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Document 62013CC0104
Opinion of Advocate General Wahl delivered on 20 May 2014.#Olainfarm AS v Latvijas Republikas Veselības ministrija and Zāļu valsts aģentūra.#Request for a preliminary ruling from the Augstākās Tiesas Senāts.#Reference for a preliminary ruling — Approximation of laws — Industrial policy — Directive 2001/83/EC — Medicinal products for human use — Article 6 — Marketing authorisation — Article 8(3)(i) — Requirement to attach to the application for authorisation the results of pharmaceutical pre-clinical tests and clinical trials — Derogations relating to pre-clinical tests and clinical trials — Article 10 — Generic medicinal products — Concept of ‘reference medicinal product’ — Whether the holder of a marketing authorisation for a reference medicinal product has an individual right to oppose the marketing authorisation of a generic of the reference product — Article 10a — Medicinal products of which the active substances have been in well-established medicinal use within the European Union for at least 10 years — Whether it is possible to use a medicinal product for which authorisation has been granted on the basis of the derogation provided for in Article 10a as a reference medicinal product for the purpose of obtaining a marketing authorisation for a generic product.#Case C‑104/13.
Schlussanträge des Generalanwalts N. Wahl vom 20. Mai 2014.
Olainfarm AS gegen Latvijas Republikas Veselības ministrija und Zāļu valsts aģentūra.
Vorabentscheidungsersuchen des Augstākās Tiesas Senāts.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Industriepolitik – Richtlinie 2001/83/EG – Humanarzneimittel – Art. 6 – Genehmigung für das Inverkehrbringen – Art. 8 Abs. 3 Buchst. i – Verpflichtung, dem Genehmigungsantrag die Ergebnisse pharmazeutischer, vorklinischer und klinischer Versuche beizufügen – Ausnahmen bezüglich der vorklinischen und klinischen Versuche – Art. 10 – Generika – Begriff ‚Referenzarzneimittel‘ – Subjektives Recht des Inhabers einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Referenzarzneimittels, die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums dieses Arzneimittels anzufechten – Art. 10a – Arzneimittel, deren Wirkstoffe für mindestens zehn Jahre in der Europäischen Union allgemein medizinisch verwendet wurden – Möglichkeit, ein Arzneimittel, für das die Genehmigung unter Berücksichtigung der in Art. 10a vorgesehenen Ausnahme erteilt wurde, als Referenzarzneimittel zu verwenden, um eine Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums zu erhalten.
Rechtssache C‑104/13.
Schlussanträge des Generalanwalts N. Wahl vom 20. Mai 2014.
Olainfarm AS gegen Latvijas Republikas Veselības ministrija und Zāļu valsts aģentūra.
Vorabentscheidungsersuchen des Augstākās Tiesas Senāts.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Industriepolitik – Richtlinie 2001/83/EG – Humanarzneimittel – Art. 6 – Genehmigung für das Inverkehrbringen – Art. 8 Abs. 3 Buchst. i – Verpflichtung, dem Genehmigungsantrag die Ergebnisse pharmazeutischer, vorklinischer und klinischer Versuche beizufügen – Ausnahmen bezüglich der vorklinischen und klinischen Versuche – Art. 10 – Generika – Begriff ‚Referenzarzneimittel‘ – Subjektives Recht des Inhabers einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Referenzarzneimittels, die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums dieses Arzneimittels anzufechten – Art. 10a – Arzneimittel, deren Wirkstoffe für mindestens zehn Jahre in der Europäischen Union allgemein medizinisch verwendet wurden – Möglichkeit, ein Arzneimittel, für das die Genehmigung unter Berücksichtigung der in Art. 10a vorgesehenen Ausnahme erteilt wurde, als Referenzarzneimittel zu verwenden, um eine Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums zu erhalten.
Rechtssache C‑104/13.
Court reports – general
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2014:342
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
NILS WAHL
vom 20. Mai 2014 ( 1 )
Rechtssache C‑104/13
AS „Olainfarm“
gegen
Latvijas Republikas Veselības ministrija
Zāļu valsts aģentūra
(Vorabentscheidungsersuchen des Augstākās tiesas Senāts [Lettland])
„Industriepolitik — Richtlinie 2001/83/EG — Humanarzneimittel — Genehmigung für das Inverkehrbringen — Art. 10 — Generika — Begriff ‚Referenzarzneimittel‘ — Art. 10a — Arzneimittel, das auf Wirkstoffen basiert, die allgemein medizinisch verwendet wurden — Recht des Inhabers einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Referenzarzneimittels, die Genehmigung eines Generikums anzufechten“
1. |
Ein Pharmaunternehmen erhielt die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels auf der Basis von Wirkstoffen, die für mindestens zehn Jahre in der EU allgemein medizinisch verwendet wurden (im Folgenden auch: allgemein verwendetes Arzneimittel). Die zuständigen nationalen Behörden erteilten in der Folge die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums, das dieses Mittel als Referenzarzneimittel verwendet. |
2. |
Kann ein allgemein verwendetes Arzneimittel überhaupt als Referenzarzneimittel verwendet werden? Und weiterhin, steht dem Hersteller eines solchen Referenzarzneimittels unionsrechtlich ein Recht zu, die Entscheidung der nationalen Behörden über die Registrierung des Generikums anzufechten? Dies sind die Fragen, um deren Beantwortung der Augstākās tiesas Senāts (Oberster Gerichtshof der Republik Lettland) in der vorliegenden Rechtssache ersucht. |
I – Rechtlicher Rahmen
A – Die Richtlinie 2001/83/EG ( 2 )
3. |
Aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83 geht hervor, dass das übergeordnete Ziel der Vorschriften auf dem Gebiet der Herstellung, des Vertriebs oder der Verwendung von Arzneimitteln die Gewährleistung eines wirksamen Schutzes der öffentlichen Gesundheit ist. Allerdings muss dieses Ziel nach dem dritten Erwägungsgrund mit der Notwendigkeit zum Ausgleich gebracht werden, die Entwicklung der pharmazeutischen Industrie und den Handel mit Arzneimitteln in der Europäischen Union sicherzustellen. |
