Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62015CC0582

    Schlussanträge des Generalanwalts Y. Bot vom 12. Oktober 2016.
    Strafverfahren gegen Gerrit van Vemde.
    Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Gegenseitige Anerkennung von Urteilen – Rahmenbeschluss 2008/909/JI – Anwendungsbereich – Art. 28 – Übergangsbestimmung – Begriff ‚Ergehen des rechtskräftigen Urteils‘.
    Rechtssache C-582/15.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2016:766

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    YVES BOT

    vom 12. Oktober 2016 ( 1 )

    Rechtssache C‑582/15

    Openbaar Ministerie

    gegen

    Gerrit van Vemde

    (Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam [Gericht Amsterdam, Niederlande])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung — Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Gegenseitige Anerkennung von Urteilen — Rahmenbeschluss 2008/909/JI — Art. 28 — Übergangsbestimmung — Erklärung eines Mitgliedstaats — Begriff ‚Ergehen des rechtskräftigen Urteils‘“

    1. 

    Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union ( 2 ).

    2. 

    Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens über ein Ersuchen um Bewilligung der Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung des Hof van Beroep Antwerpen (Berufungsgerichtshof Antwerpen, Belgien), die u. a. die Verurteilung von Gerrit van Vemde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren enthält, in den Niederlanden.

    I – Rechtlicher Rahmen

    A – Unionsrecht

    3.

    Die Erwägungsgründe 1 und 2 des Rahmenbeschlusses lauten:

    „(1)

    Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen innerhalb der Europäischen Union werden sollte, bestätigt.

    (2)

    Der Rat hat am 29. November 2000 entsprechend den Schlussfolgerungen von Tampere ein Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen [(ABl. 2001, C 12, S. 10)] angenommen, wobei er sich für eine Einschätzung des Bedarfs an modernen Mechanismen zur gegenseitigen Anerkennung von rechtskräftigen Verurteilungen mit der Folge eines Freiheitsentzugs (Maßnahme 14) sowie für die Ausdehnung der Geltung des Grundsatzes der Überstellung verurteilter Personen auf die in einem Mitgliedstaat wohnhaften Personen (Maßnahme 16) aussprach.“

    4.

    Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) des Rahmenbeschlusses bestimmt:

    „Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck

    a)

    ‚Urteil‘ eine rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts des Ausstellungsstaats, durch die eine Sanktion gegen eine natürliche Person verhängt wird;

    b)

    ‚Sanktion‘ jede Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme, die aufgrund eines Strafverfahrens wegen einer Straftat für eine bestimmte Zeit oder auf unbestimmte Zeit verhängt worden ist;

    c)

    ‚Ausstellungsstaat‘ den Mitgliedstaat, in dem ein Urteil ergangen ist;

    d)

    ‚Vollstreckungsstaat‘ den Mitgliedstaat, dem ein Urteil zum Zwecke seiner Anerkennung und Vollstreckung übermittelt wird.“

    5.

    Art. 26 („Verhältnis zu anderen Übereinkünften und Vereinbarungen“) Abs. 1 des Rahmenbeschlusses sieht Folgendes vor:

    „Dieser Rahmenbeschluss ersetzt ab dem 5. Dezember 2011 die entsprechenden Bestimmungen der folgenden in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Übereinkommen, unbeschadet von deren Anwendbarkeit in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten und deren vorübergehender Anwendbarkeit nach Artikel 28:

    Europäisches Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 und das dazugehörige Zusatzprotokoll vom 18. Dezember 1997;

    Europäisches Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen vom 28. Mai 1970;

    Titel III Kapitel 5 des Übereinkommens vom 19. Juni 1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen;

    Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen vom 13. November 1991.“

    6.

    Art. 28 („Übergangsbestimmung“) des Rahmenbeschlusses lautet:

    „(1)   Für Ersuchen, die vor dem 5. Dezember 2011 eingehen, gelten weiterhin die bestehenden Instrumente für die Überstellung verurteilter Personen. Für die nach diesem Zeitpunkt eingegangenen Ersuchen gelten die von den Mitgliedstaaten gemäß diesem Rahmenbeschluss erlassenen Bestimmungen.

