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Document 62008CP0195

Stellungnahme der Generalanwältin Sharpston vom 1. Juli 2008.
Inga Rinau.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Lietuvos Aukščiausiasis Teismas - Litauen.
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen - Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen - Vollstreckung in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung - Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 - Antrag auf Nichtanerkennung einer Entscheidung, mit der die Rückgabe eines in einem anderen Mitgliedstaat widerrechtlich zurückgehaltenen Kindes angeordnet wird - Eilvorlageverfahren.
Rechtssache C-195/08 PPU.

Sammlung der Rechtsprechung 2008 I-05271

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2008:377

STELLUNGNAHME DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 1. Juli 2008 1(1)

Rechtssache C‑195/08 (PPU)

Rinau

(Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos Aukščiausiasis Teismas [Litauen])

„Eilvorlageverfahren – Verordnung ‚Brüssel IIa‘ – Antrag auf Nichtanerkennung einer Entscheidung, mit der die Rückgabe eines Kindes angeordnet wird – Voraussetzungen für eine Prüfung des Antrags“





1.        Ein 2005 in Deutschland geborenes Kind eines deutschen Vaters und einer litauischen Mutter, die zum Zeitpunkt der Geburt verheiratet waren, inzwischen aber geschieden sind, befindet sich derzeit gegen den Wunsch des Vaters mit der Mutter in Litauen. Im Rahmen des Scheidungsverfahrens erkannten die deutschen Gerichte dem Vater das Sorgerecht für das Kind zu und ordneten die Rückgabe des Kindes an ihn an. Der Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof von Litauen) ersucht um Vorabentscheidung von sechs Fragen betreffend die Voraussetzungen für die Prüfung des Antrags der Mutter auf Nichtanerkennung der genannten Elemente des Scheidungsurteils.

2.        Ein derartiger Sachverhalt wird gemeinschaftsrechtlich von der Verordnung „Brüssel IIa“(2) in Verbindung mit dem Haager Übereinkommen von 1980(3) erfasst. Ich führe die einschlägigen Bestimmungen dieser Rechtsakte an dieser Stelle nicht in ihrem vollständigen Wortlaut auf, sondern werde im Rahmen meiner Würdigung auf sie Bezug nehmen.

3.        Die wesentlichen Sachverhaltselemente und Verfahrensschritte lassen sich in tabellarischer Form darstellen. In der nachstehenden Tabelle

–        beziehen sich Angaben in Fettdruck einerseits auf das Scheidungsverfahren in Deutschland, das mit einem Urteil endete, mit dem die Ehe geschieden, das Sorgerecht auf den Vater übertragen und die Rückgabe des Kindes an ihn angeordnet wurde, und andererseits auf das von der Mutter in Litauen eingeleitete Verfahren zur Erwirkung der Nichtanerkennung des Urteils hinsichtlich der beiden letztgenannten Elemente, das zu dem vorliegenden Ersuchen um eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs geführt hat;

–        beziehen sich Angaben in Kursivdruck auf ein vom Vater in Litauen eingeleitetes eigenständiges Verfahren zur Erwirkung einer gerichtlichen Anordnung der Rückkehr des Kindes nach Deutschland; die erlassene Anordnung wurde mehrfach angefochten und ausgesetzt, so dass das Verfahren in Litauen weiterhin parallel zu dem Verfahren anhängig ist, das zu dem Vorabentscheidungsersuchen geführt hat.

Datum

Deutschland

Litauen

11.1.2005

Geburt des Kindes

 

März 2005

Trennung der Eltern; Fortbestand des gemeinsamen Sorgerechts; das Kind lebt bei der Mutter, hat jedoch häufig Umgang mit dem Vater

Einleitung des Scheidungsverfahrens

 

21.7.2006

Mit Zustimmung des Vaters verbringt die Mutter das Kind zu einem zweiwöchigen Urlaub nach Litauen

 

6.8.2006

 

Die Mutter bleibt mit dem Kind in Litauen

14.8.2006

Das Amtsgericht Oranienburg hebt das gemeinsame Sorgerecht auf und überträgt das Sorgerecht vorläufig demVater

 

?.?.2006

Die Mutter legt Beschwerde gegen die Entscheidung des Amtsgerichts Oranienburg ein

 

11.10.2006


Das Oberlandesgericht Brandenburg weist die Beschwerde der Mutter zurück und bestätigt die vorläufige Übertragung des Sorgerechts auf den Vater



30.10.2006

 

Der Vater beantragt beim Gericht in Klaipėda(4),die Rückkehr des Kindes nach Deutschland anzuordnen

22.12.2006

 

Das Gericht in Klaipėda weist den Antrag des Vaters zurück

15.3.2007

 

Das Lietuvos apeliacinio teismas (litauisches Berufungsgericht) hebt die Entscheidung des Gerichts in Klaipėda aufund ordnet die Rückkehr des Kindes bis spätestens 15.4.2007 an

4.6.2007

 

Die Mutter beantragt unter Berufung auf neue Tatsachen und das Kindeswohl im Sinne von Art. 13 des Übereinkommens die Wiederaufnahme des Verfahrens, das zu der Anordnung vom 15.3.2007 geführt hat

13.6.2007

 

DerGeneralstaatsanwalt der Republik Litauen beantragt die Wiederaufnahme des genannten Verfahrens wegen fehlerhafter Anwendung des Übereinkommens seitens des Berufungsgerichts

19.6.2007

 

Das Gericht in Klaipėda weist die beiden Wiederaufnahmeanträge zurück und erkennt die Zuständigkeit des Amtsgerichts Oranienburg an

20.6.2007

Das Amtsgericht Oranienburg scheidet die Ehe, überträgt das Sorgerecht auf den Vater, ordnet die Rückgabe des Kindes an und stellt eine Bescheinigung gemäß Art. 42 der Verordnung aus

 

6.8.2007

Die Mutter legt Beschwerde gegen die Übertragung des Sorgerechts und die Rückgabeentscheidung ein

 

27.8.2007

 

Im von der Mutter und dem Generalstaatsanwalt eingeleiteten Rechtsmittelverfahren bestätigt das Berufungsgericht die Zurückweisung der Wiederaufnahmeanträge

?.?.2007

 

Die Mutter beantragt, das Urteil des Amtsgerichts Oranienburg nicht anzuerkennen, soweit damit das Sorgerecht auf den Vater übertragen und die Rückgabe des Kindes angeordnet wurde

14.9.2007

 

Das Berufungsgericht weist den Antrag der Mutter auf Nichtanerkennung zurück

11.10.2007

 

Die Mutter legt Revision gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts vom 14.9.2007 ein

7.1.2008

 

