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Document 62021CC0663

Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 16. Februar 2023.
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gegen AA.
Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Art. 14 Abs. 4 Buchst. b – Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – Drittstaatsangehöriger, der wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist – Gefahr für die Allgemeinheit – Verhältnismäßigkeitsprüfung – Richtlinie 2008/115/EU – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Aufschub der Abschiebung.
Rechtssache C-663/21.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:114

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 16. Februar 2023(1)

Rechtssache C663/21

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl,

Beteiligte:

AA

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs [Österreich])

und

Rechtssache C8/22

XXX

gegen

Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Staatsrat, Belgien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asylpolitik – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Art. 14 Abs. 4 Buchst. b – Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – Drittstaatsangehöriger, der eine besonders schwere Straftat begangen hat – Gefahr für die Allgemeinheit – Verhältnismäßigkeitsprüfung – Beweislast – Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Aufschub der Abschiebung – Abschiebung, die aufgrund des Grundsatzes der Nichtzurückweisung als rechtswidrig anzusehen ist – Unmöglichkeit, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen“






I.      Einleitung

1.        Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes(2) sieht neben den Erlöschens- (Art. 11) und Ausschlussgründen (Art. 12) vor, dass die Mitgliedstaaten die Flüchtlingseigenschaft aberkennen oder deren Zuerkennung verweigern können, wenn eine Gefahr für ihre Sicherheit oder ihre Allgemeinheit besteht.

2.        Diese Befugnis, die ihren Grund in dem Bestreben der Mitgliedstaaten hat, über eine Handhabe zu verfügen, um gegen Flüchtlinge vorzugehen, die ihre Sicherheit oder ihre Allgemeinheit gefährden, aber nicht zurückgewiesen werden können, ist mit der Begründung kritisiert worden, dass sie nicht den Ausschluss- und Erlöschensgründen von Art. 1 Abschnitte C bis F des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge(3) in der durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge(4) ergänzten Fassung (im Folgenden: Genfer Konvention) entspreche.

3.        In seinem Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft)(5), hat der Gerichtshof jedoch nichts festgestellt, was die Gültigkeit von Art. 14 Abs. 4 bis 6 der Richtlinie 2011/95 im Hinblick auf Art. 78 Abs. 1 AEUV und Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) beeinträchtigen könnte. Um zu dieser Entscheidung zu gelangen, hat der Gerichtshof insbesondere festgestellt, dass Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass im Kontext des durch diese Richtlinie geschaffenen Systems die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Verweigerung dieser Rechtsstellung nicht dazu führt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, der die in Art. 2 Buchst. d in Verbindung mit den Vorschriften des Kapitels III dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt, die Eigenschaft als Flüchtling im Sinne dieses Art. 2 Buchst. d und von Art. 1 Abschnitt A der Genfer Konvention verliert(6).

4.        Vor dem Hintergrund des Urteils M. u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) wird der Gerichtshof mit den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen nunmehr ersucht, die Voraussetzungen zu präzisieren, unter denen die Mitgliedstaaten beschließen können, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen.

5.        Im Einzelnen betreffen diese Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 sowie der Art. 5, 6, 8 und 9 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger(7).

6.        In der Rechtssache C‑663/21 ergeht das Ersuchen um Vorabentscheidung in einem Rechtsstreit zwischen AA, einem Drittstaatsangehörigen, und dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich, im Folgenden: Amt) wegen der Entscheidung des Amts, ihm die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen, die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus oder eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu verweigern, eine mit einem Aufenthaltsverbot einhergehende Rückkehrentscheidung gegen ihn zu erlassen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu setzen und seine Abschiebung für unzulässig zu erklären.

7.        In der Rechtssache C‑8/22 ergeht das Ersuchen um Vorabentscheidung in einem Rechtsstreit zwischen XXX, einem Drittstaatsangehörigen, und dem Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose, Belgien, im Folgenden: Generalkommissar) wegen der Entscheidung des Generalkommissars, ihm die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen.

8.        Die vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) (Rechtssache C‑663/21) und vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) (Rechtssache C‑8/22) gestellten Fragen ergänzen einander und überschneiden sich teilweise, weshalb ich sie in den vorliegenden Schlussanträgen zusammen untersuchen werde. Mit diesen Fragen wird der Gerichtshof insbesondere ersucht, die Voraussetzungen zu präzisieren, denen die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 unterliegt.

9.        Diese Bestimmung sieht vor, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … einem Flüchtling die ihm von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, diese beenden oder ihre Verlängerung ablehnen [können], wenn … er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde“.

10.      Dieser Grund für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft lehnt sich unmittelbar an den Wortlaut von Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention an, aus dem hervorgeht, dass sich auf den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein Flüchtling nicht berufen kann, der „eine Gefahr für die Allgemeinheit [des Aufenthaltsstaats] bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde“. Dieselbe Ausnahme vom Grundsatz der Nichtzurückweisung findet sich auch in Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95(8).

11.      In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich zunächst die Auslegung befürworten, nach der Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 zwei kumulative Voraussetzungen aufstellt, unter denen ein Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft aberkennen kann. In diesem Zusammenhang werde ich erläutern, warum ich eine rechtskräftige Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat als eine notwendige, nicht aber als eine hinreichende Voraussetzung ansehe, um es einem Mitgliedstaat zu erlauben, diese Eigenschaft abzuerkennen.

12.      Anschließend werde ich begründen, warum ich der Auffassung bin, dass die Gefahr, die von der verurteilten Person zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft für die Allgemeinheit des betreffenden Mitgliedstaats ausgeht, tatsächlich, gegenwärtig und hinreichend erheblich sein muss.

13.      Schließlich werde ich klarstellen, dass eine Entscheidung, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen, meines Erachtens den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und im weiteren Sinne die Grundrechte der betroffenen Person, wie sie in der Charta garantiert werden, beachten muss.

14.      Die Rechtssache C‑663/21 wirft ein zusätzliches Problem auf, das die Auslegung der Richtlinie 2008/115 betrifft. Im Wesentlichen geht es um die Frage, ob eine Rückkehrentscheidung erlassen werden muss, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige nicht in sein Herkunftsland zurückgeschoben werden kann. Ich werde mich auf die jüngste Rechtsprechung des Gerichtshofs stützen, um ihm vorzuschlagen, diese Frage mit Nein zu beantworten.

II.    Sachverhalt der Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

A.      Rechtssache C663/21

15.      AA reiste am 10. Dezember 2014 unrechtmäßig in Österreich ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Entscheidung vom 22. Dezember 2015 erkannte ihm das Amt die Flüchtlingseigenschaft zu.

16.      Am 22. März 2018 wurde AA wegen gefährlicher Drohung, Sachbeschädigung, unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften und Suchtgifthandels zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten sowie zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen verurteilt. Am 14. Januar 2019 wurde AA wegen vorsätzlicher Körperverletzung und gefährlicher Drohung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Am 11. März 2019 wurde er wegen versuchter Körperverletzung und gefährlicher Drohung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Der Vollzug all dieser Freiheitsstrafen wurde bedingt nachgesehen.

17.      Am 13. August 2019 wurde AA wegen aggressiven Verhaltens gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht mit einer Geldstrafe belegt.

18.      Mit Bescheid vom 24. September 2019 erkannte das Amt AA die Flüchtlingseigenschaft ab und entschied, ihm keinen subsidiären Schutzstatus oder Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu gewähren. Das Amt erklärte außerdem, dass eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot gegen ihn erlassen und ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt werde, sprach zugleich aber aus, dass seine Abschiebung nach Syrien nicht zulässig sei.

19.      Gegen diesen Bescheid des Amts vom 24. September 2019 erhob AA Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (Österreich). Später erklärte er, dass er seine Beschwerde zurückziehe, soweit sie sich auf den Teil des Spruchpunkts dieser Entscheidung beziehe, in dem die Unzulässigkeit seiner Abschiebung festgestellt worden sei.

20.      Am 16. Juni und 8. Oktober 2020 wurde AA zu Freiheitsstrafen von vier bzw. fünf Monaten verurteilt, ohne dass die zuvor ausgesprochenen Strafnachsichten widerrufen wurden.

21.      Mit Erkenntnis vom 28. Mai 2021 hob das Bundesverwaltungsgericht (Österreich) den Bescheid des Amts vom 24. September 2019 auf. Dieses Gericht führte aus, dass für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft vier Voraussetzungen erfüllt sein müssten: Der Flüchtling müsse ein besonders schweres Verbrechen verübt haben, rechtskräftig verurteilt worden sein und eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen, und das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung müsse das Interesse des Flüchtlings an der Aufrechterhaltung des Schutzes durch den Zufluchtsstaat überwiegen.

22.      Es stellte fest, dass AA die ersten drei Voraussetzungen erfülle, war jedoch hinsichtlich der vierten Voraussetzung der Auffassung, dass die Interessen der Republik Österreich und die Interessen von AA gegeneinander abzuwägen seien, wobei das Ausmaß und die Art der Maßnahmen, denen er im Fall der Aberkennung des internationalen Schutzes ausgesetzt wäre, zu berücksichtigen seien. Da AA bei einer Rückkehr in sein Heimatland der Gefahr von Folter oder Tod ausgesetzt wäre, entschied das Bundesverwaltungsgericht (Österreich), dass seine Interessen die Interessen der Republik Österreich überwögen und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht entzogen werden dürfe.

23.      Gegen dieses Erkenntnis legte das Amt beim Verwaltungsgerichtshof (Österreich) Revision ein.

24.      Zur Stützung seines Rechtsmittels macht das Amt geltend, dass der Verwaltungsgerichtshof (Österreich) die Rechtsprechung, die die oben genannte vierte Voraussetzung vorsehe, in einem Kontext entwickelt habe, der mit dem derzeit geltenden Kontext nicht vergleichbar sei. Eine Abschiebung in das Herkunftsland sei nämlich mittlerweile nicht mehr zulässig, wenn die betroffene Person Konsequenzen ausgesetzt wäre, die zu einer Verletzung von Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(9) führen würden. Daher sei die im vorliegenden Fall vom Bundesverwaltungsgericht (Österreich) vorgenommene Interessenabwägung nicht erforderlich, weil diese Person aufgrund einer Entscheidung, mit der die Unzulässigkeit einer Abschiebung festgestellt worden sei, einen Schutz vor Abschiebung genieße. Zudem könne eine solche Interessenabwägung nach Ansicht des Amts die Glaubwürdigkeit des im Unionsrecht im Einklang mit dem Genfer Abkommen vorgesehenen Schutzsystems untergraben.

25.      In Anbetracht dieser vom Amt vorgebrachten Argumente fragt sich das vorlegende Gericht, ob es für die Zwecke der Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 erforderlich ist, eine Güterabwägung vorzunehmen, nachdem festgestellt wurde, dass die betroffene Person wegen der Begehung eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden ist und eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Indem sich das vorlegende Gericht auf die vor ihm dargelegte Argumentation des Amts(10) stützt, weist es insbesondere darauf hin, dass eine solche Abwägung mit der Begründung abgelehnt werden könnte, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie darauf abziele, Personen die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen, die sich aufgrund ihrer massiven Kriminalität und der Gefahr, die sie daher für die Allgemeinheit darstellten, als unwürdig erwiesen hätten, diese Eigenschaft beizubehalten.