4. |
Nach dem neunten Erwägungsgrund darf die Genehmigung eines Arzneimittels, das im Wesentlichen einem bereits zugelassenen Arzneimittel gleicht, innovative Unternehmen nicht benachteiligen. Ferner heißt es im zehnten Erwägungsgrund, dass es aus Gründen des Gemeinwohls gerechtfertigt sei, Versuche an Menschen oder Tieren ohne zwingende Notwendigkeit zu vermeiden. |
5. |
Art. 6 betrifft die Genehmigung für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln. Er sieht vor: „(1) Ein Arzneimittel darf in einem Mitgliedstaat erst dann in den Verkehr gebracht werden, wenn von der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats nach dieser Richtlinie eine Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt wurde …“ |
6. |
Art. 8 legt die Bedingungen für die Genehmigung eines Arzneimittels fest. Er bestimmt: „(1) Für die Erteilung einer Genehmigung für das Inverkehrbringen … ist ein Antrag bei der zuständigen betroffenen Behörde des Mitgliedstaats zu stellen. … (3) Dem Antrag sind folgende Angaben und Unterlagen nach Maßgabe von Anhang I beizufügen: …
…“ |
7. |
Art. 10 betrifft das beim Inverkehrbringen von Generika einzuhaltende Verfahren. Er lautet wie folgt: „(1) Abweichend von Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe i) und unbeschadet des Rechts über den Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums ist der Antragsteller nicht verpflichtet, die Ergebnisse der vorklinischen und klinischen Versuche vorzulegen, wenn er nachweisen kann, dass es sich bei dem Arzneimittel um ein Generikum eines Referenzarzneimittels handelt, das gemäß Artikel 6 seit mindestens acht Jahren in einem Mitgliedstaat oder in der [Europäischen Union] genehmigt ist oder wurde. Ein Generikum, das gemäß dieser Bestimmung genehmigt wurde, wird erst nach Ablauf von zehn Jahren nach Erteilung der Erstgenehmigung für das Referenzarzneimittel in Verkehr gebracht. … Der in Unterabsatz 2 vorgesehene Zeitraum von zehn Jahren wird auf höchstens elf Jahre verlängert, wenn der Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen innerhalb der ersten acht Jahre dieser zehn Jahre die Genehmigung eines oder mehrerer neuer Anwendungsgebiete erwirkt, die bei der wissenschaftlichen Bewertung vor ihrer Genehmigung als von bedeutendem klinischen Nutzen im Vergleich zu den bestehenden Therapien betrachtet werden. (2) Im Sinne dieses Artikels bedeutet:
… (5) Zusätzlich zu den Bestimmungen des Absatzes 1 wird, wenn es sich um einen Antrag für eine neue Indikation eines bereits gut etablierten Wirkstoffs handelt, eine nicht kumulierbare Ausschließlichkeitsfrist von einem Jahr für die Daten gewährt, sofern bedeutende vorklinische oder klinische Studien im Zusammenhang mit der neuen Indikation durchgeführt wurden.“ |
8. |
Art. 10a legt eine Ausnahme vom Erfordernis der Vorlage der Ergebnisse der vorklinischen und klinischen Versuche im Zusammenhang mit der Genehmigung von Arzneimitteln fest, die auf allgemein verwendeten Wirkstoffen basieren. Er lautet: „Abweichend von Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe i) und unbeschadet des Rechts über den Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums ist der Antragsteller nicht verpflichtet, die Ergebnisse der vorklinischen oder klinischen Versuche vorzulegen, wenn er nachweisen kann, dass die Wirkstoffe des Arzneimittels für mindestens zehn Jahre in der [Europäischen Union] allgemein medizinisch verwendet wurden und eine anerkannte Wirksamkeit sowie einen annehmbaren Grad an Sicherheit gemäß den Bedingungen des Anhangs I aufweisen. In diesem Fall werden die Ergebnisse dieser Versuche durch einschlägige wissenschaftliche Dokumentation ersetzt.“ |
B – Lettisches Recht
9. |
Die in Art. 10 der Richtlinie 2001/83 festgelegten Ausnahmen wurden durch Art. 28 des Ministru kabineta 2006.gada 9.maija noteikumu No 376 „Zāļu reģistrēšanas kārtība“ (Verordnung Nr. 376 des Ministerkabinetts vom 9. Mai 2006 über das Arzneimittelregistrierungsverfahren; im Folgenden: Verordnung Nr. 376) in das lettische Recht übernommen. |
10. |
In Art. 28 der Verordnung Nr. 376 heißt es: „Derjenige, der einen Antrag auf Registrierung stellt, kann von der Einreichung der Ergebnisse nicht-klinischer Versuche und der Ergebnisse klinischer Prüfungen (abweichend von den Anforderungen nach Unterabs. 17.10 der vorliegenden Verordnung und unbeschadet der Rechtsvorschriften zum Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums) absehen, wenn er nachweisen kann,
|
II – Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen
11. |
Die AS Olainfarm (im Folgenden: Olainfarm) – ein in Lettland ansässiger Arzneimittelhersteller – beantragte 2003 eine Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels namens „NEIROMIDIN“ in Lettland. Zum damaligen Zeitpunkt war die Republik Lettland kein Mitgliedstaat der Europäischen Union. Demzufolge wurde das Arzneimittel nach den damals geltenden nationalen Rechtsvorschriften zugelassen. Diese Rechtsvorschriften entsprachen nur teilweise den EU-Vorschriften über die Genehmigung von Arzneimitteln. |
12. |
Olainfarm beantragte und erhielt 2008, nach dem Beitritt Lettlands zur Europäischen Union, eine Genehmigung für das Inverkehrbringen für NEIROMIDIN nach Art. 10a der Richtlinie 2001/83 mit der Begründung, dass das in Rede stehende Arzneimittel auf Wirkstoffen basiere, die für mindestens zehn Jahre in der EU allgemein medizinisch verwendet worden seien. Ein anderer lettischer Arzneimittelhersteller, die AS Grindeks (im Folgenden: Grindeks) beantragte und erhielt 2011 die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums namens „IPIDAKRINE-GRINDEKS“. In dem Antrag war NEIROMIDIN als Referenzarzneimittel angegeben. |
13. |
Olainfarm focht die Genehmigung des Generikums mit dem Ziel ihrer Aufhebung beim Latvijas Republikas Veselības ministrija (Lettisches Gesundheitsministerium; im Folgenden: Ministerium) an. Im Wesentlichen machte sie geltend, dass die für das Referenzarzneimittel (d. h. NEIROMIDIN) eingereichten Unterlagen nicht den Rechtsvorschriften der Europäischen Union entsprächen. Das Ministerium war jedoch der Auffassung, dass Olainfarm – als Herstellerin des Referenzarzneimittels – kein subjektives Recht auf Anfechtung der Entscheidung über die Genehmigung des Generikums zustehe. |