    (2)   Jeder Mitgliedstaat kann jedoch zum Zeitpunkt der Annahme dieses Rahmenbeschlusses eine Erklärung abgeben, wonach er in Fällen, in denen das rechtskräftige Urteil vor dem angegebenen Zeitpunkt ergangen ist, als Ausstellungs- und Vollstreckungsstaat weiterhin die vor dem 5. Dezember 2011 für die Überstellung verurteilter Personen geltenden Rechtsinstrumente anwenden wird. Wurde eine derartige Erklärung abgegeben, so gelten diese Rechtsinstrumente in diesen Fällen im Verhältnis zu allen anderen Mitgliedstaaten, ungeachtet dessen, ob diese die gleiche Erklärung abgegeben haben oder nicht. Der betreffende Zeitpunkt darf nicht nach dem 5. Dezember 2011 liegen. Diese Erklärung wird im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Sie kann jederzeit zurückgezogen werden.“

    7.

    Auf der Grundlage des Art. 28 des Rahmenbeschlusses hat das Königreich der Niederlande folgende Erklärung abgegeben ( 3 ):

    „Gemäß Artikel 28 Absatz 2 erklären die Niederlande, dass sie in Fällen, in denen das rechtskräftige Urteil früher als drei Jahre nach dem Inkrafttreten des Rahmenbeschlusses ergangen ist, als Ausstellungs- und Vollstreckungsstaat weiterhin die vor dem Rahmenbeschluss für die Überstellung verurteilter Personen geltenden Rechtsinstrumente anwenden werden.“

    B – Niederländisches Recht

    8.

    Art. 2:11 der Wet wederzijdse erkenning en tenuitvoerlegging vrijheidsbenemende en voorwaardelijke sancties (Gesetz über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von freiheitsentziehenden und Bewährungsstrafen, im Folgenden: WETS), mit der der Rahmenbeschluss umgesetzt wird, sieht vor:

    „1.   [Der] Minister [für Sicherheit und Justiz] übermittelt die gerichtliche Entscheidung … dem Generalanwalt der Staatsanwaltschaft beim Gerechtshof.

    2.   Der Generalanwalt legt die gerichtliche Entscheidung unverzüglich der Sonderkammer des Gerechtshof Arnhem-Leeuwarden vor …

    8.   Binnen einer Frist von sechs Wochen ab dem Erhalt der gerichtlichen Entscheidung übermittelt die Sonderkammer des Gerechtshof [dem] Minister [für Sicherheit und Justiz] die schriftliche Beurteilung samt Begründung“.

    9.

    Gemäß Art. 2:12 der WETS entscheidet der Minister für Sicherheit und Justiz unter Berücksichtigung der Beurteilung der Sonderkammer des Gerechtshof über die Anerkennung der gerichtlichen Entscheidung.

    10.

    Art. 5:2 der WETS bestimmt:

    „1.   Dieses Gesetz tritt im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Union an die Stelle der Wet overdracht tenuitvoerlegging strafvonnissen [(Gesetz über die Übertragung der Vollstreckung von Urteilen in Strafsachen, im Folgenden: WOTS)].

    3.   Dieses Gesetz findet keine Anwendung auf gerichtliche Entscheidungen …, die vor dem 5. Dezember 2011 rechtskräftig geworden sind.

    …“

    11.

    Nach Art. 2 der WOTS erfolgt die „Vollstreckung ausländischer gerichtlicher Entscheidungen in den Niederlanden … nur aufgrund eines Übereinkommens“. Des Weiteren bestimmt Art. 31 Abs. 1 der WOTS, dass „[d]as Gericht [Amsterdam], sofern es die Vollstreckung für zulässig erachtet, die Vollstreckung der ausländischen gerichtlichen Entscheidung [bewilligt] und … unter Berücksichtigung der entsprechenden Vorschriften des anwendbaren Übereinkommens die für das entsprechende Delikt im niederländischen Recht festgelegte Strafe oder Maßnahme [verhängt]“.

    II – Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

    12.

