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Document 62017CJ0393

Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 4. Juli 2019.
Openbaar Ministerie gegen Freddy Lucien Magdalena Kirschstein und Thierry Frans Adeline Kirschstein.
Vorabentscheidungsersuchen des Hof van beroep te Antwerpen.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2005/29/EG – Unlautere Geschäftspraktiken – Anwendungsbereich – Begriff ‚Geschäftspraktiken‘ – Richtlinie 2006/123/EG – Dienstleistungen im Binnenmarkt – Strafrecht – Genehmigungsregelungen – Hochschulwesen – ‚Master‘-Abschlusszeugnis – Verbot, bestimmte Grade ohne Berechtigung zu verleihen.
Rechtssache C-393/17.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2019:563

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

4. Juli 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2005/29/EG – Unlautere Geschäftspraktiken – Anwendungsbereich – Begriff ‚Geschäftspraktiken‘ – Richtlinie 2006/123/EG – Dienstleistungen im Binnenmarkt – Strafrecht – Genehmigungsregelungen – Hochschulwesen – ‚Master‘-Abschlusszeugnis – Verbot, bestimmte Grade ohne Berechtigung zu verleihen“

In der Rechtssache C‑393/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van beroep te Antwerpen (Berufungsgericht Antwerpen, Belgien) mit Entscheidung vom 7. Juni 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juni 2017, in dem Strafverfahren gegen

Freddy Lucien Magdalena Kirschstein,

Thierry Frans Adeline Kirschstein,

Beteiligte:

Vlaamse Gemeenschap,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer M. Vilaras in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer sowie der Richter J. Malenovský, L. Bay Larsen (Berichterstatter), M. Safjan und D. Šváby,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Juli 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Herren Kirschstein, vertreten durch T. Bauwens, H. de Bauw und M. Vandebeek, advocaten,

der Vlaamse Gemeenschap, vertreten durch J. Vandeuren und P. Vansteenkiste, advocaten,

der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von Y. Moussoux und M. Karolinski, avocats,

der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch T. Henze und J. Möller, dann durch J. Möller als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Varrone, avvocato dello Stato,

der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer und M. K. Bulterman als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigte,

der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, H. Shev, L. Zettergren und A. Alriksson als Bevollmächtigte,

der norwegischen Regierung, vertreten durch T. Sunde und M. Reinertsen Norum als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Wilman, A. Nijenhuis, N. Ruiz García und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. November 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) (ABl. 2005, L 149, S. 22) und der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36).

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen die Herren Freddy und Thierry Kirschstein wegen eines mutmaßlichen Verstoßes gegen eine nationale Strafbestimmung, mit der die Verleihung des „Master“-Grades ohne die dazu erforderliche Berechtigung geahndet wird.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2005/29

3

Im siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/29 heißt es:

„Diese Richtlinie bezieht sich auf Geschäftspraktiken, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Beeinflussung der geschäftlichen Entscheidungen des Verbrauchers in Bezug auf Produkte stehen. …“

4

Art. 2 („Definitionen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

c)

‚Produkt‘ jede Ware oder Dienstleistung, einschließlich Immobilien, Rechte und Verpflichtungen;

d)

‚Geschäftspraktiken im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern‘ (nachstehend auch ‚Geschäftspraktiken‘ genannt) jede Handlung, Unterlassung, Verhaltensweise oder Erklärung, kommerzielle Mitteilung einschließlich Werbung und Marketing eines Gewerbetreibenden, die unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts an Verbraucher zusammenhängt;

…“

5

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie gilt für unlautere Geschäftspraktiken … zwischen Unternehmen und Verbrauchern vor, während und nach Abschluss eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts.“

Richtlinie 2006/123

6

Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 2006/123 lautet:

„Diese Richtlinie berührt nicht das Strafrecht der Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten dürfen jedoch nicht unter Umgehung der Vorschriften dieser Richtlinie die Dienstleistungsfreiheit dadurch einschränken, dass sie Strafrechtsbestimmungen anwenden, die die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit gezielt regeln oder beeinflussen.“

7

In Art. 2 dieser Richtlinie heißt es:

„(1)   Diese Richtlinie gilt für Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden.

(2)   Diese Richtlinie findet auf folgende Tätigkeiten keine Anwendung:

a)

nicht-wirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse;

i)

Tätigkeiten, die im Sinne des Artikels [51 AEUV] mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind;

…“

8

Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

1.

