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Document 62011CJ0396

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 29. Januar 2013.
Ciprian Vasile Radu.
Vorabentscheidungsersuchen der Curte de Apel Constanţa.
Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Zur Strafverfolgung ausgestellter Europäischer Haftbefehl – Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung.
Rechtssache C‑396/11.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2013:39

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

29. Januar 2013 ( *1 )

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Rahmenbeschluss 2002/584/JI — Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten — Zur Strafverfolgung ausgestellter Europäischer Haftbefehl — Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung“

In der Rechtssache C-396/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curte de Apel Constanţa (Rumänien) mit Entscheidung vom 18. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juli 2011, in dem Verfahren betreffend die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle gegen

Ciprian Vasile Radu

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen und A. Rosas, der Kammerpräsidentin M. Berger und des Kammerpräsidenten E. Jarašiūnas, der Richter E. Juhász, A. Ó Caoimh (Berichterstatter) und J.-C. Bonichot, der Richterin A. Prechal und des Richters C. G. Fernlund,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Juli 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Radu, vertreten durch C. Cojocaru und T. Chiuariu, avocați,

des Ministerul Public, Parchetul de pe lângă Curtea de Apel Constanţa, vertreten durch E. C. Grecu, procuror general,

der rumänischen Regierung, vertreten durch R.-M. Giurescu, A. Voicu und R. Radu als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Kemper und T. Henze als Bevollmächtigte,

der litauischen Regierung, vertreten durch R. Mackevičienė und A. Svinkūnaitė als Bevollmächtigte,

der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Murrel als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Bouyon, W. Bogensberger und H. Krämer als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 18. Oktober 2012

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584) in Verbindung mit den Art. 6, 48 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie den Art. 5 und 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens über die Vollstreckung von vier Europäischen Haftbefehlen in Rumänien, die die deutschen Behörden gegen Herrn Radu, einen rumänischen Staatsangehörigen, zur Strafverfolgung wegen Straftaten des Raubes ausgestellt haben.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 1, 5 bis 8, 10, 12 und 13 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lauten:

„(1)

Nach den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999, insbesondere in Nummer 35 dieser Schlussfolgerungen, sollten im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander die förmlichen Verfahren zur Auslieferung von Personen, die sich nach einer rechtskräftigen Verurteilung der Justiz zu entziehen suchen, abgeschafft und die Verfahren zur Auslieferung von Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtig sind, beschleunigt werden.

(5)

Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.

(6)

Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

(7)

Da das Ziel der Ersetzung des auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beruhenden multilateralen Auslieferungssystems von den Mitgliedstaaten durch einseitiges Vorgehen nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen seines Umfangs und seiner Wirkungen besser auf Unionsebene zu erreichen ist, kann der Rat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nach Artikel 2 [EU] und Artikel 5 [EG] Maßnahmen erlassen. …

(8)

Entscheidungen zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls müssen ausreichender Kontrolle unterliegen; dies bedeutet, dass eine Justizbehörde des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, die Entscheidung zur Übergabe dieser Person treffen muss.

(10)

Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 [EU] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 [EU] mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.

(12)

Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 [EU] anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta …, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. Keine Bestimmung des vorliegenden Rahmenbeschlusses darf in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann.

Der vorliegende Rahmenbeschluss belässt jedem Mitgliedstaat die Freiheit zur Anwendung seiner verfassungsmäßigen Regelung des Anspruchs auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren, der Vereinigungsfreiheit, der Pressefreiheit und der Freiheit der Meinungsäußerung in anderen Medien.

(13)

Niemand sollte in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.“

4

Art. 1 dieses Rahmenbeschlusses definiert den Europäischen Haftbefehl und die Verpflichtung zu seiner Vollstreckung wie folgt:

„(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“

5

Art. 3 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist“) des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„Die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats (nachstehend ‚vollstreckende Justizbehörde‘ genannt) lehnt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ab,

2.

wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;

…“

6

In Art. 4 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist“) des Rahmenbeschlusses heißt es:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

2.

wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsmitgliedstaat wegen derselben Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, strafrechtlich verfolgt wird;

5.

wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;

…“

7

Nach Art. 4a („Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich erschienen ist“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Strafvollstreckung ausgestellten Europäischen Haftbefehls unter bestimmten Bedingungen verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat.