    Gerrit van Vemde wurde am 27. Oktober 2009 auf der Grundlage eines von einem belgischen Gericht zum Zwecke der Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehls in den Niederlanden festgenommen. Nach seiner Überstellung war er in Belgien inhaftiert. Gerrit van Vemde wurde sodann noch während des laufenden belgischen Strafverfahrens gegen Kaution freigelassen und kehrte eigenständig in die Niederlande zurück, bevor ein Urteil erging.

    13.

    Am 28. Februar 2011 verurteilte der Hof van Beroep Antwerpen (Berufungsgerichtshof Antwerpen, Belgien) Gerrit van Vemde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. Am 6. Dezember 2011 verwarf der Hof van Cassatie (Kassationsgerichtshof, Belgien) die Kassationsbeschwerde gegen dieses Urteil, so dass das Urteil des Hof van Beroep Antwerpen (Berufungsgerichtshof Antwerpen) an diesem Tag in Rechtskraft erwuchs. Eine Ladung des Procureur Generaal in Antwerpen (Generalstaatsanwalt Antwerpen, Belgien) zum Strafantritt wurde dem Verurteilten am 13. Februar 2012 ausgehändigt.

    14.

    Am 23. Juli 2013 ersuchten die belgischen Behörden die Niederlande um Übernahme der Vollstreckung der mit dem Urteil des Hof van Beroep Antwerpen (Berufungsgerichtshof Antwerpen) verhängten Freiheitsstrafe. Mit Antrag vom 10. Oktober 2013 ersuchte die belgische Staatsanwaltschaft sodann die Rechtbank Amsterdam (Gericht Amsterdam, Niederlande) – das vorlegende Gericht – um Bewilligung der Vollstreckung der vom Hof van Beroep Antwerpen (Berufungsgerichtshof Antwerpen) verhängten Freiheitsstrafe.

    15.

    Für das mit diesem Antrag befasste vorlegende Gericht stellt sich die Frage, ob die Bestimmungen der WOTS oder der diese ersetzenden WETS anwendbar sind. Einerseits finde nämlich die WETS gemäß ihrem Art. 5:2 Abs. 3 keine Anwendung auf gerichtliche Entscheidungen, die vor dem 5. Dezember 2011„rechtskräftig geworden“ seien. Daher wäre, da das Urteil des Hof van Beroep Antwerpen (Berufungsgerichtshof Antwerpen) nach dem 5. Dezember 2011 Rechtskraft erlangt habe, grundsätzlich die WETS anwendbar.

    16.

    Andererseits hegt das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit Art. 28 des Rahmenbeschlusses. Gemäß Abs. 1 dieses Artikels gälten für nach dem 5. Dezember 2011 eingehende Ersuchen um Überstellung zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe die von den Mitgliedstaaten gemäß dem Rahmenbeschluss erlassenen Bestimmungen. Nach Abs. 2 dieses Artikels könne jedoch jeder Mitgliedstaat zum Zeitpunkt der Annahme dieses Rahmenbeschlusses eine Erklärung abgeben, wonach er in Fällen, in denen das rechtskräftige Urteil vor dem angegebenen Zeitpunkt „ergangen“ sei, als Ausstellungs- und Vollstreckungsstaat weiterhin die vor dem 5. Dezember 2011 für die Überstellung verurteilter Personen geltenden Rechtsinstrumente anwenden werde. Das Königreich der Niederlande habe eine solche Erklärung über die Anwendung des Rahmenbeschlusses abgegeben, die im Wesentlichen die Formulierung des Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses wiedergebe.

    17.

    Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist Art. 5:2 Abs. 3 der WETS gemäß der Rechtsprechung des Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) im Einklang mit Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass das betreffende Urteil unabhängig vom Datum seiner Rechtskraft vor dem 5. Dezember 2011 ergangen sein muss, so dass im vorliegenden Fall weiterhin die Bestimmungen der WOTS anwendbar wären. Für den Fall, dass Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses hingegen dahin auszulegen wäre, dass das Urteil vor dem 5. Dezember 2011 in Rechtskraft erwachsen sein müsse, hält sich das vorlegende Gericht jedoch auf der Grundlage der Bestimmungen der WETS namentlich für die Entscheidung über das Ersuchen um Bewilligung der Vollstreckung der gegen die verurteilte Person verhängten Freiheitsstrafe für unzuständig.