14. |
Gegen diese Entscheidung erhob Olainfarm vor dem Administratīvā rajona tiesa (Verwaltungsgericht des Distrikts) Klage und legte später vor dem Administratīvā apgabaltiesa (Verwaltungsgerichtshof) Berufung ein. Sie begründete ihr Klageinteresse mit der Tatsache, das Grindeks ein unbegründeter Vorteil zum Schaden von Olainfarm zuteil geworden sei, die sich mitten in der Durchführung langwieriger und kostspieliger Studien im Hinblick auf einen Antrag auf Genehmigung ihres Mittels nach Art. 8 der Richtlinie 2001/83 befinde, um in den Genuss der zehnjährigen Schutzfrist nach der Richtlinie zu kommen. Die Bezugnahme auf ein „Referenzarzneimittel“ müsse der Definition in Art. 10 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/83 entsprechen. In diesem Zusammenhang nahm Olainfarm an, dass die Definition abschließend sei und nicht erweiternd ausgelegt werden könne, um allgemein verwendete Arzneimittel einzuschließen. Somit könne ein Mittel wie NEIROMIDIN nicht als Referenzarzneimittel verwendet werden, da eine solche Genehmigung gegen Art. 8 der Richtlinie 2001/83 verstoßen würde. |
15. |
Nach Ansicht sowohl von Grindeks als auch der zuständigen nationalen Behörden steht dem Referenzarzneimittelhersteller kein subjektives Recht zu, die Entscheidung des Ministeriums anzufechten, mit der das Generikum zugelassen wurde. Des Weiteren könne ein gemäß Art. 10a der Richtlinie 2001/83 zugelassenes Arzneimittel als Referenzarzneimittel im Laufe des Genehmigungsverfahrens für Generika verwendet werden. Nach Auffassung von Grindeks kann ein solches Arzneimittel als Referenzarzneimittel im Sinne der Richtlinie 2001/83 verwendet werden, sofern die für den Antrag auf Genehmigung des Referenzarzneimittels erforderlichen Unterlagen nach dem Beitritt des Mitgliedstaats zur Europäischen Union mit dem Ergebnis ergänzt wurden, dass die Genehmigungsvoraussetzungen der Richtlinie 2001/83 erfüllt wurden. Zudem könne ein bereits früher zugelassenes Arzneimittel – entgegen dem Vorbringen von Olainfarm – nicht nochmals zugelassen werden und weiter gehenden Schutz erhalten. Ebenso wenig könne ein solches Arzneimittel von einer zusätzlichen Schutzfrist profitieren. Die Ausschließlichkeitsfrist für die Daten nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 gelte nur für neue Wirkstoffe, die zum ersten Mal registriert würden. Daher habe sie durch die Genehmigung des Generikums keinen Vorteil gegenüber Olainfarm erhalten. Dies habe im Wesentlichen darauf beruht, dass die Datenschutzfrist für die von Olainfarm registrierten Arzneimittel bereits abgelaufen gewesen sei. |
16. |
Unter diesen Umständen hat der Augstākās tiesas Senāts das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
|
17. |
Im vorliegenden Verfahren haben Olainfarm, Grindeks, die lettische, die estnische und die italienische Regierung sowie die Kommission schriftliche Erklärungen eingereicht und – mit Ausnahme der estnischen Regierung – in der Sitzung vom 20. März 2014 mündlich verhandelt. |
III – Würdigung
A – Vorlagefragen
18. |
In der vorliegenden Rechtssache ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klarstellung der Bedeutung und Tragweite der Richtlinie 2001/83 in Bezug auf die Genehmigung für das Inverkehrbringen von Generika. Insbesondere geht es darum, ob eine Genehmigung für das Inverkehrbringen eines allgemein verwendeten Arzneimittels dem Inhaber ein Recht verleiht, die (Rechtmäßigkeit der) Genehmigung eines Generikums anzufechten, die unter Bezugnahme auf dieses Arzneimittel erteilt wurde (erste Vorlagefrage). In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht auch wissen, ob ein allgemein verwendetes Arzneimittel als Referenzarzneimittel für ein Generikum verwendet werden kann (zweite Vorlagefrage). |
19. |
Das vorlegende Gericht hat seine zweite Frage als der ersten nachgeordnet eingestuft, die nur beantwortet werden soll, falls die erste Frage bejaht werden sollte. Obwohl die beiden Fragen unausweichlich miteinander verbunden sind, besitzt die zweite Frage offensichtlich ihren eigenen Wert. Sie zielt darauf ab, zu klären, was unter „Referenzarzneimittel“ im Zusammenhang der Richtlinie zu verstehen ist, und sollte daher meiner Ansicht nach unabhängig davon beantwortet werden, zu welchem Ergebnis man in Ansehung der ersten Frage gelangt. Da die Antwort auf die zweite Frage tatsächlich Auswirkungen auf die Beantwortung der ersten hat, werde ich meine Prüfung mit der zweiten Frage beginnen. Bevor ich mich diesen Fragen zuwende, sind jedoch einige Vorbemerkungen angebracht. |
20. |
Da die Richtlinie 2001/83 auf beide Vorlagefragen keine klare Antwort gibt, ist es notwendig, die der Richtlinie zugrunde liegenden Ziele zu betrachten. Diese Ziele sind – so wie sie in den Erwägungsgründen 2 und 3 formuliert sind – von zweierlei Art. Auf der einen Seite sind die Vorschriften über Herstellung, Vertrieb und Verwendung von Arzneimitteln zuerst und vor allem darauf ausgerichtet, den Schutz der öffentlichen Gesundheit in der Europäischen Union zu gewährleisten. Auf der anderen Seite muss sichergestellt werden, dass die Erreichung des Ziels der öffentlichen Gesundheit die Entwicklung der pharmazeutischen Industrie oder den Handel mit Arzneimitteln nicht übermäßig behindert. |
21. |
In Erfüllung des übergeordneten Ziels der öffentlichen Gesundheit müssen alle Arzneimittel, die in einem Mitgliedstaat nach Art. 6 der Richtlinie 2001/83 in den Verkehr gebracht werden, bestimmte Anforderungen erfüllen, die in Art. 8 der Richtlinie aufgeführt werden. Diese Bestimmung enthält die Grundregel, nach der der Hersteller des in Rede stehenden Arzneimittels dessen Unbedenklichkeit dadurch nachweisen muss, dass er den zuständigen nationalen Behörden die Ergebnisse von vorklinischen und klinischen Versuchen zur Verfügung stellt, die die Sicherheit und Wirksamkeit dieses Mittels bestätigen. |