‚Dienstleistung‘ jede von Artikel [57 AEUV] erfasste selbstständige Tätigkeit, die in der Regel gegen Entgelt erbracht wird;

6.

‚Genehmigungsregelung‘ jedes Verfahren, das einen Dienstleistungserbringer oder -empfänger verpflichtet, bei einer zuständigen Behörde eine förmliche oder stillschweigende Entscheidung über die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit zu erwirken;

8.

‚zwingende Gründe des Allgemeininteresses‘ Gründe, die der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung als solche anerkannt hat, einschließlich folgender Gründe: … Schutz der Verbraucher, der Dienstleistungsempfänger und der Arbeitnehmer …;

…“

9

Art. 9 („Genehmigungsregelungen“) Abs. 1 in Kapitel III dieser Richtlinie, das sich auf die Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer bezieht, bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme und die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit nur dann Genehmigungsregelungen unterwerfen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

a)

[D]ie Genehmigungsregelungen sind für den betreffenden Dienstleistungserbringer nicht diskriminierend;

b)

die Genehmigungsregelungen sind durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt;

c)

das angestrebte Ziel kann nicht durch ein milderes Mittel erreicht werden, insbesondere weil eine nachträgliche Kontrolle zu spät erfolgen würde, um wirksam zu sein.“

10

Art. 10 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2006/123 lautet:

„(1)   Die Genehmigungsregelungen müssen auf Kriterien beruhen, die eine willkürliche Ausübung des Ermessens der zuständigen Behörden verhindern.

(2)   Die in Absatz 1 genannten Kriterien müssen:

a)

nicht diskriminierend sein;

b)

durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein;

c)

in Bezug auf diesen Grund des Allgemeininteresses verhältnismäßig sein;

d)

klar und unzweideutig sein;

e)

objektiv sein;

f)

im Voraus bekannt gemacht werden;

g)

transparent und zugänglich sein.“

Belgisches Recht

11

Art. 25 § 7 des Decreet betreffende de herstructurering van het hoger onderwijs in Vlaanderen (Dekret über die Umstrukturierung des Hochschulwesens in Flandern) vom 4. April 2003 (Belgisch Staatsblad, 14. August 2003, S. 41004) lautete:

„Wer, ohne dazu berechtigt zu sein, die Grade Bachelor, Master mit oder ohne Spezifikation oder Doktor (‚doctor of philosophy‘ mit der Abkürzung PhD oder Dr.) oder die in § 2, § 3, § 4, § 5 und § 5bis genannten Grade und Titel verleiht, wird mit einer Freiheitsstrafe von acht Tagen bis drei Monaten und mit einer Geldstrafe von 125 Euro bis 500 Euro oder nur mit einer dieser Strafen bestraft.“

12

Diese Bestimmung wurde aufgehoben und ihr Wortlaut in Art. II.75 § 6 des Codex Hoger Onderwijs (Kodex Hochschulwesen) vom 11. Oktober 2013 (Belgisch Staatsblad, 27. Februar 2014, S. 15979) übernommen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13

Gegenstand des Strafverfahrens gegen die Herren Kirschstein ist die Verleihung des „Master“-Grades, ohne dazu berechtigt zu sein, durch Ausstellung von Zeugnissen und Diplomen, mit denen dieser Grad an Studierende verliehen wurde, die die von der Filiale Antwerpen der United International Business Schools of Belgium BVBA erteilte Ausbildung abgeschlossen haben.

14

Sie wurden von der Rechtbank van eerste aanleg Antwerpen, afdeling Antwerpen (Gericht des ersten Rechtszugs Antwerpen, Abteilung Antwerpen, Belgien) mit Urteil vom 14. Dezember 2015 wegen dieses Verstoßes jeweils zu einer Geldstrafe von 300 Euro verurteilt.

15

Am 29. Dezember 2015 legten die Herren Kirschstein und das Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft, Belgien) gegen dieses Urteil Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein.

16

Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass United International Business Schools of Belgium eine von der Vlaamse Gemeenschap (Flämische Gemeinschaft, Belgien) nicht anerkannte Hochschuleinrichtung ist, die Studiengänge anbietet, die zum Erwerb von „Master“-Diplomen in Belgien führen. Diese belgische Gesellschaft sei mit der schweizerischen Gesellschaft Global Education Services Switzerland AG (im Folgenden: GES Switzerland) sowie der spanischen Gesellschaft Global Education Services Spain SA verbunden. GES Switzerland koordiniere ein privates Hochschulsystem, das weder staatlich geregelt sei noch mit öffentlichen Mitteln subventioniert werde und das u. a. in Belgien abgehaltene Lehrveranstaltungen anbiete.

