Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62022CC0432

    Schlussanträge des Generalanwalts P. Pikamäe vom 14. Dezember 2023.


    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:997

    Vorläufige Fassung

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    PRIIT PIKAMÄE

    vom 14. Dezember 2023(1)

    Rechtssache C432/22

    PT,

    Beteiligte:

    Spetsializirana Prokuratura

    (Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski gradski sad [Stadtgericht Sofia, Bulgarien])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Organisierte Kriminalität – Rahmenbeschluss 2008/841/JI – Rahmenbeschluss 2004/757/JI – Drogenhandel – Vereinbarung zwischen dem Staatsanwalt und dem Täter einer Straftat über die Verhängung einer ausgehandelten Strafe – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Richterliche Genehmigung der Vereinbarung – Voraussetzungen – Bestimmung eines Ad-hoc-Spruchkörpers – Zustimmung der übrigen Beschuldigten“






    1.        Die einem Angeklagten offenstehende Möglichkeit, eine Herabsetzung der Anklage oder eine Milderung der Strafe unter der Voraussetzung zu erwirken, dass er sich schuldig bekennt oder vor der Verhandlung darauf verzichtet, den Sachverhalt zu bestreiten, oder dass er uneingeschränkt mit den Ermittlungsbehörden kooperiert, ist gemäß dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) mittlerweile ein gemeinsames Merkmal der Strafrechtssysteme der europäischen Staaten(2).

    2.        Der Gerichtshof hat sich seinerseits bereits in Rechtssachen geäußert, die Vereinbarungen über ein Schuldbekenntnis betrafen, aber nur insoweit, als es um bestimmte Verfahrensrechte ging, die strafrechtlich verfolgten Personen zuerkannt wurden, wie das Recht auf Unschuldsvermutung nach der Richtlinie (EU) 2016/343(3) oder das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf nach der Richtlinie 2012/13/EU(4).

    3.        Die vorliegende Rechtssache wirft die Frage auf, ob mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) eine nationale Regelung vereinbar ist, nach der für die gerichtliche Genehmigung einer Vereinbarung, bei der sich einer der Beschuldigten schuldig bekennt, die ihm zur Last gelegten Straftaten begangen zu haben, und im Gegenzug hierfür eine Strafmilderung erhält, zum einen die Zuständigkeit einem anderen als dem ursprünglich mit dem Strafverfahren befassten Gericht zugewiesen wird und zum anderen diese Genehmigung nur unter der Voraussetzung erteilt wird, dass alle übrigen Beschuldigten, die ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht anerkannt haben, dem Abschluss dieser Vereinbarung zugestimmt haben.

     Rechtlicher Rahmen

     Unionsrecht

    4.        Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV relevant.

     Bulgarisches Recht

    5.        Art. 381 („Verständigung in der vorgerichtlichen Phase“) des Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK)(5) bestimmt:

    „(1)      Nach Abschluss der Ermittlungen kann auf Vorschlag des Staatsanwalts oder des Verteidigers zwischen ihnen eine Vereinbarung geschlossen werden, um den Fall beizulegen.

    (4)      In der Vereinbarung kann die Strafe unter den in Art. 55 NK genannten Voraussetzungen selbst dann festgesetzt werden, wenn keine außergewöhnlichen oder zahlreichen mildernden Umstände vorliegen.

    (5)      Die Vereinbarung bedarf der Schriftform und muss einen Konsens in Bezug auf die folgenden Fragen enthalten:

    1.      Wurde eine Tat begangen, wurde sie vom Beschuldigten begangen und wurde sie schuldhaft begangen, stellt die Tat eine Straftat dar und wie ist sie rechtlich einzuordnen?

    2.      Welcher Art muss die Strafe sein und wie hoch muss sie sein?

    (6)      Die Vereinbarung wird vom Staatsanwalt und vom Verteidiger unterzeichnet. Der Beschuldigte unterzeichnet die Vereinbarung, wenn er ihr zustimmt, nachdem er erklärt hat, dass er auf eine Entscheidung seiner Sache im ordentlichen Verfahren verzichtet.

    (7)      Wird das Verfahren gegen mehrere Personen oder wegen mehrerer Straftaten geführt, kann die Vereinbarung von einigen dieser Personen oder in Bezug auf einige dieser Straftaten geschlossen werden.

    …“

    6.        In Art. 382 („Entscheidung des Gerichts über die Vereinbarung“) NPK heißt es:

    „(1)      Die Vereinbarung wird von dem Staatsanwalt, unmittelbar nach ihrem Zustandekommen, gleichzeitig mit der Anklage beim erstinstanzlich zuständigen Gericht eingereicht.

    (5)      Das Gericht kann Änderungen der Vereinbarung vorschlagen, die mit dem Staatsanwalt und dem Verteidiger erörtert werden. Zuletzt wird der Beschuldigte angehört.

    (7)      Das Gericht genehmigt die Vereinbarung, soweit sie nicht gegen das Gesetz und die guten Sitten verstößt.

    …“

    7.        Art. 384 („Vereinbarung über die Beilegung der Sache im Rahmen eines Gerichtsverfahrens“) NPK bestimmt:

    „(1)      Unter den Voraussetzungen und gemäß den Modalitäten dieses Kapitels kann das erstinstanzliche Gericht eine Vereinbarung über die Beilegung der Sache nach Einleitung des Gerichtsverfahrens, aber vor Abschluss der gerichtlichen Untersuchungsphase genehmigen.

    (3)      In diesem Fall wird die Verständigung über die Strafe nur genehmigt, nachdem alle Beteiligten [des Verfahrens] zugestimmt haben.“

    8.        Art. 384a („Entscheidung über eine Vereinbarung mit einem der Angeklagten oder in Bezug auf eine der Straftaten“) NPK sieht vor:

    „(1)      Wurde nach Eröffnung des Gerichtsverfahrens, aber vor Abschluss der gerichtlichen Untersuchungsphase eine Vereinbarung mit einem der Angeklagten oder in Bezug auf eine der Straftaten geschlossen, setzt das Gericht das Verfahren aus.

    (2)      Ein anderer Spruchkörper entscheidet innerhalb von sieben Tagen nach Eingang der Sache über die getroffene Vereinbarung.

    (3)      Der Spruchkörper nach Absatz 1 setzt die Prüfung der Sache fort, nachdem über die Vereinbarung entschieden worden ist.“

     Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    9.        Am 25. März 2020 erhob die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft, Bulgarien) beim Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) gegen 41 Personen, darunter SD und PT, Anklage wegen Führung einer und/oder Beteiligung an einer organisierten kriminellen Vereinigung, die sich in Bereicherungsabsicht das Ziel gesetzt hatte, Drogen zu verteilen. PT wird der Beteiligung an dieser kriminellen Vereinigung sowie des Besitzes von Suchtstoffen zum Zweck des Verteilens beschuldigt.

    10.      In der vorgerichtlichen Phase des Verfahrens schlossen der Staatsanwalt und der Verteidiger von SD am 26. August 2020 eine Vereinbarung, wonach sich Letzterer in Bezug auf alle gegen ihn erhobenen Anschuldigungen schuldig bekannte und eine geringere als die gesetzlich vorgesehene Strafe gegen ihn verhängt werden sollte. In dieser Vereinbarung waren die Namen und die nationale Identifikationsnummer der übrigen Beschuldigten angegeben. Die Zustimmung dieser Personen wurde nicht eingeholt, und am 1. September 2020 genehmigte ein anderer Spruchkörper diese Vereinbarung.

    11.      Am 17. November 2020 schlossen der Staatsanwalt und der Verteidiger von PT in der gerichtlichen Phase des Verfahrens eine Vereinbarung, in der sich der Betroffene in Bezug auf alle ihn betreffenden Anschuldigungen schuldig bekannte und eine Freiheitsstrafe auf Bewährung zur Ahndung der begangenen Straftaten festgesetzt wurde (im Folgenden: Vereinbarung vom 17. November 2020). Um dem Urteil vom 5. September 2019, AH u. a. (Unschuldsvermutung) (C‑377/18, EU:C:2019:670), Rechnung zu tragen, wurde diese Vereinbarung in der Weise geändert, dass die Namen und die nationale Identifikationsnummer der übrigen Beschuldigten weggelassen wurden.

    12.      In einer mündlichen Verhandlung vom 14. Januar 2021 holte das vorlegende Gericht die Stellungnahmen der übrigen Beschuldigten ein, von denen einige der Genehmigung der Vereinbarung vom 17. November 2020 ihre Zustimmung verweigerten. Gemäß Art. 384a NPK übermittelte dieses Gericht diese Vereinbarung am 18. Januar 2021 seinem Präsidenten, damit dieser einen anderen Spruchkörper zur Entscheidung über diese Vereinbarung bestimmen möge. Am 21. Januar 2021 lehnte dieser Spruchkörper die Genehmigung der Vereinbarung vom 17. November 2020 mit der Begründung ab, dass einige Beschuldigte ihre Zustimmung hierzu verweigert hätten.

    13.      Am 10. Mai 2022 stellten der Staatsanwalt und der Verteidiger von PT auf der Grundlage des Urteils vom 29. Juli 2019, Gambino und Hyka (C‑38/18, EU:C:2019:628), bei dem mit dem Fall befassten Spruchkörper den Antrag, über diese Vereinbarung zu entscheiden, ohne die Zustimmung der anderen Beschuldigten einzuholen. Am 11. Mai 2022 wurde dieser Spruchkörper jedoch im Rahmen einer Zufallszuweisung im Hinblick auf die Bestimmung des Spruchkörpers nach Art. 384a NPK als Spruchkörper für die Entscheidung über diese Vereinbarung ausgeschlossen.

