darlegen, aus denen ich der Ansicht bin, dass nichts dagegenspricht, dass die zuständige Behörde allein aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit der Antragstellerin zu dem Schluss kommt, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht, ohne nach weiteren Anhaltspunkten suchen zu müssen, die sich aus der persönlichen Situation der Antragstellerin ergeben.

    II.    Rechtlicher Rahmen

    A.      EMRK

    9.        Art. 15 („Abweichen im Notstandsfall“) Abs. 1 und 2 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(13) sieht vor:

    „(1)      Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen.

    (2)      Aufgrund des Absatzes 1 darf von Artikel 2 nur bei Todesfällen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen und von Artikel 3, Artikel 4 Absatz 1 und Artikel 7 in keinem Fall abgewichen werden.“

    B.      Richtlinie 2011/95

    10.      Im 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 heißt es:

    „Die Mitgliedstaaten sollten die Befugnis haben, günstigere Regelungen als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Normen für Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die um internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat ersuchen, einzuführen oder beizubehalten, wenn ein solcher Antrag als mit der Begründung gestellt verstanden wird, dass der Betreffende entweder ein Flüchtling im Sinne von Artikel 1 Abschnitt A [des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge(14) in der durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge(15) ergänzten Fassung (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention)] oder eine Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz ist.“

    11.      Art. 2 Buchst. d der Richtlinie sieht vor:

    „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

    d)      ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet“.

    12.      Art. 3 („Günstigere Normen“) der Richtlinie bestimmt:

    „Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“

    13.      Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

    „(1)      Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.

    (2)      Zu den in Absatz 1 genannten Anhaltspunkten gehören Angaben des Antragstellers zu Alter und familiären und sozialen Verhältnissen – auch der betroffenen Verwandten –, Identität, Staatsangehörigkeit(en), Land/Ländern und Ort(en) des früheren Aufenthalts, früheren Asylanträgen, Reisewegen und Reisedokumenten sowie zu den Gründen für seinen Antrag auf internationalen Schutz und sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen zu diesen Angaben.

    (3)      Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

    a)      alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden;

    b)      die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;

    c)      die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;

    …“

    14.      Art. 9 („Verfolgungshandlungen“) Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor:

    „(1)      Um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, muss eine Handlung

    a)      aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 [EMRK] keine Abweichung zulässig ist, oder

    b)      in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a beschriebenen Weise betroffen ist.

    (2)      Als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

    a)      Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,

    b)      gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,

    c)      unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,

    f)      Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.“

    III. Sachverhalt der Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    15.      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑608/22, AH, ist eine im Jahr 1995 geborene afghanische Staatsangehörige. Nach ihrer Einreise in Österreich am 31. August 2015 stellte sie in diesem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz. Zur Begründung ihres Antrags gab sie u. a. an, dass sie vor einer von ihrem Vater geplanten Zwangsheirat geflohen sei. Die damals etwa 14-jährige Antragstellerin sei mit ihrer Mutter in den Iran geflohen, wo sie bis 2015 mit ihren beiden Schwestern gelebt habe. Sie habe ihren Antrag in Österreich gestellt, weil ihr Ehemann, den sie während eines Aufenthalts in Griechenland geheiratet habe, bereits in Österreich lebe.

    16.      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑609/22, FN, ist ebenfalls afghanische Staatsangehörige und wurde im Jahr 2007 geboren. Sie stellte 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Sie habe nie in Afghanistan gelebt. Zuletzt habe sie mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern im Iran gelebt, aus dem sie mit der Begründung geflohen sei, dass ihre Familienmitglieder dort keinen Aufenthaltstitel hätten und nicht arbeiten dürften und sie selbst nicht die Schule besuchen dürfe. Sie gab an, dass sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan als Frau der Gefahr einer Entführung ausgesetzt wäre, nicht zur Schule gehen könnte und Gefahr liefe, nicht für ihren Lebensunterhalt aufkommen zu können, da sie keine Familie vor Ort habe. FN soll ihren Antrag auch damit begründet haben, dass sie in Freiheit leben und die gleichen Rechte wie Männer haben wolle.

    17.      Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich) war der Ansicht, dass die von AH vorgebrachten Argumente bezüglich des Fluchtgrundes nicht glaubwürdig seien und dass FN aufgrund der zum Entscheidungszeitpunkt, d. h. im Oktober 2020, vorliegenden Berichte in Afghanistan keiner tatsächlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt gewesen sei. Die Behörde lehnte es daher in beiden Fällen ab, die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95 zuzuerkennen. Sie gewährte AH und FN jedoch subsidiären Schutz mit der Begründung, dass sie aufgrund des Fehlens eines sozialen Netzes in Afghanistan bei einer Rückkehr in das Land Schwierigkeiten wirtschaftlicher und sozialer Art ausgesetzt wären.

    18.      AH und FN erhoben gegen die Bescheide, mit denen ihnen die Flüchtlingseigenschaft versagt blieb, jeweils Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (Öaterreich) und machten u. a. geltend, dass sich die Situation in Afghanistan nach der Machtübernahme durch das Taliban-Regime im Sommer 2021 so verändert habe, dass Frauen nun einer weitreichenden Verfolgung ausgesetzt seien. FN ist der Ansicht, dass allein die Tatsache, eine afghanische Frau zu sein, zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen sollte, wie es der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung aus der Zeit der früheren Machtübernahme durch die Taliban anerkannt habe.

    19.      Das Bundesverwaltungsgericht wies beide Beschwerden als unbegründet ab und stellte insbesondere fest, dass sich die Klägerinnen angesichts ihrer Lebensbedingungen in Österreich keine „westliche Lebensführung“ angeeignet hätten, die zu einem solch wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden sei, dass von ihnen nicht erwartet werden könne, diese aufzugeben, um einer drohenden Verfolgung in ihrem Heimatland zu entgehen.

    20.      AH und FN erhoben jeweils Revision  beim Verwaltungsgerichtshof und machten erneut geltend, dass allein schon die Situation der Frauen unter dem neuen Taliban-Regime die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertige.

    21.      Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende, in beiden Fällen identische Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.      Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen

    –        die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,

    –        keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,

    –        allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatteten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,

    –        einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,

    –        der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,

    –        der Zugang zu Bildung – gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) – verwehrt wird,

    –        sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,

    –        ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,

    –        keinen Sport ausüben dürfen,

    im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95 als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?

    2.      Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen – in ihrer Kumulierung zu betrachtenden – Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95 betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?

    22.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 13. Oktober 2022 wurden diese Rechtssachen für das schriftliche und das mündliche Verfahren sowie für die Entscheidung des Gerichtshofs miteinander verbunden.

    23.      Schriftliche Erklärungen wurden von den Revisionswerberinnen des Ausgangsverfahrens, der österreichischen, der belgischen, der spanischen und der französischen Regierung sowie der Europäischen Kommission eingereicht.

    IV.    Würdigung

    24.      Nach Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 setzt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft voraus, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine begründete Furcht vor Verfolgung in seinem Heimatland wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe hat.