22. |
Von diesem Grundsatz gibt es jedoch einige Ausnahmen ( 3 ). |
23. |
Erstens brauchen nach Art. 10 der Richtlinie 2001/83 die Ergebnisse solcher Versuche bei Beantragung einer Genehmigung für das Inverkehrbringen nicht vorgelegt zu werden, wenn ein Hersteller plant, ein Generikum ( 4 ) eines bereits zugelassenen Arzneimittels (in der Richtlinie als „Referenzarzneimittel“ bezeichnet) einzuführen. Eine bloße Bezugnahme auf die Akte des Referenzmittels reicht aus. |
24. |
Zweitens ist ein ähnlich vereinfachtes Verfahren – das ebenso die Phase der klinischen Versuche auslässt und eine reine Bezugnahme auf die wissenschaftliche Dokumentation erlaubt – in Art. 10a der Richtlinie 2001/83 vorgesehen. Dieses Verfahren kann verwendet werden, wenn der Hersteller eines Arzneimittels nachweisen kann, dass die Wirkstoffe des Mittels in der Europäischen Union für eine beachtliche Zeitspanne (d. h. für mindestens zehn Jahre) „allgemein“ medizinisch verwendet wurden. |
25. |
Sinn und Zweck dieser Ausnahmen liegen ganz einfach darin, dass zusätzliche Versuche nicht dazu beitragen würden, die öffentliche Gesundheit zu gewährleisten, da die Sicherheit und Wirksamkeit hinsichtlich der gleichen Stoffe bereits nachgewiesen wurde. In Abhängigkeit davon, welches der vorgenannten vereinfachten Verfahren durchgeführt wird, wird dies entweder durch den Nachweis erfolgen, dass das Arzneimittel ein Generikum eines bestimmten, nach Art. 6 für nicht weniger als acht Jahre zugelassenen Referenzarzneimittels ist (Art. 10), oder aber durch den Nachweis, dass sich das Mittel aus Wirkstoffen zusammensetzt, die für mindestens zehn Jahre umfassend angewendet wurden (Art. 10a) ( 5 ). Da unnötige Versuche an Menschen und Tieren soweit wie möglich vermieden werden müssen, würde es nämlich diesem politischen Ziel zuwiderlaufen, erneute Versuche ohne erkennbaren Nutzen für die öffentliche Gesundheit durchzuführen ( 6 ). |
26. |
Hier gilt allerdings eine wichtige Einschränkung. Die Anwendung der Ausnahme für Generika in Art. 10 der Richtlinie 2001/83 sollte für Hersteller, die in die Forschung investieren, um neue Arzneimittel zu entwickeln, nicht zu Wettbewerbsnachteilen gegenüber Herstellern von Generika führen. Das wird durch den neunten Erwägungsgrund der Richtlinie bestätigt. Um einen Anreiz für Innovationen zu bieten, wird Herstellern, die neue Arzneimittel in Verkehr bringen, in Art. 10 der Richtlinie 2001/83 eine Ausschließlichkeitsfrist garantiert. |
27. |
Zwei Punkte sind zu erwähnen. Erstens genießen die Ergebnisse von vorklinischen und klinischen Versuchen für eine Dauer von acht Jahren einen besonderen Schutz (Ausschließlichkeit der Daten). Erst nach Ablauf dieser acht Jahre kann ein Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums auf der Grundlage dieser Daten gestellt werden. Zweitens kann ein Generikum, sobald eine Genehmigung für sein Inverkehrbringen erteilt wurde, nicht vor Ablauf einer Zweijahresfrist in Verkehr gebracht werden (Marktexklusivitätsrecht). Insgesamt wird dem Referenzmittel eine Schutzfrist von zehn Jahren (oder maximal elf Jahren unter den Voraussetzungen des Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2001/83) gewährt, die von dem Zeitpunkt an berechnet wird, zu dem das Mittel seine Erstgenehmigung erhielt. |
28. |
Dementsprechend muss jede Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2001/83 zu einer Ausgewogenheit zwischen den Zielen führen, die ihr zugrunde liegen (im Einzelnen das Erfordernis, die öffentliche Gesundheit zu gewährleisten und die Notwendigkeit, Innovationen zu fördern). Vor diesem Hintergrund werde ich nun zur Prüfung der Vorlagefragen (in umgekehrter Reihenfolge) übergehen. |
B – Feststellung der Bedeutung des Begriffs „Referenzarzneimittel “
29. |
Die zweite Vorlagefrage bezieht sich auf den Begriff „Referenzarzneimittel“ im Sinne von Art. 10 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/83. Konkret geht es darum, ob ein nach Art. 10a der Richtlinie genehmigtes, allgemein verwendetes Arzneimittel wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, als Referenzarzneimittel für ein Generikum verwendet werden kann, für das eine Genehmigung für das Inverkehrbringen nach Art. 10 Abs. 1 beantragt wird. |
30. |
Diese Frage rückt die beiden unterschiedlichen Arten in den Blickpunkt, auf die eine Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels nach der Richtlinie 2001/83 erwirkt werden kann. Zum einen kann eine Genehmigung für das Inverkehrbringen nach dem aufwendigeren, in Art. 8 der Richtlinie 2001/83 vorgesehenen Verfahren erteilt werden. Wie ausgeführt, erfordert dieses Verfahren eine umfassende Dokumentation der Ergebnisse der vorklinischen und klinischen Versuche, mit denen die Sicherheit und Wirksamkeit des betreffenden Mittels nachzuweisen ist. Zum anderen kann eine Genehmigung in einem vereinfachten Verfahren nach Art. 10a der Richtlinie (oder nach Art. 10 für Generika) erteilt werden. Als Beleg für die Sicherheit und Wirksamkeit eines Arzneimittels reicht für die Zwecke dieses Verfahrens der Nachweis aus, dass das Mittel aus Wirkstoffen besteht, die ihrerseits in der Europäischen Union für mindestens zehn Jahre allgemein medizinisch verwendet wurden. In diesem Fall werden die Versuche durch detaillierte Bezugnahmen auf die wissenschaftliche Dokumentation, also auf bereits öffentlich verfügbare Informationen ersetzt ( 7 ). |
31. |
Im Kern geht es bei der zweiten Vorlagefrage um die Feststellung, ob – unter Berücksichtigung des der Richtlinie zugrunde liegenden Ziels der öffentlichen Gesundheit – ein nach Art. 10a der Richtlinie 2001/83 genehmigtes allgemein verwendetes Arzneimittel in gleicher Weise als Referenzmittel für ein Generikum herangezogen werden kann wie ein nach Art. 8 genehmigtes Arzneimittel, für das die Ergebnisse der relevanten Versuche den zuständigen Behörden übermittelt wurden. Mit anderen Worten: Kommt einem Arzneimittel auf der Basis von allgemein verwendeten Wirkstoffen vor dem Hintergrund, dass die Sicherheit des Mittels nur „mittelbar“ gewährleistet ist, im Hinblick auf die Sicherstellung der öffentlichen Gesundheit der gleiche Wert zu? |