Auf Rechtsmittel der Mutter und des Generalstaatsanwalts hebt der Oberste Gerichtshof die Entscheidungen vom 19.6.2007 und 27.8.2007 wegen Verstoßes gegen die litauische Zivilprozessordnung auf und verweist die Wiederaufnahmeanträge zur Entscheidung zurück an das Gericht in Klaipėda

20.2.2008

Das Oberlandesgericht Brandenburg weist die Beschwerde der Mutter gegen die Entscheidung vom 20.6.2007 zurück

 

15.3.2008

 

Der Oberste Gerichtshof setzt die Vollstreckung der Entscheidung des Berufungsgerichts vom 15.3.2007 aus

21.3.2008

 

Das Gericht in Klaipėda weist die Wiederaufnahmeanträge der Mutter und des Generalstaatsanwalts erneut zurück

30.4.2008

 

Das Berufungsgericht bestätigt die Zurückweisung der Wiederaufnahmeanträge

Der Oberste Gerichtshof beschließt im Rahmen eines Revisionsverfahrens gegen die Entscheidung vom 14.9.2007 sechs Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen

14.5.2008

 

Die Vorlagefragen gehen beim Gerichtshof ein

21.5.2008

 

Der Oberste Gerichtshof beantragt, das Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen

26.5.2008

 

Der Oberste Gerichtshof entscheidet, dass die Revision der Mutter gegen die Entscheidungen vom 21.3.2008 und 30.4.2008 zulässig sei, und setzt die Vollstreckung des Urteils des Berufungsgerichts vom 15.3.2007 aus


      

4.        In dem Verfahren, das zu dem Vorabentscheidungsersuchen geführt hat, hat der Oberste Gerichtshof von Litauen darüber zu entscheiden, ob der Beschluss des litauischen Berufungsgerichts vom 14. September 2007 aufzuheben ist, mit dem der Antrag der Mutter zurückgewiesen wurde, das Scheidungsurteil nicht anzuerkennen, soweit damit das Sorgerecht auf den Vater übertragen und die Rückkehr des Kindes nach Deutschland angeordnet wurde.

5.        Zur Rückgabe des Kindes hatte das Berufungsgericht festgestellt, dass gemäß Art. 11 Abs. 8 der Verordnung ungeachtet einer nach Art. 13 des Übereinkommens ergangenen Entscheidung(5), mit der die Rückgabe des Kindes verweigert werde, eine spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet werde und die von einem zuständigen Gericht erlassen werde, im Einklang mit Kapitel III Abschnitt 4 vollstreckbar sei. Nach Art. 42 Abs. 1, der zum selben Abschnitt gehöre, werde eine in einem Mitgliedstaat ergangene vollstreckbare Entscheidung, für die eine Bescheinigung im Ursprungsmitgliedstaat ausgestellt worden sei, in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und könne dort vollstreckt werden, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedürfe und ohne dass die Anerkennung angefochten werden könne. Das Amtsgericht Oranienburg habe eine entsprechende Bescheinigung ausgestellt, der zufolge alle für die Ausstellung erforderlichen Voraussetzungen erfüllt seien. Da die Entscheidung des Amtsgerichts Oranienburg ohne spezielles Exequatur-Verfahren unmittelbar hätte vollstreckt werden müssen, sei der Antrag auf Nichtanerkennung unzulässig.

6.        Das Berufungsgericht hatte außerdem daran erinnert, dass es am 15. März 2007 selbst auf der Grundlage der Verordnung und des Übereinkommens die Rückkehr des Kindes angeordnet habe. Seiner Auffassung nach hätte die Entscheidung des Amtsgerichts Oranienburg gemäß Kapitel III Abschnitt 4 der Verordnung ohne spezielles Exequatur-Verfahren unmittelbar vollstreckt werden müssen. Das Vorbringen, aus Art. 11 Abs. 8 der Verordnung gehe hervor, dass die Rückgabe des Kindes mangels eines Verfahrens zur Anerkennung der Entscheidung nur angeordnet werden dürfe, wenn eine Entscheidung über die Ablehnung der Rückgabe nach Art. 13 des Übereinkommens ergangen sei, war von der Kammer zurückgewiesen worden. Die Formulierung „ungeachtet einer … Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird“ zeige, dass gemäß den Bestimmungen der Verordnung die Rückgabe des Kindes selbst dann ohne Anwendung des Verfahrens zur Anerkennung der Entscheidung angeordnet werden könne, wenn eine die Rückgabe des Kindes ablehnende Entscheidung vorliege. Wenn bereits eine Entscheidung über die Rückgabe des Kindes nach dem Übereinkommen getroffen worden sei, müsse diese Entscheidung zur selben Zeit wie die entsprechende, nach der Verordnung erlassene Entscheidung vollstreckt werden, ohne dass zuvor ein Anerkennungsverfahren durchgeführt werde (Art. 42 Abs. 1 der Verordnung).

7.        In Bezug auf das Sorgerecht hatte das Berufungsgericht entschieden, dass mangels eines Antrags auf Anerkennung dieses Teils des Urteils der Antrag auf Nichtanerkennung nicht geprüft werden könne.

8.        Im Rahmen der Prüfung der eingelegten Revision durch den Obersten Gerichtshof ergaben sich für diesen mehrere Auslegungsfragen.

9.        Erstens könne nach Art. 21 Abs. 3 der Verordnung jede Partei, die ein Interesse habe, eine Entscheidung über die Anerkennung oder Nichtanerkennung der Entscheidung beantragen. Gemäß Art. 31 Abs. 1 der Verordnung erhalte die Person, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden solle, keine Gelegenheit, eine Erklärung zu diesem Antrag abzugeben. Im vorliegenden Fall habe die Person, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden solle, die Nichtanerkennung der Entscheidung beantragt, während die andere Partei keinen Antrag auf deren Anerkennung gestellt habe. Kann unter diesen Umständen die Person, gegen die die Entscheidung vollstreckt werden soll, die Nichtanerkennung der Entscheidung beantragen, und, falls ja, wie ist dann Art. 31 Abs. 1 auszulegen?

10.      Ferner könne nach Art. 40 Abs. 2 der Verordnung der Träger der elterlichen Verantwortung ungeachtet der Bestimmung von Abschnitt 4 die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung beantragen. Im vorliegenden Fall habe die Mutter jedoch die Nichtanerkennung beantragt. Ist ein solcher Antrag zulässig, und, falls ja, muss das angerufene Gericht gemäß Art. 23 der Verordnung die Gründe für die Nichtanerkennung prüfen? Was bedeutet die in Art. 21 Abs. 3 genannte Voraussetzung, dass eine Entscheidung über die Anerkennung oder Nichtanerkennung der Entscheidung unbeschadet des Abschnitts 4 beantragt werden kann, der die Vollstreckbarkeit bestimmter gerichtlicher Entscheidungen betrifft, mit denen die Rückgabe des Kindes angeordnet werde?