26.      Darüber hinaus weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft es jedenfalls nicht ermögliche, der Notwendigkeit Rechnung zu tragen, die von einer massiv straffällig gewordenen Person ausgehende Gefahr abzuwehren, wenn sich die Beendigung des Aufenthalts dieser Person wegen des Verbots des Refoulement als unzulässig erweise.

27.      Unter Berufung auf die Rechtslehre und die Erklärungen des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) führt dieses Gericht aus, dass es unterschiedliche Auffassungen über die Notwendigkeit gebe, eine Güterabwägung zwischen der von dem betreffenden Drittstaatsangehörigen ausgehenden Gefahr für die Allgemeinheit und den Risiken vorzunehmen, die eine Rückkehr in das Herkunftsland für diesen Staatsangehörigen mit sich bringen würde. Dieses Gericht hebt auch hervor, dass die österreichische Rechtsprechung in diesem Punkt offenbar innerhalb der Europäischen Union isoliert sei und dass diese Rechtsprechung es unmöglich machen könne, diesem Staatsangehörigen die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen.

28.      Darüber hinaus weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass das österreichische Recht vorsieht, dass in den Fällen, in denen der internationale Schutz entzogen wurde, eine Abschiebung in das Herkunftsland aber unzulässig ist, eine Rückkehrentscheidung, gegebenenfalls verbunden mit einem Einreiseverbot, erlassen werden muss. Somit werde der Aufenthalt des betroffenen Drittstaatsangehörigen in Österreich geduldet, solange seine Abschiebung unzulässig bleibe, ohne dass dieser Aufenthalt jedoch rechtmäßig wäre.

29.      Eine solche Praxis könne als mit der Richtlinie 2008/115 unvereinbar angesehen werden, weil sie insbesondere bedeute, dass eine Rückkehrentscheidung erlassen werde, die auf eine nicht absehbare Dauer undurchsetzbar sei, weil die Abschiebung des betreffenden Drittstaatsangehörigen bis zum möglichen Erlass einer gegenteiligen Entscheidung, die die Abschiebung für zulässig erkläre, als unzulässig anzusehen sei. In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht insbesondere nach der Tragweite des Urteils vom 3. Juni 2021, Westerwaldkreis(11).

30.      Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof (Österreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist bei der Beurteilung, ob der einem Flüchtling von der zuständigen Behörde zuvor zuerkannte Status des Asylberechtigten aus dem in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 genannten Grund aberkannt werden darf, eine Güterabwägung als eigenständiges Kriterium in der Form vorzunehmen, dass es für die Aberkennung erforderlich ist, dass die öffentlichen Interessen für die Rückführung die Interessen des Flüchtlings am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat überwiegen müssen, wobei dabei die Verwerflichkeit eines Verbrechens und die potenzielle Gefahr für die Allgemeinheit den Schutzinteressen des Fremden – beinhaltend das Ausmaß und die Art der ihm drohenden Maßnahmen – gegenüberzustellen sind?

2.      Stehen die Bestimmungen der Richtlinie 2008/115, im Besonderen deren Art. 5, 6, 8 und 9, einer nationalen Rechtslage entgegen, wonach gegen einen Drittstaatsangehörigen, dem sein bisheriges Aufenthaltsrecht als Flüchtling durch Aberkennung des Status des Asylberechtigten entzogen wird, selbst dann eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ist, wenn bereits im Zeitpunkt der Erlassung der Rückkehrentscheidung feststeht, dass eine Abschiebung wegen des Verbots des Refoulement auf unbestimmte Dauer nicht zulässig ist und dies auch in einer der Rechtskraft fähigen Weise festgestellt wird?

31.      Die österreichische, die belgische, die tschechische, die deutsche und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

B.      Rechtssache C8/22

32.      Mit Entscheidung des Generalkommissars vom 23. Februar 2007 wurde XXX die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

33.      Mit Urteil vom 20. Dezember 2010 verurteilte die Cour d’Assises de Bruxelles (Assisenhof [Schwurgericht], Belgien) XXX zu einer 25-jährigen Freiheitsstrafe(12).

34.      Mit Bescheid vom 4. Mai 2016 entzog ihm der Generalkommissar die Flüchtlingseigenschaft.

35.      Gegen diesen Bescheid erhob XXX Klage beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien).

36.      Mit Urteil vom 26. August 2019 wies dieses Gericht die Klage ab, weil sich die Gefahr, die XXX für die Allgemeinheit darstelle, aus seiner Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat ergebe. In diesem Zusammenhang habe der Generalkommissar nicht nachzuweisen brauchen, dass XXX eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Vielmehr hätte es XXX oblegen, nachzuweisen, dass er für die Allgemeinheit keine Gefahr mehr darstelle.

37.      Am 26. September 2019 legte XXX beim Conseil d’État (Staatsrat) Kassationsbeschwerde gegen dieses Urteil ein.

38.      Zur Begründung seines Rechtsmittels machte er im Wesentlichen geltend, dass es Sache des Generalkommissars gewesen sei, das Vorliegen einer tatsächlichen, gegenwärtigen und hinreichend erheblichen Gefahr für die Allgemeinheit zu beweisen, und dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich gewesen sei, um festzustellen, ob die von ihm ausgehende Gefahr die Aberkennung seiner Flüchtlingseigenschaft rechtfertige.

39.      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass die Gefahr für die Allgemeinheit schon allein dadurch erwiesen ist, dass der Inhaber der Rechtsstellung als Flüchtling wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, oder ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass die rechtskräftige Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat allein nicht ausreicht, um nachzuweisen, dass eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht?

2.      Wenn die rechtskräftige Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat allein nicht ausreicht, um nachzuweisen, dass eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, ist dann Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass er verlangt, dass der Mitgliedstaat nachweist, dass der Kassationsbeschwerdeführer seit seiner Verurteilung weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt? Muss der Mitgliedstaat nachweisen, dass diese Gefahr tatsächlich und gegenwärtig ist, oder reicht es aus, wenn eine potenzielle Gefahr gegeben ist? Ist Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie für sich genommen oder in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass er die Aberkennung der Rechtsstellung als Flüchtling nur dann erlaubt, wenn diese Aberkennung verhältnismäßig ist und die Gefahr, die der Inhaber dieser Rechtsstellung darstellt, hinreichend erheblich ist, um die Aberkennung zu rechtfertigen?

3.      Wenn der Mitgliedstaat nicht nachweisen muss, dass der Kassationsbeschwerdeführer seit seiner Verurteilung weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt und dass diese Gefahr tatsächlich, gegenwärtig und hinreichend erheblich ist, um die Aberkennung der Rechtsstellung als Flüchtling zu rechtfertigen, ist dann Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass aus ihm folgt, dass grundsätzlich der Nachweis der Gefahr für die Allgemeinheit dadurch erbracht ist, dass der Inhaber der Rechtsstellung als Flüchtling wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, dass dieser aber nachweisen kann, dass er keine solche Gefahr (mehr) darstellt?

40.      XXX, die belgische und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

41.      In der für beide Rechtssachen gemeinsamen mündlichen Verhandlung, die am 10. November 2022 stattgefunden hat, haben die belgische und die niederländische Regierung sowie die Kommission mündliche Ausführungen gemacht und auf die vom Gerichtshof zur mündlichen Beantwortung gestellten Fragen geantwortet.

III. Würdigung

A.      Zur Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95

42.      In Bezug auf die Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 betrifft die juristische Debatte in den vorliegenden Rechtssachen mehrere Punkte.

43.      Ist erstens davon auszugehen, dass diese Bestimmung zwei kumulative Voraussetzungen für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen Mitgliedstaat aufstellt, nämlich zum einen das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat und zum anderen den Nachweis, dass die Person, gegen die diese Verurteilung ergangen ist, eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt?

44.      Zweitens, falls diese erste Frage bejaht wird: Welche Merkmale muss diese Gefahr für die Allgemeinheit aufweisen? Muss ein Mitgliedstaat insbesondere nachweisen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige seit seiner Verurteilung weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt? Muss es sich darüber hinaus, analog zu dem, was der Gerichtshof in Bezug auf andere Bestimmungen des Unionsrechts entschieden hat, um eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr handeln?

45.      Drittens: Unterliegt die Entscheidung eines Mitgliedstaats, die Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 abzuerkennen, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit? Falls ja, zwischen welchen Rechtsgütern ist diese Abwägung vorzunehmen? Muss die zuständige Behörde insbesondere das Interesse des Aufnahmemitgliedstaats am Schutz seiner Allgemeinheit gegen das Interesse des betreffenden Drittstaatsangehörigen abwägen, in diesem Mitgliedstaat weiterhin Schutz zu genießen?

46.      Bevor ich auf diese verschiedenen Punkte eingehe, werde ich einige Vorbemerkungen zur Voraussetzung einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat machen.

1.      Vorbemerkungen zur Voraussetzung einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat

47.      Ich stelle fest, dass keine der von den vorlegenden Gerichten gestellten Fragen darauf abzielt, was es bedeutet, dass der betreffende Drittstaatsangehörige „wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt“ sein muss. Diese Frage wird hingegen direkt im Rahmen der Rechtssache Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (C‑402/22) gestellt, die derzeit auf Ersuchen des Raad van State (Staatsrat, Niederlande) vor dem Gerichtshof anhängig ist. Da jene Rechtssache somit den geeigneten Rahmen für die Abgrenzung dieser Voraussetzung bietet(13), beschränke ich mich hier auf die folgenden Bemerkungen, zu denen mich der Kontrast zwischen den jeweiligen Verurteilungen in den vorliegenden Rechtssachen veranlasst.

48.      So betrifft die Rechtssache C‑663/21 einen Drittstaatsangehörigen, dem die Flüchtlingseigenschaft aberkannt wurde, nachdem er wegen verschiedener Straftaten zu mehreren Haftstrafen mit Strafnachsicht verurteilt worden war. Demgegenüber betrifft die Rechtssache C‑8/22 einen Drittstaatsangehörigen, dem die Flüchtlingseigenschaft aberkannt wurde, nachdem er wegen verschiedener Straftaten, u. a. wegen Totschlags, zu 25 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war.

49.      Aus intuitiver Sicht und vorbehaltlich einer eingehenderen Definition des Begriffs „Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat“ scheint die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von einer Dauer und wegen einer Straftat, wie sie in der Rechtssache C‑8/22 in Rede stehen, unter diese Definition zu fallen oder zumindest nicht offensichtlich außerhalb ihres Anwendungsbereichs zu liegen.

50.      Dagegen wird man sich im Rahmen der Rechtssache C‑663/21 fragen können, ob mehrere Verurteilungen zu Freiheitsstrafen mit Bewährung wegen Straftaten, von denen keine für sich genommen als „besonders schwere Straftat“ eingestuft werden kann, die in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorgesehene Voraussetzung erfüllen. Dies wirft insbesondere die Frage auf, ob die kumulative Wirkung mehrerer Straftaten dazu führen kann, dass der Grad der besonderen Schwere erreicht wird, der nach dieser Bestimmung erforderlich ist.

51.      Ich werde diese Fragen, die in den vorliegenden Rechtssachen nicht erörtert wurden, hier nicht entscheiden und beschränke mich darauf, die Aufmerksamkeit der vorlegenden Gerichte darauf zu lenken, dass sie, wenn sie die Konsequenzen aus den Antworten des Gerichtshofs auf ihre Fragen ziehen, nicht von der Vorprüfung absehen können, ob eine Verurteilung wegen einer „besonders schweren Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorliegt oder nicht. Dabei handelt es sich nämlich um eine unabdingbare Voraussetzung für die Ausübung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Befugnis, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen.