32. |
Diese Frage ist zu bejahen. |
33. |
Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass sich Art. 10 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/83 bei der Definition des Begriffs „Referenzarzneimittel“ ( 8 ) ausdrücklich nur auf nach Art. 8 der Richtlinie genehmigte Mittel bezieht, nicht aber auf allgemein verwendete Arzneimittel, die nach Art. 10a genehmigt wurden. |
34. |
Dennoch sehe ich keinen stichhaltigen Grund, warum die Nutzung von allgemein verwendeten Arzneimitteln als Referenzmittel für Generika nicht zugelassen werden sollte. Und zwar aus folgenden Gründen. |
35. |
Wie oben in Nr. 25 ausgeführt, soll mit beiden Ausnahmen von Art. 8 der Richtlinie 2001/83 – also Art. 10 für Generika und Art. 10a für allgemein verwendete Arzneimittel – sichergestellt werden, dass unnötige Versuche an Menschen und Tieren vermieden werden. Wenn auf diese Verfahren zurückgegriffen wird, kann die Sicherheit und Wirksamkeit des Mittels, für das eine Genehmigung für das Inverkehrbringen beantragt wird, auf andere Art nachgewiesen werden. |
36. |
Angenommen – wie es hier der Fall ist – ein nach Art. 10a der Richtlinie 2001/83 genehmigtes, allgemein verwendetes Arzneimittel wird als Referenz für ein Generikum verwendet (d. h. an Stelle eines nach Art. 8 genehmigten Mittels). Unter solchen Umständen würden die zuständigen Behörden die Sicherheit und Wirksamkeit des Generikums auf der Grundlage der Akte des allgemein verwendeten Arzneimittels prüfen. Konkret gesagt würde diese Prüfung auf die wissenschaftliche Dokumentation gestützt, die für ausreichend erachtet würde, um die Sicherheit und Wirksamkeit der Wirkstoffe nachzuweisen, auf denen das Mittel basiert. Könnte das dem Ziel der öffentlichen Gesundheit der Richtlinie 2001/83 zuwiderlaufen? |
37. |
Ich meine nicht. |
38. |
Der EU-Gesetzgeber hat nämlich durch Schaffung einer Ausnahme zugunsten von gemäß der Richtlinie 2001/83 allgemein verwendeten Arzneimitteln eindeutig anerkannt, dass das Verfahren nach Art. 10a die Erreichung dieses Ziels (auch ohne Einreichung von Unterlagen über die Ergebnisse von vorklinischen und klinischen Versuchen) angemessen sicherstellt. Daher erschließt sich mir nicht, wie die Genehmigung einer „Kopie“ (eines Generikums) eines solchen Mittels – in höherem Maß als das Inverkehrbringen des Referenzmittels selbst – die Erreichung des der Richtlinie 2001/83 zugrunde liegenden Ziels der öffentlichen Gesundheit beeinträchtigen könnte. Die Gestattung einer solchen Bezugnahme stellt vielmehr sicher, dass keine unnötigen Versuche an Menschen oder Tieren durchgeführt werden. |
39. |
Ein weiterer Punkt, der nicht übersehen werden sollte, ist der Inhalt der Leitlinien der Kommission zu den Verfahren über die Genehmigung für das Inverkehrbringen ( 9 ), auf die mehrere Parteien in ihren schriftlichen Erklärungen verwiesen haben. Diese Leitlinien sind zugegebenermaßen rechtlich nicht bindend. Wie der Gerichtshof anerkannt hat, können sie dennoch einen hilfreichen Bezugspunkt für eine rechtliche Beurteilung bilden ( 10 ). Im Hinblick auf die in Rede stehende Angelegenheit heißt es in diesen Leitlinien, dass ein Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums „auf die Akte eines Arzneimittels Bezug nehmen kann, für das eine Genehmigung für das Inverkehrbringen in der [Europäischen Union] nach den Art. 8 Abs. 3, 10a, 10b oder 10c der Richtlinie 2001/83 erteilt wurde“ ( 11 ). Der Grund dafür, auch die Bezugnahme auf allgemein verwendete Arzneimittel zuzulassen, besteht nämlich darin, dass die Genehmigung eines solchen Mittels auf einem tatsächlich dokumentierten Einsatz der fraglichen Wirkstoffe beruht. Dementsprechend wurde deren Sicherheit und Wirksamkeit von den nationalen Behörden geprüft, die die Genehmigung für das Inverkehrbringen nach Art. 10a der Richtlinie 2001/83 erteilt haben. |
40. |
Schließlich spricht auch das Urteil Generics (UK) ( 12 ) des Gerichtshofs (wenn auch nur implizit) dafür, die Benutzung eines allgemein verwendeten Arzneimittels als Referenzmittel zuzulassen; in jener Rechtssache ging es um die Bedeutung des Begriffs „Referenzarzneimittel“ ( 13 ). In diesem Zusammenhang stellte der Gerichtshof fest, dass nur nach den Vorschriften der Richtlinie 2001/83 genehmigte Arzneimittel als Referenzprodukte für Generika dienen können ( 14 ). Hier ist auch von besonderer Bedeutung, dass der Gerichtshof den Gedanken, Art. 10 der Richtlinie 2001/83 könne im Hinblick auf die Genehmigung von Generika dahin ausgelegt werden, dass die sich aus der Richtlinie ergebenden Anforderungen an die Sicherheit und Wirksamkeit gelockert würden, ausdrücklich verworfen hat. Um die Sicherheits- und Wirksamkeitsstandards nicht zu gefährden, denen in Verkehr gebrachte Arzneimittel zwingend genügen müssen, wurde es als von allergrößter Bedeutung angesehen, dass alle Angaben und Unterlagen, die das Referenzarzneimittel betreffen, der zuständigen Behörde zur Verfügung stehen, wenn der Antrag hinsichtlich des Generikums geprüft wird ( 15 ). Das bestimmende Kriterium, das eine Abweichung von der allgemeinen Regel (nach der die Ergebnisse der vorklinischen und klinischen Versuche vorzulegen sind) nach Art. 10 für Generika erlaubt, ist daher, dass alle Angaben und relevanten Unterlagen, die die Sicherheit und Wirksamkeit des Referenzmittels belegen, den zuständigen Behörden zugänglich sein müssen ( 16 ). |
41. |
Die Übertragung dieser Argumentation auf den vorliegenden Kontext führt mich zu den folgenden Erwägungen. Um als Referenzarzneimittel dienen zu können, muss ein Mittel zwei kumulative Kriterien erfüllen. Erstens muss für das Referenzmittel eine Genehmigung für das Inverkehrbringen nach der Richtlinie 2001/83 erteilt worden sein. Zweitens müssen die zuständigen Behörden in der Lage sein, die Sicherheit und Wirksamkeit des Referenzmittels zu prüfen. Wie oben erläutert, sind beide Kriterien auch dann erfüllt, wenn ein allgemein verwendetes Arzneimittel als Referenzmittel für ein Generikum verwendet wird. |