    14.      Am 18. Mai 2022 prüfte der nach dieser Vorschrift bestimmte Spruchkörper die Vereinbarung vom 17. November 2020 und verweigerte die Genehmigung mit der Begründung, dass diese Genehmigung der Zustimmung der übrigen 39 Beschuldigten bedürfe. Infolge dieser Weigerung beantragten der Staatsanwalt, PT und sein Verteidiger am selben Tag erneut bei dem Spruchkörper, vor dem alle Beweise erhoben worden waren, die Genehmigung dieser Vereinbarung, ohne die Zustimmung der übrigen Beschuldigten einzuholen. Der Staatsanwalt äußerte jedoch Zweifel an dessen Unparteilichkeit im fortgesetzten Verfahren gegen die übrigen Personen, falls er die mit PT geschlossene Vereinbarung genehmigen sollte. PT wiederum ist der Ansicht, dass es eine Verletzung seiner Rechte aus der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) darstelle, wenn es ihm unmöglich sei, eine Vereinbarung zu schließen.

    15.      In seinem Vorabentscheidungsersuchen führt das vorlegende Gericht aus, dass eine Antwort auf die Vorlagefragen erforderlich sei, damit es in der Sache über die bei ihm anhängige Rechtssache entscheiden könne, da diese Rechtssache Straftaten betreffe, die in den Anwendungsbereich der Rahmenbeschlüsse 2004/757/JI(6) und 2008/841/JI(7) und damit in die „vom Unionsrecht erfassten Bereiche“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV fielen. Die im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten für den Abschluss einer Vereinbarung zwischen dem Staatsanwalt und einem Beschuldigten stellten eine „Durchführung“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta, Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004/757 und Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841 dar.

    16.      Das vorlegende Gericht fragt sich zum einen, ob Art. 384a NPK mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta vereinbar ist. Seiner Ansicht nach würde es gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit des Strafverfahrens und das Recht auf einen wirksamen Rechtsschutz verstoßen, die Verteidigung in eine Situation zu versetzen, in der die Beweise vor einem Spruchkörper erhoben würden, es aber Sache eines anderen Spruchkörpers sei, über diese zu entscheiden.

    17.      Zum anderen fragt sich das vorlegende Gericht nicht nur, ob Art. 384 Abs. 3 NPK, der für die Genehmigung einer solchen Vereinbarung die Zustimmung der anderen Beschuldigten im Rahmen desselben Strafverfahrens verlangt, mit Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004/757 und Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841 vereinbar ist, sondern auch, ob er mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 52 der Charta in Verbindung mit deren Art. 47 vereinbar ist. Dieses Erfordernis der Zustimmung führe nämlich zu einer Beschränkung des Zugangs zu einem Rechtsbehelf im Sinne der letztgenannten Vorschrift, ohne dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werde, wie es Art. 52 der Charta verlange.

    18.      Schließlich fragt sich das vorlegende Gericht, ob es sich in dem Fall, dass es selbst die Vereinbarung zwischen dem Staatsanwalt und PT genehmige, in Anbetracht des Beschlusses vom 28. Mai 2020, UL und VM (C‑709/18, EU:C:2020:411, Rn. 35), anschließend in dieser Rechtssache für unzuständig erklären müsse, um den anderen vor ihm Beschuldigten ihr in Art. 47 Abs. 2 der Charta vorgesehenes Recht auf einen unparteiischen Richter zu gewährleisten.

    19.      Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.      Wenn es sich um ein Strafverfahren handelt, das die Anklage wegen Taten betrifft, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, ist dann mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta ein nationales Gesetz vereinbar, das die Anforderung aufstellt, dass nicht das mit dem Fall befasste Gericht, vor dem alle Beweise erhoben worden sind, sondern ein anderes Gericht eine zwischen dem Staatsanwalt und einem Angeklagten abgeschlossene Vereinbarung inhaltlich zu prüfen hat, wenn der Grund für diese Anforderung darin besteht, dass es andere Mitangeklagte gibt, die keine Vereinbarung abgeschlossen haben?

    2.      Ist mit Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004/757, Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 52 in Verbindung mit Art. 47 der Charta ein nationales Gesetz vereinbar, wonach eine das Strafverfahren beendende Vereinbarung nur dann genehmigt wird, wenn alle anderen Mitangeklagten und deren Verteidiger dieser zugestimmt haben?

    3.       Ist es nach Art. 47 Abs. 2 der Charta erforderlich, dass ein Gericht, nachdem es eine Vereinbarung geprüft und genehmigt hat, die Prüfung des Tatvorwurfs gegen die anderen Mitangeklagten ablehnt, sofern es über diese Vereinbarung in einer Weise entschieden hat, die weder eine Aussage über deren Beteiligung trifft, noch einen Schuldausspruch ihnen gegenüber darstellt?

     Verfahren vor dem Gerichtshof

    20.      Die Europäische Kommission hat schriftliche Erklärungen abgegeben.

     Würdigung

    21.      Wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass es den Gerichtshof um eine Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, der Art. 47 und 52 der Charta sowie von Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004/757 und Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841 ersuchen müsse, da es Zweifel hegt, ob die nationale Regelung, die die Voraussetzungen für die richterliche Genehmigung einer Vereinbarung zwischen dem Staatsanwalt und einer strafrechtlich verfolgten Person festlegt, mit der sich diese Person der ihr zur Last gelegten Straftaten für schuldig bekennt und daher gegen sie eine zuvor ausgehandelte Strafe verhängt wird, mit diesen Vorschriften des Unionsrechts vereinbar ist.

    22.      In ihren schriftlichen Erklärungen hat die Kommission im Wesentlichen geltend gemacht, dass Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004/757 und Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841 sowie Art. 47 der Charta nicht anwendbar seien. Außerdem genüge die Begründung der Vorlageentscheidung in Bezug auf die zweite Vorlagefrage nicht den Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. Ferner sei darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung Sache des Gerichtshofs selbst sei, die Umstände, unter denen er von dem innerstaatlichen Gericht angerufen worden sei, zu untersuchen, um seine eigene Zuständigkeit oder die Zulässigkeit des ihm vorgelegten Ersuchens zu überprüfen(8).

     Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

    23.      Nach gefestigter Rechtsprechung ist der Gerichtshof für die Beantwortung einer Vorlagefrage nicht zuständig, wenn die Vorschrift des Unionsrechts, um deren Auslegung er ersucht wird, offensichtlich nicht anwendbar ist(9). Wird eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, ist der Gerichtshof nicht zuständig, über diese zu entscheiden, und die möglicherweise angeführten Bestimmungen der Charta können als solche keine neue Zuständigkeit begründen(10).

    24.      Als Erstes ist hinsichtlich der Anwendung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung die erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen, damit für die Rechtsunterworfenen die Beachtung eines wirksamen Rechtsschutzes in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Es ist somit Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, die in diesen Bereichen eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleisten. Was den Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV betrifft, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass diese Bestimmung die „vom Unionsrecht erfassten Bereiche“ betrifft, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen(11).

    25.      Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist u. a. auf jede nationale Einrichtung anwendbar, die als Gericht über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hat. Dies trifft auf das vorlegende Gericht zu, das nämlich in seiner Eigenschaft als bulgarisches ordentliches Gericht zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts berufen sein kann und als „Gericht“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil des bulgarischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist, so dass dieses Gericht den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden muss. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass zwar die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ergeben(12).

    26.      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache für die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zuständig ist.

    27.      Als Zweites ist der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden.

    28.      Im vorliegenden Fall ist speziell zu Art. 47 der Charta, auf den sich das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen bezieht, darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht mit Strafverfahren gegen 40 Personen, darunter PT, befasst ist, weil diese Personen an einer organisierten kriminellen Vereinigung beteiligt gewesen sein sollen, die sich in Bereicherungsabsicht das Ziel gesetzt haben soll, Drogen zu verteilen, wobei der Betroffene zudem des Besitzes von Suchtstoffen zum Zweck der Verteilung beschuldigt wird.

    29.      Es steht fest, dass die oben genannten, in Art. 321 Abs. 3 Nr. 2 und Art. 354a Abs. 1 des bulgarischen Strafgesetzbuchs vorgesehenen und unter Strafe gestellten Straftaten in den Anwendungsbereich der Rahmenbeschlüsse 2004/757 und 2008/841 fallen, deren Art. 5 bzw. Art. 4 vorsehen, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen können, um sicherzustellen, dass die in diesen Rahmenbeschlüssen vorgesehenen Strafen gemildert werden können, wenn der Straftäter sich von seinen kriminellen Tätigkeiten in den von diesen Rahmenbeschlüssen erfassten Bereichen lossagt und den Verwaltungs- oder Justizbehörden Informationen liefert, die sie nicht auf andere Weise hätten erhalten können, und ihnen auf diese Weise u. a. hilft, die anderen Straftäter zu ermitteln oder vor Gericht zu bringen oder Beweise zu sammeln.

    30.      Kann aus der oben angeführten Feststellung, wie es das vorlegende Gericht tut, abgeleitet werden, dass die nationalen Verfahrensvorschriften, die die gerichtliche Genehmigung einer Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis regeln, eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellen und damit die Anwendbarkeit der Bestimmungen der Charta gegeben ist?