17

Im Rahmen des Ausgangsverfahrens trugen die Herren Kirschstein insbesondere vor, dass die nationale Regelung, nach der die Verleihung des „Master“-Grades ohne die dazu erforderliche Berechtigung strafbar sei, der Richtlinie 2005/29 und der Richtlinie 2006/123 widerspreche.

18

Unter diesen Umständen hat der Hof van beroep te Antwerpen (Berufungsgericht Antwerpen, Belgien) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist die Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen, dass sie der Regelung in Art. II.75 § 6 des Kodex Hochschulwesen, wonach es nicht anerkannten Bildungseinrichtungen allgemein verboten ist, die Bezeichnung „Master“ auf von ihnen ausgestellten Diplomen zu verwenden, entgegensteht, wenn diese Regelung mit einem Grund des Allgemeininteresses, nämlich dem Erfordernis, ein hohes Bildungsniveau zu gewährleisten, gerechtfertigt wird und hierzu kontrolliert werden können muss, ob die aufgestellten Qualitätsanforderungen tatsächlich erfüllt sind?

2.

Ist die Richtlinie 2006/123 dahin auszulegen, dass sie der Regelung in Art. II.75 § 6 des Kodex Hochschulwesen, wonach es nicht anerkannten Bildungseinrichtungen allgemein verboten ist, die Bezeichnung „Master“ auf von ihnen ausgestellten Diplomen zu verwenden, entgegensteht, wenn diese Regelung mit einem Grund des Allgemeininteresses, nämlich dem Schutz von Dienstleistungsempfängern, gerechtfertigt wird?

3.

Hält die Strafvorschrift, die auf von den flämischen Behörden nicht anerkannte Bildungseinrichtungen, die „Master“‑Diplome ausstellen, anwendbar ist, der Verhältnismäßigkeitsprüfung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c und Art. 10 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2006/123 stand?

Zur Zulässigkeit

19

Die Flämische Gemeinschaft sowie die belgische, die polnische und die norwegische Regierung machen Argumente geltend, die die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens oder einzelner darin enthaltener Fragen aus verschiedenen Gründen in Frage stellen.

20

Erstens trägt die polnische Regierung vor, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung könne nicht auf der Grundlage der Richtlinie 2005/29 oder der Richtlinie 2006/123 geprüft werden, da sich aus Art. 6 und Art. 165 Abs. 1 AEUV ergebe, dass die Gestaltung der Bildungssysteme in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle.

21

Insoweit ist zum einen festzustellen, dass die Mitgliedstaaten die ihnen vorbehaltenen Befugnisse unter Wahrung des Unionsrechts ausüben müssen, und zum anderen, dass aus keiner Stelle der Richtlinie 2005/29 oder der Richtlinie 2006/123 hervorgeht, dass die unter das Hochschulwesen fallenden Dienstleistungen vom jeweiligen Anwendungsbereich dieser Richtlinien ausgenommen sind. Daher kann die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Gestaltung ihres Bildungssystems eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende dem Anwendungsbereich dieser Richtlinien nicht entziehen (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Dezember 2007, Jundt, C‑281/06, EU:C:2007:816, Rn. 86 und 87).

22

Zweitens geht nach Ansicht der Flämischen Gemeinschaft sowie der belgischen, der polnischen und der norwegischen Regierung aus den besonderen Umständen des Ausgangsverfahrens hervor, dass sich die Antworten auf einige oder alle Fragen nicht auf die Entscheidung des Ausgangsverfahrens auswirken können.

23

So vertritt zunächst die polnische Regierung in erster Linie die Auffassung, dass die Richtlinie 2006/123 im Ausgangsverfahren nicht anwendbar sei, weil dieses nur einen rein innerstaatlichen Sachverhalt betreffe, dem jedes grenzüberschreitende Element fehle. Sodann machen die Flämische Gemeinschaft, die belgische Regierung und hilfsweise die polnische Regierung geltend, dass die Anwendbarkeit dieser Richtlinie im vorliegenden Fall ausgeschlossen werden müsse, da die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden „Master“-Diplome von GES Switzerland verliehen worden seien, die sich als schweizerische Gesellschaft nicht auf diese Richtlinie berufen könne. Schließlich trägt die norwegische Regierung – ohne ausdrücklich die Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens geltend zu machen – vor, dass weder die Richtlinie 2005/29 noch die Richtlinie 2006/123 im Ausgangsverfahren anwendbar seien, sollte sich herausstellen, dass diese Gesellschaft diese Diplome ausgestellt habe.