11.      Zwar lege die Verordnung nicht unmittelbar fest, welches Gericht dafür zuständig sei, die Frage der Rückgabe des Kindes zu prüfen, doch bestimme Art. 11 Abs. 6, dass ein Gericht, das entschieden habe, die Rückgabe des Kindes gemäß Art. 13 des Übereinkommens abzulehnen, dem zuständigen Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind bis zu seinem widerrechtlichen Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine Abschrift der Entscheidung übermitteln müsse. Folglich habe im vorliegenden Fall das deutsche Gericht nur dann das Recht, über die Frage der Rückgabe des Kindes zu entscheiden, wenn das litauische Gericht die Rückgabe ablehne. Ordne dann das deutsche Gericht die Rückgabe des Kindes an und stelle es eine Bescheinigung aus, werde diese Entscheidung in Litauen unmittelbar anerkannt und könne dort vollstreckt werden, ohne dass es eines speziellen Exequatur-Verfahrens bedürfe (Art. 11 Abs. 8 und Art. 42 der Verordnung). Hat das deutsche Gericht dadurch, dass das litauische Berufungsgericht bereits die Rückkehr des Kindes angeordnet hat, die Zuständigkeit erhalten, diesen Aspekt nach Art. 11 der Verordnung 2003 zu prüfen und eine Bescheinigung nach Art. 42 auszustellen? War die Anordnung der Rückgabe des Kindes und die Ausstellung der Bescheinigung mit den Zielen und den Verfahren der Verordnung vereinbar?

12.      Schließlich könne gemäß Art. 24 der Verordnung ein litauisches Gericht weder die Zuständigkeit eines deutschen Gerichts kontrollieren, noch die Vereinbarkeit dieser Zuständigkeit mit der öffentlichen Ordnung nachprüfen. Das mit dem Antrag auf Nichtanerkennung einer Entscheidung befasste Gericht müsse jedoch entscheiden, nachdem es die in Art. 23 der Verordnung genannten Gründe für die Nichtanerkennung geprüft habe. Stelle es keine Gründe für die Nichtanerkennung fest, müsse es die Entscheidung anerkennen. In diesem Fall seien in Litauen zwei Entscheidungen vollstreckbar, nämlich die des deutschen Gerichts und die des litauischen Berufungsgerichts, mit denen die Rückgabe des Kindes angeordnet werde. Muss unter diesen Umständen das Gericht, bei dem der Antrag auf Nichtanerkennung anhängig ist, die die Rückgabe des Kindes anordnende Entscheidung anerkennen, selbst wenn das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats das Verfahren der Verordnung nicht eingehalten hat?

13.      Der Oberste Gerichtshof von Litauen stellt daher folgende Fragen:

1.      Kann eine Partei, die ein Interesse hat, im Sinne von Art. 21 der Verordnung die Nichtanerkennung einer gerichtlichen Entscheidung beantragen, ohne dass ein Antrag auf Anerkennung der Entscheidung gestellt wurde?

2.      Falls Frage 1 bejaht wird: Wie hat das nationale Gericht, wenn es den Antrag der Person, der gegenüber die Entscheidung vollstreckbar ist, auf Nichtanerkennung dieser Entscheidung prüft, Art. 31 Abs. 1 der Verordnung anzuwenden, wonach „[weder] die Person, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll, noch das Kind in diesem Abschnitt des Verfahrens Gelegenheit erhalten, eine Erklärung abzugeben“?

3.      Muss das nationale Gericht, bei dem der Träger der elterlichen Verantwortung die Nichtanerkennung der Entscheidung des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats beantragt hat, mit der die Rückgabe des bei ihm wohnenden Kindes in den Ursprungsmitgliedstaat angeordnet wird und für die eine Bescheinigung im Sinne des Art. 42 der Verordnung ausgestellt wurde, diesen Antrag nach Art. 40 Abs. 2 der Verordnung auf der Grundlage der Bestimmungen des Kapitels III Abschnitte 1 und 2 der Verordnung prüfen?

4.      Was bedeutet die Voraussetzung „unbeschadet des Abschnitts 4“ in Art. 21 Abs. 3 der Verordnung?

5.      Sind der Erlass einer Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, und die Ausstellung der Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung durch das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats, nachdem das Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind widerrechtlich zurückgehalten wird, eine Entscheidung erlassen hat, mit der die Rückgabe des Kindes in den Ursprungsmitgliedstaat angeordnet wird, mit den Zielen und Verfahren der Verordnung vereinbar?

6.      Bedeutet das in Art. 24 der Verordnung vorgesehene Verbot der Nachprüfung der Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats, dass das nationale Gericht, bei dem der Antrag auf Anerkennung oder Nichtanerkennung der Entscheidung eines ausländischen Gerichts gestellt wurde, das die Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats nicht nachprüfen darf und das keine anderen in Art. 23 der Verordnung genannten Gründe für die Nichtanerkennung der Entscheidung festgestellt hat, die Entscheidung des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats über die Rückgabe des Kindes anerkennen muss, auch wenn das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats bei der Entscheidung über die Rückgabe des Kindes das Verfahren der Verordnung nicht eingehalten hat?

14.      Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren nach Art. 104b der Verfahrensordnung zu unterwerfen, haben die Mutter, der Vater, die litauische Regierung und die Kommission als einzige in diesem Verfahrensabschnitt vortragsberechtigte Verfahrensbeteiligte schriftliche Erklärungen eingereicht. Die genannten Verfahrensbeteiligten sowie die Regierungen Deutschlands, Frankreichs, Lettlands, der Niederlande und des Vereinigten Königreichs haben an der mündlichen Verhandlung am 26. und 27. Juni 2008 teilgenommen.