    31.      Diese Frage könnte verneint werden, wenn man die Argumentation im Beschluss vom 24. September 2019, Spetsializirana prokuratura (Unschuldsvermutung) (C‑467/19 PPU, EU:C:2019:776), zur Auslegung von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 entsprechend anwenden würde, wonach „die Mitgliedstaaten … es ihren Justizbehörden gestatten [können], kooperatives Verhalten von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Verurteilung zu berücksichtigen“. In dieser Entscheidung hat der Gerichtshof festgestellt, dass dieser Artikel dahin auszulegen ist, dass er nicht die Frage regelt, ob die Genehmigung durch ein Gericht einer Verständigung über die Strafe wie der im Ausgangsverfahren streitigen, die zwischen einem wegen der mutmaßlichen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung Beschuldigten und der Staatsanwaltschaft zustande kommt, von der Voraussetzung abhängig gemacht werden kann, dass die übrigen wegen Zugehörigkeit zu dieser kriminellen Vereinigung Beschuldigten dieser Vereinbarung zustimmen, und zwar ungeachtet der vorherigen Feststellung, dass diese Richtlinie auf das Ausgangsverfahren ratione personae et materiae anwendbar ist.

    32.      Im vorliegenden Fall ist erstens festzuhalten, dass die Rahmenbeschlüsse 2004/757 und 2008/841 insbesondere auf der Grundlage von Art. 31 Abs. 1 Buchst. e EU erlassen wurden, nach dem das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen die schrittweise Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich der organisierten Kriminalität, des Terrorismus und des illegalen Drogenhandels einschloss(13). Diese Rahmenbeschlüsse legen auf der Grundlage des derzeitigen Art. 83 Abs. 1 AEUV, der Art. 31 Abs. 1 EU ersetzt hat, Mindestvorschriften für das materielle Strafrecht fest.

    33.      Es ist jedoch festzustellen, dass die in Rede stehende nationale Regelung in den Bereich des Strafverfahrens fällt und dass keines der auf der Grundlage von Art. 82 Abs. 2 AEUV erlassenen Rechtsinstrumente des Unionsrechts zur Stärkung der Rechte verdächtiger oder beschuldigter Personen während des gesamten Strafverfahrens speziell die Modalitäten für den Abschluss einer Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis zwischen dem Staatsanwalt und dem Straftäter regelt. Nach gefestigter Rechtsprechung setzt der Begriff der „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 der Charta das Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen einem Unionsrechtsakt und der fraglichen nationalen Maßnahme voraus, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann(14).

    34.      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Rahmenbeschlüsse für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sind, den innerstaatlichen Stellen jedoch die Wahl der Form und der Mittel überlassen(15). Wie oben ausgeführt, stellen die Rahmenbeschlüsse 2004/757 und 2008/841 nur Instrumente der Mindestharmonisierung dar. Folglich verfügen die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Umsetzung dieser Rechtsvorschriften in ihr innerstaatliches Recht über einen großen Ermessensspielraum(16).

    35.      Drittens ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004/757 und von Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841, dass sich diese Bestimmungen darauf beschränken, die Mitgliedstaaten dazu zu ermächtigen, ihren Justizbehörden zu gestatten, bei der Festlegung der Strafe nach Anerkennung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit kooperatives Verhalten von Beschuldigten zu berücksichtigen. Diese Bestimmungen zwingen die Mitgliedstaaten nicht dazu, die Berücksichtigung kooperativen Verhaltens durch die Behörden zu gewährleisten; sie verleihen Beschuldigten kein Recht auf eine herabgesetzte Strafe, wenn sie mit den Justizbehörden kooperieren, etwa durch eine Vereinbarung mit der Staatsanwaltschaft, in der der Beschuldigte seine Schuld eingesteht(17).

    36.      Es ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Grundrechte der Union im Verhältnis zu einer nationalen Regelung unanwendbar sind, wenn die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Sachbereich keine bestimmten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den im Ausgangsverfahren fraglichen Sachverhalt schaffen(18).

    37.      Viertens ist zwar festzustellen, dass Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004/757 und Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841 Klarstellungen zu den Voraussetzungen enthalten, unter denen die Justizbehörden gegebenenfalls das kooperative Verhalten von Beschuldigten berücksichtigen können, wobei es im vorliegenden Fall um den Inhalt dieses Verhaltens geht. Diese Feststellung ist selbstverständlich nicht geeignet, die Schlussfolgerung zu entkräften, dass die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet sind, dies zu berücksichtigen. Außerdem und vor allem enthalten die oben angeführten Bestimmungen der Rahmenbeschlüsse 2004/757 und 2008/841 keine Angaben zu den Verfahrensmodalitäten für eine Berücksichtigung der Kooperation des Täters durch die Justizbehörde, ob es sich nun um die Anerkennung mildernder Umstände durch den Spruchkörper oder um das Vorliegen einer möglicherweise in verschiedenen Stadien des Verfahrens zwischen dem Staatsanwalt und dem Betroffenen geschlossenen Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis sowie um den Inhalt einer solchen Vereinbarung, den Entscheidungsprozess zur richterlichen Genehmigung im Fall mehrerer Anklagen und ihre Wirkungen handelt. Die Festlegung dieser Modalitäten ist allein Sache des nationalen Rechts(19).

    38.      Daraus folgt, dass Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004/757 und Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841 nicht die Frage regeln, ob die Genehmigung einer Verständigung über die Strafe die Zustimmung der übrigen Angeklagten und einen anderen Spruchkörper als den ursprünglich mit dem Strafverfahren befassten voraussetzt oder nicht(20). Da im Ausgangsverfahren keine Durchführung des Rechts der Union vorliegt, können die Vorschriften der Charta, auf die sich das vorlegende Gericht bezieht, keine Anwendung finden, was die Unzuständigkeit des Gerichtshofs, hierüber zu entscheiden, begründet.

    39.      Ich muss jedoch feststellen, dass es in der Rechtsprechung des Gerichtshofs Beispiele für eine weniger enge Auslegung des Begriffs „Durchführung des Rechts der Union“ gibt(21), wobei im Sinne dieser Auslegung u. a. zu prüfen ist, ob mit der fraglichen nationalen Regelung eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann(22). So könnte im Rahmen von Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004/757 in Verbindung mit Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841 in Verbindung mit den ihnen vorangehenden Bestimmungen über die Notwendigkeit, dass die Mitgliedstaaten wirksame, verhältnismäßige und abschreckende strafrechtliche Sanktionen vorsehen(23), geltend gemacht werden, dass mit der in Rede stehenden nationalen Regelung das Unionsrecht durchgeführt werden solle und in Wirklichkeit dieselben Ziele verfolgt würden wie mit diesen Beschlüssen, nämlich die Bekämpfung des illegalen Drogenhandels und der organisierten Kriminalität.

    40.      Es bleibt festzuhalten, dass die Bedeutung der Schlussfolgerung zur Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit der oben genannten Bestimmungen der Sekundärrechtsakte im vorliegenden Fall und ihre Auswirkungen in Bezug auf die Anwendbarkeit der Charta und insbesondere ihres Art. 47 relativiert werden müssen. Es ist nämlich entschieden worden, dass Art. 47 der Charta bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen ist, da Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz insbesondere im Sinne von Art. 47 der Charta gewährleistet ist(24).

     Zur Zulässigkeit der Vorlagefragen

    41.      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Fragen des vorlegenden Gerichts zur Vereinbarkeit der nationalen Regelung insbesondere ein doppeltes rechtliches Erfordernis betreffen, nämlich zum einen die Bestimmung eines Ad-hoc-Spruchkörpers, der nicht der ursprünglich mit dem Strafverfahren befasste Spruchkörper ist, zum Zweck der Genehmigung der im gerichtlichen Verfahren zwischen dem Staatsanwalt und einem der Angeklagten oder wegen einer der zur Last gelegten Straftaten geschlossenen Vereinbarung (erste und dritte Vorlagefrage(25)) und zum anderen die Einholung der Zustimmung aller Verfahrensbeteiligten und damit der Mitangeklagten zu dieser Vereinbarung als Voraussetzung für ihre richterliche Genehmigung (zweite Vorlagefrage).

    42.      In Anbetracht der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, wie sie insbesondere in konsolidierter Form aus dem Urteil Miasto Łowicz hervorgeht, ist hervorzuheben, dass das durch Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen, und wonach die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen liegt, sondern darin, dass es für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist. Bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt sich, dass die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein muss, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen. Der Gerichtshof hat daher wiederholt darauf hingewiesen, dass sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV folgt, dass das Vorabentscheidungsverfahren insbesondere voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist(26), in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Urteil des Gerichtshofs berücksichtigt werden kann. Die Aufgabe des Gerichtshofs in einem Vorabentscheidungsverfahren besteht darin, das vorlegende Gericht bei der Entscheidung des konkret bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu unterstützen. In einem solchen Verfahren muss daher ein Bezug zwischen dem fraglichen Rechtsstreit und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, bestehen, so dass diese Auslegung einem objektiven Erfordernis für die Entscheidung entspricht, die das nationale Gericht zu treffen hat(27).