    18.

    Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Amsterdam (Gericht Amsterdam) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Ist Art. 28 Abs. 2 Satz 1 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass sich die dort genannte Erklärung lediglich auf Urteile beziehen darf, die vor dem 5. Dezember 2011 ergangen sind, unabhängig davon, wann diese Urteile Rechtskraft erlangt haben, oder ist diese Vorschrift dahin zu verstehen, dass sich die Erklärung lediglich auf Urteile beziehen darf, die vor dem 5. Dezember 2011 rechtskräftig geworden sind?

    III – Würdigung

    19.

    Mit der vom vorlegenden Gericht gestellten Frage soll im Wesentlichen geklärt werden, ob in dem Fall, in dem ein Mitgliedstaat die in Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses vorgesehene Erklärung abgegeben hat, der Zeitpunkt, zu dem festgestellt werden kann, welche rechtliche Regelung auf die Überstellung von zu Freiheitsstrafen verurteilten Personen anwendbar ist, der Zeitpunkt des Erlasses des Urteils oder der des Eintritts von dessen Rechtskraft ist.

    20.

    Vor der Beantwortung dieser Frage gilt es, wie auch von der österreichischen Regierung und der Europäischen Kommission vorgeschlagen, zu prüfen, ob die vom Königreich der Niederlande nach Art. 28. Abs. 2 des Rahmenbeschlusses abgegebene Erklärung geeignet ist, Rechtswirkungen zu entfalten.

    A – Zur etwaigen Berücksichtigung der vom Königreich der Niederlande nach Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses abgegebenen Erklärung

    21.

    Hervorzuheben ist, dass Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses hinsichtlich des Zeitpunkts, zu dem eine solche Erklärung abgegeben werden kann, unmissverständlich ist.

    22.

    Gemäß dem Wortlaut dieser Bestimmung hatte nämlich jeder Mitgliedstaat „zum Zeitpunkt der Annahme [des] Rahmenbeschlusses“ die Möglichkeit, eine Erklärung zur verzögerten Anwendung dieses Rahmenbeschlusses abzugeben.

    23.

    Nach den dem Gerichtshof unterbreiteten Angaben, die auch von der niederländischen Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt wurden, wurde die Erklärung des Königreichs der Niederlande dem Rat allerdings am 24. März 2009 zugeleitet und sodann am 30. April 2009 als Ratsdokument verbreitet, bevor sie am 9. Oktober 2009 im Amtsblatt veröffentlicht wurde ( 4 ). Im Hinblick auf diese Umstände bestreitet die niederländische Regierung nicht, dass diese Erklärung formal nach der Annahme des Rahmenbeschlusses abgegeben wurde.

    24.

    In dem seiner Erklärung beigefügten Schreiben hat das Königreich der Niederlande, wie auch in der mündlichen Verhandlung, jedoch angegeben, dass es im Zuge der Beratungen über den Entwurf des Rahmenbeschlusses durchgängig dafür eingetreten sei, dass dieser nur auf künftige Fälle Anwendung finden könne. Dieser Mitgliedstaat erklärt, dass die in Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses vorgesehene Option insbesondere auf sein Bestreben hin aufgenommen worden sei und dass sie für ihn einen wichtigen Bestandteil der bei den Tagungen des Rates für Justiz und Inneres vom 4. Dezember 2006 und vom 15. Februar 2007 erzielten politischen Einigung über diesen Rahmenbeschluss darstelle. Auch sei der Rahmenbeschluss derart kurzfristig vor der Sitzung des Rates für Justiz und Inneres vom 27. November 2008 auf die Liste der „A“-Punkte der Tagesordnung gesetzt worden, dass es nicht möglich gewesen sei, das ratsinterne Vorbereitungsverfahren zu diesem Punkt zu befolgen. Dies habe zur Folge gehabt, dass das Königreich der Niederlande bei Annahme dieses Rahmenbeschlusses während der Sitzung des Rates für Justiz und Inneres vom 27. November 2008 keine Erklärung im Sinne des Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses abgegeben habe. Es habe jedoch seine Absicht zur Abgabe dieser Erklärung mitgeteilt, als der Rat für Justiz und Inneres vom 4. Dezember 2006 zu einer politischen Einigung gelangt sei. Diese Mitteilung könne dahin gewertet werden, dass sie zum Zeitpunkt der Annahme des Rahmenbeschlusses am 27. November 2008 wirksam geworden sei.