 Würdigung

 Ziele und Grundsätze des Übereinkommens und der Verordnung

15.      Im Erläuternden Bericht von Elisa Pérez-Vera zum Übereinkommen werden dessen Ziele, die in Art. 1 aufgeführt sind, wie folgt zusammengefasst: „Da ein charakteristisches Merkmal der erfassten Sachverhalte darin besteht, dass der Entführer geltend macht, sein Vorgehen sei durch die zuständigen Behörden des Zufluchtsstaats für rechtmäßig erklärt worden, würde es eine wirksame Abschreckungsmöglichkeit darstellen, wenn man seinen Handlungen jede praktische oder juristische Wirkung nimmt. Zu diesem Zweck stellt das Übereinkommen bei seiner Zielsetzung die Wiederherstellung des status quo durch ‚die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder‘ an erste Stelle“. (6)

16.      Aus ihrer Begründung, vor allem den Erwägungsgründen 17, 21, 23 und 24, sowie aus Art. 11 ergibt sich, dass die Verordnung dasselbe Ziel verfolgt, nämlich grundsätzlich und abgesehen von besonderen Umständen die zügige und automatische Rückkehr des Kindes in den Mitgliedstaat sicherzustellen, aus dem es entführt wurde und in dem es vor der Entführung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.(7)

17.      Darüber hinaus geht insbesondere aus den Erwägungsgründen 12 und 17 sowie aus den Art. 8, 10 und 11 hervor, dass die Verordnung außerdem bezweckt, den Gerichten dieses Mitgliedstaats die sachliche Zuständigkeit für Entscheidungen zum Sorge- und Umgangsrecht zuzuweisen und sie ihnen zu belassen, dass sie aber gleichzeitig die Aufgabe der Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht worden ist, in Bezug auf die Rückgabe bestätigt.

18.      Einer der Grundsteine der Verordnung als Ganzes ist der Grundsatz der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Vertrauens der Gerichte und Behörden der Mitgliedstaaten, woraus folgt, dass Entscheidungen der Gerichte des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes(8) grundsätzlich und automatisch anzuerkennen sind (vgl. insbesondere Erwägungsgründe 18, 21, 23 und 25 sowie die Art. 21, 24, 26 und 42).

19.      Die fundamentale Bedeutung dieses Grundsatzes ist in der mündlichen Verhandlung zutage getreten, als der Prozessbevollmächtigte der Mutter äußerte, die litauischen Gerichte seien möglicherweise der Auffassung, dass die Objektivität der deutschen Gerichte in einem Rechtsstreit zwischen einem deutschen Vater und einer litauischen Mutter nicht gewährleistet sei. Es liegt auf der Hand, dass die gesamte mit der Verordnung angestrebte Regelung zunichtegemacht würde, wenn es zulässig wäre, aufgrund solcher Zweifel (ob sie nun von den litauischen Gerichten tatsächlich gehegt werden oder nicht) die Anerkennung abzulehnen. Dies liefe auch vollkommen dem Ziel des Aufbaus eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zuwider, einem Ziel, dem sich alle Mitgliedstaaten in den Verträgen verschrieben haben.

20.      Schließlich ist der wichtigste Grundsatz sowohl des Übereinkommens als auch der Verordnung ohne jeden Zweifel der Schutz des Kindeswohls (vgl. insbesondere die Erwägungsgründe des Übereinkommens sowie die Erwägungsgründe 12 f. der Verordnung in Verbindung mit deren Art. 12, 15 und 23; vgl. auch Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes(9) sowie Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(10)).

21.      Auch in der mündlichen Verhandlung hat man sich nachdrücklich auf diesen Grundsatz berufen. Ich kann dem nur beipflichten: Das Wohl des Kindes muss unter allen Umständen Vorrang haben.

22.      Allerdings möchte ich diese Aussage in Bezug auf die Rückgabe des Kindes an den Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts qualifizieren. Das Übereinkommen und die Verordnung beruhen eindeutig auf dem Grundsatz, dass das Wohl des Kindes bei einem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten stets diese Rückgabe gebietet und eine Ausnahme nur dann in Betracht kommt, wenn einer der in den Art. 13 (im Fall von Art. 13 Buchst. b in Verbindung mit Art. 11 Abs. 4 der Verordnung) und 20 des Übereinkommens klar definierten Sachverhalte vorliegt. Das scheint mir vollkommen folgerichtig und sogar notwendig zu sein. Es kann nicht dem Wohl des Kindes entsprechen, wenn es von einem Elternteil auf der Suche nach einem Gericht, das dieser seinem Anliegen gegenüber für aufgeschlossen hält, von einem Mitgliedstaat zum anderen geschleppt wird. Ich möchte hinzufügen, dass mit der Rückgabe an den Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts nicht unbedingt die Rückkehr des Kindes in die Wohnung des zurückgebliebenen Elternteils oder eine Trennung vom entführenden Elternteil verbunden ist. Hierbei handelt es sich um separate Fragen, die vom zuständigen Gericht zu entscheiden sind, das alle emotionalen, psychologischen und materiellen Aspekte der Situation berücksichtigen und bei der Entscheidung dem Wohl des Kindes Vorrang einräumen muss.

23.      Meines Erachtens müssen die Bestimmungen der Verordnung vor allem im Licht dieser Ziele und Grundsätze ausgelegt werden.

24.      Im vorliegenden Fall ist jedoch festzustellen, dass das wesentliche Ziel, den Handlungen des entführenden Elternteils jede praktische oder juristische Wirkung zu nehmen, indem die sofortige Rückgabe des Kindes gewährleistet wird, nicht im Entferntesten erreicht worden ist.

25.      Anhand der dem Gerichtshof vorliegenden Informationen lassen sich zwar nicht alle Faktoren, die zu dieser Situation geführt haben, präzise und mit Sicherheit erkennen, jedenfalls aber scheint die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten und den Behörden, die das Übereinkommen und die Verordnung gewährleisten wollen, nicht ideal funktioniert zu haben. Rückblickend ergibt sich darüber hinaus, dass das von dem Übereinkommen und der Verordnung angestrebte Ergebnis nicht in gleicher Weise behindert worden wäre, wenn der Vater das Amtsgericht Oranienburg sofort angerufen hätte, nachdem das Gericht in Klaipėda das Urteil erlassen hatte, mit dem die Rückgabe abgelehnt wurde.(11)

26.      Wie auch immer es zu der Situation gekommen ist: Ich halte es für zweckmäßig, vor einem Versuch, die Fragen des Obersten Gerichtshofs von Litauen zu beantworten, den Verfahrensverlauf im Licht der einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens und der Verordnung zu prüfen.

 Prüfung des Verfahrensverlaufs im Licht der einschlägigen Bestimmungen

27.      Zunächst ist weder bestritten noch bestreitbar, dass die deutschen Gerichte nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung für das Scheidungsverfahren zuständig waren, da alle in der genannten Vorschrift aufgeführten Aufenthaltserfordernisse bei Einleitung des Verfahrens erfüllt waren.

28.      Sodann ist offenbar unstreitig, dass das Kind in der Tat im Sinne des Übereinkommens (Art. 3) und der Verordnung (Art. 2 Abs. 11) widerrechtlich zurückgehalten worden ist. Zu dem Zeitpunkt, zu dem die Mutter mitteilte, mit dem Kind nicht nach Deutschland zurückkehren zu wollen, wurde das Sorgerecht nach deutschem Recht von beiden Eltern gemeinsam ausgeübt, und der Vater hatte seine Einwilligung lediglich zu einer zweiwöchigen Reise nach Litauen erteilt.