8

Art. 5 des Rahmenbeschlusses betrifft die vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährenden Garantien.

9

In Art. 8 des Rahmenbeschlusses geht es um Inhalt und Form des Europäischen Haftbefehls. Nach seinem Abs. 1 Buchst. d bis f sind folgende Angaben erforderlich:

„d)

die Art und rechtliche Würdigung der Straftat, insbesondere in Bezug auf Artikel 2;

e)

die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatortes und der Art der Tatbeteiligung der gesuchten Person;

f)

im Fall eines rechtskräftigen Urteils die verhängte Strafe oder der für die betreffende Straftat im Ausstellungsmitgliedstaat gesetzlich vorgeschriebene Strafrahmen“.

10

Art. 11 („Rechte der gesuchten Person“) Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses sieht vor:

„Wird eine gesuchte Person festgenommen, so unterrichtet die zuständige Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats entsprechend dessen innerstaatlichem Recht die betreffende Person von dem Europäischen Haftbefehl, von dessen Inhalt sowie davon, dass sie ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde zustimmen kann.“

11

Art. 13 („Zustimmung zur Übergabe“) Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

„(1)   Gibt die festgenommene Person an, dass sie ihrer Übergabe zustimmt, so werden diese Zustimmung und gegebenenfalls der ausdrückliche Verzicht auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität nach Artikel 27 Absatz 2 vor der vollstreckenden Justizbehörde nach dem innerstaatlichen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats erklärt.

(2)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, damit die Zustimmung und gegebenenfalls der Verzicht nach Absatz 1 unter Bedingungen entgegengenommen werden, die erkennen lassen, dass die Person sie freiwillig und in vollem Bewusstsein der sich daraus ergebenden Folgen bekundet hat. Zu diesem Zweck hat die gesuchte Person das Recht, einen Rechtsbeistand beizuziehen.“

12

Art. 14 („Vernehmung der gesuchten Person“) dieses Rahmenbeschlusses sieht vor, dass die festgenommene Person, wenn sie ihrer Übergabe nach Maßgabe des Art. 13 des Rahmenbeschlusses nicht zustimmt, das Recht hat, von der vollstreckenden Justizbehörde nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats vernommen zu werden.

13

Art. 15 („Entscheidung über die Übergabe“) Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„(2)   Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen, insbesondere hinsichtlich der Artikel 3 bis 5 und Artikel 8; sie kann eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 zu beachten ist.

(3)   Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.“

14

Art. 19 („Vernehmung der Person in Erwartung der Entscheidung“) Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„(1)   Die Vernehmung der gesuchten Person erfolgt durch eine Justizbehörde mit Unterstützung einer Person, die nach dem Recht des Mitgliedstaats der ersuchenden Justizbehörde bestimmt wird.

(2)   Die Vernehmung der gesuchten Person erfolgt nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats und nach den im gegenseitigen Einvernehmen zwischen der ausstellenden und der vollstreckenden Justizbehörde festgelegten Bedingungen.“

Rumänisches Recht

15

Das Gesetz Nr. 302 vom 28. Juni 2004 über die internationale justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Legea no 302/2004 privind cooperarea judiciară internaţională în materie penală [Monitorul Oficial al României, Teil I Nr. 377 vom 31. Mai 2011, im Folgenden: Gesetz Nr. 302/2004]) enthält in Kapitel III („Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls durch die rumänischen Behörden“) des Titels III („Vorschriften über die Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach dem [Rahmenbeschluss]“) folgende Bestimmung:

„Art. 98 –

Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung

   …

(2)   Die rumänische vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ablehnen,

b)

wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, in Rumänien wegen derselben Handlung, die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, strafrechtlich verfolgt wird.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16

Am 25. Mai 2009 und am 3. Juni 2009 wurde die Curte de Apel Constanţa (Berufungsgericht Constanţa) (Rumänien) als vollstreckende Justizbehörde mit Anträgen der deutschen Justizbehörden auf Übergabe von Herrn Radu, einer von den Staatsanwaltschaften Münster, Coburg, Bielefeld und Verden mit vier Europäischen Haftbefehlen vom 14. März 2007, 16. März 2007, 8. August 2007 und 26. Februar 2008 zur Strafverfolgung wegen Straftaten des Raubes im Sinne von Art. 211 des rumänischen Strafgesetzbuchs gesuchten Person, befasst. Herr Radu hat der Überstellung nicht zugestimmt.