    43.      Aus dem Urteil Miasto Łowicz geht hervor, dass dieser Bezug nach den drei dort genannten Zulässigkeitshypothesen unmittelbar oder mittelbar sein kann. Er ist unmittelbar, wenn das nationale Gericht das Unionsrecht, um dessen Auslegung ersucht wird, anwenden muss, um daraus die im Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung in der Sache herzuleiten (erste Hypothese). Er ist mittelbar, wenn die Vorlageentscheidung geeignet ist, dem vorlegenden Gericht eine Auslegung von Verfahrensvorschriften des Unionsrechts an die Hand zu geben, die das vorlegende Gericht für den Erlass seines Urteils anwenden muss (zweite Hypothese), oder eine Auslegung des Unionsrechts, die es ihm ermöglicht, über Verfahrensfragen des nationalen Rechts zu entscheiden, bevor es in dem bei ihm anhängigen Verfahren in der Sache entscheiden kann (im Folgenden: dritte Hypothese)(28). Im Urteil Miasto Łowicz hat der Gerichtshof nacheinander die Zulässigkeit der Vorlagefragen anhand von drei unterschiedlichen und autonomen Fallgestaltungen geprüft, die das Kriterium der Erforderlichkeit erfüllen, und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sie unzulässig sind, wobei er hinsichtlich der dritten Hypothese den Unterschied zu den Rechtssachen hervorgehoben hat, in denen das Urteil A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts)(29) ergangen ist, in denen die Auslegung im Rahmen der Vorabentscheidung, um die der Gerichtshof ersucht wurde, geeignet war, die Frage der Bestimmung des für die Sachentscheidung von Rechtsstreitigkeiten, die das Unionsrecht betrafen, zuständigen Gerichts zu beeinflussen(30).

    44.      Auf den ersten Blick könnte man davon ausgehen, dass das vorlegende Gericht mit den Vorlagefragen, die es an den Gerichtshof gerichtet hat, und der von ihm erbetenen Auslegung des Unionsrechts um Klärung einer verfahrensrechtlichen Frage des nationalen Rechts ersucht, über die es vorab zu entscheiden hat, was der dritten Hypothese entspricht. Diese Frage geht dahin, ob anstelle des vorlegenden Gerichts ein ad hoc zuständiger Spruchkörper für die Entscheidung über die Genehmigung einer Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis zwischen dem Staatsanwalt und einer vor diesem Gericht beschuldigten Person zuständig ist.

    45.      In einem kürzlich ergangenen Urteil hat der Gerichtshof allgemein darauf hingewiesen, dass Vorlagefragen, die es einem vorlegenden Gericht ermöglichen sollen, vorab über verfahrensrechtliche Schwierigkeiten zu entscheiden, etwa im Zusammenhang mit seiner eigenen Zuständigkeit für die Entscheidung einer bei ihm anhängigen Rechtssache oder auch im Zusammenhang mit den Rechtswirkungen, die einer gerichtlichen Entscheidung, die der Fortsetzung der Prüfung einer solchen Rechtssache durch dieses Gericht potenziell entgegensteht, gegebenenfalls zuzuerkennen sind, nach Art. 267 AEUV zulässig sind(31). Dieser Ansatz scheint der Verfahrensproblematik als solcher einen eigenen Stellenwert zuzuerkennen, so dass sie für sich genommen geeignet wäre, das Kriterium der Erforderlichkeit nach Art. 267 AEUV zu erfüllen. Zwar hat der Gerichtshof eindeutig und ausschließlich auf zwei Sonderfälle Bezug genommen, doch scheint es beim ersten um die Frage zu gehen, ob das vorlegende Gericht, das ursprünglich mit dem Strafverfahren gegen alle Mitangeklagten befasst war, zuständig oder vielmehr nicht zuständig war, über die Genehmigung einer von einem der Mitangeklagten unterzeichneten Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis zu entscheiden.

    46.      Dagegen ist das Erfordernis der einstimmigen Zustimmung der übrigen Angeklagten eine besondere Modalität des Genehmigungsverfahrens, die von der Frage, welches Gericht darüber entscheiden soll, unabhängig ist, was die Feststellung der Unzulässigkeit der zweiten Vorlagefrage begründen könnte. Diese Schlussfolgerung kann jedoch zu abstrakt erscheinen, da sie dazu führt, dass zwei Elemente, die Teil ein und desselben Mechanismus sind und den Ablauf des beim vorlegenden Gericht eingeleiteten Strafverfahrens in gleicher Weise berühren, voneinander getrennt werden.

    47.      Diese Feststellung veranlasst mich dazu, Erwägungen über die Sachdienlichkeit der ersten im Urteil Miasto Łowicz genannten Zulässigkeitshypothese anzustellen. Insoweit weise ich darauf hin, dass sich die Vorlagefragen, wie das vorlegende Gericht zu Recht hervorhebt(32), auf Verfahrensprobleme beziehen, die untrennbar mit der von ihm zu treffenden Sachentscheidung über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Angeklagten und gegebenenfalls die Verhängung einer Strafe verbunden sind. Es ist darauf hinzuweisen, dass nach den Angaben in der Vorlageentscheidung die Vereinbarung zwischen dem Staatsanwalt und einem Angeklagten, mit der sich der Angeklagte der ihm zur Last gelegten Straftaten für schuldig bekennt und folglich gegen ihn eine zuvor ausgehandelte Strafe verhängt wird, alle Fragen regelt, die im Urteil in der Sache zu berücksichtigen sind, da darin die von dem Betroffenen begangene Straftat und ihre rechtliche Einordnung sowie Art und Höhe der Strafe angegeben werden.

    48.      Unter diesen Umständen erscheinen die Antworten des Gerichtshofs zur Vereinbarkeit einer nationalen Regelung, die die Voraussetzungen für die gerichtliche Genehmigung einer solchen Vereinbarung festlegt und nach den Angaben des vorlegenden Gerichts an die Stelle der Sachentscheidung treten soll, erforderlich, damit das vorlegende Gericht über die Strafsache entscheiden kann, mit der es befasst ist. Somit besteht zwischen dem Ausgangsverfahren und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, um dessen Auslegung ersucht wird, ein Bezug, so dass diese Auslegung einem objektiven Erfordernis für die Entscheidung in der Sache entspricht, die das nationale Gericht zu treffen hat.

    49.      Außerdem scheinen mir die Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, insbesondere die in Buchst. c dieses Artikels vorgesehene, entgegen dem Vorbringen der Kommission im vorliegenden Fall erfüllt zu sein. Das vorlegende Gericht hat die Gründe hinreichend dargelegt, weshalb es sich die Frage gestellt hat, wie das Erfordernis eines wirksamen Rechtsschutzes, auf den Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Bezug nimmt, hinsichtlich der Voraussetzung der Genehmigung der Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis in Verbindung mit der einstimmigen Zustimmung der anderen Angeklagten auszulegen ist(33). Es hat somit geltend gemacht, dass diese Vereinbarung für den Angeklagten PT einen Rechtsbehelf darstelle, der es diesem ermögliche, eine geringere Strafe zu erhalten, und dass die Erforderlichkeit einer solchen Zustimmung bewirke, den Zugang zu einem solchen Rechtsbehelf unter Verstoß gegen das oben genannte Erfordernis und genauer gesagt das Recht auf ein faires Verfahren ungebührlich zu beschränken.

    50.      Daher kann auf die Zulässigkeit des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens geschlossen werden.

     Zur Begründetheit

     Zur Bestimmung eines Ad-hoc-Spruchkörpers

    51.      Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht von Art. 47 der Charta der Verfahrensregel entgegensteht, wonach die Genehmigung einer Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis, die zwischen dem Staatsanwalt und einer der beschuldigten Personen während des gerichtlichen Verfahrens geschlossen wurde, automatisch einem anderen Spruchkörper als demjenigen zugewiesen wird, der mit dem Strafverfahren gegen alle Angeklagten befasst ist und dem alle Beweismittel vorgelegt wurden, auch wenn der Genehmigungsbeschluss keine Aussage zur Schuld der Mitangeklagten enthält. Die Zweifel des vorlegenden Gerichts betreffen sowohl das Erfordernis der Unparteilichkeit der betreffenden gerichtlichen Instanz als auch den Grundsatz der Unmittelbarkeit des Strafverfahrens.

    –       Zum Erfordernis der objektiven Unparteilichkeit

    52.      Nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist es Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet. Der Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 EMRK und nun auch in Art. 47 der Charta verankert(34).

    53.      Wie bereits ausgeführt, ist bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Art. 47 der Charta ebenso wie die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK gebührend zu berücksichtigen, da Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz insbesondere im Sinne von Art. 47 der Charta gewährleistet ist(35). Um sicherzustellen, dass Einrichtungen, die zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können, in der Lage sind, einen solchen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtungen gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen und unparteiischen“ Gericht gehört. Die Anforderung der Unabhängigkeit der Gerichte, die dem Auftrag, Recht zu sprechen, inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt(36).

    54.      Nach ständiger Rechtsprechung umfasst das Erfordernis der Unabhängigkeit zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht. Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen(37).

    55.      Unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung des EGMR hat der Gerichtshof auch klargestellt, dass das Erfordernis der Unparteilichkeit auf verschiedene Art und Weise beurteilt werden kann. Nach einem subjektiven Kriterium ist die persönliche Überzeugung und das Verhalten des Richters zu berücksichtigen, d. h., eine Prüfung vorzunehmen, ob der Richter im betreffenden Fall Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile gezeigt hat, wobei die persönliche Unparteilichkeit bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird. Das objektive Kriterium besteht darin, festzustellen, ob das Gericht durch seine Zusammensetzung hinreichende Gewähr für den Ausschluss berechtigter Zweifel an seiner Unparteilichkeit bietet. Bei der objektiven Beurteilung ist zu fragen, ob unabhängig vom persönlichen Verhalten des Richters bestimmte nachprüfbare Umstände Zweifel an seiner Unparteilichkeit aufkommen lassen können. Hierbei kann auch ein Eindruck von Bedeutung sein. Es geht dabei um das Vertrauen, das die Gerichte in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen müssen, angefangen bei den Parteien des Verfahrens(38).