    25.

    Wie auch die Kommission vertrete ich jedoch die Auffassung, dass eine solche Mitteilung nicht einer „zum Zeitpunkt der Annahme [des] Rahmenbeschlusses“ abgegebenen Erklärung im Sinne von dessen Art. 28 Abs. 2 gleichsteht. Die bloße Äußerung der Absicht zur Abgabe einer Erklärung genügt nämlich nicht. Die in Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses angesprochene Erklärung muss jedenfalls zum Zeitpunkt der Annahme des Rahmenbeschlusses abgegeben werden und eindeutig zum Ausdruck bringen, welche Entscheidung der betreffende Mitgliedstaat hinsichtlich des Zeitpunkts des Erlasses der rechtskräftigen Urteile getroffen hat, bis zu dem der Rahmenbeschluss keine Anwendung finden soll. Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses belässt nämlich den Mitgliedstaaten einen gewissen Ermessensspielraum bei der Festlegung dieses Zeitpunkts, soweit dieser nicht nach dem 5. Dezember 2011 liegt.

    26.

    Da das Königreich der Niederlande vor dem Versand des Dokuments am 24. März 2009 die konkrete Erklärung nicht offiziell abgegeben hat, bin ich daher der Meinung, dass die Erklärung des Königreichs der Niederlande nicht rechtswirksam erfolgt ist, da sie verspätet vorgelegt wurde.

    27.

    Im Übrigen sei mit der Kommission darauf hingewiesen, dass die Fälle, in denen der Rahmenbeschluss die Mitgliedstaaten ermächtigt, nicht nur zum Zeitpunkt von dessen Annahme, sondern auch zu einem späteren Zeitpunkt eine Erklärung abzugeben, im Rahmenbeschluss sehr klar benannt sind. Ich verweise u. a. auf Art. 4 Abs. 7 und Art. 7 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses.

    28.

    Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Erklärung des Königreichs der Niederlande nicht geeignet ist, Rechtswirkungen zu entfalten.

    29.

    Mangels einer die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses erfüllenden Erklärung bestimmt dessen Art. 28 Abs. 1 den zeitlichen Anwendungsbereich der im Rahmenbeschluss enthaltenen Regelungen, nämlich für nach dem 5. Dezember 2011 eingegangene Ersuchen.

    30.

    Da das von den belgischen Behörden an die niederländischen Behörden gerichtete Ersuchen mit 10. Oktober 2013 datiert ist, besteht kein Zweifel daran, dass die im Rahmenbeschluss normierten Regelungen im vorliegenden Fall unbeschränkt anwendbar sind.

    31.

    Nur für den Fall, dass sich der Gerichtshof der hier vorgenommenen Würdigung mit dem Ergebnis, dass die Erklärung des Königreichs der Niederlande nicht zu berücksichtigen ist, nicht anschließen sollte, sei im Folgenden hilfsweise die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage nach der Auslegung des Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses untersucht.

    B – Zur Auslegung des Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses

    32.

    Wie die Kommission, die niederländische und die österreichische Regierung sowie das Openbaar Ministerie bin auch ich der Auffassung, dass für die Anwendung des Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses das Datum der Rechtskraft des Urteils zu berücksichtigen ist.

    33.

    Aus Art. 26 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses geht hervor, dass der vom Rahmenbeschluss vorgesehene einheitliche Mechanismus ab dem 5. Dezember 2011 das vorbestehende, in Übereinkommen geregelte System im Wesentlichen ersetzt.

    34.