17

Mit Entscheidung vom 5. Juni 2009 ordnete die Curte de Apel Constanţa die Vollstreckung von dreien der Europäischen Haftbefehle an, nämlich derjenigen der Staatsanwaltschaften Münster, Coburg und Verden. Dagegen lehnte es das vorlegende Gericht nach Art. 98 Abs. 2 Buchst. b des Gesetzes Nr. 302/2004 ab, den Europäischen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft Bielefeld vom 8. August 2007 zu vollstrecken, weil gegen Herrn Radu in Rumänien wegen derselben Handlung, auf die sich der Haftbefehl stütze, ein Strafverfahren beim Tribunal Bacău (Landgericht Bacău) anhängig sei. Es hat daher die Überstellung von Herrn Radu bis zum Abschluss dieses Verfahrens vor den rumänischen Gerichten aufgeschoben und die gegen Herrn Radu verhängte Maßnahme der Untersuchungshaft für 30 Tage aufrechterhalten.

18

Mit Urteil vom 18. Juni 2009 hob die Înalta Curte de Casație și Justiție a României (Oberster Kassations- und Gerichtshof von Rumänien) diese Entscheidung auf und wies die Sache an die Curte de Apel Constanța zurück. Sie ordnete ferner die Freilassung von Herrn Radu an, erlegte ihm jedoch eine präventive Maßnahme zur Beschränkung seiner Bewegungsfreiheit, nämlich ein Verbot, sich von seiner Wohnsitzgemeinde Bacău ohne richterliche Erlaubnis zu entfernen, sowie eine Reihe von Pflichten auf.

19

In der Verhandlung vom 22. Februar 2011 vor der Curte de Apel Constanța wandte sich Herr Radu gegen die Vollstreckung der gegen ihn erlassenen Europäischen Haftbefehle. Er machte zunächst geltend, dass zum Zeitpunkt des Erlasses des Rahmenbeschlusses 2002/584 weder die in der EMRK noch die in der Charta verankerten Grundrechte ausdrücklich in die Gründungsverträge der Union einbezogen gewesen seien. Nach Art. 6 EUV seien jedoch die Vorschriften sowohl der Charta als auch der EMRK zu Bestimmungen des Primärrechts der Union geworden, so dass der Rahmenbeschluss 2002/584 nunmehr im Einklang mit der Charta und der EMRK auszulegen und anzuwenden sei. Sodann sei dieser Rahmenbeschluss von den Mitgliedstaaten nicht einheitlich umgesetzt worden. Insbesondere seien die deutschen Rechtsvorschriften, mit denen der Rahmenbeschluss umgesetzt worden sei, vom deutschen Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 18. Juli 2005 für verfassungswidrig und nichtig erklärt worden, bevor ein neues Gesetz erlassen worden sei. Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls unterliege jedoch der Voraussetzung der Gegenseitigkeit. Schließlich hätten die Justizbehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats zu prüfen, ob die durch die Charta und die EMRK garantierten Grundrechte im Ausstellungsstaat gewahrt seien. Wenn dies nicht der Fall sei, dürften sie die Vollstreckung des betreffenden Europäischen Haftbefehls ablehnen, selbst wenn dieser Grund für eine Ablehnung der Vollstreckung im Rahmenbeschluss 2002/584 nicht ausdrücklich vorgesehen sei.

20

Unter diesen Umständen hat die Curte de Apel Constanţa beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind die Bestimmungen des Art. 5 Abs. 1 EMRK sowie des Art. 6 in Verbindung mit den Art. 48 und 52 der Charta, auch im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 und 4 sowie Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK, Rechtsnormen des primären Unionsrechts, die in den Gründungsverträgen enthalten sind?

2.

Stellt die Vorgehensweise der zuständigen Justizbehörde des Staates der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Form des Freiheitsentzugs und der zwangsweisen Übergabe ohne Zustimmung der Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde (der Person, die festgenommen und übergeben werden soll), einen Eingriff des Staates der Vollstreckung des Haftbefehls in das individuelle Freiheitsrecht der Person, die festgenommen und übergeben werden soll, dar, das im Unionsrecht gemäß Art. 6 EUV in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 EMRK und gemäß Art. 6 in Verbindung mit den Art. 48 und 52 der Charta, auch im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 und 4 sowie Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK, verankert ist?