    56.      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass die Frage des vorlegenden Gerichts allein die Frage der objektiven Unparteilichkeit betrifft, falls von demselben Richter oder Kollegialgericht während des Gerichtsverfahrens verschiedene Aufgaben ausgeübt werden.

    57.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Auffassung des Gerichtshofs der Umstand, dass Richter, die bereits einmal über eine Rechtssache zu entscheiden hatten, als Mitglieder eines anderen Spruchkörpers noch einmal über dieselbe Rechtssache zu entscheiden haben, für sich genommen nicht als mit den Erfordernissen eines fairen Verfahrens unvereinbar angesehen werden kann. Insbesondere ist der Umstand, dass ein oder mehrere Richter, die in beiden Spruchkörpern mitwirkten und in beiden dieselbe Aufgabe wahrnahmen, etwa die des Präsidenten oder des Berichterstatters, für sich genommen für die Beurteilung der Frage, ob das Unparteilichkeitsgebot gewahrt wurde, unerheblich, weil diese Aufgabe in einem Spruchkörper mit mehreren Richtern wahrgenommen wird. Dies gilt erst recht, wenn die beiden Spruchkörper nicht über dieselbe Rechtssache, sondern über zwei verschiedene Rechtssachen, die einen gewissen Zusammenhang aufweisen, zu entscheiden haben(39).

    58.      Was insbesondere Verfahren, sich schuldig zu bekennen, betrifft, hat der Gerichtshof verschiedene Fragen zur Auslegung von Vorschriften der Richtlinie 2016/343 beantwortet und sich dabei auf die Rechtsprechung des EGMR gestützt, wonach es in komplexen Strafverfahren mit mehreren Verdächtigen, die nicht in einem Verfahren gleichzeitig abgeurteilt werden können, für die Bewertung der Schuld der Angeklagten unerlässlich sein kann, dass das nationale Gericht auf die Beteiligung Dritter Bezug nimmt, gegen die später womöglich ein gesondertes Verfahren geführt wird. Der EGMR hat jedoch weiter ausgeführt, dass, wenn Tatsachen in Bezug auf die Beteiligung Dritter eingeführt werden müssen, das betreffende Gericht es vermeiden sollte, mehr Informationen zu geben als für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der in dem betreffenden Verfahren angeklagten Personen nötig. Zudem hat der EGMR betont, dass die Begründung der Gerichtsentscheidungen in einer Art und Weise zu formulieren ist, die eine mögliche vorzeitige Beurteilung der Schuld der betroffenen Dritten vermeidet, die die faire Prüfung der gegen sie in einem gesonderten Verfahren erhobenen Vorwürfe gefährden könnte(40).

    59.      Der Gerichtshof hat entschieden, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343(41) dahin auszulegen ist, dass er es nicht verbietet, dass eine Vereinbarung, in der die beschuldigte Person sich schuldig bekennt und hierfür im Gegenzug eine Strafmilderung erhält, die von einem nationalen Gericht genehmigt werden muss, als Mittäter der betreffenden Straftat ausdrücklich nicht nur diese beschuldigte Person nennt, sondern auch andere beschuldigte Personen, die sich nicht schuldig bekannt haben und gegen die ein gesondertes Strafverfahren geführt wird, sofern diese Angabe erstens für die Einordnung der rechtlichen Verantwortlichkeit der Person, die diese Vereinbarung geschlossen hat, erforderlich ist und zweitens diese Vereinbarung eindeutig darauf hinweist, dass gegen diese anderen Personen ein gesondertes Strafverfahren geführt wird und ihre Schuld nicht rechtsförmlich nachgewiesen worden ist(42).

    60.      In einer anderen Rechtssache hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 3(43) und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit dem 16. Erwägungsgrund dieser Richtlinie sowie Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nicht dem entgegenstehen, dass im Rahmen eines gegen zwei Personen geführten Strafverfahrens ein nationales Gericht zuerst durch Beschluss das Schuldbekenntnis der ersten Person für in der Anklageschrift beschriebene Straftaten, die in Form der Mittäterschaft mit der zweiten, sich für nicht schuldig erklärenden Person begangen worden sein sollen, annimmt und sodann nach Beweiserhebung hinsichtlich der der zweiten Person zur Last gelegten Taten über deren Schuld entscheidet, sofern zum einen die Erwähnung der zweiten Person als Mittäterin der mutmaßlichen Straftaten für die Beurteilung der rechtlichen Verantwortlichkeit der Person, die sich schuldig bekannt hat, notwendig ist und zum anderen dieser selbe Beschluss und/oder die Anklageschrift, auf die sich dieser Beschluss bezieht, eindeutig ausführen, dass die Schuld dieser zweiten Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde und Gegenstand einer gesonderten Beweiserhebung und Entscheidung sein wird(44).

    61.      Zur Vervollständigung dieses Überblicks über die Rechtsprechung ist ein aktuelles Urteil des EGMR zu erwähnen, mit dem seine allgemeinen Grundsätze im Bereich der Unparteilichkeit umgesetzt werden. Der EGMR vertritt insoweit die Ansicht, dass allein die Tatsache, dass ein erkennendes Gericht frühere Entscheidungen im Zusammenhang mit derselben Straftat erlassen hat, nicht genügt, um Zweifel an seiner Unparteilichkeit zu begründen, dass sich die Frage der Unparteilichkeit des Richters jedoch stellt, wenn ein früheres Urteil eine detaillierte Beurteilung der Rolle einer später wegen einer von mehreren Personen begangenen Straftat abzuurteilenden Person enthält. Dies gilt insbesondere, wenn das frühere Urteil eine genaue rechtliche Bewertung der Beteiligung der abzuurteilenden Person enthält oder dahin zu verstehen ist, dass darin alle a posteriori für die Erfüllung eines Straftatbestands erforderlichen Kriterien als erfüllt angesehen wurden. In Anbetracht der Umstände des Falles können solche Faktoren als Vorgriff auf die Entscheidung über die Frage der Schuld der im späteren Verfahren abzuurteilenden Person angesehen werden und objektiv gerechtfertigte Zweifel hinsichtlich der Frage wecken, ob das nationale Gericht zu Beginn des Verfahrens eine vorgefasste Meinung in der Sache der später abzuurteilenden Person hat(45).

    62.      Der EGMR, der von einem Beschwerdeführer angerufen wurde, der von demselben Gericht verurteilt worden war, das zuvor seine Mittäter wegen gemeinsam mit ihm begangener Straftaten verurteilt hatte, und zwar auf der Grundlage von Vereinbarungen über ein Schuldbekenntnis, kam zu dem Schluss, dass ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vorlag und traf die folgenden Feststellungen. So führte er aus, dass diese Urteile, mit denen die Vereinbarungen genehmigt wurden, zwar hinsichtlich des Beschwerdeführers keine gesonderte Schuldfeststellung als solche enthielten und aufgrund der Art der zur Last gelegten Straftat beschrieben werden musste, wie die strafbaren Handlungen koordiniert worden waren, dass diese Urteile jedoch eine genaue faktische Definition der spezifischen Rolle des Beschwerdeführers bei der Tatbegehung enthielten. Das in der Hauptsache entscheidende Gericht wusste somit genau, wer der Beschwerdeführer war – wenngleich nur seine Initialen und ein Alias-Name genannt wurden – und welche Rolle er spielte, da kein Zweifel an seiner Beteiligung an der Straftat bestehen konnte. In dieser Situation konnte sich dieses Gericht nur an den vorherigen Urteilen über die Genehmigung der Vereinbarungen und an den Mittätern und ihren früheren Erklärungen zur Beteiligung des Beschwerdeführers an der Begehung der Straftat orientieren. Folglich ist der EGMR der Auffassung, dass die Entscheidungen, mit denen die Mittäter des Beschwerdeführers verurteilt wurden, in Anbetracht ihres Wortlauts dessen Recht verletzt haben, bis zum Nachweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten, und dass die Zweifel an der Unparteilichkeit des Gerichts in Anbetracht der Rolle, die diese Entscheidungen im eigenen Verfahren des Beschwerdeführers vor demselben Gericht gespielt haben, objektiv gerechtfertigt waren(46).

    63.      Aus dieser Übersicht über die Rechtsprechung ergibt sich, dass die rechtlich unterschiedlichen Begriffe „objektive Unparteilichkeit“ und „Unschuldsvermutung“ in Wirklichkeit eng miteinander verbunden sind, da sich eine Missachtung des Erfordernisses der Unparteilichkeit unter bestimmten Voraussetzungen aus einem Verstoß gegen diese Vermutung ergeben kann.