    25.      Um die Flüchtlingseigenschaft zu gewähren, muss die zuständige Behörde also zu dem Schluss kommen, dass die betreffende Person verfolgt wird oder ihr eine Verfolgung droht.

    26.      Zum einen ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Art. 9 und 10 der Richtlinie 2011/95, dass der Begriff „Verfolgung“ aus zwei Elementen besteht.

    27.      Das erste ist das materielle Element. Es handelt sich um die in Art. 9 der Richtlinie definierte „Verfolgungshandlung“. Dieses Element ist entscheidend, da es die Furcht des Einzelnen begründet und erklärt, warum er nicht in der Lage ist oder sich weigert, den Schutz seines Heimatlands in Anspruch zu nehmen. Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht daher klären, ob die diskriminierenden Maßnahmen, die das Taliban-Regime gegenüber Mädchen und Frauen ergriffen hat, die nach Art. 9 der Richtlinie erforderliche Erheblichkeit erreichen, um als „Verfolgungshandlungen“ eingestuft zu werden. Das zweite Element ist das intellektuelle Element. Dabei handelt es sich nach Art. 10 der Richtlinie um den Grund, aus dem die Handlung oder die Gesamtheit von Handlungen oder Maßnahmen begangen oder angewandt wird. Dieses Element steht in den vorliegenden Rechtssachen nicht in Frage.

    28.      Zum anderen muss die zuständige Behörde auf der Grundlage einer nach Art. 4 der Richtlinie 2011/95 erforderlichen Prüfung der Tatsachen und Umstände im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz prüfen, ob die Furcht des Antragstellers, nach der Rückkehr in sein Heimatland verfolgt zu werden, begründet ist. Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine afghanische Frau insbesondere im Hinblick auf Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie internationalen Schutz erhalten kann, ohne dass ihre Situation individuell geprüft wird, wobei zu berücksichtigen ist, dass einige Frauen die von den Taliban getroffenen oder geduldeten Maßnahmen möglicherweise nicht ablehnen oder sogar billigen, so dass diese Maßnahmen möglicherweise keine Auswirkungen auf die konkrete Situation dieser Frauen haben.

    A.      Die Reichweite des Begriffs „Verfolgungshandlungen“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 (erste Frage)

    29.      Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen vom Gerichtshof wissen, ob Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass diskriminierende Handlungen und Maßnahmen, die Mädchen und Frauen schwerwiegend in ihrer Bewegungsfreiheit, in ihrer Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben, in ihrem Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung sowie in der Ausübung einer Erwerbstätigkeit und eines Sports beschränken, ihnen darüber hinaus den Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt vorenthalten und ihnen eine Kleiderordnung auferlegen, die ihren gesamten Körper sowie ihr Gesicht bedeckt, eine „Verfolgungshandlung“ darstellen.

    1.      Einleitende Bemerkungen

    30.      In ihren Stellungnahmen äußern AH, die belgische Regierung und die Kommission Zweifel an der Reichweite dieser Frage.

    31.      Erstens machen die Kommission und die belgische Regierung geltend, dass es nicht Sache des Gerichtshofs sei, abstrakt darüber zu entscheiden, ob die Kumulierung der vom vorlegenden Gericht ausdrücklich genannten Maßnahmen eine „Verfolgungshandlung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 darstelle. Es trifft zwar zu, dass diese Beurteilung gemäß Art. 4 der Richtlinie und Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU(16) allein in der Verantwortung der zuständigen Behörde liegt, die das Erfordernis des Antragstellers an internationalem Schutz nach einer angemessenen, umfassenden und aktuellen Prüfung beurteilen muss.

    32.      Ich glaube jedoch nicht, dass die erste Vorlagefrage in diesem Sinne verstanden werden soll. Das vorlegende Gericht möchte nämlich nur verstehen, wie die sich aus ihrer kumulativen Wirkung ergebende Erheblichkeit dieser Maßnahmen im Vergleich zu der in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 geforderten Erheblichkeit zu beurteilen ist. Wie die Verwendung des Adverbs „insbesondere“ in der Formulierung der Frage zeigt, wollte das Gericht nicht alle Maßnahmen aufzählen, denen afghanische Staatsangehörige bei einer Rückkehr in ihr Heimatland ausgesetzt sein können. Das Ausmaß dieser Maßnahmen nimmt regelmäßig zu, wie der letzte Informationsbericht der EUAA zu Afghanistan (2023)(17) und das kürzlich vom Taliban-Regime erlassene Dekret zur Schließung von Schönheitssalons zeigt, dem einzigen „öffentlichen“ Ort, an dem Frauen noch erlaubt war, sich zu versammeln. Das vorlegende Gericht ist sich bewusst, dass diese Maßnahmen zwar für sich genommen zu missbilligen sind, sie aber keine Verletzung eines ausnahmslos geltenden absoluten Rechts im Sinne von Art. 15 Abs. 2 EMRK darstellen, und dass sie in ihrer Gesamtheit möglicherweise nicht die erforderliche Erheblichkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie erreichen.

    33.      Zweitens macht AH in ihren Ausführungen geltend, dass es nicht erforderlich sei, die vom vorlegenden Gericht genannten diskriminierenden Maßnahmen im Hinblick auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 zu prüfen, da afghanische Mädchen und Frauen jedenfalls auch Handlungen ausgesetzt seien, die ihre Grundrechte im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie schwerwiegend beeinträchtigten. Es liegt tatsächlich auf der Hand, dass geschlechtsspezifische Gewalthandlungen und häusliche Gewalt, denen sie bei einer Rückkehr in ihr Heimatland ausgesetzt sein könnten, entweder aufgrund ihrer Art oder ihrer Wiederholung eine „schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte“ und damit eine Verfolgungshandlung im Sinne dieser Bestimmung darstellen können(18).

    34.      Es besteht auch kaum ein Zweifel daran, dass die Verfolgung und Bestrafung, der afghanische Staatsangehörige ausgesetzt sind, wenn sie die ihnen auferlegten Vorschriften nicht einhalten, für sich genommen eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a darstellen können, da sie zu einem schweren und unerträglichen Schaden für die Person führen können.

    35.      Ich weise jedoch darauf hin, dass die Vorlagefragen die Einstufung der gegen afghanische Mädchen und Frauen ergriffenen diskriminierenden Maßnahmen nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 betreffen und dass die zuständige Behörde verpflichtet ist, eine vollständige Einschätzung der Verfolgungshandlungen oder des erheblichen Schadens vorzunehmen, die der Antragstellerin im Fall der Rückführung in ihr Heimatland drohen.

    36.      Zum einen ergibt sich aus den in Art. 4 der Richtlinie 2011/95 festgelegten Anforderungen, dass die zuständige nationale Behörde verpflichtet ist, eine angemessene und wirksame Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz durchzuführen, um eine umfassende Bewertung des Schutzbedarfs der betreffenden Person zu gewährleisten. So hat der Gerichtshof im Urteil Y und Z geurteilt, „dass eine zuständige Stelle, wenn sie nach Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie einen Antrag auf internationalen Schutz individuell prüft, alle Akte berücksichtigen muss, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie gelten können“(19).