52.      Ist dies jedoch zugleich eine hinreichende Voraussetzung für die Aberkennung? Die Beantwortung dieser Frage setzt voraus, die Beziehung zu klären, die für die Zwecke der Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 zwischen einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat und dem Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit besteht, um daraus abzuleiten, ob es sich um zwei kumulative Voraussetzungen handelt oder nicht.

2.      Zur Beziehung zwischen einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat und dem Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit

53.      Mit seiner ersten und seiner dritten Frage in der Rechtssache C‑8/22 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der in dieser Bestimmung vorgesehene Grund für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft bereits dann vorliegt, wenn feststeht, dass die betreffende Person wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist, ohne dass als gesonderte Voraussetzung geprüft werden muss, ob diese Person eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem sie sich aufhält.

54.      Diese Fragen erfordern die Feststellung, ob die Beziehung zwischen den beiden Kriterien, die zum einen in der rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat und zum anderen im Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit des betreffenden Mitgliedstaats bestehen, eine automatische kausale Beziehung ist, so dass das erste Kriterium notwendigerweise das zweite impliziert, oder ob es sich um zwei Kriterien handelt, die zwar miteinander verbunden sind, aber jeweils gesondert nachgewiesen werden müssen.

55.      Ist mit anderen Worten davon auszugehen, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 eine einzige Voraussetzung für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft aufstellt, d. h., dass sich die Gefahr für die Allgemeinheit allein schon daraus ergibt, dass die Person, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, rechtskräftig wegen einer besonders schweren Straftat verurteilt wurde? Oder ist davon auszugehen, dass diese Bestimmung zwei Voraussetzungen für diese Aberkennung aufstellt, so dass ein Mitgliedstaat zusätzlich zum Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat nachweisen müsste, dass der Flüchtling eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt?

56.      In diesem Punkt sind die Mitgliedstaaten offenbar unterschiedlicher Auffassung. Einige sind der Ansicht, dass eine Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat in jedem Fall ausreiche, um davon auszugehen, dass die betreffende Person eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Andere sind der Ansicht, dass auch das Bestehen einer solchen Gefahr als eigenständige Voraussetzung nachgewiesen werden müsse(14).

57.      Wie die Kommission bin auch ich der Auffassung, dass eine rechtskräftige Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat zwar eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 darstellt(15). Unter diesem Gesichtspunkt muss auch untersucht und festgestellt werden, ob die betreffende Person eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem sie sich aufhält. Diese Bestimmung sieht somit zwei Voraussetzungen vor, die zwar miteinander zusammenhängen, aber eigenständig sind und kumulativ erfüllt sein müssen. Die rechtskräftige Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat ist somit sowohl eine Voraussetzung für das Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne dieser Bestimmung als auch ein relevanter Gesichtspunkt für die Bewertung dieser Gefahr. Diese Verurteilung ist jedoch nicht der einzige Gesichtspunkt für die Zwecke einer solchen Bewertung, wie ich später erläutern werde.

58.      Der Wortlaut von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 spricht meines Erachtens für eine solche Auslegung.

59.      Ich stelle in diesem Zusammenhang fest, dass es zwar Unterschiede zwischen den Sprachfassungen dieser Bestimmung gibt(16), diese jedoch den Gedanken zum Ausdruck bringt, dass die betreffende Person nicht nur wegen einer besonders schweren Straftat verurteilt worden sein muss, sondern dass auch ein Zusammenhang zwischen der Straftat, deretwegen diese Person verurteilt wurde, und der von ihr ausgehenden Gefahr nachgewiesen werden muss. Diese Person muss somit aufgrund der von ihr begangenen Straftat eine Gefahr darstellen(17).

60.      Somit ist die nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 erforderliche Gefahr für die Allgemeinheit nicht nachgewiesen, wenn sie auf Behauptungen über von der betreffenden Person begangene Straftaten oder über ihr allgemeines Verhalten gestützt ist, die nicht zu einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat geführt haben.

61.      Im Einklang mit dem, was der Gerichtshof zum entsprechenden Grund in Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 für die Zurückweisung eines Flüchtlings ausgeführt hat, ist davon auszugehen, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft strengen Voraussetzungen unterwirft, da insbesondere nur ein Flüchtling, der wegen einer „besonders schweren Straftat“ rechtskräftig verurteilt wurde, als „Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats“ angesehen werden kann(18). Diese strengen Voraussetzungen stehen in angemessenem Verhältnis zu den erheblichen Folgen der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, nämlich dass die betreffende Person nicht mehr über alle in Kapitel VII der Richtlinie genannten Rechte und Leistungen verfügt, da diese mit dieser Rechtsstellung verbunden sind(19).

62.      Gleichwohl bedeutet das Bestehen einer Beziehung zwischen den beiden in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie genannten Kriterien meines Erachtens nicht, dass das Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit in allen Fällen automatisch aus einer Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat abzuleiten wäre, was folglich den Nachweis einer solchen Gefahr erübrigen würde.

63.      Unabhängig von den Sprachfassungen und der Art und Weise, wie diese die Beziehung zwischen einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat und dem Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit zum Ausdruck bringen, führt mich der Umstand, dass der Wortlaut dieser Bestimmung diese beiden Kriterien erwähnt, zu der Annahme, dass der Unionsgesetzgeber damit zwei kumulative Voraussetzungen vorgesehen hat, die erfüllt sein müssen, um die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft zu ermöglichen. Wenn die Gefahr für die Allgemeinheit keine eigenständige Voraussetzung wäre, hätte sich dieser Gesetzgeber folgerichtig damit begnügt, die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft allein auf der Grundlage einer Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat zu ermöglichen(20).

64.      So ist der Unionsgesetzgeber im Übrigen verfahren, indem er z. B. in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 als einen der Gründe für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling die Begehung einer „schweren nichtpolitischen Straftat“ und in Art. 17 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie als einen der Gründe für den Ausschluss von der Gewährung subsidiären Schutzes die Begehung einer „schweren Straftat“ vorgesehen hat. Ich stelle auch fest, dass unter den Gründen für den Ausschluss von der Gewährung subsidiären Schutzes die schwerwiegenden Gründe, die die Annahme rechtfertigen, dass die betreffende Person „eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem [sie] sich aufhält“, einen gesonderten und eigenständigen Ausschlussgrund darstellen.

65.      Im Vergleich zu diesen Bestimmungen schließe ich aus dem spezifischen Wortlaut von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95, dass sich das Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit nicht automatisch und in allen Fällen aus einer Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat ergeben kann, weil andernfalls der Hinweis darauf, dass die betreffende Person eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen muss, überflüssig wäre.

66.      Entgegen der von der belgischen Regierung vertretenen Auffassung hat die Auslegung, die davon ausgeht, dass zwei kumulative Voraussetzungen vorliegen, nicht zur Folge, dem anderen Grund für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, der in Art. 14 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 genannt wird – nämlich wenn es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass der Flüchtling „eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält“ –, die praktische Wirksamkeit zu nehmen. Meines Erachtens hat dieser Grund nämlich einen ihm eigenen Anwendungsbereich, weil er sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst. Daher können die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren(21). So verstanden unterscheidet sich die Gefahr für die Sicherheit eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 von der Gefahr für die Allgemeinheit eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie, die sich eher auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung des betreffenden Mitgliedstaats bezieht(22).

67.      Die Auslegung, nach der die zuständige Behörde sich nicht darauf beschränken darf, eine frühere Verurteilung zur Kenntnis zu nehmen, um die Flüchtlingseigenschaft nach dieser Bestimmung aberkennen zu können, wird meines Erachtens durch die Notwendigkeit bestätigt, diese Bestimmung in Anbetracht des Ziels der Richtlinie 2011/95 eng auszulegen.

68.      Wie nämlich aus ihrem zwölften Erwägungsgrund hervorgeht, besteht das Ziel dieser Richtlinie darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

69.      Die Flüchtlingseigenschaft ist einer Person zuzuerkennen, wenn sie die im Unionsrecht festgelegten Mindestnormen erfüllt. So erkennen die Mitgliedstaaten nach Art. 13 der Richtlinie 2011/95 einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III dieser Richtlinie erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu.

70.      Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 sieht hingegen einen Grund für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft vor, der eine Ausnahme von der allgemeinen Regel des Art. 13 dieser Richtlinie darstellt und bewirkt, dass die in Kapitel VII dieser Richtlinie aufgeführten Rechte und Leistungen eingeschränkt werden. Dieser Aberkennungsgrund muss daher meines Erachtens restriktiv ausgelegt werden, was bedeutet, dass er nur angewandt werden kann, wenn die zuständige Behörde nachweist, dass der betreffende Drittstaatsangehörige zum einen wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde und zum anderen eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.

71.      Eine solche Auslegung steht meines Erachtens auch im Einklang mit der Auslegung von Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention, wo es u. a. heißt, dass sich ein Flüchtling, der „eine Gefahr für die Allgemeinheit [des Aufenthaltsstaats] bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde“, nicht auf den Grundsatz der Nichtzurückweisung berufen kann. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass diese Bestimmung zwar einen anderen Zweck verfolgt, weil sie Ausnahmen vom Grundsatz der Nichtzurückweisung vorsieht, es aber feststeht, dass sie Vorbild für die vom Unionsgesetzgeber in Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 genannten Gründe für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft war. Ich halte es daher für angebracht, die Auslegung von Art. 33 Abs. 2 dieser Konvention zu berücksichtigen, die, wie aus den Erwägungsgründen 4, 23 und 24 der Richtlinie 2011/95 hervorgeht, einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt(23).

72.      Da die in Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 genannten Fälle, in denen die Mitgliedstaaten die Flüchtlingseigenschaft aberkennen oder ihre Zuerkennung ablehnen können, im Wesentlichen denen entsprechen, in denen die Mitgliedstaaten einen Flüchtling nach Art. 21 Abs. 2 dieser Richtlinie und Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention zurückweisen können, bin ich auch allgemein der Ansicht, dass die in diesen Bestimmungen genannten Gründe in gleicher Weise auszulegen sind.

73.      Da Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention offenbar vorwiegend dahin ausgelegt wird, dass er zwei Voraussetzungen aufstellt, nämlich zum einen eine rechtskräftige Verurteilung wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens und zum anderen das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Staates, in dem sich der betreffende Flüchtling aufhält(24), bestärkt dies meine Überzeugung, dass die entsprechenden Gründe, die sowohl in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 als auch in Art. 21 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie aufgeführt sind, ebenfalls das Vorliegen dieser beiden kumulativen Voraussetzungen erfordern.

74.      Nach alledem ist Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 meines Erachtens dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat den in dieser Bestimmung vorgesehenen Grund für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nur dann anwenden kann, wenn er zum einen nachweist, dass die betreffende Person wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, und zum anderen, dass diese Person eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt.

75.      Es ist nunmehr zu klären, welche Merkmale eine solche Gefahr aufweisen muss.

3.      Zu den Merkmalen der Gefahr für die Allgemeinheit

76.      Mit seiner zweiten Frage in der Rechtssache C‑8/22 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die auf diese Bestimmung gestützte Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft voraussetzt, dass eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats besteht.

77.      Im Rahmen seiner Frage an den Gerichtshof, ob die in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie genannte Gefahr für die Allgemeinheit tatsächlich, gegenwärtig und hinreichend erheblich sein muss, möchte das vorlegende Gericht auch wissen, ob der vom Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zur Gefährdung der öffentlichen Ordnung aufgestellte Standard auf diese Bestimmung zu übertragen ist.