24

Selbst wenn davon auszugehen sein sollte, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden „Master“-Diplome von einer belgischen Gesellschaft ausgestellt worden sind und die im Ausgangsverfahren erheblichen Merkmale daher sämtlich nicht über die Grenzen eines einzigen Mitgliedstaats hinausweisen, geht jedoch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die in Kapitel III der Richtlinie 2006/123 enthaltenen Bestimmungen, auf die sich die zweite und die dritte Vorlagefrage beziehen, auch auf einen solchen Sachverhalt anwendbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2018, X und Visser, C‑360/15 und C‑31/16, EU:C:2018:44, Rn. 110).

25

Außerdem können die aus der besonderen Rolle von GES Switzerland abgeleiteten Argumente in dieser Rechtssache in keinem Fall durchgreifen. Aus den vom vorlegenden Gericht, das allein für die Feststellung des Sachverhalts im Ausgangsverfahren zuständig ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Juli 2016, Kratzer, C‑423/15, EU:C:2016:604, Rn. 27, und vom 27. April 2017, A-Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 35), auf Aufforderung des Gerichtshofs vorgelegten Informationen geht nämlich hervor, dass diese Rolle nicht nachgewiesen worden ist und dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden „Master“-Diplome entweder von einer belgischen Gesellschaft oder von einer schweizerischen Gesellschaft und einer spanischen Gesellschaft ausgestellt worden sein können.

26

Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Antworten auf die zweite und die dritte Frage nicht auf die Entscheidung des Ausgangsverfahrens auswirken können.

27

Drittens bestreiten die Flämische Gemeinschaft und die belgische Regierung die Zulässigkeit bzw. die Erheblichkeit der Fragen, indem sie verschiedene Argumente zum Nachweis vorbringen, dass diese Fragen auf einer fehlerhaften Auslegung der Richtlinie 2005/29 und der Richtlinie 2006/123 beruhen.

28

Diese unterschiedlichen Auslegungen berühren jedoch den Inhalt dieser Fragen und können daher nicht zur Feststellung ihrer Unzulässigkeit führen. Der Umstand, dass diese unterschiedlichen Auslegungen zum Teil die Anwendbarkeit dieser Richtlinien betreffen, kann diese Beurteilung nicht in Frage stellen, da der Einwand der Unanwendbarkeit dieser Bestimmung auf das Ausgangsverfahren nicht die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens betrifft, sondern den Inhalt der Fragen, wenn nicht offensichtlich ist, dass die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2006, Manfredi u. a., C‑295/04 bis C‑298/04, EU:C:2006:461, Rn. 30).

29

Viertens macht die polnische Regierung geltend, dass die Vorlageentscheidung keine Wiedergabe des Inhalts der belgischen Vorschriften über die Berechtigung zur Verleihung des „Master“-Grades umfasse und daher nicht genügend Angaben enthalte, um dem Gerichtshof die sachdienliche Beantwortung der zweiten Frage zu ermöglichen.

30

In diesem Zusammenhang sieht Art. 94 Buchst. b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vor, dass das Vorabentscheidungsersuchen den Wortlaut der möglicherweise auf das Ausgangsverfahren anwendbaren nationalen Vorschriften und gegebenenfalls die einschlägige nationale Rechtsprechung enthalten muss.

31

Im vorliegenden Fall ist zwar festzustellen, dass die Vorlageentscheidung keine vollständige Darstellung der belgischen Regelung über das Verfahren enthält, das die Berechtigung zur Verleihung des „Master“-Grades regelt.

32

Gleichwohl ist der Wortlaut der Strafbestimmung, auf die sich die zweite Frage unmittelbar bezieht, in der Vorlageentscheidung eindeutig dargelegt und sind die Angaben in dieser Entscheidung ausreichend, um dem Gerichtshof zu ermöglichen, dem vorlegenden Gericht, dem es ausschließlich obliegt, sich zur Vereinbarkeit der belgischen Regelung mit dem Unionsrecht zu äußern, einige zweckdienliche Hinweise zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2014, Ålands Vindkraft, C‑573/12, EU:C:2014:2037, Rn. 126 und die dort angeführte Rechtsprechung), damit es den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden kann.