3.

Muss der Eingriff des Staates der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in die Rechte und Garantien, die in Art. 5 Abs. 1 EMRK und in Art. 6 in Verbindung mit den Art. 48 und 52 der Charta, auch im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 und 4 sowie Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK, die Voraussetzung der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft und die Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf das konkret verfolgte Ziel erfüllen?

4.

Kann die zuständige Justizbehörde des Staates der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls das Übergabeersuchen ohne Verletzung der in den Gründungsverträgen und anderen Vorschriften des Unionsrechts festgelegten Verpflichtungen mit der Begründung ablehnen, dass die in Art. 5 Abs. 1 EMRK und in Art. 6 in Verbindung mit den Art. 48 und 52 der Charta, auch im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 und 4 sowie Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK, festgelegten Voraussetzungen insgesamt nicht erfüllt seien?

5.

Kann die zuständige Justizbehörde des Staates der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls das Übergabeersuchen ohne Verletzung der in den Gründungsverträgen und anderen Vorschriften des Unionsrechts festgelegten Verpflichtungen wegen unterlassener oder unvollständiger Durchführung oder wegen fehlerhafter Durchführung (im Sinne einer Nichtbeachtung der Voraussetzung der Gegenseitigkeit) des Rahmenbeschlusses 2002/584 durch den Staat, der den Europäischen Haftbefehl erlassen hat, ablehnen?

6.

Steht das nationale Recht des Mitgliedstaats der Europäischen Union – Rumänien –, insbesondere Titel III des Gesetzes Nr. 302/2004, im Widerspruch zu den Bestimmungen des Art. 5 Abs. 1 EMRK und des Art. 6 in Verbindung mit den Art. 48 und 52 der Charta, auch im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 und 4 sowie Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK, auf die Art. 6 EUV verweist, und ist der Rahmenbeschluss 2002/584 mit diesen nationalen Rechtsnormen ordnungsgemäß durchgeführt worden?

Zu den Vorlagefragen

Zur Zulässigkeit

21

Die rumänische und die österreichische Regierung sowie die Kommission machen geltend, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei, weil in der Vorlageentscheidung nicht angegeben sei, warum die Auslegung der in den Vorlagefragen angeführten Bestimmungen des Unionsrechts und der Charta für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich sei. Diese Fragen seien daher abstrakt und auf eine theoretische Auslegung des Unionsrechts gerichtet. Im Einzelnen tragen diese Beteiligten, insoweit von der deutschen Regierung unterstützt, vor, dass sich der Vorlageentscheidung nicht entnehmen lasse, was das mit dem Ausgangsrechtsstreit befasste Gericht dazu veranlasse, die Verweigerung der Vollstreckung der streitigen Europäischen Haftbefehle wegen einer Verletzung der Grundrechte des Betroffenen in Erwägung zu ziehen, noch, inwieweit die Vollstreckung dieser Haftbefehle diese Rechte gefährde.

22

Nach ständiger Rechtsprechung streitet eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C-188/10 und C-189/10, Slg. 2010, I-5667, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23

Im vorliegenden Fall möchte das vorlegende Gericht mit seinen ersten vier Fragen und mit der sechsten Frage wissen, ob es prüfen darf, ob die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls mit den Grundrechten im Einklang steht, und gegebenenfalls dessen Vollstreckung ablehnen darf, obwohl ein solcher Ablehnungsgrund weder im Rahmenbeschluss 2002/584 noch in den diesen umsetzenden nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen sei. Mit seiner fünften Frage soll ferner geklärt werden, ob eine solche Ablehnung möglich ist, wenn dieser Rahmenbeschluss im Ausstellungsmitgliedstaat nicht umgesetzt worden ist.

24

Vorab ist festzustellen, dass diese fünfte Frage hypothetisch ist. Schon die Ausstellung der streitigen Europäischen Haftbefehle zeigt, dass die Bundesrepublik Deutschland den Rahmenbeschluss 2002/584, wie die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, zum Zeitpunkt der Ausstellung dieser Haftbefehle umgesetzt hatte. Diese Frage ist daher unzulässig.