29.      Da demnach die in Art. 10 der Verordnung genannten Voraussetzungen für einen Übergang der Zuständigkeit nicht vorlagen, verblieb die nach Art. 8 zugewiesene Zuständigkeit für alle Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, bei den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und das war Deutschland. Nach zwingender Logik – die, wenn nötig, durch Art. 12 Abs. 1 der Verordnung bestätigt wird – war konkret das Gericht zuständig, bei dem das Scheidungsverfahren anhängig war, also das Amtsgericht Oranienburg.

30.      Das Kind hätte am 6. August 2006 wieder nach Deutschland zurückgebracht werden müssen. Als die Mutter mitteilte, mit dem Kind in Litauen bleiben zu wollen, rief der Vater zunächst das für Entscheidungen betreffend die elterliche Verantwortung zuständige Gericht (das Amtsgericht Oranienburg) an, das ihm am 14. August 2006 vorläufig das alleinige Sorgerecht übertrug. Die Mutter legte hiergegen Beschwerde ein; die Übertragung des Sorgerechts wurde jedoch am 11. Oktober 2006 durch das Oberlandesgericht Brandenburg bestätigt.

31.      An dieser Stelle ist anzumerken, dass nach Art. 21 Abs. 1 der Verordnung die vorläufige Übertragung des Sorgerechts in Litauen hätte anerkannt werden müssen, „ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf“ – dass jedoch nach Art. 21 Abs. 3 der Vater eine Entscheidung über die Anerkennung bzw. die Mutter eine Entscheidung über die Nichtanerkennung der Entscheidung hätte beantragen können, und zwar jeweils „gemäß den Verfahren des Abschnitts 2“. Keiner von beiden hat jedoch diesen Weg beschritten.

32.      Am 30. Oktober 2006 beantragte sodann der Vater im Wesentlichen gestützt auf Art. 12 des Übereinkommens beim zuständigen litauischen Gericht (nämlich beim Gericht in Klaipėda) die Rückgabe des Kindes. Ich möchte hier darauf hinweisen, dass er – auch wenn er diesen Antrag erst gestellt hat, nachdem ihm das alleinige Sorgerecht übertragen und diese Übertragung im Rechtsmittelverfahren bestätigt worden war – nicht daran gehindert war, gleich nach der unterbliebenen Rückgabe des Kindes in dieser Weise vorzugehen.

33.      Nach seiner Anrufung war das litauische Gericht grundsätzlich verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, da die in Art. 12 des Übereinkommens vorgesehene Einjahresfrist noch nicht abgelaufen war. Das Gericht hätte seine Anordnung auch spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit Antrag erlassen müssen (Art. 11 Abs. 3 der Verordnung). Die Rückgabe des Kindes hätte nur aus den in Art. 13 des Übereinkommens – in Verbindung mit dem Vorbehalt des Art. 11 Abs. 4 der Verordnung – und Art. 20 des Übereinkommens genannten Gründen verweigert werden dürfen.

34.      Das litauische Gericht erließ seine Entscheidung – Ablehnung der Rückgabe des Kindes – schließlich am 22. Dezember 2006, etwas mehr als sieben Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag.(12)

35.      Zu diesem Zeitpunkt hätte das litauische Gericht nach Art. 11 Abs. 6 dem zuständigen Gericht oder der Zentralen Behörde in Deutschland unverzüglich eine Abschrift seiner Entscheidung und die entsprechenden Unterlagen übermitteln sollen, damit diese dem deutschen Gericht spätestens binnen einem Monat vorliegen. Den Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge scheint es jedoch der Anwalt des Vaters gewesen zu sein, der der deutschen Zentralen Behörde die Entscheidung als Erster mitteilte; die litauische Zentrale Behörde übersandte dann später eine Übersetzung.

36.      Das Amtsgericht Oranienburg hätte dann auf Antrag des Vaters die Rückgabe des Kindes gemäß Art. 11 Abs. 8 der Verordnung anordnen können. Damit wäre das letzte Wort gesprochen gewesen. Hätte das Amtsgericht dann nach Prüfung der Frage des Sorgerechts gemäß Art. 11 Abs. 7 für seine Entscheidung eine Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung ausgestellt, hätte diese Entscheidung gemäß den Art. 42 bis 45 in Litauen vollstreckt werden können.

37.      Anstatt von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, legte der Vater jedoch gegen die Entscheidung, mit der die Rückgabe verweigert worden war, Rechtsbehelf beim litauischen Berufungsgericht ein, das die Entscheidung am 15. März 2007 aufhob und die Rückgabe des Kindes binnen einem Monat anordnete.(13)

38.      Diese Anordnung hätte offenbar innerhalb der darin genannten Frist vollstreckt werden müssen, denn aus dem Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 17. Januar 2006 ergibt sich, dass nach Art. 2 Abs. 6 des litauischen Gesetzes zur Durchführung der Verordnung jeder weitere Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts ausdrücklich ausgeschlossen ist. Eine sofortige Vollstreckung hätte außerdem den grundlegenden Zielen des Übereinkommens und der Verordnung entsprochen.

39.      Aufgrund des Antrags der Mutter auf Wiederaufnahme des Verfahrens und der sich daran anschließenden prozessualen Verwicklungen wurde die Entscheidung nicht vollstreckt und ist bis heute unvollstreckt geblieben. Die Vollstreckung der Entscheidung des Berufungsgerichts wurde im Gegenteil mehrmals – sogar vom Obersten Gerichtshof selbst – ausgesetzt, obwohl dieser(14) in seinem Beschluss, mit der die Wiederaufnahme zugelassen wurde, entschied, dass eine derartige Aussetzung nicht möglich sei.

40.      Auch wenn die Vollstreckung von Entscheidungen des Gerichts eines Mitgliedstaats in seinem eigenen Hoheitsgebiet unter das innerstaatliche Recht fällt, muss man hier zu dem Schluss gelangen, dass die Folge dieser Reihe von Aussetzungen – nämlich die Tatsache, dass das Kind fast zwei Jahre nach der vorgesehenen Rückkehr und mehr als 15 Monate nach der die Rückgabe anordnenden Entscheidung immer noch nicht nach Deutschland zurückgebracht worden ist – in völligem Widerspruch zu den grundlegenden Zielen des Übereinkommens und der Verordnung steht.