33

Fünftens und letztens trägt die belgische Regierung vor, die dritte Frage sei unerheblich, da die Ausstellung der Diplome in der Flämischen Gemeinschaft keiner Genehmigungsregelung unterworfen sei.

34

Es ist darauf hinzuweisen, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, im Rahmen der in Art. 267 AEUV vorgesehenen justiziellen Zusammenarbeit über die Auslegung nationaler Vorschriften zu befinden oder zu entscheiden, ob deren Auslegung durch das vorlegende Gericht richtig ist (Urteil vom 26. März 2015, Macikowski, C‑499/13, EU:C:2015:201, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Da das derart vorgetragene Argument der belgischen Regierung so, wie sie es vorträgt, auf einer anderen Auslegung der nationalen Regelung als der des vorlegenden Gerichts beruht, kann es folglich nicht zur Feststellung der Unzulässigkeit der dritten Frage führen.

36

Nach alledem ist das Vorabentscheidungsersuchen insgesamt für zulässig zu erklären.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

37

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die strafrechtliche Sanktionen gegen Personen vorsieht, die ohne vorherige Ermächtigung der zuständigen Behörde einen „Master“-Grad verleihen.

38

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine nationale Regelung nur in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2005/29 fallen, wenn die von dieser Regelung erfassten Verhaltensweisen Geschäftspraktiken im Sinne dieser Richtlinie sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Januar 2010, Plus Warenhandelsgesellschaft, C‑304/08, EU:C:2010:12, Rn. 35, und vom 17. Oktober 2013, RLvS, C‑391/12, EU:C:2013:669, Rn. 35).

39

Insoweit ergibt sich aus Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie, dass unter „Geschäftspraktiken“ jede Handlung, Unterlassung, Verhaltensweise oder Erklärung, kommerzielle Mitteilung einschließlich Werbung und Marketing eines Gewerbetreibenden, die unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts an Verbraucher zusammenhängt, zu verstehen ist. Der Begriff „Produkt“ wiederum umfasst nach seiner Definition in Art. 2 Buchst. c dieser Richtlinie jede Ware oder Dienstleistung, einschließlich Immobilien, Rechte und Verpflichtungen.

40

Außerdem geht schon aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29 hervor, dass diese Geschäftspraktiken vor, während und nach Abschluss eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts stattfinden.

41

Diese Praktiken müssen insbesondere unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung ihrer Produkte an Verbraucher zusammenhängen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Oktober 2013, RLvS, C‑391/12, EU:C:2013:669, Rn. 37, und vom 4. Oktober 2018, Kamenova, C‑105/17, EU:C:2018:808, Rn. 42).

42

Daraus folgt, dass diese Geschäftspraktiken zwar eng mit einem auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäft verbunden sind, sie sich aber nicht mit dem Produkt, das Gegenstand dieses Geschäfts ist, decken.

43

Daher sind Praktiken, die sich in den Rahmen der Geschäftsstrategie eines Dienstleistungserbringers einfügen und unmittelbar mit der Absatzförderung und dem Verkauf seiner Dienstleistungen zusammenhängen, Geschäftspraktiken (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. November 2010, Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag, C‑540/08, EU:C:2010:660, Rn. 18, und vom 17. Oktober 2013, RLvS, C‑391/12, EU:C:2013:669, Rn. 36).

44

In diesem Zusammenhang hat sich der Gerichtshof veranlasst gesehen, die Anwendbarkeit der Richtlinie 2005/29 sowohl an die Eigenschaft der betreffenden Praktiken als Geschäftspraktiken als auch an die Eigenschaft der betreffenden Dienstleistungen, auf die sich diese Praktiken beziehen, als Produkt zu knüpfen, ohne diese beiden Elemente zu vermischen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Mai 2017, Vanderborght, C‑339/15, EU:C:2017:335, Rn. 23 bis 25, und vom 13. September 2018, Wind Tre und Vodafone Italia, C‑54/17 und C‑55/17, EU:C:2018:710, Rn. 39).