    37.      Zum anderen sollen dadurch heikle Situationen vermieden werden, in denen die betreffende Person gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/95 aufgrund veränderter Umstände in ihrem Heimatland nicht mehr von der Flüchtlingseigenschaft profitieren kann und ihr die Eigenschaft daher aufgrund einer unzureichenden Risikoeinschätzung vorzeitig aberkannt wird.

    38.      Wenn daher feststeht, dass bestimmte diskriminierende Maßnahmen eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 darstellen, muss die zuständige nationale Behörde im Zuge ihrer Risikobewertung auch feststellen, inwieweit die Antragstellerinnen Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 ausgesetzt sein könnten(20).

    2.      Beantwortung der Vorlagefrage

    39.      Art. 9 der Richtlinie 2011/95 definiert die Tatbestandsmerkmale, bei deren Vorliegen eine Handlung als Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention(21) gilt.

    40.      Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie betrifft die Anforderungen in Bezug auf die Art und Erheblichkeit der Handlung, während Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie eine nicht erschöpfende Aufzählung der Formen enthält, die eine Verfolgungshandlung annehmen kann.

    41.      Im vorliegenden Fall besteht kein Zweifel daran, dass die Maßnahmen, auf die sich das vorlegende Gericht bezieht, unter diese Aufzählung fallen, wobei die Auslegung von Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 hier nicht in Frage steht. Der Unionsgesetzgeber beabsichtigt nämlich nicht, die Verfolgungshandlungen auf physische Gewaltakte zu beschränken, sondern will mit einem ausreichend offenen und anpassungsfähigen Gesetzestext die äußerst vielfältigen und sich ständig verändernden Verfolgungsformen widerspiegeln(22). So können nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. b, c und f der Richtlinie als Verfolgung „unter anderem“ die folgenden Handlungen gelten: „gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden“, „unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung“ oder „Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind“.

    42.      Können diese Maßnahmen aber die in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 geforderte Erheblichkeit erreichen?

    43.      Der Artikel führt eine Unterscheidung ein, je nachdem, ob die betreffende Handlung grundlegende Menschenrechte (Buchst. a) oder andere Menschenrechte (Buchst. b) verletzt.

    44.      Was als Erstes Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 betrifft, so heißt es dort, dass die betreffende Handlung „aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein [muss], dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 [EMRK] keine Abweichung zulässig ist“(23).

    45.      Eine Handlung, die aufgrund ihrer Art möglicherweise nicht gravierend genug ist, um eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darzustellen, kann diese Erheblichkeit aufgrund ihrer Wiederholung erreichen und eine solche Verletzung darstellen.

    46.      Die in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Rechte sind die sogenannten „absoluten“ oder „unveräußerlichen“ Rechte jedes Einzelnen. Sie dürfen nicht einmal im Fall einer außergewöhnlichen öffentlichen Gefahr, die „das Leben der Nation bedroht“, eingeschränkt werden. Dazu gehören das Recht auf Leben, das Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden, das Recht, nicht in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten zu werden, sowie das Recht, nicht willkürlich festgenommen oder inhaftiert zu werden(24). In seinem Gemeinsamen Standpunkt 96/196/JI(25) hatte der Rat den Begriff „Verfolgung“ bereits so definiert, dass er Handlungen umfasst, die eine gravierende Verletzung der Menschenrechte, z. B. des Rechts auf Leben, des Rechts auf Freiheit oder des Rechts auf körperliche Unversehrtheit darstellen oder die es bei Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls der Person, die von ihnen betroffen war, eindeutig nicht erlauben, weiterhin in ihrem Herkunftsland zu leben(26). Gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 muss die Verfolgungshandlung daher einen gravierenden und unzumutbaren Angriff auf die Person und insbesondere auf ihre grundlegendsten Rechte darstellen.

    47.      Wie der Gerichtshof jedoch festgestellt hat, verweist der Artikel auf Art. 15 Abs. 2 EMRK „als Anhaltspunkt“ für die Feststellung, welche Handlungen insbesondere als Verfolgung gelten(27). Daraus folgt, dass, wenn der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz auf eine Verletzung eines in dieser Vorschrift genannten absoluten Rechts stützt, das Vorliegen einer Verfolgung ipso facto festgestellt wird, sofern diese Verletzung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit des Antragstellers zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfolgt.

    48.      Stützt der Antragsteller seinen Antrag hingegen auf einen Eingriff in ein Grundrecht, das kein absolutes Recht ist, ist der Gerichtshof der Meinung, dass ein solcher Eingriff an sich die zuständige Behörde nicht verpflichtet, denjenigen, der diesem Eingriff ausgesetzt wird, als Flüchtling anzuerkennen(28). Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass diese Verletzung „von einer bestimmten Schwere“(29) sein muss, die „den Betroffenen erheblich beeinträchtigt“(30). Dem Gerichtshof zufolge muss daher geprüft werden, ob dieser Eingriff nicht eine rechtmäßige Einschränkung der Ausübung des betreffenden Grundrechts darstellt, wobei in diesem Fall die Einstufung als „Verfolgungshandlung“ ausgeschlossen ist(31). Es muss auch festgestellt werden, inwieweit der Eingriff eine Verletzung von solcher Schwere darstellen kann, dass er mit der Verletzung der absoluten Rechte gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK gleichgesetzt werden kann oder gleichwertig ist(32). In diesem Zusammenhang hält es der Gerichtshof für notwendig, über die „Nomenklatur“ des betreffenden Rechts oder der betreffenden Freiheit hinauszugehen, um nicht nur die Schwere der Handlung oder Maßnahme und ihre Folgen für den Betroffenen zu berücksichtigen, sondern auch die Art und Schwere der Repressionen, denen der Betroffene ausgesetzt ist(33). In den Urteilen Y und Z sowie Fathi(34) vom 4. Oktober 2018 hat der Gerichtshof daher festgestellt, dass der Antragsteller einer Verfolgungshandlung ausgesetzt war, da er aufgrund der Ausübung seiner Religionsfreiheit in seinem Herkunftsland u. a. tatsächlich Gefahr lief, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie 2011/95 genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden(35).

    49.      Was als Zweites den vom vorlegenden Gericht in Bezug genommenen Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 anbelangt, stellt dieses Gericht klar, dass eine Verfolgungshandlung auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung von Menschenrechten, bestehen kann, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 beschriebenen Weise betroffen ist.

    50.      Der Unionsgesetzgeber meint hier Handlungen oder Maßnahmen, einschließlich Verletzungen von Menschenrechten, die – für sich genommen – keine Verletzung der Grundrechte des Antragstellers darstellen. Wie aus dem Wortlaut dieser Bestimmung hervorgeht, können diese Handlungen oder Maßnahmen nur insoweit einer Verfolgung gleichkommen, als sie aufgrund ihrer „Kumulierung“ den Antragsteller in ähnlicher Weise wie bei einer schwerwiegenden Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie betreffen(36).