41.      Ich komme jetzt zur Entscheidung des Amtsgerichts Oranienburg, mit der die Ehe geschieden, das alleinige Sorgerecht endgültig dem Vater übertragen und (ein weiteres Mal) die Rückgabe des Kindes angeordnet wurde (die Entscheidung erging am 20. Juni 2007 und wurde vom Oberlandesgericht Brandenburg am 17. Februar 2008 bestätigt). Für diese Entscheidung wurde eine Bescheinigung gemäß Art. 42 der Verordnung ausgestellt, was im Normalfall bedeutet, dass sie in Litauen „anerkannt … und vollstreckt“ werden muss, „ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf und ohne dass die Anerkennung angefochten werden kann“.

42.      Ich stelle fest, dass die Bescheinigung für die Entscheidung unter Verwendung des vorgesehenen Formblatts ausgestellt wurde sowie alle erforderlichen Angaben und Erklärungen enthält und dass es in der Entscheidung selbst im Einklang mit Art. 42 Abs. 2 der Verordnung heißt, dass a) eine Anhörung des Kindes aufgrund seines Alters unangebracht erschienen sei, b) die Parteien die Gelegenheit gehabt hätten, gehört zu werden (die Mutter sei vertreten, jedoch nicht persönlich anwesend gewesen(15)), und c) die Gründe, die das Gericht in Klaipėda in seiner Entscheidung (vom 22. Dezember 2006, die inzwischen vorbehaltlich einer Wiederaufnahme des Verfahrens aufgehoben wurde) für die Nichtanordnung der Rückgabe angegeben habe, geprüft, aber nicht übernommen worden seien. Auch wenn die Formalitäten des in Art. 11 Abs. 6 der Verordnung vorgesehenen Übermittlungsverfahrens nicht in allen Einzelheiten eingehalten wurden, so wurde doch der Zweck voll und ganz erreicht, und sowohl aus der Entscheidung des Amtsgerichts Oranienburg vom 20. Juni 2007 als auch aus der die Beschwerde der Mutter zurückweisenden Entscheidung des Oberlandesgerichts Brandenburg vom 20. Februar 2008 geht eindeutig hervor, dass beide Gerichte ihre Entscheidung in voller Kenntnis der Vorgeschichte erlassen haben.

43.      Der Stellenwert dieser Entscheidung und der für sie ausgestellten Bescheinigung im Licht der Bestimmungen der Verordnung ist Gegenstand der Zweifel des vorlegenden Gerichts, die in dessen fünfter Frage zum Ausdruck kommen. Diese Frage ist meines Erachtens zweckmäßigerweise als erste zu beantworten, da sie auf den Kern der Sache abzuzielen scheint und die Antwort auf sie Anhaltspunkte für die Beantwortung mehrerer anderer Fragen bieten kann.

 Zur fünften Frage

44.      Der Oberste Gerichtshof möchte im Wesentlichen wissen, ob das deutsche Gericht unter den gegebenen Verfahrensumständen nach der Verordnung die Rückgabe des Kindes anordnen und die Bescheinigung nach Art. 42 ausstellen durfte.

45.      Meines Erachtens ist zunächst zwischen der Rückgabeanordnung und der Bescheinigung für die Anordnung zu unterscheiden.

 Rückgabeanordnung

46.      Hinsichtlich der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts für Entscheidungen über die Anordnung der Rückgabe des Kindes ist weiter zwischen zwei denkbaren Rechtsgrundlagen für die Zuständigkeit zu unterscheiden: Art. 8 der Verordnung (in Verbindung mit Art. 10 und gegebenenfalls mit Art. 12 Abs. 1) und Art. 11 Abs. 8 der Verordnung (in Verbindung mit den Bestimmungen des Übereinkommens).

47.      In der mündlichen Verhandlung hat sich herausgestellt, dass verschiedene Mitgliedstaaten und die Kommission völlig voneinander abweichende – sogar diametral entgegengesetzte – Auffassungen zur Bedeutung dieser Vorschriften vertreten. Auf der einen Seite werden sie dahin ausgelegt, dass zunächst lediglich die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, die Zuständigkeit besäßen, im Rahmen des Übereinkommens und Art. 11 der Verordnung die Rückgabe anzuordnen, und dass diese Zuständigkeit von den Gerichten des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts erst und nur dann ausgeübt werden könne, wenn ein Gericht des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befinde, mit einer abschließenden rechtskräftigen vollstreckbaren Anordnung die Rückgabe verweigert habe. Auf der anderen Seite wird die Meinung vertreten, dass die Gerichte des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts ebenfalls jederzeit für Entscheidungen, mit denen die Rückgabe des Kindes angeordnet werde, entweder aufgrund von Art. 8 (in Verbindung mit Art. 10) oder im Rahmen des Übereinkommens und von Art. 8 der Verordnung zuständig seien.(16)

48.      Angesichts dieser unterschiedlichen Auslegungen halte ich es für unerlässlich, dass der Gerichtshof sich sehr deutlich zu diesem Aspekt der Verordnung äußert.

49.      Ich selbst würde ohne Weiteres jede These zurückweisen, der zufolge die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie eine die Rückgabe ablehnende Entscheidung treffen, ausschließlich zuständig sind.

50.      Zwar liegt Art. 12 des Übereinkommens die Vorstellung zugrunde, dass diese Gerichte mit einem Antrag auf Rückgabe des Kindes befasst sind, und es erscheint auch logisch, zunächst diese Gerichte anzurufen, da es zur Vollstreckung ihrer Entscheidungen in keinem Fall eines Exequatur-Verfahrens bedarf. Ebenso vermittelt Art. 11 der Verordnung den Eindruck, dass eine erste Entscheidung in dem Mitgliedstaat vorgesehen ist, in dem sich das Kind tatsächlich befindet.

51.      Ich möchte jedoch daran erinnern, dass das Übereinkommen keine Zuständigkeitsregelung festlegt, und ich stelle fest, dass die Verordnung keine Vorschriften enthält, aufgrund deren die Zuständigkeit für Entscheidungen, mit denen die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, ausdrücklich auf die Gerichte des Mitgliedstaats beschränkt wird, in dem sich das Kind tatsächlich befindet. Diese Gerichte sind zweifellos zuständig, aber es gibt keine Anhaltspunkte für eine ausschließliche Zuständigkeit.

52.      Im Übrigen beinhaltet die allgemeine Zuständigkeit für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, zwangsläufig die Zuständigkeit, die Rückgabe eines entführten Kindes anzuordnen.