45

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass bei einer nationalen Vorschrift, die bestimmen soll, welcher Wirtschaftsteilnehmer berechtigt ist, eine Dienstleistung zu erbringen, die Gegenstand eines Handelsgeschäfts ist, ohne unmittelbar die Praktiken zu regeln, die dieser Wirtschaftsteilnehmer sodann einsetzen darf, um den Absatz dieser Dienstleistung zu fördern oder voranzutreiben, nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie sich auf eine Geschäftspraktik bezieht, die unmittelbar mit der Erbringung dieser Dienstleistung im Sinne der Richtlinie 2005/29 zusammenhängt.

46

Insoweit ist festzustellen, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht die Modalitäten der Absatzförderung oder der Vermarktung der Dienstleistungen im Hochschulwesen betrifft, sondern die Berechtigung eines Wirtschaftsteilnehmers, solche Dienstleistungen zu erbringen, wenn diese die Verleihung eines bestimmten akademischen Grades umfassen, der einem spezifischen rechtlichen Schutz unterliegt und gegebenenfalls erlaubt, eine Reihe bestimmter Vorrechte wahrzunehmen.

47

Eine solche Regelung unterscheidet sich somit deutlich von Vorschriften, die vorsehen, wie ein Wirtschaftsteilnehmer, der zur Erbringung von Dienstleistungen dieser Art berechtigt ist, deren Vermarktung fördern darf, insbesondere indem er ein Qualitätskennzeichen oder die Genehmigung einer bekannten Universität beansprucht.

48

Eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende fällt daher nicht unter die Bestimmungen über Geschäftspraktiken im Sinne der Richtlinie 2005/29.

49

Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen ist, dass sie auf eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die strafrechtliche Sanktionen gegen Personen vorsieht, die – ohne vorherige Ermächtigung der zuständigen Behörde – einen „Master“-Grad verleihen, nicht anwendbar ist.

Zur zweiten und zur dritten Frage

50

Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2006/123 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die strafrechtliche Sanktionen gegen Personen vorsieht, die – ohne vorherige Ermächtigung der zuständigen Behörde – einen „Master“-Grad verleihen, entgegensteht.

51

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2006/123 nach ihrem Art. 2 Abs. 1 für Dienstleistungen gilt, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden.

52

Außerdem wird eine „Dienstleistung“ für die Zwecke dieser Richtlinie nach deren Art. 4 Nr. 1 als jede von Art. 57 AEUV erfasste selbständige Tätigkeit definiert, die in der Regel gegen Entgelt erbracht wird.

53

Des Weiteren ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die entgeltliche Durchführung von in das Hochschulwesen fallenden Leistungen durch Einrichtungen, die im Wesentlichen aus privaten Mitteln finanziert werden und einen Gewinn zu erzielen suchen, eine solche wirtschaftliche Tätigkeit darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Dezember 1993, Wirth, C‑109/92, EU:C:1993:916, Rn. 17, und vom 13. November 2003, Neri, C‑153/02, EU:C:2003:614, Rn. 39).

54

Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2006/123 schließt allerdings eine Reihe von Tätigkeiten, insbesondere nicht wirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und i dieser Richtlinie von ihrem Anwendungsbereich aus.

55

Insoweit tragen die belgische, die deutsche, die italienische und die niederländische Regierung zwar vor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen sei, da sie solche Tätigkeiten betreffe; es ist aber festzustellen, dass diese Regelung von den in diesen Bestimmungen vorgesehenen Ausnahmen nicht erfasst ist.

56

Erstens sind nämlich diese Regelung und die Vorschriften über die Berechtigung zur Verleihung von Graden, deren Wirksamkeit sie garantieren soll, u. a. auf Dienstleistungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar, die – wie aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht – von privaten Wirtschaftsteilnehmern erbracht werden, die aus eigener Initiative mit Gewinnerzielungsabsicht tätig werden und ohne über öffentliche Mittel zu verfügen. Sie beziehen sich daher nicht nur auf nicht wirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse.

57

Zweitens folgt aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die private Lehrtätigkeit an einer Universität keine Tätigkeit ist, die im Sinne dieser Bestimmung mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist (Urteil vom 18. Dezember 2007, Jundt, C‑281/06, EU:C:2007:816, Rn. 38).

58

Der Umstand, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung speziell die private Lehrtätigkeit betrifft, die die Verleihung eines Grades umfasst, kann diese Beurteilung nicht ändern.

59

Die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. i der Richtlinie 2006/123 vorgesehene Ausnahmeregelung muss sich nämlich auf Tätigkeiten beschränken, die als solche unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, was eine hinreichend qualifizierte Ausübung von Sonderrechten, Hoheitsprivilegien oder Zwangsbefugnissen voraussetzt (vgl. entsprechend Urteil vom 29. April 2010, Kommission/Deutschland, C‑160/08, EU:C:2010:230, Rn. 78 und 79).