    64.      Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass in der von PT geschlossenen Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis der gesamte Tenor der Anklageschrift wiedergeben werde, die vom Angeklagten begangene Tat und ihre rechtliche Bewertung sowie Art und Höhe der Strafe angeführt seien, jedoch infolge des Urteils AH u. a. (Unschuldsvermutung)(47) der Name und die nationale Identifikationsnummer der Angeklagten, deren Verfahren fortgesetzt werde, nicht erwähnt würden, da die Genehmigung dieser Vereinbarung ohne Anmerkungen zu deren Beteiligung an den zur Last gelegten Handlungen und ohne Stellungnahme zu ihrer Schuld erfolge(48). Aus der Vorlageentscheidung scheint daher hervorzugehen, dass die Formulierung der in Rede stehenden Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis und der gerichtlichen Entscheidung, mit der sie genehmigt wird, frei ist von jeglicher Vorverurteilung hinsichtlich der Schuld der Angeklagten, die sich nicht bereit erklärt haben, sich der zur Last gelegten Taten für schuldig zu bekennen. Unter diesen Umständen erscheint der Umstand, dass das vorlegende Gericht nacheinander die Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis genehmigen und die strafrechtliche Verantwortlichkeit dieser Angeklagten beurteilen kann, nicht geeignet, den Erfordernissen der objektiven Unparteilichkeit zu widersprechen.

    65.      Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich der Angeklagte PT zumindest in einer besonderen Lage zu befinden scheint, da das vorlegende Gericht ausgeführt hat(49), dass Vereinbarungen über ein Schuldbekenntnis allgemein und nach ständiger Rechtsprechung weiterhin die vollständigen Namen und Identifikationsnummern der Angeklagten enthielten, die keine solche Vereinbarung geschlossen hätten. Dazu kommt noch, dass diese Vereinbarungen und die sie genehmigenden Urteile nicht notwendigerweise eine ausdrückliche Erwähnung des Umstands enthalten, dass gegen diese Angeklagten ein gesondertes Strafverfahren geführt werde und ihre Schuld nicht rechtsförmlich nachgewiesen worden sei, was vom Gerichtshof in seiner Beurteilung der Beachtung der Unschuldsvermutung eindeutig gefordert wird(50). Im Rahmen der Beurteilung der Konformität der in Rede stehenden bulgarischen Regelung, wie sie von den nationalen Gerichten angewandt wird, sind diese Faktoren geeignet, die Zuständigkeit eines Ad-hoc-Spruchkörpers für die Genehmigung dieser Vereinbarungen unter dem Gesichtspunkt der objektiven Unparteilichkeit zu rechtfertigen, was das vorlegende Gericht selbst einräumt(51).

    66.      Jedenfalls lässt sich meines Erachtens aus den Angaben in Nr. 64 der vorliegenden Schlussanträge nicht ableiten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der in Rede stehenden nationalen Regelung entgegensteht. Weit davon entfernt, im Widerspruch zu den oben angeführten Anforderungen zu stehen, verstärkt die systematische Entbindung des ursprünglich mit dem Strafverfahren befassten Gerichts von der Zuständigkeit zugunsten eines Ad-hoc-Spruchkörpers für die Zwecke der Genehmigung einer Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis notwendigerweise die objektive Unparteilichkeit des Gerichts, das über die Mitangeklagten urteilen soll, die sich nicht schuldig bekannt haben, und schließt somit aus, dass der Eindruck einer fehlenden Unparteilichkeit vermittelt wird, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss(52).

    –       Zum Grundsatz der Unmittelbarkeit des Strafverfahrens

    67.      Auf die Frage nach der Tragweite bestimmter Vorschriften der Richtlinie 2012/29/EU(53) im Hinblick auf eine nationale Regelung, die die Wiederholung der Vernehmung des Opfers durch einen neubesetzten Spruchkörper vorschreibt, wenn einer der Verfahrensbeteiligten einer Verwertung des Protokolls der ersten Vernehmung durch diesen Spruchkörper widerspricht, hat der Gerichtshof auf den oben genannten Grundsatz Bezug genommen und sich dabei auf die Rechtsprechung des EGMR gestützt.

    68.      So hat er ausgeführt, dass die Möglichkeit für den Angeklagten, im Beisein desjenigen Richters, der letztendlich entscheiden wird, den Zeugen gegenüberzutreten, ein wichtiges Merkmal eines fairen Verfahrens ist und dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz eine wichtige Garantie im Strafverfahren darstellt, da die Beobachtungen des Richters zum Verhalten und zur Glaubwürdigkeit eines Zeugen schwerwiegende Konsequenzen für den Angeklagten nach sich ziehen können. Daher muss eine Änderung in der Besetzung des Spruchkörpers nach der Vernehmung eines wichtigen Zeugen grundsätzlich zu dessen erneuter Vernehmung führen.  Der Unmittelbarkeitsgrundsatz darf jedoch nicht als Hindernis für jedwede Änderung in der Besetzung des Gerichts im Verlauf des Verfahrens angesehen werden. Aus naheliegenden verwaltungs- oder verfahrenstechnischen Gründen kann die fortlaufende Beteiligung eines Richters am Prozess unmöglich werden. Um den Richtern, die die Rechtssache übernehmen, umfassende Kenntnis von deren Einzelheiten und dem Vortrag zu verschaffen, können Maßnahmen getroffen werden, wie etwa die Übermittlung von Protokollen, wenn die Glaubwürdigkeit des fraglichen Zeugen außer Frage steht, oder die Ansetzung neuer Schlussplädoyers oder aber eine erneute Vernehmung wichtiger Zeugen vor dem umbesetzten Gericht(54).

    69.      Der Begriff „Unmittelbarkeit“ setzt daher eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Richter und dem Einzelnen voraus, so dass sich ein Richter, der bei der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war, an der Entscheidung über die Rechtssache nicht beteiligen darf(55).

    70.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kommt dieser Grundsatz der Unmittelbarkeit in Art. 18 und Art. 55 NPK zum Ausdruck, die die Beteiligung der Verteidigung am Verfahren in Anwesenheit des Richters, der in der Sache zu entscheiden habe, gewährleisteten, während Art. 384a NPK davon abweiche. Das Recht auf wirksamen Rechtsschutz werde verletzt, wenn die Verteidigung in eine Lage versetzt werde, in der ein Gericht eine Sachentscheidung auf der Grundlage von Beweismitteln erlassen müsse, die vor einem anderen Richter geprüft und erörtert worden seien. Dieses Gericht werde nur die Verfahrensunterlagen zur Kenntnis genommen haben, jedoch nicht am Verfahren der Beweiserhebung und Beweiswürdigung in Anwesenheit und unter der Kontrolle der Verteidigung teilgenommen haben.

    71.      Dieser Standpunkt des vorlegenden Gerichts läuft meines Erachtens darauf hinaus, die Besonderheit und die Eigenständigkeit des Schuldbekenntnisverfahrens, zu dem sich der EGMR bereits äußern konnte, in Abrede zu stellen. Seiner Ansicht nach bedeutet eine strafprozessuale Absprache, die dazu führt, dass über eine Anklage nach einer vereinfachten gerichtlichen Prüfung entschieden wird, im Wesentlichen einen Verzicht auf bestimmte Verfahrensrechte, was an sich kein Problem darstellt, da weder der Wortlaut noch der Geist von Art. 6 EMRK den Betroffenen darin hindern, freiwillig auf diese Garantien zu verzichten. Daher muss die Zustimmung des Beschwerdeführers zur Absprache gemäß den Grundsätzen über die Gültigkeit von Verzichterklärungen die folgenden Voraussetzungen erfüllen: Erstens muss sie wirklich freiwillig und in vollumfänglicher Kenntnis der faktischen Umstände und der rechtlichen Folgen dieser Art von Absprache erteilt worden sein, und zweitens müssen der Inhalt der Absprache und die Fairness des Verfahrens, das der Absprache zwischen den Parteien zugrunde liegt, einer angemessenen gerichtlichen Kontrolle unterliegen(56).

    72.      Indem er mit dem Staatsanwalt eine Vereinbarung schloss, mit der er sich der zur Last gelegten Taten für schuldig bekannte und die Freiheitsstrafe auf Bewährung akzeptierte, verzichtete PT darauf, dass die Strafsache nach dem ordentlichen Verfahren gemäß den Vorschriften von Art. 381 Abs. 6 NPK entschieden wird, und damit auf eine materiell-rechtliche Prüfung seiner Sache, die im mündlichen Verfahren eine kontradiktorische Erörterung der Beweismittel vor dem zur Entscheidung in der Sache berufenen Richter umfasst. Das Schuldbekenntnisverfahren stellt eine besondere Form der Strafrechtspflege dar, da es eine Alternative zum ordentlichen Gerichtsverfahren ist, die auf einer Entscheidung des Beschuldigten beruht, der von seinem Verteidiger unterstützt wird. Mit dem Einwand, dass der Grundsatz der Unmittelbarkeit, wie er in dem oben genannten Verfahren angewandt worden sei, nicht beachtet worden sei, scheint mir das vorlegende Gericht in seiner Argumentation die rechtlich-faktische Realität des Schuldbekenntnisverfahrens zu verschleiern, das dem vom EGMR als legitim angesehenen Ziel der Vereinfachung und zügigen Beilegung von Strafsachen dient(57).

    73.      Unter diesen Umständen kann nicht geltend gemacht werden, dass es schlechthin gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit des Strafverfahrens verstößt, wenn das ursprünglich mit dem Strafverfahren gegen alle Angeklagten befasste Gericht für die Zwecke der Genehmigung einer Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis zugunsten eines Ad-hoc-Spruchkörpers von seiner Zuständigkeit entbunden wird. Es ist jedoch erforderlich, dass dieser Spruchkörper in der Lage ist, eine angemessene gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, wie sie vom EGMR verlangt wird(58), wobei anzumerken ist, dass das vorlegende Gericht nichts anführt, was das Gegenteil belegen könnte(59).