    Gemäß Art. 28 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses gelten „[für] Ersuchen, die vor dem 5. Dezember 2011 eingehen, … weiterhin die bestehenden Instrumente für die Überstellung verurteilter Personen. Für die nach diesem Zeitpunkt eingegangenen Ersuchen gelten die von den Mitgliedstaaten gemäß diesem Rahmenbeschluss erlassenen Bestimmungen.“

    35.

    Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses ermöglicht es allerdings den Mitgliedstaaten, sofern sie zum Zeitpunkt der Annahme des Rahmenbeschlusses eine dahin gehende Erklärung abgegeben haben, für die Anwendung des Rahmenbeschlusses nicht den Zeitpunkt des Ersuchens heranzuziehen, sondern jenen, zu dem das rechtskräftige Urteil ergangen ist.

    36.

    Somit sieht Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses, anders als dessen Art. 28 Abs. 1, der auf den Zeitpunkt des Eingehens des Ersuchens abstellt, das Datum des rechtskräftigen Urteils als maßgebenden Zeitpunkt vor.

    37.

    Gemäß der Bestimmung des Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses sieht die vom Königreich der Niederlande abgegebene Erklärung vor, dass es „in Fällen, in denen das rechtskräftige Urteil früher als drei Jahre nach dem Inkrafttreten des Rahmenbeschlusses ergangen ist, als Ausstellungs- und Vollstreckungsstaat weiterhin die vor dem Rahmenbeschluss für die Überstellung verurteilter Personen geltenden Rechtsinstrumente anwenden [wird]“ ( 5 ).

    38.

    Diese Erklärung findet ihre Entsprechung im innerstaatlichen Recht in Art. 5:2 Abs. 3 der WETS, wonach „[d]ieses Gesetz … keine Anwendung auf gerichtliche Entscheidungen [findet], die vor dem 5. Dezember 2011rechtskräftig geworden sind“ ( 6 ).

    39.

    Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen beruht weitgehend auf dem unterschiedlichen Wortlaut von Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses und der vom Königreich der Niederlande abgegebenen Erklärung, in denen auf den Zeitpunkt abgestellt wird, zu dem „das rechtskräftige Urteil … ergangen ist“, auf der einen sowie des Art. 5:2 Abs. 3 der WETS, der auf den Zeitpunkt Bezug nimmt, zu dem die gerichtlichen Entscheidungen „rechtskräftig geworden“ sind, auf der anderen Seite.

    40.

    Entgegen der Ansicht des vorlegenden Gerichts, des Angeklagten im Ausgangsverfahren und der polnischen Regierung meine ich, dass diese Bestimmungen, obwohl sie unterschiedlich formuliert sind, alle dasselbe rechtliche Ereignis bezeichnen, nämlich den Zeitpunkt, zu dem ein Urteil Rechtskraft erlangt hat. Durch den Erlass der Bestimmung des Art. 5:2 Abs. 3 der WETS hat der niederländische Gesetzgeber den Regelungsgehalt des Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses sowie der vom Königreich der Niederlande abgegebenen Erklärung somit vollständig umgesetzt.

    41.

    Die Auslegung, wonach Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses den Zeitpunkt bezeichnet, zu dem ein Urteil in Rechtskraft erwachsen ist, ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut als auch aus der Systematik und dem Zweck des Rahmenbeschlusses.

    42.

    Hinsichtlich des Wortlauts des Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses sei darauf hingewiesen, dass dieser sich nicht auf die Bezeichnung des Zeitpunkts beschränkt, zu dem das Urteil ergangen ist, sondern darüber hinaus auf das „rechtskräftige“ Urteil abstellt. Diese Präzisierung betreffend die Rechtskraft des Urteils findet sich nicht nur in der deutschen Sprachfassung des Rahmenbeschlusses, sondern auch in anderen Sprachfassungen ( 7 ).

    43.

    Diese Präzisierung steht auch insofern im Einklang mit der Systematik des Rahmenbeschlusses, als ein auf den Rahmenbeschluss gestütztes Ersuchen nach der vom Unionsgesetzgeber in Art. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses vorgenommenen Definition des „Urteils“ jedenfalls erst dann zulässig ist, wenn ein Urteil in Rechtskraft erwachsen ist.

    44.