60

Bei der Verleihung eines Grades, die gegebenenfalls unter der Aufsicht staatlicher Behörden und unter von diesen festgelegten Voraussetzungen erfolgen kann, fehlt es aber an einer solchen Verbindung mit der Ausübung öffentlicher Gewalt.

61

Darüber hinaus ist auch darauf hinzuweisen, dass aus Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 2006/123 hervorgeht, dass diese Richtlinie zwar nicht das Strafrecht der Mitgliedstaaten berührt, diese aber nicht unter Umgehung der Vorschriften dieser Richtlinie die Dienstleistungsfreiheit dadurch einschränken dürfen, dass sie Strafrechtsbestimmungen anwenden, die die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit gezielt regeln oder beeinflussen.

62

Vor diesem Hintergrund kann der Umstand, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung strafrechtlichen Charakter hat, nicht ausreichen, um die Anwendung dieser Richtlinie auf diese Regelung auszuschließen, da sie die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit beeinflusst, indem sie die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion gegen Wirtschaftsteilnehmer vorsieht, die eine Dienstleistung erbringen, ohne über die dazu nach belgischem Recht erforderliche Berechtigung zu verfügen.

63

Daher ist Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 2006/123 dahin auszulegen, dass er einer solchen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstünde, wenn die Vorschriften dieser Richtlinie durch sie umgangen würden.

64

Da nationale Vorschriften, die die Dienstleistungserbringer, die bestimmte akademische Grade verleihen wollen, verpflichten, bei den zuständigen Behörden eine sie dazu ermächtigende förmliche Entscheidung zu erwirken, eine Genehmigungsregelung im Sinne von Art. 4 Nr. 6 dieser Richtlinie schaffen, müssen diese Vorschriften insoweit den in Kapitel III dieser Richtlinie an solche Regelungen gestellten Anforderungen entsprechen.

65

Daraus folgt, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die die Wirksamkeit solcher Vorschriften sicherstellen soll, die Vorschriften der Richtlinie 2006/123 umgehen würde, wenn die Genehmigungsregelung, zu der sie eine Nebenregelung bildet, mit den Anforderungen in Kapitel III dieser Richtlinie unvereinbar wäre.

66

Zu diesen Anforderungen gehören die der Art. 9 und 10 dieser Richtlinie, auf die sich die Fragestellungen des vorlegenden Gerichts insbesondere beziehen.

67

Aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie geht hervor, dass die Mitgliedstaaten die Aufnahme und die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit nur dann Genehmigungsregelungen unterwerfen dürfen, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind.

68

Erstens verlangt Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/123, dass die Genehmigungsregelungen für den betreffenden Dienstleistungserbringer nicht diskriminierend sind.

69

Zu diesem Punkt ist weder der Vorlageentscheidung noch den dem Gerichtshof vorliegenden Akten zu entnehmen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung eine Diskriminierung zwischen den Dienstleistungserbringern, die die von ihr erfassten akademischen Grade verleihen wollen, vornähme.

70

Zweitens verlangt Art. 9 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie, dass die Genehmigungsregelungen durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind.

71

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung sowohl darauf abzielt, einen hohen Standard der Hochschulbildung sicherzustellen, als auch darauf, die Dienstleistungsempfänger zu schützen.

72

Diese beiden Ziele sind als zwingende Gründe des Allgemeininteresses anzusehen. Zum einen stellt Art. 4 Nr. 8 dieser Richtlinie nämlich klar, dass die Gründe, die der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung als solche anerkannt hat, als zwingende Gründe des Allgemeininteresses anzusehen sind, und führt als einem dieser Gründe ausdrücklich den Schutz der Dienstleistungsempfänger auf. Zum anderen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die beiden in Rn. 71 des vorliegenden Urteils angeführten Ziele zwingende Gründe des Allgemeininteresses darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Oktober 1999, Zenatti, C‑67/98, EU:C:1999:514, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 13. November 2003, Neri, C‑153/02, EU:C:2003:614, Rn. 46).