42. |
Daher bin ich der Ansicht, dass ein nach Art. 10a der Richtlinie 2001/83 registriertes Arzneimittel für die Zwecke des Art. 10 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie als Referenzarzneimittel verwendet werden kann. |
C – Recht zur Anfechtung einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums
43. |
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob dem Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Referenzmittels (im Folgenden auch: Inhaber) unionsrechtlich ein Recht zusteht, die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums anzufechten, für das dieses Arzneimittel als Referenzmittel verwendet wird und, wenn ja, unter welchen Umständen. Die Frage bezieht sich also darauf, ob ein solches Recht aus dem EU-Recht hergeleitet werden kann, oder ob dieser Gegenstand in der Sphäre des nationalen Rechts verbleibt. |
44. |
Meiner Ansicht nach kann ein solches Recht in der Tat aus der Richtlinie 2001/83 abgeleitet werden. |
45. |
In der vor dem vorlegenden Gericht verhandelten Rechtssache steht nicht in Streit, ob die lettischen Gesetze angemessene Maßnahmen vorsehen, die sicherstellen, den Einzelnen wirksame Verfahrensgarantien zur Verfügung stellen, soweit das EU-Recht die Einrichtung solcher Garantien von den Mitgliedstaaten verlangt. Die Frage ist vielmehr, ob das EU-Recht einen Anspruch verleiht, der die Mitgliedstaaten verpflichten würde, Verfahrensgarantien in ihrem eigenen Rechtssystems sicherzustellen. Wie die estnische und die italienische Regierung zu Recht anmerken, war der Gerichtshof bereits mit Fällen befasst ( 17 ), in denen der Inhaber die Rechtmäßigkeit einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums seines eigenen Mittels im Rahmen des nationalen Genehmigungsverfahrens angefochten hatte. Allerdings ging es in diesem Verfahren nicht ausdrücklich darum, ob ein derartiges Recht unmittelbar aus dem EU-Recht hergeleitet werden könne oder nicht. |
46. |
Wie oben erläutert, besteht neben den Belangen der öffentlichen Gesundheit, die in den Vorschriften der Richtlinie 2001/83 – insbesondere in deren Art. 8 und 10 – verankert sind, das andere Hauptziel der Richtlinie darin, sicherzustellen, dass zu Innovationen beitragende Pharmaunternehmen nicht gegenüber Generikaherstellern benachteiligt werden ( 18 ). Vor diesem Hintergrund ist es ersichtlich von Bedeutung, angemessene Maßnahmen zu treffen, um es jenen Unternehmen zu ermöglichen, sich gegenüber Generika-Wettbewerbern selbst zu schützen (vorausgesetzt, dass bestimmte Bedingungen erfüllt sind). In diesem Licht betrachtet, stellt ein subjektives Recht des Inhabers zur Anfechtung der Genehmigung für das Inverkehrbringen konkurrierender Generika ein Mittel dar, genau das zu tun. |
47. |
Wie die Mehrzahl der Parteien, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben, anerkennt, beeinträchtigt die Erteilung einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums in der Tat potenziell den Hersteller des Referenzarzneimittels. Meinungsverschiedenheiten bestehen jedoch darüber, was genau aus dem Schutz geschäftlicher Interessen in diesem Zusammenhang zu folgern ist. |
48. |
Wie sowohl die Kommission als auch die italienische Regierung dargelegt haben, scheint die Annahme gerechtfertigt, dass die Markteinführung eines Generikums Einfluss auf die Verkäufe des Referenzmittels und dessen Wettbewerbsbedingungen haben wird. Diese Bedenken spiegeln sich, wie oben in Nr. 27 erläutert, in Art. 10 der Richtlinie 2001/83 wider: Während der dem Referenzmittel nach Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 2 für zehn Jahre zuerkannten Schutzfrist dürfen Generika nicht in den Verkehr gebracht werden. Diese Vorschrift erteilt dem Referenzmittel für zehn Jahre ab seiner ursprünglichen Genehmigung ein Marktexklusivitätsrecht. |
49. |
Nehmen wir vor diesem Hintergrund einmal an, dass die zuständigen nationalen Behörden gleichwohl eine Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums unter Umständen erteilen, unter denen beispielsweise Ungewissheit darüber besteht, ob das Mittel, für das die Genehmigung nach Art. 10 beantragt wurde, tatsächlich ein Generikum des Referenzmittels ist (oder wenn Zweifel aufkommen, wie die Zehnjahresfrist zu berechnen ist). Hätte der Inhaber kein Recht, diese Entscheidung anzufechten – unabhängig davon, welche Gründe geltend gemacht werden ( 19 ) – würde dies meiner Ansicht nach eindeutig gegen das Ziel verstoßen, sicherzustellen, dass während der von Art. 10 der Richtlinie 2001/83 vorgeschriebenen zehnjährigen Schutzfrist keine konkurrierenden Generika in den Verkehr gebracht werden. Jede andere Schlussfolgerung würde die praktische Wirksamkeit dieser Schutzfrist nämlich erheblich einschränken. Dies würde in der Konsequenz dem der Richtlinie zugrunde liegenden Ziel, nämlich der Förderung von Innovationen, zuwiderlaufen. |
50. |
Dies vorausgeschickt, kann ich in die Richtlinie 2001/83 kein weiter reichendes Recht hineinlesen, das über diesen Zeitraum hinausgehen würde. Sobald die Zehnjahres-Schutzfrist abgelaufen ist, genießt der Inhaber kein Marktexklusivitätsrecht mehr und befindet sich demzufolge in der gleichen Lage wie jeder andere Dritte. Eine Ausdehnung des Rechts, die Entscheidung über die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums über die von Art. 10 ausdrücklich vorgesehene Zehnjahresfrist hinaus anzufechten, würde es dem Inhaber nämlich ermöglichen, den Marktzugang für Wettbewerber dadurch zu blockieren, dass er die Verwendung von bereits allgemein zugänglichen Informationen einschränkt. |
51. |
Man könnte sich allerdings fragen, ob die gleiche Begründung zum Tragen kommt, wenn, wie im Fall vor dem vorlegenden Gericht, das Referenzmittel seinerseits auf Wirkstoffen basiert, die in der Europäischen Union für mindestens zehn Jahre allgemein medizinisch verwendet wurden. Mit anderen Worten: Steht dem Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines solchen Arzneimittels das gleiche Recht auf Marktexklusivität zu? |
52. |
Ich glaube, dass dies der Fall ist. |