78.      Dies betrifft insbesondere die Rechtsprechung, mit der der Gerichtshof im Bereich der Freizügigkeit der Unionsbürger einen Standard festgelegt hat, nach dem ein Unionsbürger, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, nur dann als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen werden kann, wenn sein individuelles Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt(25), ein Standard, der später im abgeleiteten Recht kodifiziert wurde(26). Dieser Standard ist auch auf Drittstaatsangehörige angewandt worden, die keine Familienangehörigen von Unionsbürgern waren. So wurde er mehrfach auf Personen angewandt, denen Rechte aus Assoziierungsabkommen verliehen wurden(27), dann in gewissem Umfang auf langfristig Aufenthaltsberechtigte(28) sowie, um zuzulassen, dass in einem Rückführungsverfahren keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt wird(29), dass ein einem Flüchtling erteilter Aufenthaltstitel widerrufen werden kann(30), dass ein Flüchtling in Abschiebehaft genommen wird(31), dass eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot verbunden wird(32), oder, um den Vollzug der Abschiebungshaft in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu rechtfertigen(33).

79.      Im Gegensatz dazu wurde der Standard, der das Bestehen einer tatsächlichen, gegenwärtigen und hinreichend erheblichen Gefahr erfordert, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, in anderen Zusammenhängen, insbesondere bei der Verweigerung von Visa für Studenten, nicht angewandt(34).

80.      So konnte entschieden werden, dass nicht jede Bezugnahme des Unionsgesetzgebers auf den Begriff „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ zwingend als ausschließlicher Verweis auf ein individuelles Verhalten zu verstehen ist, das eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats berührt, und dass der Wortlaut der in Rede stehenden Bestimmungen, ihr Zusammenhang und die mit der Regelung, zu denen sie gehören, verfolgten Ziele berücksichtigt werden müssen(35).

81.      Aus dieser kurzen Beschreibung der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich der Gefährdung der öffentlichen Ordnung geht hervor, dass diese Rechtsprechung je nach den Normen des Unionsrechts, die der Gerichtshof auszulegen hat, unterschiedliche Richtungen einschlägt, wobei jedes Mal der Wortlaut der in Rede stehenden Bestimmungen, der Kontext, in den sie sich einfügen, und das mit der Regelung, zu denen sie gehören, verfolgte Ziel berücksichtigt werden. Meines Erachtens sind die Merkmale der in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 genannten Gefahr für die Allgemeinheit daher unter Berücksichtigung des besonderen Wortlauts dieser Bestimmung, des Kontexts, in den sie sich einfügt, und des Ziels dieser Richtlinie zu definieren. Ich stelle ferner fest, dass die Nähe zwischen den beiden Arten von Gefahren, die einerseits die öffentliche Ordnung eines Mitgliedstaats und andererseits die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats bedrohen, zwar sicherlich einen Vergleich der Kriterien für die Einstufung einer solchen Gefahr zulässt, dass dies aber eine spezifische Analyse des Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie anhand einer wörtlichen, systematischen und teleologischen Auslegung nicht ersetzt.

82.      In dieser Hinsicht geht aus dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 hervor, dass die Gefahr für die Allgemeinheit, auf die sich diese Bestimmung bezieht, tatsächlich vorliegen muss. Diese Bestimmung sieht nämlich vor, dass die betreffende Person eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sie sich aufhält, „darstellt“. Wie die Kommission zu Recht feststellt, bedeutet das Erfordernis, dass die Gefahr tatsächlich sein muss, allerdings nicht, dass ihre künftige Verwirklichung gewiss sein muss.

83.      Darüber hinaus implizieren der Kontext, in den sich Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 einfügt, und die praktische Wirksamkeit der Voraussetzung, dass die betroffene Person eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, meines Erachtens, dass es sich um eine gegenwärtige Gefahr handeln muss.

84.      Zum Kontext, in den sich diese Bestimmung einfügt, weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass in der Systematik der Richtlinie 2004/83 die möglicherweise von einem Flüchtling für den betreffenden Mitgliedstaat ausgehende gegenwärtige Gefahr nicht im Rahmen des Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie Berücksichtigung findet, sondern im Rahmen zum einen ihres Art. 14 Abs. 4 Buchst. a, wonach dieser Mitgliedstaat die einem Flüchtling zuerkannte Rechtsstellung insbesondere dann aberkennen kann, wenn es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass dieser eine Gefahr für die Sicherheit darstellt, und zum anderen ihres Art. 21 Abs. 2, nach dem der Aufnahmemitgliedstaat, wozu ihn auch Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention ermächtigt, einen Flüchtling zurückweisen kann, wenn es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass dieser eine Gefahr für die Sicherheit oder die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt(36).

85.      Meines Erachtens gibt es jedoch keinen Grund für die Annahme, dass sich Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 im System dieser Richtlinie von Art. 14 Abs. 4 Buchst. a und Art. 21 Abs. 2 dieser Richtlinie – die, wie ich klarstelle, mit den entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie 2004/83 identisch sind – in Bezug auf das Erfordernis unterscheidet, dass die betreffende Person eine gegenwärtige Gefahr für den Mitgliedstaat darstellt, in dem sie sich aufhält. Eine andere Auslegung würde zu einer Inkohärenz bei der Auslegung dieser verschiedenen Bestimmungen führen.

86.      Da eine Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat als solche beweist, dass der Flüchtling eine besonders schwere Störung der Allgemeinheit bewirkt hat, die es erforderlich machte, das Verhalten, das diese Störung verursacht hat, strafrechtlich zu ahnden, bin ich außerdem der Ansicht, dass die Erwähnung des Bestehens einer Gefahr für die Allgemeinheit in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 ihren eigenen Sinn haben muss, wenn sie sich nicht als redundant erweisen soll.

87.      Die praktische Wirksamkeit des Hinweises, dass die betreffende Person eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen muss, besteht somit darin, der zuständigen Behörde den Nachweis aufzuerlegen, dass eine Person, die in der Vergangenheit wegen einer besonders schweren Straftat verurteilt wurde, zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Behörde ihr die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen erwägt, auch nach ihrer Verurteilung weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem sie sich aufhält.

88.      Aus dem Vorstehenden folgt, dass die von einem Verfahren zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft betroffene Person zu dem Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde ihre Entscheidung zu treffen hat, für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sie sich aufhält, eine gegenwärtige Gefahr darstellen muss.

89.      Darüber hinaus ergibt sich aus dem Grad der besonderen Schwere, der nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 in Bezug auf die Verurteilung wegen einer Straftat erforderlich ist, meines Erachtens die logische Konsequenz, dass die mit dieser Verurteilung verbundene Gefahr für die Allgemeinheit selbst zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft so erheblich sein muss, dass sie eine solche Aberkennung rechtfertigt.

90.      Die Anwendung des Standards für eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr im Rahmen von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 erscheint mir angesichts des Ausnahmecharakters dieser Bestimmung gegenüber der Regel für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Art. 13 dieser Richtlinie gerechtfertigt. Wie bereits erwähnt, impliziert dieser Ausnahmecharakter eine restriktive Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie, die umso mehr gerechtfertigt ist, als das Hauptziel dieser Richtlinie nicht die Abwehr von Gefahren für die Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder die Allgemeinheit der Mitgliedstaaten ist, sondern das im zwölften Erwägungsgrund dieser Richtlinie genannte Ziel(37).

91.      Die Anwendung dieses Standards lässt sich meines Erachtens auch aus dem ableiten, was der Gerichtshof in seinem Urteil T. in Bezug auf den Widerruf des den Personen mit Flüchtlingsstatus ausgestellten Aufenthaltstitels aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entschieden hat. Im Zusammenhang mit Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 hat der Gerichtshof nämlich den aus seiner Rechtsprechung zur Freizügigkeit der Unionsbürger hervorgegangenen Standard unmittelbar angewandt(38). Insoweit hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Richtlinie 2004/38 zwar andere Ziele als die Richtlinie 2004/83 verfolgt und es den Mitgliedstaaten freisteht, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit erfordern, dass aber der Umfang des Schutzes, den eine Gesellschaft ihren grundlegenden Interessen gewähren will, nicht je nach der Rechtsstellung der Person, die ihre Interessen beeinträchtigt, unterschiedlich ausfallen kann(39).

92.      In diesem Urteil hat der Gerichtshof eine Abstufung zwischen den Maßnahmen vorgenommen, denen ein Flüchtling ausgesetzt werden kann, je nachdem, ob ihre Folgen für ihn mehr oder weniger einschneidend sind. So bildet die Zurückweisung eines Flüchtlings, deren Folgen äußerst einschneidend sein können(40), die ultima ratio für einen Mitgliedstaat, wenn keine andere Maßnahme mehr möglich oder ausreichend ist, um der Gefahr entgegenzutreten, die von diesem Flüchtling für die Sicherheit oder die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats ausgeht(41). Der Widerruf des Aufenthaltstitels aufgrund einer Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung gemäß Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 hat ihrerseits weniger einschneidende Folgen als der Entzug der Flüchtlingseigenschaft oder gar die Zurückweisung als äußerstes Mittel(42). Diese Abstufung erklärt, warum nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestimmte Umstände, die nicht den Schweregrad aufweisen, der es einem Mitgliedstaat erlauben würde, gemäß Art. 21 Abs. 2 dieser Richtlinie eine Zurückweisung zu verfügen, einen Mitgliedstaat gleichwohl dazu berechtigen können, auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie dem betreffenden Flüchtling seinen Aufenthaltstitel zu entziehen(43).

93.      Obwohl die letztgenannte Bestimmung und Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, der ähnliche Kriterien wie Art. 14 Abs. 4 dieser Richtlinie enthält, unterschiedliche Formulierungen aufweisen(44), neige ich zu der Auffassung, dass, wenn eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, erforderlich ist, um die weniger einschneidende Maßnahme des Entzugs des Aufenthaltstitels eines Flüchtlings gemäß Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie zu ergreifen, dieselben Merkmale der Gefahr logischerweise erst recht für Entscheidungen erforderlich sein sollten, die einschneidendere Folgen haben und in der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft oder der Zurückweisung der betroffenen Person bestehen.

94.      Um zu beurteilen, ob eine Person eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit des betreffenden Mitgliedstaats darstellt, sind alle tatsächlichen oder rechtlichen Kriterien in Bezug auf die Situation des Flüchtlings zu berücksichtigen, die die Feststellung ermöglichen, ob sein persönliches Verhalten eine solche Gefahr begründet. Folglich gehören im Fall eines Flüchtlings, der strafrechtlich verurteilt wurde, die Art und die Schwere der begangenen Tat sowie der Zeitablauf seit ihrer Begehung zu den insoweit maßgeblichen Kriterien(45). Ich bin daher der Auffassung, dass neben der Beurteilung durch den Strafrichter, die natürlich ein entscheidender Faktor für die Beurteilung der Gefährlichkeit der betreffenden Person ist, auch das Verhalten dieser Person während des Zeitraums zwischen der strafrechtlichen Verurteilung und dem Zeitpunkt, zu dem das Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit beurteilt wird, berücksichtigt werden sollte. Dabei sind die mehr oder weniger lange Zeit, die seit der Verurteilung vergangen ist, die Wiederholungsgefahr und die Wiedereingliederungsbemühungen dieser Person zu berücksichtigen(46). Zeigt das Verhalten des Flüchtlings, dass bei ihm eine Haltung fortbesteht, die eine Neigung zu weiteren Handlungen erkennen lässt, die den grundlegenden Interessen der Gesellschaft ernsthaft schaden könnten, kann meines Erachtens eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit festgestellt werden.