     Zum Erfordernis der einstimmigen Zustimmung der übrigen Angeklagten

    74.      Das vorlegende Gericht hegt Zweifel, ob die nationale Vorschrift, mit der als Voraussetzung für die gerichtliche Genehmigung einer Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis die einstimmige Zustimmung der Mitangeklagten verlangt wird, mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta vereinbar ist(60). Dieses Erfordernis führe dazu, dass der Zugang des Beschuldigten zu einem „gesetzlich anerkannten Rechtsbehelf“, der es ermögliche, gegen ihn eine geringere Strafe zu verhängen als die, die gegen ihn im ordentlichen Verfahren verhängt worden wäre, ungebührlich beschränkt werde.

    75.      In Anbetracht der unorthodoxen Formulierung der Vorlageentscheidung ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das in Rede stehende Schuldbekenntnisverfahren nicht als ein Rechtsbehelf eingestuft oder einem Rechtsbehelf gleichgestellt werden kann, d. h. als rechtliches Mittel, mit dem eine angeblich rechtswidrige Situation vor einem Gericht beanstandet und in Frage gestellt werden kann.

    76.      In ihrer Gesamtheit betrachtet, scheint mir die Vorlageentscheidung als Hinweis auf eine mögliche Beeinträchtigung des Rechts der beschuldigten Person auf ein faires Verfahren und insbesondere ihrer Verteidigungsrechte auszulegen zu sein. Insoweit weise ich darauf hin, dass Inhalt und Tragweite von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unter Bezugnahme auf Art. 47 der Charta bestimmt werden. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass der in Art. 47 der Charta bekräftigte tragende Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes und der von Art. 6 EMRK erfasste Begriff „faires Verfahren“ aus verschiedenen Elementen bestehen, zu denen u. a. die Achtung der Verteidigungsrechte gehört(61).

    77.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts sehen einige Vorschriften der Rahmenbeschlüsse 2004/757 und 2008/841 im Fall der Kooperation des Beschuldigten die Möglichkeit einer herabgesetzten Strafe unter den gleichen Bedingungen vor, wie der Abschluss einer Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis möglich sei. Der Umstand, dass die gerichtliche Genehmigung des Schuldbekenntnisses von der Zustimmung der Mitangeklagten abhängig gemacht werde, beeinträchtige das Recht des Angeklagten, der seine strafrechtliche Verantwortlichkeit eingestanden habe, auf eine solche einer Strafmilderung gleichkommende Vereinbarung, ohne dass die Beschränkung eines solchen Rechts dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspreche(62), was im Widerspruch zur Achtung der Verteidigungsrechte stehe.

    78.      Meines Wissens garantiert keine Vorschrift des Unionsrechts, ob es sich nun um das Primärrecht oder um ein Instrument des abgeleiteten Rechts handelt, einer strafrechtlich verfolgten Person einen Anspruch auf Strafmilderung in einer bestimmten Situation, insbesondere im Rahmen einer mit dem Staatsanwalt geschlossenen Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis. Insoweit hat der Gerichtshof ausgeführt, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 die Mitgliedstaaten nicht dazu zwingt, die Berücksichtigung kooperativen Verhaltens des Beschuldigten zu gewährleisten; sie verleiht diesem kein Recht auf eine herabgesetzte Strafe, wenn er mit den Justizbehörden zusammenarbeitet, etwa durch eine Vereinbarung mit der Staatsanwaltschaft, in der der Beschuldigte seine Schuld eingesteht(63). Er hat auch entschieden, dass Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13, der eine Pflicht zur Unterrichtung der Beschuldigten über Änderungen der gegen sie erhobenen Anklage vorsieht, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten, und die in Art. 48 Abs.2 der Charta vorgesehenen Verteidigungsrechte im Zusammenhang mit dem Recht dieser Personen auf Unterrichtung nicht verlangen, dass diese nach Eröffnung der mündlichen Verhandlung bei Änderungen des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts oder der rechtlichen Beurteilung dieses Sachverhalts die Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung beantragen können müssen(64).

    79.      Aus dem in Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343 anerkannten Recht von Verdächtigen und Beschuldigten, in Bezug auf die ihnen vorgeworfene Straftat die Aussage zu verweigern und sich nicht selbst belasten zu müssen(65), kann nicht abgeleitet werden, dass sie ein Recht auf Strafmilderung haben, wenn sie sich schuldig bekennen, da der eindeutige Wortlaut von Art. 7 Abs. 4 eine solche Auslegung ausschließt.

    80.      Im Übrigen ist festzustellen, dass die in Rede stehende nationale Regelung ein solches Recht auch nicht gewährleistet. Das Verfahren, das zu einer Verständigung über die Strafe führt, ist ein besonderes Verfahren zur Aburteilung von Straftaten, das vom Staatsanwalt auf seine eigene Initiative oder auf Antrag des Verteidigers des Beschuldigten durchgeführt werden kann, sofern dieser die zur Last gelegten Taten gesteht. Somit besitzt diese Person kein Recht, nach diesem Verfahren abgeurteilt zu werden, auch wenn sie sich schuldig bekannt hat, wobei anzumerken ist, dass die Vereinbarung notwendigerweise vom Staatsanwalt unterzeichnet werden muss, damit sie genehmigt werden kann(66). Der Beschuldigte hat auch kein Recht auf Genehmigung durch das zuständige Gericht, das weder an den Vorschlag des Staatsanwalts noch an die Zustimmung des Betroffenen gebunden ist, wenn der Staatsanwalt beschlossen hat, auf dieses Verfahren zurückzugreifen, und der Beschuldigte die ihm vorgeschlagene Strafe akzeptiert hat. Aus Art. 382 Abs. 8 NPK ergibt sich, dass das Gericht, wenn es sich weigert, die Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis zu genehmigen, die Sache an den Staatsanwalt zurückverweist.

    81.      Daher kann bei einem Zustimmungserfordernis wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, dem die Genehmigung einer Verständigung über die Strafe unterliegt, nicht davon ausgegangen werden, dass es das Recht auf ein faires Verfahren und insbesondere die Verteidigungsrechte verletzt.

     Ergebnis

    82.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) wie folgt zu antworten:

    Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

    ist dahin auszulegen, dass

    er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der für die gerichtliche Genehmigung einer Vereinbarung, mit der sich einer der Beschuldigten schuldig bekennt, die ihm zur Last gelegten Straftaten begangen zu haben, und im Gegenzug hierfür eine Strafmilderung erhält, zum einen die Zuständigkeit einem anderen als dem ursprünglich mit dem Strafverfahren befassten Gericht zugewiesen wird und zum anderen diese Genehmigung nur unter der Voraussetzung erteilt wird, dass alle übrigen Beschuldigten, die ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht anerkannt haben, dem Abschluss dieser Vereinbarung zugestimmt haben.


    1      Originalsprache: Französisch.


    2      EGMR, 29. April 2014, Natsvlishvili und Togonidze/Georgien, CE:ECHR:2014:0429JUD000904305, § 90.


    3      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1).


    4      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1).


    5      DV Nr. 86 vom 28. Oktober 2005.


    6      Rahmenbeschluss des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels (ABl. 2004, L 335, S. 8).


    7      Rahmenbeschluss des Rates vom 24. Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (ABl. 2008, L 300, S. 42).


    8      Urteil vom 22. März 2022, Prokurator Generalny u. a. (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑508/19, EU:C:2022:201, Rn. 59).


    9      Urteil vom 24. Februar 2022, Viva Telecom Bulgaria (C‑257/20, EU:C:2022:125, Rn. 123).


    10      Beschluss vom 18. April 2023, Vantage Logistics (C‑200/22, EU:C:2023:337, Rn. 27).


    11      Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, im Folgenden: Urteil Miasto Łowicz, EU:C:2020:234, Rn. 32 und 33).


    12      Vgl. in diesem Sinne Urteil Miasto Łowicz (Rn. 34 bis 36).


    13      Zum Rahmenbeschluss 2004/757 vgl. Urteil vom 11. Juni 2020, Prokuratura Rejonowa w Słupsku (C‑634/18, EU:C:2020:455, Rn. 32).


    14      Urteil vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a. (C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 34).


    15      Urteil vom 11. Juni 2020, Prokuratura Rejonowa w Słupsku (C‑634/18, EU:C:2020:455, Rn. 39).


    16      Zum Rahmenbeschluss 2004/757 vgl. Urteil vom 11. Juni 2020, Prokuratura Rejonowa w Słupsku (C‑634/18, EU:C:2020:455, Rn. 41).


    17      Vgl. entsprechend Beschluss vom 24. September 2019, Spetsializirana prokuratura (Unschuldsvermutung) (C‑467/19 PPU, EU:C:2019:776, Rn. 34).


    18      Beschluss vom 24. September 2019, Spetsializirana prokuratura (Unschuldsvermutung) (C‑467/19 PPU, EU:C:2019:776, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).


    19      Vgl. entsprechend Beschluss vom 24. September 2019, Spetsializirana prokuratura (Unschuldsvermutung) (C‑467/19 PPU, EU:C:2019:776, Rn. 34 und 35).


    20      Vgl. entsprechend Beschluss vom 24. September 2019, Spetsializirana prokuratura (Unschuldsvermutung) (C‑467/19 PPU, EU:C:2019:776, Rn. 36).


    21      Vgl. beispielsweise Urteile vom 9. März 2017, Milkova (C‑406/15, EU:C:2017:198, insbesondere Rn. 52), und vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 64 bis 69).


    22      Urteil vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a. (C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).


    23      Ich weise darauf hin, dass in der Vorlageentscheidung Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2004/757 und Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/841 erwähnt werden.