53.      Nach Art. 2 Abs. 7 der Verordnung umfasst die elterliche Verantwortung insbesondere das Sorgerecht, und gemäß Art. 2 Abs. 9 umfasst der Begriff „Sorgerecht“ insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsorts des Kindes. Zu Kapitel II Abschnitt 2 der Verordnung mit der Überschrift „Elterliche Verantwortung“ gehört insbesondere Art. 11 mit der Überschrift „Rückgabe des Kindes“. Da außerdem in Art. 10 Buchst. b Ziff. iv davon die Rede ist, dass „von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, … eine Sorgerechtsentscheidung erlassen [wurde], in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“(17), muss daraus geschlossen werden, dass diese Gerichte eine Sorgerechtsentscheidung erlassen können, mit der die Rückgabe sehr wohl angeordnet wird. Schließlich ist es in einem Fall, in dem ein Gericht nach den Art. 8 oder 12 der Verordnung die Zuständigkeit für alle Entscheidungen besitzt, die die elterliche Verantwortung und damit das Sorgerecht betreffen (gegebenenfalls im Rahmen einer Scheidungsklage), schlichtweg undenkbar, dass diese Zuständigkeit nicht die Befugnis umfassen sollte, den tatsächlichen Aufenthalt des Kindes bei derjenigen Person zu gewährleisten, der das Sorgerecht übertragen wird. Diese Befugnis muss wiederum die Befugnis zum Erlass vorläufiger Maßnahmen beinhalten, die im Laufe des Verfahrens notwendig erscheinen. Wollte man einem Gericht, das für Entscheidungen betreffend die elterliche Verantwortung zuständig ist, die Anordnung der Kindesrückgabe verwehren, wäre dies gleichbedeutend mit einem Entzug jedweder realen Zuständigkeit für vorläufige oder endgültige Sorgerechtsentscheidungen.

54.      Ich komme somit zunächst einmal zu dem Ergebnis, dass in Kindesentführungsfällen die Rückgabe des Kindes bei dem zuständigen Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts, bei dem zuständigen Gericht des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, oder sogar bei dem Gericht beantragt werden kann, das für Entscheidungen über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe zuständig ist, wenn es sich bei letztgenanntem um das Gericht eines dritten Mitgliedstaats handelt.(18)

55.      Die Folgen der erlassenen Anordnung können jedoch je nachdem, welches Gericht angerufen wird, unterschiedlich sein.

56.      Wenn mit der Entscheidung die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, ist sie ex hypothesi in dem Mitgliedstaat vollstreckbar, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, sofern die Entscheidung von einem Gericht dieses Mitgliedstaats erlassen wurde. Wird die Entscheidung vom Gericht eines anderen Mitgliedstaats erlassen, wird sie in dem Mitgliedstaat, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, nach Art. 21 Abs. 1 der Verordnung anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf (vorbehaltlich eines nach Art. 21 Abs. 3 zulässigen Antrags auf Nichtanerkennung der Entscheidung aus einem der in Art. 23 abschließend aufgezählten Gründe), jedoch ist für die Vollstreckung eine Vollstreckbarerklärung erforderlich, die auf einen Antrag gemäß Kapitel III Abschnitt 2 der Verordnung (Art. 28 bis 36) ergeht. Ohne eine solche Vollstreckbarerklärung sind nämlich in anderen Mitgliedstaaten nur solche Entscheidungen vollstreckbar, die gemäß Art. 11 Abs. 8 erlassen werden (d. h. nach einer ursprünglichen Entscheidung gemäß Art. 13 des Übereinkommens, mit der die Rückgabe abgelehnt wird) und für die eine Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 der Verordnung ausgestellt wird.

57.      Wenn mit der Entscheidung die Rückgabe des Kindes abgelehnt wird und sie vom Gericht eines anderen Mitgliedstaats als demjenigen erlassen wird, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, wird es naturgemäß keine Bemühungen geben, die Entscheidung in irgendeinem Staat anerkennen oder vollstrecken zu lassen; die Möglichkeit eines Rechtsbehelfsverfahrens nach innerstaatlichem Recht bleibt aber natürlich bestehen.

58.      Wird hingegen die Entscheidung, mit der die Rückgabe abgelehnt wird, von einem zuständigen Gericht des Mitgliedstaats erlassen, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, wird der Mechanismus von Art. 11 Abs. 6 bis 8 in Gang gesetzt – die Entscheidung muss dem zuständigen Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts übermittelt werden, das dann seinerseits die Parteien einlädt, Anträge einzureichen, sowie die Frage des Sorgerechts prüft und letztlich eine die Rückgabe des Kindes anordnende Entscheidung erlassen kann, die – sofern für sie eine Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 ausgestellt wird – in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt wird und dort vollstreckt werden kann, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf und ohne dass die Anerkennung angefochten werden kann.

59.      Das zuständige Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts kann daher aufgrund seiner bereits gemäß den Art. 8, 10 und gegebenenfalls 12 bestehenden Zuständigkeit die Rückgabe des Kindes im Rahmen von Art. 11 Abs. 8 anordnen, wenn eine Entscheidung nach Art. 13 des Übereinkommens vorliegt, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird. In diesem Fall bedarf seine Anordnung keiner Vollstreckbarerklärung gemäß dem in Kapitel III Abschnitt 2 vorgesehenen Verfahren.

60.      Die Frage des vorlegenden Gerichts geht jedoch nicht von einer bereits vorliegenden Entscheidung nach Art. 13 des Übereinkommens aus, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird, sondern von einer bereits vorliegenden Entscheidung nach Art. 12 des Übereinkommens, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird und die von einem zuständigen Gericht des Mitgliedstaats erlassen worden ist, in dem sich das Kind tatsächlich befindet. Kann in einem solchen Fall das zuständige Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts ebenfalls die Rückgabe des Kindes anordnen?

61.      Natürlich kann eine solche Frage nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände wie im vorliegenden Fall auftreten. Es versteht sich von selbst, dass in jeder normalerweise vorstellbaren Situation das Kind nach der ersten Anordnung seiner Rückkehr an den Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts zurückgegeben wird, vor allem da die sehr knappen Fristen für den Erlass der Entscheidung einem Rechtsbehelfsverfahren nicht förderlich sind.(19) Daher ist es durchaus verständlich, wie die niederländische Regierung in der mündlichen Verhandlung hervorgehoben hat, dass der Gesetzgeber sich die eher unwahrscheinliche Situation, vor der wir jetzt stehen, nicht ausdrücklich vorgestellt hat.

62.      Ich werde mich dennoch bemühen, in den Bestimmungen der Verordnung, die anhand ihrer grundlegenden Ziele auszulegen ist, auch für diese Situation eine Lösung zu finden.