53. |
Es könnte allerdings eingewandt werden, dass keine wirkliche Notwendigkeit bestünde, den Inhaber unter diesen Umständen zu schützen. Dies wäre insbesondere deshalb der Fall, weil die Entwicklung von allgemein verwendeten Arzneimitteln keinen innovativen Aufwand erfordert, der einen besonderen Schutz rechtfertigen würde (verglichen mit nach Art. 8 genehmigten Mitteln). Überdies könnte man – wie Grindeks und die lettische Regierung es tun – vorbringen, dass das Ausschließlichkeitsrecht der Daten nach Art. 10 der Richtlinie 2001/83 nur wirklich neue Wirkstoffe betrifft, die zum ersten Mal registriert werden. |
54. |
Es ist richtig, dass es keine schützenswerten Daten gibt, wenn das Referenzmittel nach Art. 10a der Richtlinie 2001/83 genehmigt wurde, und der Innovationsgrad solcher Mittel ist wohl geringer als der von Mitteln, die nach Art. 8 genehmigt wurden. Der Grund hierfür besteht, wie oben ausgeführt, darin, dass das Referenzmittel auf der Grundlage einer Akte genehmigt wurde, die Bezugnahmen auf die wissenschaftliche Dokumentation enthält, und nicht auf der Grundlage umfassender Forschung, von der eine Akte mit detaillierten Ergebnissen der vorklinischen und klinischen Versuche zusammengestellt wurde (wie es nach Art. 8 der Fall ist). |
55. |
Soweit die Nutzung eines allgemein verwendeten Arzneimittels als Referenzmittel für ein Generikum zugelassen wird, wie ich es oben angeregt habe, bin ich dennoch außerstande, überzeugende Gründe zu finden, die es rechtfertigen würden, für diese Referenzmittel nicht ebenfalls die zehnjährige Schutzfrist zu gewähren. Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2001/83 ist in diesem Punkt eindeutig: Referenzmitteln wird unterschiedslos ein zehnjähriges Marktexklusivitätsrecht gewährt ( 20 ). |
56. |
Wie oben dargelegt, ist es sicherlich richtig, dass der innovative Einsatz des Herstellers eines allgemein verwendeten Arzneimittels nach Art. 10a der Richtlinie 2001/83 wohl geringer ist als der eines Unternehmens, das erheblich in die Forschung investiert hat, um die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines neuen Wirkstoffs zu erhalten. Des Weiteren ist die Datenschutzfrist für das Referenzmittel in diesem Fall schon abgelaufen. Aus dieser Perspektive mag die Anregung, die zehnjährige Schutzfrist dennoch auch auf allgemein verwendete Arzneimittel anzuwenden, ohne Zweifel übertrieben erscheinen. |
57. |
Die Nichtgewährung eines Marktexklusivitätsrechts (und demnach eines Rechts, eine Entscheidung anzufechten, mit der die Registrierung eines Generikums gestattet wird, um die Exklusivität aufrechtzuerhalten) für allgemein verwendete Mittel, wenn diese als Referenzprodukte für Generika verwendet werden, würde den Herstellern von Generika, die von der vom Inhaber zusammengestellten Akte unbeschränkten Gebrauch machen könnten, allerdings einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil verschaffen. Dieser Punkt wurde in der mündlichen Verhandlung geklärt: Selbst wenn ein Hersteller wie Grindeks für sein Mittel ebenfalls eine Genehmigung für das Inverkehrbringen nach Art. 10a beantragen (und die Akte selbst zusammenstellen) könnte, ist es sowohl billiger als auch einfacher, eine Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums eines allgemein verwendeten Arzneimittels nach Art. 10 zu beantragen. Soweit Generika betroffen sind, ist dem so, weil eine bloße Bezugnahme auf die Originalakte genügt. Dies erspart dem Hersteller unzweifelhaft sowohl Zeit als auch Geld. |
58. |
Der wichtigste Punkt ist vielleicht der, dass dann, wenn ein Unternehmen ein Generikum von einem bereits genehmigten Arzneimittel herstellen möchte, davon ausgegangen werden kann, dass der Inhaber (unabhängig von dem Verfahren, nach dem das Referenzmittel genehmigt wurde) in gewissem Maß Erfolg bei der Vermarktung dieses Mittels hatte. Wenn dem Inhaber das zehnjährige Marktexklusivitätsrecht und das Recht, Entscheidungen anzufechten, die die Markteinführung von Generika während dieser Zeit gestatten, nicht gewährt werden würden, wären die Generikahersteller in der Lage, von den im Hinblick auf das Referenzmittel bereits getätigten Vermarktungsaufwendungen ohne Gegenleistung zu profitieren. |
59. |
Letztlich kann, wie oben angedeutet, der einem allgemein verwendeten Arzneimittel zugestandene Schutz hier zweifellos unangemessen erscheinen. Auf der anderen Seite ist ein Hersteller, wie im vorliegenden Fall Grindeks, nicht daran gehindert, unmittelbar einen Antrag auf Grundlage des Art. 10a für ein allgemein verwendetes Mittel zu stellen, sollte er die in Rede stehende zehnjährige Schutzfrist umgehen wollen. |
60. |
Ich bin daher der Ansicht, dass Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass er dem Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Referenzarzneimittels das Recht verleiht, die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums anzufechten, das dieses Arzneimittel innerhalb der dem Inhaber nach dieser Richtlinie zustehenden zehnjährigen Schutzfrist (oder gegebenenfalls der elfjährigen Frist) als Referenzmittel verwendet. |
IV – Ergebnis
61. |
Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die vom Augstākās tiesas Senāts (Lettland) vorgelegten Vorabentscheidungsfragen wie folgt zu antworten: Ein nach Art. 10a der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel in der durch die Richtlinie 2004/27/EG vom 31. März 2004 geänderten Fassung registriertes Arzneimittel kann als Referenzarzneimittel im Sinne von Art. 10 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie verwendet werden. Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 ist dahin auszulegen, dass er dem Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Referenzarzneimittels das Recht verleiht, die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums anzufechten, das dieses Arzneimittel innerhalb der dem Inhaber nach dieser Richtlinie zustehenden zehnjährigen Schutzfrist (oder gegebenenfalls der elfjährigen Frist), als Referenzmittel verwendet. |
( 1 ) Originalsprache: Englisch.