    51.      Dieses letzte Element ist entscheidend, da es den Begriff „Verfolgungshandlungen“ von jeder anderen diskriminierenden Maßnahme unterscheiden soll. Das Ziel des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems besteht nämlich nicht darin, Schutz jedes Mal dann zu gewähren, wenn eine Person in ihrem Herkunftsland die ihr durch die Charta oder die EMRK verliehenen Garantien nicht vollständig und effektiv wahrnehmen kann, sondern darin, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Personen zu beschränken, die Gefahr laufen, einer schwerwiegenden Verweigerung oder einer systemischen Verletzung ihrer grundlegendsten Rechte ausgesetzt zu werden, und deren Leben in diesem Land dadurch unzumutbar geworden ist.

    52.      Um festzustellen, ob eine Verfolgung im materiellen Sinne vorliegt, muss daher geprüft werden, inwieweit die Einschränkungen oder Diskriminierungen, die der Antragsteller bei der Ausübung seiner Rechte, einschließlich Grundrechte, erfährt, aufgrund ihrer kumulativen Wirkung schwerwiegende Folgen für diesen Antragsteller in seinem Herkunftsland nach sich ziehen, die einen einer schwerwiegenden Grundrechtsverletzung vergleichbaren Schweregrad erreichen(37). Im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention betont der UNHCR, dass es nicht möglich sei, allgemein verbindlich festzulegen, inwieweit kumulative Gründe zu einem Recht auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen können(38). Laut dem UNHCR stellt eine diskriminierende Maßnahme nur dann eine Verfolgung dar, wenn sie Konsequenzen mit sich bringe, die die betroffene Person in hohem Maße benachteiligen würden, z. B. eine ernstliche Einschränkung des Rechts, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, des Rechts auf Religionsausübung oder des Zugangs zu Bildungseinrichtungen, und hänge von allen Umständen ab, u. a. von den besonderen geografischen, historischen und ethnologischen Gegebenheiten(39).

    53.      In Anlehnung an die vom Gerichtshof zur Auslegung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 entwickelten Grundsätze muss die zuständige Behörde im Hinblick auf die persönliche Situation des Betroffenen die konkrete Situation prüfen, der er in seinem Herkunftsland ausgesetzt ist, und dabei nicht nur die Art und Schwere der diskriminierenden Maßnahmen, denen er ausgesetzt sein könnte, und die Folgen, die sich daraus für ihn ergeben, berücksichtigen, sondern auch die Art und Schwere der Sanktionen, denen er ausgesetzt ist, wenn er die ihm auferlegten Beschränkungen und Einschränkungen nicht beachtet. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind nämlich Handlungen, die als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 angesehen werden können, nach der Schwere der Maßnahmen und der Sanktionen zu bestimmen, die gegen den Betroffenen ergriffen wurden oder ergriffen werden könnten(40).

    54.      Im vorliegenden Fall besteht kein Zweifel daran, dass unabhängig von der Art der Repressionen, denen afghanische Mädchen und Frauen ausgesetzt sind, wenn sie die vom Taliban-Regime erlassenen Vorschriften – die für sich genommen bereits eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 darstellen können, da sie zu schweren und unerträglichen Beeinträchtigungen der Betroffenen führen können – nicht befolgen, die in Frage stehenden diskriminierenden Handlungen und Maßnahmen aufgrund ihrer Intensität und ihrer kumulativen Wirkung als auch aufgrund der Folgen, die sie für die betroffene Person haben, einen Schweregrad erreichen, der dem einer Verletzung der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten absoluten Rechte vergleichbar ist.

    55.      Die Beschränkungen des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen sind so streng, dass sie das in Art. 35 der Charta verankerte Grundrecht auf Gesundheitsschutz verletzen und mangels Zugangs zu den entsprechenden Gesundheitsdiensten afghanische Mädchen und Frauen der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta aussetzen. Die Beschränkungen des Zugangs zu Bildung, Berufsausbildung und zum Arbeitsmarkt verletzen das insbesondere in den Art. 14 und 15 der Charta anerkannte Recht der Frauen auf Zugang zu Bildung und das Recht, zu arbeiten, und setzen sie der Gefahr aus, ihre elementarsten Bedürfnisse und die ihrer Kinder nicht befriedigen zu können wie z. B., sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden(41). Solche Einschränkungen können aufgrund der Erheblichkeit der Entbehrungen ihre physische oder psychische Unversehrtheit ebenso gefährden wie direktere Lebensbedrohungen. Auch werden diesen Mädchen und Frauen keine rechtlichen Mittel gegen geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt zur Verfügung gestellt, was über die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf hinaus auch eine Verletzung des Rechts auf Leben und des Verbots von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe darstellen kann(42).

    56.      Hinzu kommen weitere diskriminierende Maßnahmen gegen afghanische Mädchen und Frauen, die darauf abzielen, ihre Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum, ihre Meinungs- und Vereinigungsfreiheit sowie ihre Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen einzuschränken oder sogar zu verbieten. All diese Maßnahmen zeugen von dem klaren Willen der Akteure der Verfolgungen, Mädchen und Frauen vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen, indem sie ihre Rechte – seien es bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Rechte – verleugnen. Aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung zeugen diese Maßnahmen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung von Mädchen und Frauen beruht, in dem diese aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges und angemessenes Leben in ihrem Herkunftsland verwehrt wird.

    57.      In seinen Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen Y und Z hat Generalanwalt Bot betont, dass es sich „bei der Verfolgung … um eine äußerst gravierende Handlung [handelt], weil mit ihr in flagranter Weise hartnäckig die grundlegendsten Menschenrechte aus Gründen der Hautfarbe, der Staatsangehörigkeit, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der politischen Überzeugung oder des religiösen Bekenntnisses vorenthalten werden. Die Verfolgung beinhaltet – unabhängig davon, in welcher Form sie erfolgt, und über die durch sie hervorgerufene Diskriminierung hinaus – eine Ablehnung der Person und ist darauf gerichtet, sie aus der Gesellschaft auszuschließen. Hinter der Verfolgung steht der Gedanke eines Verbots, und zwar des Verbots, aufgrund seines Geschlechts in Gemeinschaft mit anderen zu leben, des Verbots, im Hinblick auf seine Überzeugungen gleichbehandelt zu werden oder aufgrund seiner Rasse Zugang zur Gesundheitspflege und zum Bildungswesen zu erhalten. Diese Verbote beinhalten eine Sanktion für das, was der Einzelne ist oder wofür er steht.“(43)

    58.      Im vorliegenden Fall besteht kaum ein Zweifel daran, dass unabhängig von der Form der diskriminierenden Maßnahmen – ob es sich nun um die vom herrschenden Regime erlassenen Dekrete oder von ihm geduldete Handlungen handelt – diese an sich eine Sanktion beinhalten, eine Sanktion für das, was diese Frau ist oder wofür sie in diesem Land steht. Denn diese Maßnahmen führen dazu, Mädchen und Frauen in flagranter Weise hartnäckig ihre grundlegendsten Menschenrechte aus Gründen des Geschlechts vorzuenthalten, indem sie ihrer Identität beraubt werden und ihr Alltag unerträglich gemacht wird.