25

Zu den anderen Fragen ist festzustellen, dass sie insbesondere die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 und bestimmte Bestimmungen der Charta in einem tatsächlichen Rechtsstreit über die Vollstreckung mehrerer Europäischer Haftbefehle betreffen, die von den deutschen Behörden zur strafrechtlichen Verfolgung von Herrn Radu ausgestellt worden waren.

26

Weiter ergibt sich, was die mutmaßliche Verletzung der Grundrechte von Herrn Radu anbelangt, dass dieser im Rahmen des Ausgangsverfahrens gegen seine Übergabe geltend macht, dass die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 die rumänischen Vollstreckungsbehörden der Möglichkeit beraubten, zu prüfen, ob seine Rechte auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren, auf die Unschuldsvermutung und auf Freiheit, die ihm durch die Charta und die EMRK eingeräumt würden, gewahrt seien, obwohl die streitigen Europäischen Haftbefehle ausgestellt worden seien, ohne dass er vorgeladen worden sei oder die Möglichkeit gehabt hätte, einen Anwalt zu beauftragen oder sich zu verteidigen. Herr Radu hat dieses Vorbringen in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof im Rahmen des vorliegenden Verfahrens wiederholt.

27

Unter diesen Umständen sind nur die ersten vier Fragen und die sechste Frage zulässig.

Zur Begründetheit

28

Wie sich aus Randnr. 16 des vorliegenden Urteils ergibt, betrifft das Vorabentscheidungsersuchen die Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen, die nicht zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, sondern zur Strafverfolgung ausgestellt wurden.

29

Nach den dem Gerichtshof vorliegenden Angaben, wie sie in Randnr. 26 des vorliegenden Urteils angeführt sind, macht die gesuchte Person, Herr Radu, im Ausgangsrechtsstreit gegen ihre Übergabe geltend, dass die Europäischen Haftbefehle ausgestellt worden seien, ohne dass er von den ausstellenden Justizbehörden vor der Ausstellung dieser Haftbefehle angehört worden wäre, was einen Verstoß gegen Art. 47 und 48 der Charta sowie Art. 6 EMRK darstelle.

30

In seinen Fragen nimmt das vorlegende Gericht zwar auch auf Art. 6 der Charta und Art. 5 EMRK Bezug. Die Vorlageentscheidung enthält insoweit jedoch keine Erläuterung. Allenfalls ergibt sich aus den der Vorlageentscheidung beigefügten Unterlagen, dass Herr Radu vor dem vorlegenden Gericht vorgetragen hat, dass dieses die Vollstreckung der Europäischen Haftbefehle, „mit denen [er seiner] Freiheit beraubt worden“ sei, ablehnen müsse, weil sie unter Verletzung seiner Verteidigungsrechte ausgestellt worden seien. Dieses Vorbringen von Herrn Radu zur Verletzung von Art. 6 der Charta und Art. 5 EMRK im Ausstellungsmitgliedstaat fällt somit mit seinem Vorbringen zur Verletzung seiner Verteidigungsrechte in diesem Mitgliedstaat zusammen.

31

Es ist daher davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen ersten vier Fragen und seiner sechsten Frage, die zusammen zu prüfen sind, wissen möchte, ob der Rahmenbeschluss 2002/584 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta sowie von Art. 6 EMRK dahin auszulegen ist, dass die vollstreckenden Justizbehörden die Vollstreckung eines zur Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehls mit der Begründung ablehnen können, dass die ausstellenden Justizbehörden die gesuchte Person vor der Ausstellung dieses Haftbefehls nicht angehört haben.

32

Hierzu ist vorab festzustellen, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör, der durch Art. 6 EMRK gewährleistet und vom vorlegenden Gericht in seinen Fragen erwähnt wird, nunmehr in den Art. 47 und 48 der Charta verankert ist. Daher sind diese Bestimmungen der Charta heranzuziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2012, Otis u. a., C-199/11, Randnrn. 46 und 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584, wie sich insbesondere aus seinem Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie seinen Erwägungsgründen 5 und 7 ergibt, das multilaterale System der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden von verurteilten oder verdächtigen Personen zur Vollstreckung strafrechtlicher Urteile oder zur Strafverfolgung auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung ersetzen soll (vgl. Urteil vom 5. September 2012, Lopes Da Silva Jorge, C-42/11, Randnr. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Der Rahmenbeschluss 2002/584 ist daher darauf gerichtet, durch die Einführung eines neuen vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juni 2012, West, C-192/12 PPU, Randnr. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Nach Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet, einen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken.