    24      Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 37).


    25      Die erste und die dritte Vorlagefrage sind zwar unterschiedlich formuliert, behandeln jedoch die gleiche Problematik, und zwar die Frage, welcher Spruchkörper eines Gerichts für die Entscheidung über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beschuldigten einschließlich der Genehmigung der mit einem der Beschuldigten geschlossenen Vereinbarung über ein Schuldbekenntnis zuständig ist.


    26      Mit Schreiben vom 5. August 2022 hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) dem Gerichtshof mitgeteilt, dass der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) infolge einer am 27. Juli 2022 in Kraft getretenen Gesetzesänderung aufgelöst worden sei und bestimmte bei diesem Gericht anhängig gemachte Rechtssachen, darunter das Ausgangsverfahren, ihm ab diesem Zeitpunkt übertragen worden seien. Somit scheint die Zulässigkeitsvoraussetzung der Anhängigkeit des Ausgangsrechtsstreits weiterhin erfüllt zu sein.


    27      Urteil Miasto Łowicz (Rn. 44 bis 46).


    28      Vgl. Urteil Miasto Łowicz (Rn. 49 bis 51).


    29      Urteil vom 19. November 2019 (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982).


    30      Urteil Miasto Łowicz (Rn. 51).


    31      Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. (Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters) (C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 46 und 47).


    32      Rn. 34 des Vorabentscheidungsersuchens.


    33      Zwar nimmt das vorlegende Gericht in einer relativ unscharfen Formulierung auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Bezug, es verweist jedoch auch mehrfach auf Art. 47 der Charta, zu dem der Gerichtshof entschieden hat, dass er bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu berücksichtigen ist.


    34      Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 52).


    35      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 37).


    36      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 57 und 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).


    37      Vgl.in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 121 bis 123).


    38      Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 128).


    39      Urteil vom 19. Februar 2009, Gorostiaga Atxalandabaso/Parlament (C‑308/07 P, EU:C:2009:103, Rn. 43 bis 45).


    40      Urteil vom 5. September 2019, AH u. a. (Unschuldsvermutung) (C‑377/18, EU:C:2019:670, Rn. 44).


    41      Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass, solange die Schuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde, in öffentlichen Erklärungen von Behörden und in nicht die Frage der Schuld betreffenden gerichtlichen Entscheidungen nicht so auf die betreffende Person Bezug genommen wird, als sei sie schuldig.


    42      Urteil vom 5. September 2019, AH u. a. (Unschuldsvermutung) (C‑377/18, EU:C:2019:670, Rn. 50). Es ist anzumerken, dass in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, die Vereinbarung zwischen dem Staatsanwalt und einem der Angeklagten dem vorlegenden Gericht, das einem Ad-hoc-Spruchkörper entsprach, zur Genehmigung vorgelegt wurde, wie sich aus Rn. 22 dieses Urteils ergibt.


    43      Art. 3 der Richtlinie 2016/343 bestimmt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde.


    44      Beschluss vom 28. Mai 2020, UL und VM (C‑709/18, EU:C:2020:411, Rn. 35).


    45      EGMR, 25. November 2022, Mucha/Slowakei (CE:ECHR:2021:1125JUD006370319, § 49)


    46      EGMR, 25. November 2022, Mucha/Slowakei (CE:ECHR:2021:1125JUD006370319).


    47      Urteil vom 5. September 2019 (C‑377/18, EU:C:2019:670).


    48      Die fehlende Anonymisierung ist vor allem im Rahmen der Diskussion über die Beachtung der Unschuldsvermutung eine wichtige Erwägung.


    49      Vgl. Rn. 31 und 32 der Vorlageentscheidung.


    50      Urteil vom 5. September 2019, AH u. a. (Unschuldsvermutung) (C‑377/18, EU:C:2019:670, Rn. 45 und 49). In seiner Antwort auf Fragen des Gerichtshofs hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass eine solche Erwähnung in die Zuständigkeit des für die Genehmigung der Vereinbarung zuständigen Spruchkörpers falle, Änderungen dieser Vereinbarung vorzuschlagen.


    51      Vgl. Rn. 31 und 32 der Vorlageentscheidung.


    52      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 60).


    53      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (ABl. 2012, L 315, S. 57).


    54      Urteil vom 29. Juli 2019, Gambino und Hyka (C‑38/18, EU:C:2019:628, Rn. 43 und 44).


    55      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Léger in der Rechtssache Baustahlgewebe/Kommission (C‑185/95 P, EU:C:1998:37, Nrn. 82 und 83) und des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe in der Rechtssache Komisia za zashtita ot diskriminatsia (C‑824/19, EU:C:2021:324, Nr. 62). Ich weise auch darauf hin, dass es in Art. 32 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs heißt: „Hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, nehmen an der Beratung nur die an der Verhandlung beteiligten Richter teil.“


    56      EGMR, 29. April 2014, Natsvlishvili und Togonidze/Georgien, CE:ECHR:2014:0429JUD000904305, §§ 91 und 92.


    57      Für den EGMR hat die strafprozessuale Absprache nicht nur den wichtigen Vorteil, dass eine schnelle Erledigung von Strafverfahren möglich wird und die Gerichte, die Staatsanwaltschaften und die Verteidiger entlastet werden, sondern ist sie auch bei richtiger Anwendung ein wirksames Mittel im Kampf gegen die Korruption und das organisierte Verbrechen sowie ein Faktor zur Verminderung der Zahl der verhängten Strafen und folglich der Zahl der Inhaftierten (EGMR, 29. April 2014, Natsvlishvili und Togonidze/Georgien, CE:ECHR:2014:0429JUD000904305, § 90).


    58      In seiner Antwort auf Fragen des Gerichtshofs hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass der zuständige Spruchkörper im Rahmen der gerichtlichen Genehmigung der Vereinbarung den Angeklagten, der die Vereinbarung unterzeichne, zu den materiell-rechtlichen (sein Schuldbekenntnis) und verfahrensrechtlichen (Verzicht auf ein Urteil gemäß dem ordentlichen Verfahren) Aspekten befrage und diese Vereinbarung nur im Fall einer Bestätigung durch den Betroffenen genehmige.


    59      Ich weise darauf hin, dass das vorlegende Gericht auch geltend macht, dass angesichts der Befugnis des Richters, Änderungen der Vereinbarung im Sinne einer schwereren Strafe vorzuschlagen, die Verteidigung „stets“ ein rechtliches Interesse daran habe, dass die Entscheidung von dem Gericht erlassen werde, das die Beweise in ihrer Anwesenheit und unter ihrer Kontrolle erhoben habe. Hervorzuheben ist, dass diese Erwägungen rein spekulativ und sogar widersprüchlich sind, da das vorlegende Gericht in den Rn. 51 und 52 der Vorlageentscheidung ausführt, dass die Vereinbarung des Angeklagten über ein Schuldbekenntnis zu einer milderen Strafe führe als die, die im Rahmen des ordentlichen Verfahrens gegen ihn verhängt worden wäre.


    60      Ich möchte darauf hinwiesen, dass dies das dritte Mal ist, dass das vorlegende Gericht (bzw. sein Vorgänger) dem Gerichtshof eine Frage zu dieser bestimmten Verfahrensvorschrift stellt. Im Urteil vom 5. September 2019, AH u. a. (Unschuldsvermutung) (C‑377/18, EU:C:2019:670, Rn. 28), hatte der Gerichtshof klargestellt, dass er nicht danach gefragt worden ist, ob eine nationale Regelung, die gegebenenfalls die gerichtliche Genehmigung einer Vereinbarung, die ein Schuldbekenntnis im Gegenzug für eine Strafmilderung beinhaltet, von der Zustimmung der anderen beschuldigten Personen, die sich nicht schuldig bekannt haben, abhängig macht, mit dem Unionsrecht vereinbar sein könnte. Ohne die Antwort des Gerichtshofs in der vorliegenden Rechtssache abzuwarten, hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof erneut mit der Vereinbarkeit einer solchen Vorschrift mit dem Unionsrecht, insbesondere mit Art. 20 der Charta, befasst (Rechtssache C‑398/23).


    61      Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 203).


    62      Das vorlegende Gericht verweist ausdrücklich auf Art. 52 der Charta.


    63      Beschluss vom 24. September 2019, Spetsializirana prokuratura (Unschuldsvermutung) (C‑467/19 PPU, EU:C:2019:776, Rn. 34). Unter Bezugnahme auf die letztgenannte Randnummer hat der Gerichtshof in Rn. 42 dieses Beschlusses entschieden, dass „das Unionsrecht“ die Mitgliedstaaten nicht dazu zwingt, ihren Justizbehörden zu gestatten, kooperatives Verhalten von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Verurteilung zu berücksichtigen, insbesondere durch eine Verständigung mit der Staatsanwaltschaft, worin der Beschuldigte im Gegenzug für eine herabgesetzte Strafe seine Schuld bekennt.


    64      Urteil vom 13. Juni 2019, Moro (C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 63 und 72).


    65      Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass nach den Ausführungen des EGMR Art. 6 EMRK das Recht, zu schweigen, zwar nicht ausdrücklich erwähnt wird, dieses Recht aber eine allgemein anerkannte Norm des Völkerrechts darstellt, die zum Kern des Begriffs des fairen Verfahrens gehört (Urteil vom 2. Februar 2021, Consob, C‑481/19, EU:C:2021:84, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


    66      Vgl. Art. 381 Abs. 1 und 6 NPK.

    Top