95.      Ferner ist klarzustellen, dass der zuständigen Behörde, die die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen beabsichtigt, der Nachweis obliegt, dass die in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind. Auch wenn der Wortlaut dieses Absatzes in dieser Hinsicht weniger eindeutig ist als die Absätze 2 und 3 dieses Artikels, die die Mitgliedstaaten verpflichten, die Erfüllung der dort vorgesehenen Voraussetzungen nachzuweisen bzw. festzustellen, sehe ich keine Gründe, eine andere Auffassung zu vertreten(47). Es ist daher nicht Sache des Flüchtlings, den Beweis dafür zu erbringen, dass ihm seine Rechtsstellung nicht aberkannt werden darf.

96.      Darüber hinaus kann ich die im Rahmen der dritten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑8/22 skizzierte Lösung nicht befürworten, wonach das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit vermutet werden kann, sobald feststeht, dass die betreffende Person wegen der Begehung einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde. Auch wenn, wie ich zuvor erläutert habe, nach der Logik, die dem in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Aberkennungsgrund innewohnt, ein Zusammenhang zwischen einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat und dem Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit besteht, ist es nämlich Sache der zuständigen Behörde, in jedem Einzelfall festzustellen, ob diese Verurteilung – unter Berücksichtigung der individuellen Umstände und insbesondere des Zeitablaufs seit dieser Verurteilung sowie des Verhaltens des Flüchtlings während dieser Zeit – zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aberkennung noch ein entscheidendes Kriterium für die Feststellung des Bestehens einer solchen Gefahr darstellt. In diesem Rahmen müssen die in Art. 45 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes(48) vorgesehenen Verfahrensvorschriften eingehalten werden, indem es der betroffenen Person insbesondere ermöglicht wird, den Gründen entgegenzutreten, aus denen ihr die Flüchtlingseigenschaft nach Auffassung der zuständigen Behörde abzuerkennen ist.

97.      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 meines Erachtens dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat den in dieser Bestimmung vorgesehenen Grund für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nur dann anwenden kann, wenn er nachweist, dass die betreffende Person eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt.

4.      Zur Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

98.      Die erste Frage in der Rechtssache C‑663/21 und die zweite Frage in der Rechtssache C‑8/22 zielen darauf ab, ob die Anwendung des in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 genannten Grundes für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegt.

99.      Genauer gesagt möchte das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑663/21 im Wesentlichen wissen, ob diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass sie die Aberkennung der einem Drittstaatsangehörigen zuerkannten Flüchtlingseigenschaft nur zulässt, wenn das öffentliche Interesse an der Rückkehr dieses Staatsangehörigen in sein Herkunftsland unter Berücksichtigung des Ausmaßes und der Art der ihm drohenden Maßnahmen das Interesse dieses Staatsangehörigen am Weiterbestehen des internationalen Schutzes überwiegt. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass das vorlegende Gericht im Hinblick auf die der betreffenden Person drohenden Maßnahmen erwägt, insbesondere die Folgen zu berücksichtigen, die sich für diese Person aus einer etwaigen Rückkehr in ihr Herkunftsland ergeben.

100. Zur Beantwortung dieser Fragen weise ich zunächst darauf hin, dass der Gerichtshof in Bezug auf Art. 14 Abs. 4 Buchst. a und Art. 17 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zu den Modalitäten der Prüfung, die die zuständige Behörde dazu veranlassen kann, das Vorliegen eines Grundes für den Ausschluss oder die Aberkennung des internationalen Schutzes festzustellen, kürzlich entschieden hat, dass die Anwendung jeder dieser Bestimmungen voraussetzt, dass die zuständige Behörde in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, die ihr bekannt sind, vornimmt, um zu ermitteln, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass die Situation der betreffenden Person, die im Übrigen die Voraussetzungen, um internationalen Schutz zu erlangen oder diesen Schutz weiter zu genießen, erfüllt, zu einem der in diesen Bestimmungen genannten Fälle gehört(49).

101. Nach Auffassung des Gerichtshofs stellt diese Würdigung einen integralen Bestandteil des Verfahrens des internationalen Schutzes dar, das gemäß den Richtlinien 2011/95 und 2013/32 durchzuführen ist(50). Es ist allein Sache der Asylbehörde(51), unter gerichtlicher Kontrolle alle relevanten Tatsachen und Umstände einschließlich derjenigen, die sich auf die Anwendung der Art. 14 und 17 der Richtlinie 2011/95 beziehen, zu prüfen und nach Vornahme dieser Prüfung ihre Entscheidung zu erlassen(52).

102. Der Gerichtshof hat somit jeden Automatismus sowie jede Abhängigkeit gegenüber einer anderen Behörde ausgeschlossen, wenn die Asylbehörde eine Entscheidung zu treffen hat(53). Diese Behörde muss vielmehr über alle relevanten Informationen verfügen und anhand dieser Informationen ihre eigene Würdigung des Sachverhalts und der Umstände vornehmen, um den Inhalt ihrer Entscheidung zu bestimmen und diese umfassend zu begründen(54).

103. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass die Asylbehörde, wie sich aus dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 ergibt, über einen Ermessensspielraum verfügen muss, um zu entscheiden, ob Erwägungen, die die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats betreffen, zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft führen müssen oder nicht, was es ausschließt, dass die Feststellung einer Gefahr für diese Sicherheit automatisch eine solche Aberkennung nach sich zieht(55).

104. Meines Erachtens lassen sich die vorstehenden Erwägungen auf Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie übertragen. So muss die zuständige Behörde ebenfalls über einen Ermessensspielraum verfügen, um zu entscheiden, ob das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft führen soll oder nicht.

105. Ebenso wie die Asylbehörde angesichts der ihr eigenen Aufgaben frei beurteilen können muss, ob eine Gefahr für die nationale Sicherheit besteht, ohne sich auf eine nicht begründete Stellungnahme stützen zu müssen, die von mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörden abgegeben wurde(56), muss die Behörde, die die Flüchtlingseigenschaft aberkennt, frei beurteilen können, ob ein Flüchtling, der wegen einer besonders schweren Straftat verurteilt wurde, eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 darstellt.

106. Hierzu weise ich darauf hin, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten lediglich die Befugnis verleiht, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen. In Analogie zu dem, was der Gerichtshof in Bezug auf Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 zur Möglichkeit der Zurückweisung eines Flüchtlings entschieden hat, ist davon auszugehen, dass selbst dann, wenn die Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 erfüllt sind, die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft lediglich eine Befugnis darstellt, deren Ausübung dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen bleibt, die darin frei bleiben, sich für andere, weniger einschneidende Optionen zu entscheiden(57). Diese Bestimmung unterscheidet sich somit von Art. 12 dieser Richtlinie, der für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling zwingende Gründe vorsieht.

107. Durch die Wahrnehmung der ihnen in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 eingeräumten Befugnis führen die Mitgliedstaaten das Unionsrecht durch, was bedeutet, dass sie diese Befugnis nicht in einer Weise ausüben dürfen, die das Ziel dieser Richtlinie und deren praktische Wirksamkeit beeinträchtigen würde, und dass die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Grundes für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft unter Beachtung der in der Charta verankerten Grundrechte erfolgen muss(58). Zudem heißt es im 16. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, dass diese die Grundrechte und die in der Charta anerkannten Grundsätze achtet(59). Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass die Anwendung von Art. 14 Abs. 4 bis 6 dieser Richtlinie die Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats unberührt lässt, die einschlägigen Vorschriften der Charta zu beachten, wie sie in ihrem Art. 7 über die Achtung des Privat- und Familienlebens, Art. 15 über die Berufsfreiheit und das Recht, zu arbeiten, Art. 34 über die soziale Sicherheit und die soziale Unterstützung sowie Art. 35 über den Gesundheitsschutz verbürgt sind(60).

108. Darüber hinaus muss die Anwendung des in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Grundes für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten, was insbesondere bedeutet, dass sie zur Erreichung des mit dieser Bestimmung verfolgten Ziels geeignet sein muss und nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist(61). Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten zur Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, verpflichtet sind, wenn sie dieses Recht durchführen(62).

109. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durchzieht in Wirklichkeit das gesamte Verfahren, das einen Mitgliedstaat dazu veranlassen kann, die Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 abzuerkennen: zunächst im Stadium der Prüfung der besonderen Schwere der Straftat, die Gegenstand der strafrechtlichen Verurteilung war, dann bei der Prüfung, ob eine hinreichend erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit besteht, und schließlich bei der Entscheidung, ob angesichts des fakultativen Charakters der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht einer weniger strengen Maßnahme der Vorzug gegeben werden sollte.

110. Was diese letzte Beurteilungsphase betrifft, bin ich der Auffassung, dass im Bereich der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft von dem abzuweichen ist, was der Gerichtshof zu Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder c der Richtlinie 2004/83 in Bezug auf den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling entschieden hat, nämlich im Wesentlichen, dass die zuständige Behörde keine zusätzliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf den Einzelfall vorzunehmen braucht, wenn sie feststellt, dass die in diesen Bestimmungen vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind(63). Wie bereits erwähnt, sehen diese Bestimmungen Ausschlussgründe vor, die zwingend sind und von denen daher nicht abgewichen werden kann(64), was sie von den fakultativen Aberkennungsgründen unterscheidet, die Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 vorsieht.

111. Was die Frage betrifft, ob angesichts des fakultativen Charakters der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht einer weniger strengen Maßnahme der Vorzug gegeben werden sollte, setzt die vorzunehmende Beurteilung meines Erachtens eine Abwägung zwischen Interessen voraus, die sorgfältig zu definieren sind.

112. Aus der Sicht eines Mitgliedstaats zielt die Befugnis, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen, darauf ab, seine Allgemeinheit vor der Gefahr zu schützen, die ein Flüchtling für sie darstellt, indem sie den Erlass einer Maßnahme vorsieht, die zu einer strafrechtlichen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat hinzutreten kann.

113. Wenn die Person, der die Flüchtlingseigenschaft aberkannt wird, wegen des Grundsatzes der Nichtzurückweisung(65) nicht aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem sie sich aufhält, entfernt werden kann, wird man die Wirksamkeit einer Entscheidung über die Aberkennung dieser Eigenschaft zum Zweck der Abwehr der Gefahr, die diese Person für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, berechtigterweise in Frage stellen können. Gleichwohl kann die Möglichkeit der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft sowohl eine abschreckende als auch eine sanktionierende Funktion haben. Unter diesem Gesichtspunkt bietet die Befugnis eines Mitgliedstaats, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen, diesem die Möglichkeit, die Konsequenzen aus einem Verstoß gegen die Verpflichtung der betroffenen Person zu ziehen, die Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften sowie die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung getroffenen Maßnahmen zu beachten. Im Geist dessen, was Art. 2(66) und Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention vorsehen, halte ich es für legitim, auf Unionsebene vorzusehen, dass der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit den damit verbundenen Leistungen und Rechten als Gegenleistung die Achtung der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats gegenübersteht, der den internationalen Schutz gewährt hat.