( 2 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel in der durch die Richtlinie 2004/27/EG vom 31. März 2004 geänderten Fassung (ABl. L 311, S. 67).
( 3 ) Diese Ausnahmen sind in den Art. 10, 10a, 10b und 10c der Richtlinie 2001/83 aufgeführt. Da im vorliegenden Fall lediglich die in den Art. 10 und 10a festgelegten Ausnahmen relevant sind, werde ich nachstehend nur diese Ausnahmen untersuchen.
( 4 ) Um als Generikum eingestuft zu werden, muss das betreffende Arzneimittel nach Art. 10 Abs. 2 Buchst. b die gleiche qualitative und quantitative Zusammensetzung aus Wirkstoffen und die gleiche Darreichungsform wie das Referenzarzneimittel aufweisen. Zusätzlich muss das Generikum bioäquivalent mit dem Referenzarzneimittel sein. Dies muss durch geeignete Bioverfügbarkeitsstudien nachgewiesen werden.
( 5 ) Die Unterlagen, die für Anträge nach Art. 10a vorgelegt werden müssen, werden in Anhang I Teil II der Richtlinie 2001/83 aufgeführt. Dort heißt es u. a.: „Die Unterlagen, die vom Antragsteller eingereicht werden, sollten alle Aspekte der Unbedenklichkeits- und/oder Wirksamkeitsbewertung abdecken und müssen einen Überblick über die einschlägigen Veröffentlichungen umfassen bzw. auf einen solchen verweisen; dabei sind vor und nach dem Inverkehrbringen durchgeführte Studien und wissenschaftliche Veröffentlichungen über die vorliegenden Erfahrungen in Form von epidemiologischen Studien, insbesondere vergleichenden epidemiologischen Studien, zu berücksichtigen. Alle Unterlagen, sowohl günstige als auch ungünstige sind vorzulegen.“
( 6 ) Die Absicht des Gesetzgebers, unnötige Versuche zu vermeiden, kommt im zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83 deutlich zum Ausdruck. Vgl. auch Urteil des Gerichts vom 1. Juli 2010 AstraZeneca/Kommission (T-321/05, Slg. 2010, II-2805, Rn. 666 und die dort angeführte Rechtsprechung).
( 7 ) Zu den Kriterien einer allgemeinen medizinischen Verwendung vgl. Commission guidelines, Notice to Applicants. Volume 2A: Procedures for marketing authorisation. Chapter 1. Marketing authorisation, S. 33 und 34. Abrufbar unter: http://ec.europa.eu/health/files/eudralex/vol-2/a/vol2a_chap1_2013-06_en.pdf
( 8 ) Diese Definition wurde – zusammen mit einer dem Verständnis dienenden Umformulierung des Art. 10 der Richtlinie 2001/83, der ursprünglich sämtliche möglichen Ausnahmen von der Grundregel in Art. 8 aufgelistet hatte – durch die Richtlinie 2004/27 eingeführt.
( 9 ) Siehe oben, Fn. 7.
( 10 ) Vgl. Urteil vom 16. Oktober 2003, AstraZeneca (C-223/01, Slg. 2003, I-11809, Rn. 28). Vgl. auch Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs in der Rechtssache SmithKline Beecham (C‑74/03, Urteil vom 20. Januar 2005, Slg. 2005, I‑595, Nr. 92) und Schlussanträge von Generalanwalt Mazák in der Rechtssache Generics (UK) (C‑527/07, Urteil vom 18. Juni 2009, Slg. 2009, I‑5259, Rn. 37).
( 11 ) Commission guidelines, Notice to applicants, S. 29, oben in Fn. 7 angeführt.
( 12 ) Siehe oben, Fn. 10.
( 13 ) In diesem Fall ging es darum, ob ein Mittel, das nicht in Übereinstimmung mit der Richtlinie 2001/83 genehmigt worden war, dennoch als Referenzmittel verwendet werden konnte oder nicht. Durch Bezugnahme auf das übergeordnete Ziel der Richtlinie, die öffentliche Gesundheit zu schützen, wurde eine solche Möglichkeit vom Gerichtshof ausgeschlossen. Vgl. insbesondere Rn. 26 und 37 des Urteils.
( 14 ) Vgl. Urteil Generics (UK), Rn. 23 und 30. Für einen erfolgreichen Genehmigungsantrag für ein Generikum muss der Antragsteller darlegen können, dass das Referenzarzneimittel auf der Grundlage des zum Zeitpunkt des Antrags auf Genehmigung für das Inverkehrbringen des Referenzarzneimittels geltenden EU-Rechts genehmigt worden war. Vgl. auch Urteil AstraZeneca, Rn. 23.
( 15 ) Vgl. Urteil Generics (UK), Rn. 23 bis 26 und die dort angeführte Rechtsprechung.
( 16 ) Vgl. Urteil Generics (UK), Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung. Mit anderen Worten: Es ist nur dann möglich, die in Art. 8 Abs. 3 Buchst. i der Richtlinie 2001/83 genannte Verpflichtung des Antragstellers, Ergebnisse von Versuchen vorzulegen, zu ersetzen, wenn nachgewiesen werden kann, dass das betreffende Arzneimittel dem Referenzarzneimittel, für das eine mit dem EU-Recht in Einklang stehende Genehmigung für das Inverkehrbringen bereits vorliegt, so sehr gleicht, dass es sich im Hinblick auf Sicherheit und Wirksamkeit von diesem Mittel nicht nennenswert unterscheidet.
( 17 ) Vgl. u. a. Urteile vom 5. Oktober 1995, Scotia Pharmaceuticals (C-440/93, Slg. 1995, I-2851), AstraZeneca, SmithKline Beecham und Generics (UK).
( 18 ) Urteil AstraZeneca/Kommission, Rn. 667 und 668 und die dort angeführte Rechtsprechung.
( 19 ) Diese Gründe können sich sowohl auf öffentliche als auch auf private Interessen beziehen, die durch die Erteilung einer Genehmigung für das Inverkehrbringen des Generikums betroffen sind.
( 20 ) Dies wird auch durch die Leitlinien der Kommission bestätigt, Notice for applicants (oben in Fn. 7 angeführt). Vgl. insbesondere S. 43.