    59.      In Anbetracht dieser Erwägungen bin ich der Ansicht, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass unter den Begriff „Verfolgungshandlungen“ eine Kumulierung diskriminierender Handlungen und Maßnahmen fällt, die in einem Land gegen Mädchen und Frauen ergriffen werden und die u. a. ihren Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, die Ausübung einer Erwerbstätigkeit, die Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben und ihre Bewegungs- und Sportausübungsfreiheit einschränken oder sogar verbieten, die ihnen den Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt vorenthalten und ihnen vorschreiben, ihren Körper und ihr Gesicht vollständig zu bedecken; denn diese Handlungen und Maßnahmen führen durch ihre kumulative Wirkung dazu, dass diesen Mädchen und Frauen ihre grundlegendsten Rechte in einem Leben in der Gesellschaft vorenthalten werden, und somit die in Art. 2 EUV und Art. 1 der Charta verankerte Menschenwürde nicht uneingeschränkt geachtet wird.

    B.      Reichweite der von der zuständigen Behörde gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 durchzuführenden individuellen Prüfung (zweite Frage)

    60.      Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen vom Gerichtshof wissen, ob Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er die zuständige Behörde verpflichtet, bei der Feststellung, ob diskriminierende Maßnahmen, denen eine Antragstellerin in ihrem Herkunftsland ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie darstellen, andere Anhaltspunkte der persönlichen Situation der Antragstellerin als ihre Geschlechtszugehörigkeit berücksichtigen muss.

    61.      Insbesondere fragt sich das Gericht, ob es ausreicht, nachzuweisen, dass die Antragstellerin eine Frau ist, oder ob der Nachweis erforderlich ist, dass sie aufgrund anderer Anhaltspunkte, die sich aus ihrer persönlichen Situation ergeben, spezifisch betroffen ist.

    62.      Dieser Frage liegen zwei verschiedene Überlegungen zugrunde.

    63.      Zum einen geht sie auf die Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts zur Beurteilung von Anträgen auf internationalen Schutz zurück, die von afghanischen Mädchen und Frauen gestellt wurden, die vor dem früheren Taliban-Regime in Afghanistan geflohen waren. Nach dieser noch vor Erlass der Richtlinie 2011/95 ergangenen Rechtsprechung war die Situation dieser Mädchen und Frauen insgesamt als so gravierend einzustufen, dass die gegen sie gerichteten diskriminierenden Maßnahmen als solche Verfolgungshandlungen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention darstellten. Daher wurde einer Antragstellerin allein aufgrund ihrer Eigenschaft als Mädchen oder Frau aus Afghanistan die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach dem Sturz des Taliban-Regimes änderte das vorlegende Gericht seine Rechtsprechung und vertrat die Auffassung, dass nunmehr nur noch Mädchen und Frauen internationalen Schutz erhalten könnten, die Gefahr liefen, wegen eines „westlich orientierten Lebensstils“ verfolgt zu werden, der zu einem solch wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden sei, dass von ihnen nicht erwartet werden könne, ihn aufzugeben, um einer drohenden Verfolgung zu entgehen, wobei eine solche Beurteilung auf einer konkreten Prüfung aller Umstände des Einzelfalls beruhen müsse.

    64.      Zum anderen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die vom Taliban-Regime ergriffenen Maßnahmen zwar Mädchen und Frauen insgesamt erfassten, es aber im Einzelfall sein könne, dass ein Mädchen oder eine Frau einer oder mehreren dieser Maßnahmen nicht konkret ausgesetzt sei, so dass die diskriminierenden Maßnahmen, denen sie ausgesetzt sei, nicht durch ihre kumulative Wirkung eine mit der in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 vergleichbare Erheblichkeit erreichen würden.

    65.      Art. 4 der Richtlinie 2011/95 legt die Regeln für die Prüfung der Tatsachen und Umstände fest, die der Prüfung des Erfordernisses an internationalem Schutz zugrunde liegen. Der Gerichtshof hat entschieden, dass dieser Artikel für alle Anträge auf internationalen Schutz unabhängig von den Verfolgungsgründen, auf die diese Anträge gestützt werden, gilt(44).

    66.      Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 verpflichtet die zuständige Behörde, eine individuelle Prüfung des Antrags vorzunehmen. Diese Prüfung soll es der Behörde ermöglichen, die Person zu bestimmen, die tatsächlich internationalen Schutz benötigt, und ihre Glaubwürdigkeit zu bewerten(45). Im Rahmen dieser Prüfung muss sie gemäß Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie „die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, [berücksichtigen], um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung … gleichzusetzen sind“(46). Der Unionsgesetzgeber legt keine besonderen Regeln für das Gewicht oder die Bedeutung fest, die den Anhaltspunkten im Rahmen der individuellen Lage oder der individuellen Umstände des Antragstellers beizumessen ist.

    67.      Indem der Unionsgesetzgeber in Art. 4 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 verlangt, dass die zuständige Behörde eine angemessene und vollständige Prüfung des Antrags vornimmt(47), räumt er dieser Behörde einen ausreichenden Entscheidungsspielraum ein, um im Einzelfall und unter Berücksichtigung aller ihr zur Verfügung stehenden Informationen die relevanten Anhaltspunkte des Antrags für die Prüfung, ob der Antragsteller internationalen Schutz benötigt, zu bestimmen. Diese Behörde ist nämlich am ehesten in der Lage, die zu berücksichtigenden Anhaltspunkte im Hinblick auf die dem Antrag zugrunde liegenden Tatsachen und Umstände zu bestimmen(48).

    68.      Der Gerichtshof hat das Vorliegen eines solchen Entscheidungsspielraums in seiner Rechtsprechung anerkannt.

    69.      So hat der Gerichtshof in den Urteilen A u. a.(49)vom 2. Dezember 2014 und F(50)vom 25. Januar 2018, in denen es um die Furcht vor Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung ging, entschieden, dass Art. 4 der Richtlinie 2011/95 zwar für alle Anträge auf internationalen Schutz unabhängig von den Verfolgungsgründen, auf die diese Anträge gestützt werden, gilt, doch die zuständigen Behörden unter Wahrung der in der Charta garantierten Rechte die Art und Weise, in der sie die Aussagen und Unterlagen oder sonstigen Beweise prüfen, den besonderen Merkmalen der jeweiligen Kategorie von Anträgen auf internationalen Schutz anpassen müssen(51). Der Gerichtshof hat daher nicht ausgeschlossen, dass sich bestimmte Arten von Gutachten als im Zuge der Prüfung der Tatsachen und Umstände nützlich erweisen, sofern sie unter Wahrung der Grundrechte des Antragstellers auf internationalen Schutz erstellt werden(52).