114. Ich weise darauf hin, dass ein Verfahren zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft aus der Sicht der Person, die Gegenstand dieses Verfahrens ist, zur Folge hat, dass diese Person, auch wenn sie ihre Flüchtlingseigenschaft beibehält und ihr daher gemäß Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 bestimmte in der Genfer Konvention vorgesehene Rechte zustehen(67), nicht mehr über alle in Kapitel VII dieser Richtlinie genannten Rechte und Leistungen verfügt(68). Insbesondere verliert sie den Aufenthaltstitel, den Art. 24 dieser Richtlinie an die Flüchtlingseigenschaft knüpft(69). Meines Erachtens bildet daher das Interesse, das die betroffene Person angesichts ihrer persönlichen und familiären Situation an der Beibehaltung dieser Rechte und Leistungen hat, den zweiten Gegenstand der vorzunehmenden Abwägung.

115. Da es bei der Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 in einem Fall, in dem feststeht, dass die betroffene Person nicht zurückgewiesen werden kann, um die Wahrung der in Kapitel VII dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte und Leistungen geht, muss die zuständige Behörde prüfen, ob es angesichts des Grades der Gefahr für die Allgemeinheit, die diese Person darstellt, und ihrer persönlichen und familiären Situation verhältnismäßig ist, ihr die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen.

116. Unter diesem Gesichtspunkt muss die Behörde berücksichtigen, dass der Entzug der mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Rechte und Leistungen aufgrund der prekären Situation des Betroffenen, die hierdurch entstehen kann, nach Verbüßung der Strafe zu erneutem kriminellen Verhalten ermutigen kann, was dazu beitragen könnte, die Gefahr für die Allgemeinheit fortbestehen zu lassen, statt sie abzuwehren. Diese Feststellung spricht dafür, die Ausübung der in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Befugnis zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft auf das absolut Notwendige zu beschränken, damit die Abhilfe nicht schlimmer als das Übel ist.

117. Folglich kann ein Mitgliedstaat im Rahmen des Ermessensspielraums, den ihm diese Bestimmung einräumt, nicht nur entscheiden, ob er der betreffenden Person die Flüchtlingseigenschaft aberkennt oder nicht, sondern auch, einem Flüchtling, dem er diese Eigenschaft aberkennen möchte, Rechte einzuräumen, die über das in Art. 14 Abs. 6 dieser Richtlinie vorgesehene Minimum hinausgehen(70). Wie bereits erwähnt, verlangt die Ausübung der einem Mitgliedstaat durch Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie eingeräumten Befugnis insbesondere, eine Einzelfallprüfung der Vereinbarkeit dieser Ausübung mit bestimmten in der Charta garantierten Grundrechten vorzunehmen(71).

118. Sofern für die betroffene Person der Grundsatz der Nichtzurückweisung gilt, halte ich es hingegen für wenig relevant, bei der Entscheidung über die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft die Gefahren zu berücksichtigen, denen diese Person im Fall einer Rückkehr in ihr Herkunftsland ausgesetzt wäre. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt daher meines Erachtens nicht, dass die zuständige Behörde diese Gefahren im Rahmen der von ihr vorzunehmenden Abwägung berücksichtigt.

119. In Anbetracht dessen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die erste Vorlagefrage in der Rechtssache C‑663/21 und auf die zweite Vorlagefrage in der Rechtssache C‑8/22 zu antworten, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, wenn er von der in dieser Bestimmung vorgesehenen Befugnis zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft Gebrauch macht, die in der Charta garantierten Grundrechte und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten muss. Folglich muss dieser Mitgliedstaat, bevor er über die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach dieser Bestimmung entscheidet, sein Interesse am Schutz seiner Allgemeinheit gegen das Interesse abwägen, das die betroffene Person in Anbetracht der Folgen, die die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft insbesondere für ihre persönliche und familiäre Situation haben könnte, an der Beibehaltung ihrer Flüchtlingseigenschaft hat. Wenn ein Flüchtling jedoch nicht zurückgewiesen werden kann, weil er dadurch Gefahr liefe, dass seine in Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechte verletzt werden, verlangt Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 nicht, dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft von einer Abwägung zwischen dem Interesse des betreffenden Mitgliedstaats am Schutz seiner Allgemeinheit und den Gefahren abhängig gemacht wird, denen dieser Flüchtling bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt wäre.

B.      Zur Möglichkeit, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn der Grundsatz der Nichtzurückweisung Anwendung findet

120. Mit seiner zweiten Frage in der Rechtssache C‑663/21 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass sie dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen, dem die Flüchtlingseigenschaft aberkannt wurde, entgegensteht, wenn feststeht, dass eine Abschiebung dieses Staatsangehörigen nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Dauer ausgeschlossen ist.

121. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten unbeschadet der Ausnahmen nach den Abs. 2 bis 5 dieses Artikels gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung erlassen.

122. Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt, dass die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung ergreifen, wenn keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der eingeräumten Frist nachgekommen ist.

123. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie schieben die Mitgliedstaaten die Abschiebung auf, wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde.

124. Darüber hinaus verpflichtet Art. 5 der Richtlinie 2008/115 die Mitgliedstaaten ganz allgemein, bei der Umsetzung dieser Richtlinie den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten. In praktischer Hinsicht führt Art. 14 dieser Richtlinie eine Reihe von Garantien bis zur Rückkehr ein, die insbesondere Drittstaatsangehörigen zugutekommen, deren Abschiebung aufgeschoben wurde, und die ihnen eine Art Mindeststatus während des Zeitraums bieten, den ein solcher Aufschub umfasst.

125. Wie das vorlegende Gericht zu Recht feststellt, ist eine Rückkehrentscheidung, die gegen einen Drittstaatsangehörigen erlassen wird, der auf unbestimmte Dauer nicht abgeschoben werden kann, ab ihrem Erlass und bis auf Weiteres gleichsam ohne jede Wirksamkeit, was die von diesem Gericht geäußerten Zweifel an der Möglichkeit des Erlasses einer solchen Entscheidung erklärt.

126. Um den Standpunkt zu vertreten, dass in dieser Situation dennoch eine Rückkehrentscheidung getroffen werden sollte, berufen sich die am Verfahren in der Rechtssache C‑663/21 Beteiligten auf das Urteil vom 3. Juni 2021, Westerwaldkreis(72), in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass ein Mitgliedstaat, der beschließt, einem illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen keinen Aufenthaltstitel zu erteilen, auch dann verpflichtet ist, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn für diesen Drittstaatsangehörigen der Grundsatz der Nichtzurückweisung gilt. Dieser Umstand rechtfertige lediglich einen Aufschub der Abschiebung nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, und es müsse das Bestehen eines „Zwischenstatus“ von Drittstaatsangehörigen vermieden werden, die sich ohne Aufenthaltsberechtigung und ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befänden und gegebenenfalls einem Einreiseverbot unterlägen, gegen die aber keine wirksame Rückkehrentscheidung mehr bestünde(73). Es ist jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass dieses Urteil eine besondere Situation betraf, in der das zentrale Problem darin bestand, dass ein Drittstaatsangehöriger einem Einreiseverbot unterlag, während die Rückkehrentscheidung, die durch dieses Verbot ergänzt werden sollte, aufgehoben worden war. Die Argumentation des Gerichtshofs war auf diese Situation ausgerichtet, die sich von der in der Rechtssache C‑663/21 unterscheidet.

127. Abgesehen davon hat der Gerichtshof, auch wenn die Richtlinie 2008/115 darauf abzielt, unter Wahrung der Grundrechte und der Würde der betroffenen Personen eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige zu schaffen(74), den Erlass einer Rückkehrentscheidung unter bestimmten Umständen ausgeschlossen.

128. So hat der Gerichtshof klargestellt, dass das Recht auf Familienleben gemäß Art. 5 der Richtlinie 2008/115 eher dem Erlass einer Rückkehrentscheidung selbst als ihrer Vollstreckung entgegenstehen könnte(75).

129. Darüber hinaus war der Gerichtshof im speziellen Fall unbegleiteter Minderjähriger der Auffassung, dass der Erlass einer Rückkehrentscheidung aufgrund von Gesichtspunkten ausgeschlossen werden sollte, die der Abschiebung eines Minderjährigen entgegenstehen könnten(76).

130. Außerdem hat der Gerichtshof im Fall von Drittstaatsangehörigen, denen in einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt wurde, festgestellt, dass in Ermangelung jeglicher Möglichkeit, ein Drittland zu bestimmen, in das eine Abschiebung erfolgen könnte, keine Rückkehrentscheidung ergehen durfte(77).

131. Nach diesen Klarstellungen ist zur direkten Beantwortung der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts in der Rechtssache C‑663/21 auf die jüngste Rechtsprechung des Gerichtshofs zu verweisen.

132. Das von diesem Gericht aufgeworfene Problem hat der Gerichtshof meines Erachtens in seinem Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Abschiebung – Medizinisches Cannabis)(78), entschieden.

133. Der Gerichtshof hat nämlich darauf hingewiesen, dass ein Drittstaatsangehöriger, wenn er in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fällt, grundsätzlich den darin vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Rückführung zu unterwerfen ist, sofern sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde(79).

134. In dieser Hinsicht geht zum einen aus Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 hervor, dass dann, wenn die Illegalität des Aufenthalts erwiesen ist, gegenüber jedem Drittstaatsangehörigen unbeschadet der Ausnahmen nach Art. 6 Abs. 2 bis 5 unter strikter Einhaltung der in Art. 5 der Richtlinie festgelegten Anforderungen eine Rückkehrentscheidung ergehen muss, in der unter den in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2008/115 genannten Drittländern dasjenige anzugeben ist, in das dieser Drittstaatsangehörige abzuschieben ist(80). Zum anderen darf ein Mitgliedstaat einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nicht nach Art. 8 der Richtlinie 2008/115 abschieben, ohne dass zuvor eine Rückkehrentscheidung gegen diesen Drittstaatsangehörigen unter Beachtung der durch diese Richtlinie eingeführten materiellen und prozessualen Garantien erlassen wurde(81).

135. Der Gerichtshof hat jedoch auch klargestellt, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115, der eine für die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie geltende allgemeine Regel darstellt, die zuständige nationale Behörde verpflichtet, in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten, der als Grundrecht in Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 33 der Genfer Konvention sowie in Art. 19 Abs. 2 der Charta gewährleistet ist. Dies gilt u. a. dann, wenn diese Behörde nach Anhörung des Betroffenen beabsichtigt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung zu erlassen(82).

136. Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen entgegensteht, wenn in dieser Entscheidung als Zielland ein Land angegeben wird, bei dem es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Drittstaatsangehörige im Fall der Vollstreckung der Entscheidung der tatsächlichen Gefahr einer gegen Art. 18 oder Art. 19 Abs. 2 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre(83).

137. Hierzu hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass nach der letztgenannten Bestimmung nicht nur niemand in einen Staat abgeschoben werden darf, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht, sondern dies auch für einen Staat gilt, in dem das Risiko der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta besteht. Das in diesem Artikel aufgestellte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung hat absoluten Charakter, da es eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist, auf die sich Art. 1 der Charta bezieht(84).

138. Daraus folgt nach Auffassung des Gerichtshofs, dass gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei der Rückkehr in ein Drittland dem tatsächlichen Risiko unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta in Verbindung mit deren Art. 1 und Art. 19 Abs. 2 ausgesetzt wäre, keine Entscheidung über die Rückkehr in dieses Land ergehen darf, solange dieses Risiko fortbesteht(85). Ebenso wenig darf während dieses Zeitraums gegen den Drittstaatsangehörigen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen, was im Übrigen in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ausdrücklich vorgesehen ist(86).