    Im Übrigen zielt der Rahmenbeschluss, wie insbesondere aus seinen ersten beiden Erwägungsgründen hervorgeht, auf die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen ab, soweit es um die Vollstreckung rechtskräftiger Entscheidungen über Freiheitsstrafen geht. Diese Umsetzung impliziert einen im Vergleich zu den Möglichkeiten des zuvor aufgrund von Übereinkommen geltenden Rechts moderneren und weiter gehenden Kooperationsmechanismus.

    45.

    Im Hinblick auf die grundlegende Bedeutung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung im Rahmen der Schaffung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und da Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses eine Ausnahmebestimmung ist, die die Mitgliedstaaten ermächtigt, das frühere, in Übereinkommen geregelte System noch länger anzuwenden, als es die allgemeine Regelung des Art. 28 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses gestattet, ist Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses eng auszulegen.

    46.

    Eine solche enge Auslegung, die die Fälle beschränkt, die weiterhin dem früheren, in Übereinkommen geregelten System unterliegen, und folglich die Zahl der Fälle erhöht, auf die die Regelungen des Rahmenbeschlusses Anwendung finden können, ist am besten zur Gewährleistung des mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziels geeignet.

    47.

    In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass der Rahmenbeschluss als Hauptzweck die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Personen verfolgt, indem er der Person, der infolge einer strafrechtlichen Verurteilung die Freiheit entzogen wurde, ermöglicht, ihre Strafe oder Reststrafe im sozialen Umfeld ihrer Herkunft zu verbüßen. Das lässt sich dem neunten Erwägungsgrund und Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses eindeutig entnehmen.

    48.

    Dies bedeutet, dass sämtliche Maßnahmen in Bezug auf die Strafvollstreckung und deren Gestaltung von den Justizbehörden individuell zu treffen sind, um unter Wahrung der Interessen der Gesellschaft und der Opferrechte neben der Verhütung von Wiederholungstaten die soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung der verurteilten Person zu erleichtern ( 8 ).

    49.

    Nach den vorstehenden Ausführungen muss sich somit die weitere Vornahme der Vollstreckung der gegen Gerrit van Vemde verhängten Strafe nach den im Rahmenbeschluss enthaltenen Regelungen richten, da das Urteil, mit dem er verurteilt wurde, am 6. Dezember 2011 in Rechtskraft erwachsen ist.

    IV – Ergebnis

    50.

    Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen ist der Rechtbank Amsterdam (Gericht Amsterdam, Niederlande) folgendermaßen zu antworten:

    Da die Erklärung des Königreichs der Niederlande betreffend Art. 28 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union entgegen der Anforderung des Art. 28 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses erst nach der Annahme des Rahmenbeschlusses abgegeben wurde, ist sie nicht geeignet, Rechtswirkungen zu entfalten.

    Hilfsweise, für den Fall, dass diese Erklärung als geeignet anzusehen sein sollte, Rechtswirkungen zu entfalten, ist Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen, dass sich die dort angesprochene Erklärung nur auf Urteile beziehen kann, die vor dem 5. Dezember 2011 in Rechtskraft erwachsen sind.


    ( 1 ) Originalsprache: Französisch.

    ( 2 ) ABl. 2008, L 327, S. 27, im Folgenden: Rahmenbeschluss.

    ( 3 ) ABl. 2009, L 265, S. 41, im Folgenden: Erklärung über die Anwendung des Rahmenbeschlusses.

    ( 4 ) ABl. 2009, L 265, S. 41.

    ( 5 ) Hervorhebung nur hier.

    ( 6 ) Hervorhebung nur hier.

    ( 7 ) Vgl. z. B. in spanischer Sprache „en los casos en los que la sentencia firme haya sido dictada antes de la fecha que especificará“, in französischer Sprache „dans les cas où le jugement définitif a été prononcé avant la date qu’il indique“, in englischer Sprache „in cases where the final judgment has been issued before the date it specifies“, sowie in italienischer Sprache „nei casi in cui la sentenza definitiva è stata emessa anteriormente alla data da esso indicata“.

    ( 8 ) Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Ognyanov (C‑554/14, EU:C:2016:319).

    Top