    70.      Darüber hinaus hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji(53), in dem es um die Furcht vor einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ging, anerkannt, dass das Vorliegen einer solchen Bedrohung ausnahmsweise als gegeben angesehen werden kann, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden ein so hohes Niveau erreicht, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein, und zwar, ohne dass sie beweisen muss, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist(54).

    71.      Daraus folgt, dass schon das Erfordernis einer individuellen Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz voraussetzt, dass die zuständige Behörde die Art und Weise, in der sie die Tatsachen und Beweise prüft, den Besonderheiten des jeweiligen Antrags anpasst.

    72.      Die von afghanischen Mädchen und Frauen gestellten Anträge auf internationalen Schutz weisen meiner Meinung nach solche Besonderheiten auf, die es den zuständigen Behörden erlauben, die Art und Weise der Prüfung dieser Anträge anzupassen.

    73.      Die diskriminierenden Maßnahmen, denen afghanische Mädchen und Frauen ausgesetzt sein können, sind nämlich Teil eines Systems der Ausgrenzung und Unterdrückung, das allein aufgrund ihrer Anwesenheit im Land ohne Rücksicht auf ihre Identität oder persönliche Situation gegen sie angewandt wird(55). Zwar ist es möglich, dass eine Antragstellerin aufgrund besonderer Umstände von einer oder mehreren der fraglichen Maßnahmen nicht betroffen ist, doch ist sie weiterhin Einschränkungen und Entbehrungen ausgesetzt, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit betrachtet die in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 geforderte Erheblichkeit erreichen. Das dortige System, wie umfassend dokumentiert ist, wird im Übrigen so beschrieben, dass es keinem anderen System gleicht(56). Sowohl die Berichte der EUAA, der Organe des Europarats und der Vereinten Nationen als auch die Berichte internationaler Nichtregierungsorganisationen belegen, dass die Behandlung von Mädchen und Frauen in Afghanistan ein allgemeines Bedürfnis nach internationalem Schutz für die Antragstellerinnen schafft.

    74.      Unter solchen Umständen spricht meines Erachtens nichts dagegen, dass eine zuständige Behörde angesichts der Gesamtheit der ihr zur Verfügung stehenden Informationen zu der Auffassung gelangt, dass es nicht notwendig sei, nachzuweisen, dass die Antragstellerin aufgrund anderer Unterscheidungsmerkmale als ihres Geschlechts betroffen sei.

    75.      In diesem Sinne urteilt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. In Fällen, in denen der Antragsteller nachweislich einer Gruppe angehört, die in seinem Herkunftsland systematisch verfolgt wird, und in denen die allgemeine Gewaltsituation in diesem Land ihn allein aufgrund seiner Rückkehr dem Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Widerspruch zu Art. 3 EMRK aussetzen würde, erleichtert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Anforderung, dass der Antragsteller in der Lage sein muss, ein tatsächliches Risiko einer Misshandlung aufgrund besonderer Umstände oder Merkmale nachzuweisen(57).

    76.      Eine solche Art und Weise der Prüfung scheint mir auch in den Entscheidungsspielraum zu fallen, den der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten in Art. 3 der Richtlinie 2011/95 einräumt. Danach können die Mitgliedstaaten insbesondere bei der Entscheidung darüber, wer als Flüchtling gilt, günstigere Normen erlassen oder beibehalten, sofern sie mit der Richtlinie vereinbar sind. Wie der Gerichtshof im Urteil vom 9. November 2021, Bundesrepublik Deutschland (Wahrung des Familienverbands)(58), festgestellt hat, können diese Normen z. B. die Lockerung der Voraussetzungen vorsehen, unter denen die Flüchtlingseigenschaft erworben werden kann, und dürfen die allgemeine Systematik oder die Ziele der Richtlinie nicht gefährden(59).

    77.      Meines Erachtens kann eine solche Art und Weise der Prüfung nicht die allgemeine Systematik und den Zweck der Richtlinie 2011/95 beeinträchtigen, wenn die Flüchtlingseigenschaft nach einer angemessenen und umfassenden Prüfung, ob die Antragstellerin internationalen Schutz benötigt, im Einklang mit den in den Kapiteln II und III der Richtlinie festgelegten Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gewährt wird.

    78.      In Anbetracht dieser Erwägungen bin ich der Ansicht, dass Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er die zuständigen nationalen Behörden nicht daran hindert, im Rahmen der für die individuelle Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Prüfung der individuellen Lage und der persönlichen Umstände der Antragstellerin zu dem Schluss zu gelangen, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung aufgrund des Geschlechts besteht, ohne dass sie nach weiteren sich aus der persönlichen Situation der Antragstellerin ergebenden Anhaltspunkten suchen müssen.

    V.      Ergebnis

    79.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

    1.      Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

    ist dahin auszulegen, dass

    unter den Begriff „Verfolgungshandlungen“ eine Kumulierung diskriminierender Handlungen und Maßnahmen fällt, die in einem Land gegen Mädchen und Frauen ergriffen werden und die u. a. ihren Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, die Ausübung einer Erwerbstätigkeit, die Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben und ihre Bewegungs- und Sportausübungsfreiheit einschränken oder sogar verbieten, die ihnen den Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt vorenthalten und ihnen vorschreiben, ihren Körper und ihr Gesicht vollständig zu bedecken; denn diese Handlungen und Maßnahmen führen durch ihre kumulative Wirkung dazu, dass diesen Mädchen und Frauen ihre grundlegendsten Rechte in einem Leben in der Gesellschaft vorenthalten werden, und somit die in Art. 2 EUV und Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Menschenwürde nicht uneingeschränkt geachtet wird.

    2.      Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2011/95

    ist dahin auszulegen, dass

    er die zuständigen nationalen Behörden nicht daran hindert, im Rahmen der für die individuelle Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Prüfung der individuellen Lage und der persönlichen Umstände der Antragstellerin zu dem Schluss zu gelangen, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung aufgrund des Geschlechts besteht, ohne dass sie nach weiteren sich aus der persönlichen Situation der Antragstellerin ergebenden Anhaltspunkten suchen müssen.


    1      Originalsprache: Französisch.


    2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).


    3      C‑71/11 und C‑99/11, im Folgenden: Urteil Y und Z, EU:C:2012:518. Dieses Urteil bezieht sich auf die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz, der sich auf die Gefahr der Verfolgung aufgrund der Religion des Antragstellers stützt. Vgl. auch Urteil vom 4. Oktober 2018, Fathi (C‑56/17, EU:C:2018:803).


    4      C‑199/12 bis C‑201/12, EU:C:2013:720. Dieses Urteil bezieht sich auf die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz, der sich auf die Gefahr der Verfolgung aufgrund der Homosexualität des Antragstellers stützt.