139. Meines Erachtens geht aus dem Urteil Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Abschiebung – Medizinisches Cannabis) klar hervor, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 1, Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen, dem die Flüchtlingseigenschaft aberkannt wurde, entgegensteht, wenn feststeht, dass eine Abschiebung dieses Staatsangehörigen nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Dauer ausgeschlossen ist.

IV.    Ergebnis

140. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Verwaltungsgerichtshofs (Österreich) in der Rechtssache C‑663/21 und des Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) in der Rechtssache C‑8/22 wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

ist dahin auszulegen, dass

–        ein Mitgliedstaat den in dieser Bestimmung vorgesehenen Grund für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nur dann anwenden kann, wenn er zum einen nachweist, dass die betreffende Person wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, und zum anderen, dass diese Person eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt,

–        ein Mitgliedstaat den in dieser Bestimmung vorgesehenen Grund für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nur dann anwenden kann, wenn er nachweist, dass die betreffende Person eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, und

–        ein Mitgliedstaat, wenn er von der in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Befugnis zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft Gebrauch macht, die in der Charta garantierten Grundrechte und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten muss. Folglich muss dieser Mitgliedstaat, bevor er über die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach dieser Bestimmung entscheidet, sein Interesse am Schutz seiner Allgemeinheit gegen das Interesse abwägen, das die betroffene Person in Anbetracht der Folgen, die die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft insbesondere für ihre persönliche und familiäre Situation haben könnte, an der Beibehaltung ihrer Flüchtlingseigenschaft hat. Wenn ein Flüchtling jedoch nicht zurückgewiesen werden kann, weil er dadurch Gefahr liefe, dass seine in Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechte verletzt werden, verlangt Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 nicht, dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft von einer Abwägung zwischen dem Interesse des betreffenden Mitgliedstaats am Schutz seiner Allgemeinheit und den Gefahren abhängig gemacht wird, denen dieser Flüchtling bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt wäre.

2.      Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit Art. 1, Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte

ist dahin auszulegen, dass

er dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen, dem die Flüchtlingseigenschaft aberkannt wurde, entgegensteht, wenn feststeht, dass eine Abschiebung dieses Staatsangehörigen nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Dauer ausgeschlossen ist.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2011, L 337, S. 9. Diese Richtlinie ist die Neufassung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12, und Berichtigungen ABl. 2005, L 204, S. 24, und ABl. 2011, L 278, S. 13).


3      Unterzeichnet in Genf am 28. Juli 1951 (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) und in Kraft getreten am 22. April 1954.


4      Abgeschlossen in New York am 31. Januar 1967 und in Kraft getreten am 4. Oktober 1967. Vgl. Janku, L., „(In)Compatibility of Article 14 (4) and (6) of the Qualification Directive with the 1951 Refugee Convention“, Rede anlässlich des Nordic Asylum Law Seminar am 29. und 30. Mai 2017, abrufbar unter der Internetadresse http://mhi.hi.is/sites/mhi.hi.is/files/nalsfiles/4/nals_paper_janku.pdf.


5      C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, im Folgenden: Urteil M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft), EU:C:2019:403.


6      Vgl. Urteil M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (Rn. 97).


7      ABl. 2008, L 348, S. 98.


8      Vgl. Urteil M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (Rn. 93).


9      Unterzeichnet am 4. November 1950 in Rom.


10      Das Amt bezieht sich u. a. auf das Urteil vom 9. November 2010, B und D (C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661). In diesem Urteil hat der Gerichtshof zum einen entschieden, dass der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling gemäß Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder c der Richtlinie 2004/83 nicht voraussetzt, dass von der betreffenden Person eine gegenwärtige Gefahr für den Aufnahmemitgliedstaat ausgeht (Rn. 105), und zum anderen, dass ein solcher Ausschluss keine auf den Einzelfall bezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetzt (Rn. 111).


11      C‑546/19, EU:C:2021:432.


12      Während die Vorlageentscheidung nur sehr wenige Einzelheiten zum Sachverhalt des Ausgangsverfahrens enthält, führt die belgische Regierung aus, dass XXX im Wesentlichen wegen gemeinschaftlich begangenen Raubs und Totschlags verurteilt wurde.


13      Es wird insbesondere darum gehen, ob die Anforderungen und Parameter, die bei der Feststellung, dass eine Person eine „schwere Straftat“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 begangen hat, zu berücksichtigen sind, auch für die Entscheidung relevant sind, ob eine Person eine „besonders schwere Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie begangen hat. Zur Auslegung von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vgl. Urteil vom 13. September 2018, Ahmed (C‑369/17, EU:C:2018:713).


14      Vgl. u. a. Bericht der Kommission „Evaluation of the application of the recast Qualification Directive (2011/95/EU)“, 2019, S. 135, abrufbar unter der Internetadresse https://www.statewatch.org/media/documents/news/2019/feb/eu-ceas-qualification-directive-application-evaluation-1-19.pdf.


15      Vgl. in diesem Sinne Kraft, I., „Article 14, Revocation of, ending of or refusal to renew refugee status“, in Hailbronner, K., und Thym, D., EU Immigration and Asylum Law: A Commentary, 2. Aufl., C. H. Beck, München, 2016, S. 1225 bis 1233, insbesondere S. 1231.


16      Vgl. z. B. die deutsche, die niederländische und die finnische Sprachfassung, in denen es heißt, dass der betreffende Flüchtling eine Gefahr für die Allgemeinheit des betreffenden Mitgliedstaats darstellt, „weil er“ wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt wurde.


17      Vgl. u. a. EASO, Richterliche Analyse, Beendigung des internationalen Schutzes: Artikel 11,14, 16 und 19 der Anerkennungsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU), 2018, S. 54, abrufbar unter der Internetadresse https://euaa.europa.eu/sites/default/files/ending-international-protection_de.pdf.


18      Vgl. Urteil vom 24. Juni 2015, T. (C‑373/13, im Folgenden: Urteil T., EU:C:2015:413, Rn. 72).


19      Vgl. Urteil M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (Rn. 99). Insbesondere hat die Anwendung von Art. 14 Abs. 4 oder 5 der Richtlinie 2011/95 zur Folge, dass die betroffene Person den Aufenthaltstitel verliert, den Art. 24 dieser Richtlinie an die Flüchtlingseigenschaft im Sinne dieser Richtlinie knüpft (Rn. 103). Ein Flüchtling, gegen den eine Maßnahme nach Art. 14 Abs. 4 oder 5 der Richtlinie 2011/95 ergangen ist, kann daher als jemand betrachtet werden, der sich nicht rechtmäßig oder nicht mehr rechtmäßig im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhält (Rn. 104). Wie in Art. 14 Abs. 6 dieser Richtlinie ausdrücklich vorgesehen, kann diese Person jedoch bestimmte in der Genfer Konvention vorgesehene Rechte geltend machen oder weiterhin geltend machen, was bestätigt, dass sie ungeachtet dieser Aberkennung oder Verweigerung die Eigenschaft als Flüchtling namentlich im Sinne von Art. 1 Abschnitt A dieser Konvention hat oder behält (Rn. 99).


20      Wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, ist der ausdrückliche Verweis auf eine Gefahr für die Allgemeinheit des betreffenden Mitgliedstaats im Wortlaut von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 nicht lediglich als ein überflüssiger Hinweis zu verstehen, sondern als eine Voraussetzung, die ebenfalls erfüllt sein muss.


21      Vgl. entsprechend in Bezug auf Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 Urteil T. (Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung). Meines Erachtens ist es auch relevant, die vorgenommene Auslegung der Wendung „Gefahr für die Sicherheit des Landes“, in dem sich ein Flüchtling befindet, im Sinne von Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention zu berücksichtigen. Von dieser Bestimmung sind nämlich sowohl der Wortlaut des Art. 14 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 als auch der Wortlaut des Art. 21 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie inspiriert worden. Nach dem im Jahr 1997 von der Division of International Protection of the United Nations High Commissioner for Refugees (Abteilung für internationalen Schutz, Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen) veröffentlichten Kommentar zu dieser Konvention, der auf der folgenden Internetadresse abrufbar ist: https://www.unhcr.org/3d4ab5fb9.pdf, „werden die Ausdrücke ‚nationale Sicherheit‘ oder ‚Sicherheit des Landes‘ gegen ziemlich schwerwiegende Handlungen ins Treffen geführt, die unmittelbar oder mittelbar die Verfassung (Regierung), die territoriale Integrität, die Unabhängigkeit oder den Frieden in den Außenbeziehungen des betroffenen Landes in Gefahr bringen“ (freie Übersetzung) (S. 140).


22      Auch hier kann die Auslegung der Genfer Konvention helfen, den Ausdruck „eine Gefahr für die Allgemeinheit“ eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 besser zu erfassen. Insoweit ergibt sich aus dem in der vorangehenden Fußnote angeführten Kommentar zu dem entsprechenden Ausdruck „Gefahr für die Allgemeinheit“ des Landes, in dem sich der Flüchtling befindet, im Sinne von Art. 33 Abs. 2 dieser Konvention, dass dieser Ausdruck wie folgt definiert wird: „eine Gefahr für das friedliche Leben der Bevölkerung in verschiedenerlei Hinsicht. In diesem Sinne wird eine Person als Gefahr für die Gemeinschaft angesehen werden, wenn sie die Kommunikationsmittel sabotiert, Häuser und andere Bauten sprengt oder anzündet, friedliche Bürger angreift oder handgreiflich gegen sie wird, Einbrüche, Raubüberfälle oder Entführungen usw. verübt, kurz, wenn sie das zivile Leben stört und in Aufruhr versetzt, und insbesondere, wenn dies in großem Maßstab geschieht, so dass die betroffene Person tatsächlich zu einer öffentlichen Gefahr wird“ (freie Übersetzung) (S. 143).


23      Vgl. u. a. Urteil M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zur Notwendigkeit, die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 im Einklang mit der Genfer Konvention auszulegen, vgl. auch Urteil vom 13. September 2018, Ahmed (C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).


24      Vgl. „The refugee Convention, 1951: the Travaux préparatoires analysed with a Commentary by Dr. Paul Weis“, S. 246, abrufbar unter der Internetadresse https://www.unhcr.org/protection/travaux/4ca34be29/refugee-convention-1951-travaux-preparatoires-analysed-commentary-dr-paul.html.


25      Vgl. insbesondere Urteile vom 27. Oktober 1977, Bouchereau (30/77, EU:C:1977:172, Rn. 28 und 35), sowie vom 19. Januar 1999, Calfa (C‑348/96, EU:C:1999:6, Rn. 24 und 25).


26      Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).


27      Vgl. u. a. Urteile vom 10. Februar 2000, Nazli (C‑340/97, EU:C:2000:77, Rn. 57 und 58), vom 20. November 2001, Jany u. a. (C‑268/99, EU:C:2001:616, Rn. 59), und vom 8. Dezember 2011, Ziebell (C‑371/08, EU:C:2011:809, Rn. 82).


28      Vgl. Urteil vom 7. Dezember 2017, López Pastuzano (C‑636/16, EU:C:2017:949, Rn. 25 bis 28).


29      Vgl. Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 60).


30      Vgl. Urteil T. (Rn. 79).


31      Vgl. Urteil vom 15. Februar 2016, N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 67).


32      Vgl. Urteil vom 16. Januar 2018, E (C‑240/17, EU:C:2018:8, Rn. 49).


33      Vgl. Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main (C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 45).