73

Außerdem ist die Verpflichtung für Dienstleistungserbringer, die akademische Grade verleihen wollen, eine entsprechende Berechtigung zu besitzen, geeignet, diese Ziele zu erreichen, indem den zuständigen Behörden ermöglicht wird, sich vor der Ausstellung der Diplome zu vergewissern, dass diese Dienstleistungserbringer ausreichende Garantien bieten, um die Qualität dieser Diplome sicherzustellen.

74

Drittens verlangt Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/123, dass das angestrebte Ziel nicht durch ein milderes Mittel erreicht werden kann, insbesondere weil eine nachträgliche Kontrolle zu spät erfolgen würde, um wirksam zu sein.

75

Hierzu ist festzustellen, dass eine nachträgliche Kontrolle keine ausreichende Wirksamkeit haben dürfte, um sicherzustellen, dass die mit einer Regelung angestrebten Ziele wie die der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erreicht werden.

76

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Garantie eines hohen Standards der Hochschulbildung eine systematische Kontrolle der Studiengänge, die zur Ausstellung von Diplomen führen können, und der Modalitäten für die Prüfung der Fähigkeit der Studierenden, die betreffenden Grade zu erwerben, erfordern kann.

77

Da die Ausstellung eines Diploms als solche den Zugang zu bestimmten Berufen ermöglichen und darüber hinaus von einem Arbeitgeber bei der Einstellung einer Person berücksichtigt werden kann, die dieses Diplom besitzt, kann sodann eine Unsicherheit hinsichtlich des Werts dieses Diploms wegen fehlender vorheriger Kontrolle die Erreichung dieses Ziels auch vereiteln, ohne dass eine etwaige Infragestellung dieses Werts im Nachhinein eine hinreichende Garantie bieten könnte.

78

Schließlich steht es dem nationalen Gesetzgeber frei, davon auszugehen, dass der Schutz der Empfänger von Dienstleistungen, die von einer Hochschuleinrichtung angeboten werden, nicht wirksam gewährleistet würde, wenn diese gezwungen wären, einen Studiengang zu wählen und diesem nachzugehen, ohne Gewissheit zu haben, dass die betreffende Einrichtung Grade verleihen darf, auf deren Gültigkeit sie sich anschließend berufen können.

79

Jedoch setzt, wie das vorlegende Gericht ausführt, die Vereinbarkeit einer Genehmigungsregelung mit der Richtlinie 2006/123 auch voraus, dass sie auf Kriterien für die Ausübung des Ermessens der zuständigen Behörden beruht, die den Anforderungen des Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie genügen.

80

Nach dieser Bestimmung dürfen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung nicht diskriminierend sein, müssen durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein und müssen in Bezug auf diesen Grund verhältnismäßig sein, was impliziert, dass sie geeignet sein müssen, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen dürfen, was hierzu erforderlich ist. Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung müssen nach dieser Bestimmung darüber hinaus klar und unzweideutig, objektiv, transparent sowie zugänglich sein und im Voraus bekannt gemacht werden (Urteil vom 26. September 2018, Van Gennip u. a., C‑137/17, EU:C:2018:771, Rn. 80).

81

Da die Vorlageentscheidung keine eingehende Darstellung der Voraussetzungen enthält, denen die Erteilung einer Berechtigung zur Verleihung des „Master“-Grades nach belgischem Recht unterworfen ist, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die Vereinbarkeit dieser Voraussetzungen mit Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2006/123 zu beurteilen.

82

Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 5 in Verbindung mit den Art. 9 und 10 der Richtlinie 2006/123 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegensteht, die strafrechtliche Sanktionen gegen Personen vorsieht, die – ohne vorherige Ermächtigung der zuständigen Behörde – einen „Master“-Grad verleihen, sofern die Voraussetzungen, denen die Erteilung einer Berechtigung zur Verleihung dieses Grades unterworfen ist, mit Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie vereinbar sind, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

Kosten

83

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) ist dahin auszulegen, dass sie auf eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht anwendbar ist, die strafrechtliche Sanktionen gegen Personen vorsieht, die – ohne vorherige Ermächtigung der zuständigen Behörde – einen „Master“-Grad verleihen.

 

2.

Art. 1 Abs. 5 in Verbindung mit den Art. 9 und 10 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegensteht, die strafrechtliche Sanktionen gegen Personen vorsieht, die – ohne vorherige Ermächtigung der zuständigen Behörde – einen „Master“-Grad verleihen, sofern die Voraussetzungen, denen die Erteilung einer Berechtigung zur Verleihung dieses Grades unterworfen ist, mit Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie vereinbar sind, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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