    5      Richtlinie des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12).


    6      Vgl. Pressemitteilungen des Migrationsverkets (Migrationsamt, Schweden) vom 7. Dezember 2022 mit den Titeln „Women from Afghanistan to be granted asylum in Sweden“ und „Being a woman from Afghanistan is enough to get protection“.


    7      Vgl. Pressemitteilung des Flygtningenævnet (Flüchtlingsausschuss, Dänemark) vom 30. Januar 2023, abrufbar unter folgender Internetadresse: Flygtningenævnet giver asyl til kvinder og piger fra Afghanistan – Fln.


    8      Vgl. Pressemitteilung des Maahanmuuttovirasto (Staatliche Einwanderungsbehörde, Finnland) vom 15. Februar 2023 mit dem Titel „Refugee Status to Afghan Women and Girls“.


    9      Richtlinie des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (ABl. 2001, L 212, S. 12). Vgl. im Anschluss an die Erklärung des Hohen Vertreters der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsidenten der Kommission, Josep Borrell, vom 19. August 2021 die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. September 2021 zur Lage in Afghanistan (2021/2877[RSP], Nr. 41).


    10      Vgl. EUAA, Country guidance: Afghanistan, Januar 2023, insbesondere Punkt 3.15 (S. 23) und S. 86 ff.


    11      Vgl. UNHCR, Statement on the concept of persecution on cumulative grounds in light of the current situation for women and girls in Afghanistan, issued in the context of the preliminary ruling reference to the Court of Justice of the European Union in the cases of AH and FN v. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (C608/22 and C609/22), Nr. 5.1.11.


    12      Im Folgenden: Charta.


    13      Unterzeichnet in Rom am 4. November 1950, im Folgenden: EMRK.


    14      Das Abkommen wurde am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnet (United Nations Treaty Series, Bd. 189, Nr. 2545 [1954], S. 150) und trat am 22. April 1954 in Kraft.


    15      Das Protokoll wurde am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossen und trat am 4. Oktober 1967 in Kraft.


    16      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).


    17      Siehe Fn. 10 der vorliegenden Schlussanträge.


    18      Ich beziehe mich auf meine Schlussanträge in der Rechtssache Intervyuirasht organ na DAB pri MS (Frauen als Opfer häuslicher Gewalt) (C‑621/21, EU:C:2023:314, Fn. 17).


    19      Vgl. Rn. 68 des Urteils. Hervorhebung nur hier.


    20      Ich denke nicht, dass die Verwendung der Konjunktion „oder“ in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 einer solchen Auslegung entgegensteht.


    21      In der Konvention wird der Begriff „Verfolgungshandlungen“ nicht definiert. Lediglich in Art. 1 Abschnitt A Nr. 2 Satz 1 heißt es, dass der Ausdruck „Flüchtling“ auf jede Person Anwendung findet, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“ (Hervorhebung nur hier).


    22      Vgl. in Bezug auf die Richtlinie 2004/83 die Kommentare der Kommission zu Art. 11 „Art der Verfolgung“ (jetzt Art. 9 der Richtlinie 2004/83) in dem am 12. September 2001 vorgelegten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen (KOM[2001] 510 endgültig).


    23      Vgl. Urteil Y und Z (Rn. 57).


    24      Diese Rechte sind in den Art. 2 und 3, Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 EMRK bzw. in den Art. 2 und 4, Art. 5 Abs. 1 und Art. 49 der Charta verankert.


    25      Gemeinsamer Standpunkt vom 4. März 1996 – vom Rat aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union festgelegt – betreffend die harmonisierte Anwendung der Definition des Begriffs „Flüchtling“ in Artikel 1 des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (ABl. 1996, L 63, S. 2).


    26      Vgl. Nr. 4 des Gemeinsamen Standpunkts. Ich weise darauf hin, dass der Unionsgesetzgeber im Jahr 2001 im Rahmen der Arbeiten des Rates an dem Vorschlag für die in Fn. 22 der vorliegenden Schlussanträge genannte Richtlinie auf die grundlegenden Menschenrechte Bezug nahm und zunächst „Leben, Freiheit oder … körperliche Unversehrtheit“ hervorhob, bevor er aufgrund der von einigen Mitgliedstaaten geäußerten Vorbehalte auf die Rechte abstellte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK nicht abgewichen werden darf (vgl. Dokumente auf der Website des Rates unter den Referenznummern 13620/01, 11356/02, 12620/02 und 13648/02).


    27      Vgl. Urteil Y und Z (Rn. 57).


    28      Vgl. Urteil Y und Z (Rn. 58).


    29      Vgl. Urteile vom 7. November 2013, X u. a. (C‑199/12 bis C‑201/12, EU:C:2013:720, Rn. 53), sowie vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl) (C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).


    30      Vgl. Urteil vom 4. Oktober 2018, Fathi (C‑56/17, EU:C:2018:803, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).


    31      Vgl. Urteil Y und Z, in dem der Gerichtshof beispielsweise festgestellt hat, dass „Handlungen, die gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Ausübung des Grundrechts auf Religionsfreiheit im Sinne von Art. 10 Abs. 1 der Charta darstellen, ohne deswegen dieses Recht zu verletzen, von vornherein ausgeschlossen [sind], da sie durch Art. 52 Abs. 1 der Charta gedeckt sind“ (Rn. 60).


    32      Vgl. Urteil Y und Z, in dem der Gerichtshof klargestellt hat, dass „Handlungen, die zwar gegen das in Art. 10 Abs. 1 der Charta anerkannte Recht verstoßen, aber nicht so gravierend sind, dass sie einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, … ebenfalls nicht als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie und Art. 1A der Genfer Konvention gelten [können]“ (Rn. 61, Hervorhebung nur hier).


    33      Vgl. insoweit Urteil Y und Z, in dem der Gerichtshof klargestellt hat, dass bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen ist, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der Repressionen, denen der Betroffene ausgesetzt ist, und deren Folgen (Rn. 65 und 66).


    34      C‑56/17, EU:C:2018:803.


    35      Vgl. Urteile Y und Z (Rn. 67) sowie, vom 4. Oktober 2018, Fathi (C‑56/17, EU:C:2018:803, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung).


    36      Vgl. insoweit EUAA, Qualification for International Protection, Judicial analysis, 2. Aufl., Januar 2023 (insbesondere Nr. 1.4.3, die sich auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 bezieht).