36

Die Mitgliedstaaten können nämlich, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, nach den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls nur in den Fällen ablehnen, in denen sie gemäß Art. 3 des Rahmenbeschlusses abzulehnen ist oder gemäß Art. 4 oder 4a des Rahmenbeschlusses abgelehnt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Dezember 2008, Leymann und Pustovarov, C-388/08 PPU, Slg. 2008, I-8983, Randnr. 51, und vom 16. November 2010, Mantello, C-261/09, Slg. 2010, I-11477, Randnr. 37). Außerdem kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur an die in Art. 5 des Rahmenbeschlusses angeführten Bedingungen knüpfen.

37

Nach Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann zwar die Verletzung der Verteidigungsrechte in der Verhandlung, die zu einer strafrechtlichen Verurteilung geführt hat und zu der der Betroffene nicht erschienen ist, unter bestimmten Bedingungen ein Grund sein, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, der zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt wurde.

38

Jedoch gehört der Umstand, dass der Europäische Haftbefehl zur Strafverfolgung ausgestellt wurde, ohne dass die gesuchte Person von den ausstellenden Justizbehörden angehört worden wäre, nicht zu den im Rahmenbeschluss 2002/584 vorgesehenen Gründen, aus denen die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls abgelehnt werden kann oder muss.

39

Entgegen dem Vorbringen von Herrn Radu ist zur Wahrung der Art. 47 und 48 der Charta nicht erforderlich, dass eine Justizbehörde eines Mitgliedstaats die Vollstreckung eines zur Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehls mit der Begründung verweigern kann, dass die gesuchte Person vor der Ausstellung dieses Haftbefehls von den ausstellenden Justizbehörden nicht angehört worden sei.

40

Eine Verpflichtung der ausstellenden Justizbehörden, die gesuchte Person vor Ausstellung eines solchen Europäischen Haftbefehls anzuhören, würde das im Rahmenbeschluss 2002/584 vorgesehene Übergabesystem unweigerlich zum Scheitern bringen und damit die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vereiteln, da einem solchen Haftbefehl, insbesondere um eine Flucht des Betroffenen zu verhindern, ein gewisser Überraschungseffekt zukommen muss.

41

Jedenfalls hat der europäische Gesetzgeber die Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Vollstreckungsmitgliedstaat dergestalt gesichert, dass die Wirksamkeit des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls nicht beeinträchtigt wird.

42

So ergibt sich aus den Art. 8 und 15 des Rahmenbeschlusses 2002/584, dass die vollstreckende Justizbehörde, bevor sie die Übergabe der gesuchten Person zur Strafverfolgung beschließt, eine gewisse Kontrolle über den Europäischen Haftbefehl ausüben muss. Ferner sieht Art. 13 dieses Rahmenbeschlusses vor, dass die gesuchte Person das Recht hat, einen Rechtsbeistand beizuziehen, wenn sie ihrer Übergabe zustimmt und gegebenenfalls auf die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität verzichtet. Die gesuchte Person verfügt außerdem nach den Art. 14 und 19 des Rahmenbeschlusses 2002/584, wenn sie ihrer Übergabe nicht zustimmt und von einem zur Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehl erfasst wird, über das Recht, von der vollstreckenden Justizbehörde unter Bedingungen, die in gegenseitigem Einvernehmen mit der ausstellenden Justizbehörde festgelegt werden, angehört zu werden.

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Nach alledem ist auf die ersten vier Fragen und die sechste Frage zu antworten, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die vollstreckenden Justizbehörden die Vollstreckung eines zur Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehls nicht mit der Begründung ablehnen können, dass die gesuchte Person vor der Ausstellung dieses Haftbefehls im Ausstellungsmitgliedstaat nicht angehört wurde.

Kosten

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Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die vollstreckenden Justizbehörden die Vollstreckung eines zur Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehls nicht mit der Begründung ablehnen können, dass die gesuchte Person vor der Ausstellung dieses Haftbefehls im Ausstellungsmitgliedstaat nicht angehört wurde.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Rumänisch.

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