34      Vgl. Urteil vom 4. April 2017, Fahimian (C‑544/15, EU:C:2017:255, Rn. 40).


35      Vgl. zu den Einreisebedingungen für Drittstaatsangehörige gemäß Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1) Urteil vom 12. Dezember 2019, E. P. (Gefahr für die öffentliche Ordnung) (C‑380/18, EU:C:2019:1071, Rn. 31 bis 33), sowie im Bereich des Rechts auf Familienzusammenführung Urteil vom 12. Dezember 2019, G. S. und V. G. (Gefährdung der öffentlichen Ordnung) (C‑381/18 und C‑382/18, EU:C:2019:1072, Rn. 54 und 55). Im letztgenannten Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12) dahin auszulegen ist, dass er einer innerstaatlichen Praxis nicht entgegensteht, nach der die zuständigen Behörden aus Gründen der öffentlichen Ordnung zum einen auf diese Richtlinie gegründete Einreise- und Aufenthaltsanträge aufgrund von im Zuge eines vorhergehenden Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ergangenen strafrechtlichen Verurteilungen ablehnen und zum anderen auf dieser Richtlinie beruhende Aufenthaltstitel entziehen bzw. deren Verlängerung ablehnen können, wenn gegen den Antragsteller eine im Verhältnis zur Aufenthaltsdauer hinreichend schwere Strafe verhängt wurde, sofern diese Praxis nur dann Anwendung findet, wenn die der in Rede stehenden strafrechtlichen Verurteilung zugrunde liegende Straftat hinreichend schwerwiegend ist, um die Notwendigkeit des Ausschlusses dieses Antragstellers vom Aufenthalt zu begründen, und sofern die zuständigen Behörden die in Art. 17 dieser Richtlinie vorgesehene individuelle Prüfung vornehmen (Rn. 70). Der Gerichtshof stellte klar, dass die genannten Behörden zu diesem Zweck nicht feststellen müssen, dass das individuelle Verhalten dieses Antragstellers eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats berührt (Rn. 63).


36      Vgl. Urteil vom 9. November 2010, B und D (C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 101).


37      Siehe Nr. 68 der vorliegenden Schlussanträge.


38      Vgl. Urteil T. (Rn. 78 und 79).


39      Vgl. Urteil T. (Rn. 77).


40      Vgl. Urteil T. (Rn. 72).


41      Vgl. Urteil T. (Rn. 71).


42      Vgl. zur Richtlinie 2004/83 Urteil T. (Rn. 74).


43      Vgl. zur Richtlinie 2004/83 Urteil T. (Rn. 75).


44      Insbesondere beziehen sich sowohl Art. 14 Abs. 4 Buchst. b als auch Art. 21 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 auf eine „Gefahr für die Allgemeinheit“ des betreffenden Mitgliedstaats, während Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie zwingende Gründe erwähnt, die u. a. mit der „öffentlichen Ordnung“ dieses Mitgliedstaats zusammenhängen. Auch wenn diese beiden Begriffe nicht als identisch angesehen werden sollten, scheinen mir die Nuancen, die eine Differenzierung zwischen ihnen ermöglichen könnten, nicht bedeutsam genug zu sein, um für die Zwecke der Analyse einen Vergleich der für die Anwendung dieser Bestimmungen geltenden Kriterien auszuschließen.


45      Vgl. Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 61 und 62).


46      Es liegt auf der Hand, dass bei einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die der Verurteilung des Drittstaatsangehörigen wegen einer besonders schweren Straftat unmittelbar nachfolgt, diese Verurteilung ausschlaggebend für den Nachweis sein wird, dass dieser Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Für die Beurteilung, ob eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, wird das Verhalten, das dieser Drittstaatsangehörige seit seiner Verurteilung an den Tag gelegt hat, hingegen umso wichtiger sein, je weiter der Zeitpunkt, zu dem über die Aberkennung seiner Flüchtlingseigenschaft entschieden wird, vom Zeitpunkt seiner Verurteilung entfernt ist.


47      Wie die Kommission festgestellt hat, ist auch das UNHCR der Ansicht, dass die Beweislast für die Erfüllung der Voraussetzungen von Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 bei dem Mitgliedstaat liegen sollte, der sich auf diese Bestimmung beruft. Vgl. „UNHCR Annotated Comments on the [Directive 2004/83]“, S. 30, abrufbar unter der Internetadresse https://www.unhcr.org/protection/operations/43661eee2/unhcr-annotated-comments-ec-council-directive-200483ec-29-april-2004-minimum.html.


48      ABl. 2013, L 180, S. 60.


49      Vgl. Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (C‑159/21, im Folgenden: Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., EU:C:2022:708, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).


50      Vgl. Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 73).


51      Die Asylbehörde wird in Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2013/32 definiert als „jede gerichtsähnliche Behörde beziehungsweise jede Verwaltungsstelle eines Mitgliedstaats, die für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständig und befugt ist, erstinstanzliche Entscheidungen über diese Anträge zu erlassen“.


52      Vgl. Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).


53      Vgl. Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 79).


54      Vgl. Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 80).


55      Vgl. Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 81). Hingegen hat der Gerichtshof im selben Urteil einen anderen Ansatz in Bezug auf Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 gewählt, der bestimmt, dass ein Drittstaatsangehöriger von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen ist, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er eine schwere Straftat begangen hat. Nach Auffassung des Gerichtshofs bedeutet die Verwendung des Ausdrucks „ist … ausgeschlossen“ in dieser Bestimmung nämlich, dass die Asylbehörde, sobald sie festgestellt hat, dass die betreffende Person eine schwere Straftat begangen hat, über keinen Ermessensspielraum verfügt (Rn. 90).


56      Vgl. Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 83).


57      Vgl. Urteil T. (Rn. 72).


58      Vgl. entsprechend Urteil vom 12. Dezember 2019, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Familienzusammenführung – Schwester des Flüchtlings) (C‑519/18, EU:C:2019:1070, Rn. 61 bis 64).


59      In diesem Erwägungsgrund heißt es darüber hinaus, dass diese Richtlinie darauf abzielt, nicht nur die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen, sondern auch die Anwendung der Art. 1, 7, 11, 14, 15, 16, 18, 21, 24, 34 und 35 der Charta zu fördern, und daher entsprechend umgesetzt werden sollte.


60      Vgl. Urteil M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (Rn. 109).


61      Vgl. entsprechend Urteil vom 12. Dezember 2019, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Familienzusammenführung – Schwester des Flüchtlings) (C‑519/18, EU:C:2019:1070, Rn. 66 und 67).


62      Vgl. u. a. Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Unmittelbare Wirkung) (C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 31).


63      Vgl. Urteil vom 9. November 2010, B und D (C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 109 und 111).


64      Vgl. Urteil vom 9. November 2010, B und D (C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 115). In diesem Urteil hat der Gerichtshof insbesondere festgestellt, dass die in Frage stehenden Ausschlussgründe mit dem Ziel geschaffen wurden, von der Flüchtlingsanerkennung Personen auszuschließen, die als des sich aus ihr ergebenden Schutzes unwürdig angesehen werden, und zu verhindern, dass diese Anerkennung den Urhebern bestimmter schwerwiegender Straftaten ermöglicht, sich einer strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen (Rn. 104).


65      Vgl. Urteil M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (Rn. 95), aus dem hervorgeht, dass die Zurückweisung eines Flüchtlings, der von einer der in Art. 14 Abs. 4 und 5 sowie Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 genannten Fallgruppen erfasst wird, unzulässig ist, wenn sie ihn der Gefahr aussetzen würde, in seinen in Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechten verletzt zu werden.


66      Dieser Artikel bestimmt, dass „[j]eder Flüchtling … gegenüber dem Land, in dem er sich befindet, Pflichten [hat], zu denen insbesondere die Verpflichtung gehört, die Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften sowie die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung getroffenen Maßnahmen zu beachten“.


67      Vgl. Urteil M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (Rn. 107).


68      Vgl. Urteil M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (Rn. 99).


69      Vgl. Urteil M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (Rn. 103).


70      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet in den verbundenen Rechtssachen M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2018:486, Nr. 129). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 3 der Richtlinie 2011/95 den Mitgliedstaaten erlaubt, u. a. zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes günstigere Normen vorzusehen, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.


71      Wie Generalanwalt Wathelet in seinen Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2018:486) festgestellt hat, „könnte ein Mitgliedstaat, der in Wahrnehmung [der in Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Befugnisse] einem Flüchtling den Zugang zu einer bestimmten ärztlichen Versorgung verwehrte, gegen Art. 35 der Charta (betreffend das Recht auf Gesundheitsversorgung) verstoßen“. Darüber hinaus muss dieser Mitgliedstaat berücksichtigen, dass sich „nicht ausschließen [lässt], dass etwa die Weigerung, einem Flüchtling nach seiner Haftentlassung einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu gestatten, obwohl er nicht in ein Drittland abgeschoben werden kann und daher wohl auf unbestimmte Zeit im Aufnahmemitgliedstaat verbleiben wird, je nach den Umständen gegen Art. 7 der Charta verstoßen kann“ (Nr. 134).


72      C‑546/19, EU:C:2021:432.


73      Vgl. Urteil vom 3. Juni 2021, Westerwaldkreis (C‑546/19, EU:C:2021:432, Rn. 57 bis 59).


74      Vgl. u. a. Urteil vom 20. Oktober 2022, Centre public d’action sociale de Liège (Rücknahme oder Aussetzung einer Rückkehrentscheidung) (C‑825/21, EU:C:2022:810, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


75      Vgl. Urteil vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. (Familienzusammenführung in Belgien) (C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 104).


76      Vgl. Urteil vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Rückkehr eines unbegleiteten Minderjährigen) (C‑441/19, EU:C:2021:9, Rn. 51 bis 56). Insbesondere hat der Gerichtshof entschieden, dass „der betreffende Mitgliedstaat vor Erlass einer Rückkehrentscheidung eine Untersuchung durchführen muss, um konkret zu prüfen, ob für den fraglichen unbegleiteten Minderjährigen im Rückkehrstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung steht“, und dass, wenn „keine solche Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung [steht], … gegen den Minderjährigen keine Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ergehen [kann]“ (Rn. 55 und 56).


77      Vgl. Urteil vom 24. Februar 2021, M u. a. (Überstellung in einen Mitgliedstaat), C‑673/19, EU:C:2021:127, Rn. 42 und 45).


78      C‑69/21, im Folgenden: Urteil Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Abschiebung – Medizinisches Cannabis), EU:C:2022:913.


79      Vgl. u. a. Urteil Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Abschiebung – Medizinisches Cannabis) (Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).


80      Vgl. u. a. Urteil Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Abschiebung – Medizinisches Cannabis) (Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).


81      Vgl. u. a. Urteil Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Abschiebung – Medizinisches Cannabis) (Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).


82      Vgl. u. a. Urteil Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Abschiebung – Medizinisches Cannabis) (Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).


83      Vgl. Urteil Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Abschiebung – Medizinisches Cannabis) (Rn. 56).


84      Vgl. u. a. Urteil Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Abschiebung – Medizinisches Cannabis) (Rn. 57).


85      Vgl. Urteil Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Abschiebung – Medizinisches Cannabis) (Rn. 58).


86      Vgl. Urteil Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Abschiebung – Medizinisches Cannabis) (Rn. 59).

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