    37      Vgl. insoweit die in Fn. 36 der vorliegenden Schlussanträge angeführte rechtliche Analyse, in der die EUAA feststellt, dass „eine weniger günstige Behandlung, die sich aus der unterschiedlichen Behandlung verschiedener Gruppen ergibt, nicht per se eine Verfolgung darstellt. Eine diskriminierende Gesetzgebung oder eine diskriminierende Rechtsanwendung kann nur dann als Verfolgung angesehen werden, wenn sehr schwerwiegende erschwerende Umstände vorliegen, wie z. B. ernsthaft nachteilige Folgen für den Antragsteller“. Die EUAA ist der Ansicht, dass „ernsthafte Einschränkungen des Rechts, einen Beruf auszuüben, seine Religion zu praktizieren oder Zugang zu Bildungseinrichtungen zu haben – je nach den Umständen –, entweder für sich genommen oder durch ihre kumulative Wirkung mit anderen Einschränkungen einer Verfolgung gleichkommen können, wenn sie den Einzelnen in einer mit einer schwerwiegenden Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 vergleichbaren Weise betreffen. In diesem Zusammenhang sind alle individuellen Umstände zu berücksichtigen und insbesondere die Auswirkungen einer Kumulierung diskriminierender Handlungen und/oder Maßnahmen auf die Lebensbedingungen des Betroffenen“ (freie Übersetzung) (Nr. 1.4.4.3).


    38      Vgl. UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß [der Genfer Flüchtlingskonvention],  Februar 2019 (Nrn. 53 bis 55).


    39      Vgl. UNHCR, Handbuch und Richtlinien über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß [der Genfer Flüchtlingskonvention],  Dezember 2011 (Nrn. 53 bis 55), sowie UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Geschlechtsspezifische Verfolgung im Zusammenhang mit Artikel 1A (2) [der Genfer Flüchtlingskonvention], 8. Juli 2008 (Nr. 14).


    40      Im Urteil Y und Z hat der Gerichtshof entschieden, dass es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83 handeln kann, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u. a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (Rn. 67). Vgl. auch Urteil vom 4. Oktober 2018, Fathi (C‑56/17, EU:C:2018:803, Rn. 95).


    41      Nach Ansicht des Gerichtshofs wird die in Art. 4 der Charta genannte besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit in Situationen erreicht, die durch eine extreme materielle Not des Betroffenen gekennzeichnet sind, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Entwürdigung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Der Gerichtshof hat sich im Urteil vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 92), auf das Urteil des EGMR vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609, §§ 252 bis 263) bezogen.


    42      Vgl. insoweit Urteil des EGMR vom 9. Juni 2009, Opuz/Türkei (CE:ECHR:2009:0609JUD003340102, § 176).


    43      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bot in den verbundenen Rechtssachen Y und Z (C‑71/11 und C‑99/11, EU:C:2012:224, Nr. 56).


    44      Vgl. Urteil vom 25. Januar 2018, F (C‑473/16, EU:C:2018:36, Rn. 36).


    45      Vgl. zwölfter Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95. Vgl. auch Urteile vom 30. Januar 2014, Diakité (C‑285/12, EU:C:2014:39, Rn. 33), vom 18. Dezember 2014, M’Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 37), vom 25. Januar 2018, F (C‑473/16, EU:C:2018:36, Rn. 34), und vom 10. Juni 2021, Bundesrepublik Deutschland (Begriff „ernsthafte individuelle Bedrohung“) (C‑901/19, EU:C:2021:472, Rn. 44). Ich weise darauf hin, dass die Berücksichtigung der persönlichen Situation des Antragstellers die zuständige Behörde darüber hinaus in die Lage versetzen soll, zu beurteilen, ob ein Antragsteller besondere Verfahrensgarantien gemäß Art. 24 der Richtlinie 2013/32 benötigt, und die Vorteile zu ermitteln, die Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz gemäß Art. 20 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/95 gewährt werden müssen.


    46      Hervorhebung nur hier. Vgl. insoweit EUAA, Evidence and Credibility Assessment in the Context of the Common European Asylum System, Judicial Analysis, 2018; darin stellt die EUAA fest, dass die kombinierte Wirkung diskriminierender Maßnahmen im Licht der persönlichen Situation des Antragstellers unter Berücksichtigung aller Handlungen, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, zu beurteilen ist (Nr. 4.3.1, S. 67).


    47      Vgl. Erwägungsgründe 18 und 20 der Richtlinie 2013/32.


    48      So ergibt sich aus Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32, dass die zuständige Behörde, wenn sie es für die Prüfung eines Antrags gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95 für erforderlich hält, vorbehaltlich der Zustimmung des Antragstellers eine medizinische Untersuchung des Antragstellers im Hinblick auf Anzeichen auf eine in der Vergangenheit erlittene Verfolgung oder einen in der Vergangenheit erlittenen ernsthaften Schaden veranlassen kann.


    49      C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2406.


    50      C‑473/16, EU:C:2018:36.


    51      Vgl. Urteile vom 2. Dezember 2014, A u. a. (C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2406, Rn. 54), und vom 25. Januar 2018, F (C‑473/16, EU:C:2018:36, Rn. 36).


    52      Vgl. Urteil vom 25. Januar 2018, F (C‑473/16, EU:C:2018:36, Rn. 37). Die verwendeten Methoden müssen im Einklang mit den Bestimmungen der Richtlinien 2011/95 und 2013/32 sowie – entsprechend den Erwägungsgründen 16 bzw. 60 dieser Richtlinien – mit den in der Charta garantierten Grundrechten wie dem in Art. 1 der Charta verankerten Recht auf Wahrung der Würde des Menschen und dem in Art. 7 der Charta garantierten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens stehen. Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Dezember 2014, A u. a. (C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2406, Rn. 53).


    53      C‑465/07, EU:C:2009:94.


    54      Vgl. Urteile vom 17. Februar 2009, Elgafaji (C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 43), und vom 10. Juni 2021, Bundesrepublik Deutschland (Begriff „ernsthafte individuelle Bedrohung“) (C‑901/19, EU:C:2021:472, Rn. 27).


    55      Diese Ansicht vertritt auch der UNHCR in seiner im Zusammenhang mit den hier vorliegenden Rückführungen abgegebenen Erklärung: „Während bei einigen mit der Geschlechtszugehörigkeit zusammenhängenden Anträgen die Antragsteller aufgrund besonderer Umstände ein Verfolgungsrisiko eingehen – z. B. Bestrafung wegen Übertretung der gesellschaftlichen Sitten; häusliche Gewalt –, gehen andere ein solches Risiko aufgrund der allgemeinen Situation der geschlechtsspezifischen Diskriminierung und Gewalt in einem Land ein“ (freie Übersetzung) (Nr. 5.2.4).


    56      Vgl. Menschenrechtsrat, Situation of human rights in Afghanistan – Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Afghanistan, 9. September 2022: „In keinem anderen Land sind Frauen und Mädchen so schnell aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens verschwunden und werden in allen Aspekten ihres Lebens so stark benachteiligt“ (freie Übersetzung) (Nr. 21).


    57      Vgl. z. B. Urteil des EGMR vom 25. Februar 2020, A.S.N. u. a./Niederlande (CE:ECHR:2020:0225JUD006837717, § 107 und die dort angeführte Rechtsprechung).


    58      C‑91/20, EU:C:2021:898.


    59      Vgl. Rn. 39 und 40 des Urteils sowie die dort angeführte Rechtsprechung. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass insbesondere Normen verboten sind, die Drittstaatsangehörigen die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen sollen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen (Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

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