63.      Zunächst können wir Art. 19 der Verordnung heranziehen, der die Rechtshängigkeit betrifft. Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht, so setzt nach den Abs. 2 und 3 der genannten Vorschrift das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist. Sobald diese Zuständigkeit feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig. Daraus folgere ich, dass im Normalfall so lange, wie in dem Mitgliedstaat, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, ein Verfahren zur Anordnung der Rückgabe anhängig ist, das Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts nicht dieselbe Frage prüfen darf. Soweit die in Art. 11 Abs. 3 festgelegte Sechswochenfrist gilt, ergibt sich keinerlei Verzögerung des Rückgabeverfahrens, während die gleichzeitige Durchführung zweier Verfahren, die dasselbe Kind betreffen, zu Komplikationen führen könnte.

64.      Sobald jedoch das Gericht des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, eine Entscheidung erlassen hat, gilt die Rechtshängigkeitsregel nicht mehr und stellt somit kein Hindernis für die Ausübung der Zuständigkeit des Gerichts des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts mehr dar. Art. 11 Abs. 8 der Verordnung bestätigt ausdrücklich, dass die Zuständigkeit im Fall einer ursprünglichen Entscheidung besteht, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird, und es gibt keinen Grund, diese (durch die Art. 8 und 10 begründete) Zuständigkeit auszuschließen, wenn mit der ursprünglichen Entscheidung die Rückgabe des Kindes angeordnet wurde. Der einzige Unterschied besteht in diesem Fall darin, dass die Spezialvorschriften von Art. 11 Abs. 8 nicht eingreifen und in der Praxis eine zweite Rückgabeanordnung in der Regel überflüssig wird.

65.      Ich möchte hinzufügen – ohne mich dabei unbedingt der Auffassung der Kommission anschließen zu wollen, dass in dem Fall, dass das Gericht des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befinde, innerhalb einer bestimmten Frist keine Entscheidung erlasse, de facto eine die Rückgabe ablehnende Entscheidung vorliege, die die Anwendung von Art. 11 Abs. 8 auszulösen vermöge –, dass die Rechtshängigkeitsregel des Art. 19 meines Erachtens unter dem Vorbehalt der in Art. 11 Abs. 3 vorgeschriebenen Sechswochenfrist zu verstehen ist und dass eine Nichteinhaltung dieser Frist ebenso das Hindernis für die Ausübung der Zuständigkeit des Gerichts des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts nach den Art. 8 und 10 ausräumen kann.

66.      Dementsprechend lässt sich meine Würdigung dieses Teils der fünften Frage wie folgt zusammenfassen: Der Erlass einer Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, durch das Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts, nachdem das Gericht des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, eine Entscheidung erlassen hat, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, ist mit den Zielen und Verfahrensregeln der Verordnung keineswegs unvereinbar.

 Bescheinigung für die Entscheidung

67.      Darüber hinaus fragt das vorlegende Gericht, ob nach dem Erlass der Entscheidung die Ausstellung einer Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung mit den genannten Zielen und Verfahren vereinbar sei.

68.      Die Beantwortung dieses Teils der Frage ist – jedenfalls abstrakt gesehen – einfacher. Die betreffende Bescheinigung kann immer nur ausgestellt werden, wenn die Entscheidung in einem von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung erfassten Fall ergangen ist (Art. 42 verweist auf Art. 40 Abs. 1 Buchst. b, der wiederum auf Art. 11 Abs. 8 verweist). Der Erlass einer die Rückgabe anordnenden Entscheidung in solchen Fällen setzt voraus, dass zuvor eine die Rückgabe ablehnende Entscheidung nach Art. 13 des Übereinkommens erlassen worden ist. Zugegebenermaßen könnte die Wendung „ungeachtet einer nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung“ (Hervorhebung nur hier) isoliert betrachtet auch im Sinne von „gleichviel, ob eine solche Entscheidung ergangen ist oder nicht“ verstanden werden.(20) Eine systematische Auslegung von Art. 11 Abs. 6 und 8 schließt eine solche Sichtweise aber aus. Außerdem ist die Ausstellung einer Bescheinigung nach Art. 42 insbesondere nur dann zulässig, wenn das Gericht beim Erlass seiner Entscheidung die Gründe und Beweismittel berücksichtigt hat, die der nach Art. 13 des Übereinkommens ergangenen Entscheidung zugrunde liegen (Art. 42 Abs. 2 Buchst. c).

69.      Ich komme zu dem Ergebnis, dass die Ausstellung einer Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung für eine die Rückgabe anordnende Entscheidung durch das Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts, nachdem das Gericht des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, eine Entscheidung erlassen hat, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, grundsätzlich nicht mit den Verfahrensregeln der Verordnung vereinbar ist.

 Zuständigkeit für die Ausstellung einer Bescheinigung nach Art. 42 im vorliegenden Fall

70.      In der Formulierung der fünften Frage des nationalen Gerichts bleibt jedoch ein Merkmal des vorliegenden Falles unerwähnt, das nicht außer Acht gelassen werden darf, wenn wir dem Gericht eine sachdienliche Antwort geben wollen.

71.      Der Entscheidung des Amtsgerichts Oranienburg vom 20. Juni 2007 – also der Entscheidung, die in dem Verfahren angegriffen wird, mit dem wir befasst sind – ging nicht nur die Entscheidung des litauischen Berufungsgerichts vom 15. März 2007 voraus, mit der ebenfalls die Rückgabe des Kindes angeordnet wurde, sondern auch die Entscheidung des Gerichts in Klaipėda vom 22. Dezember 2006, bei der es sich ganz eindeutig um eine „nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 [ergangene] Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird“, im Sinne von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung handelte.

72.      Ist dieser Umstand für die Vereinbarkeit der vom Amtsgericht Oranienburg für seine Entscheidung ausgestellten Bescheinigung mit der Verordnung von Bedeutung? Mit anderen Worten: Durfte das Amtsgericht Oranienburg zu der Ansicht gelangen, dass die Voraussetzungen von Art. 11 Abs. 6 bis 8 vorlagen?

73.      In der mündlichen Verhandlung hat sich herausgestellt, dass die Mitgliedstaaten, die Erklärungen eingereicht haben, diese Frage mehrheitlich mit „nein“ beantwortet sehen wollen: Nur eine abschließende, rechtskräftige, vollstreckbare Entscheidung vermöge die Anwendung der genannten Vorschriften auszulösen. Im vorliegenden Fall sei die Entscheidung des Gerichts in Klaipėda vom 22. Dezember 2006 nicht nur angefochten, sondern sogar aufgehoben worden, bevor das Amtsgericht Oranienburg seine Entscheidung am 20. Juni 2006 erlassen habe. Ferner wurde uns vorgetragen, die Entscheidung vom 22. Dezember 2006 sei zu keinem Zeitpunkt vollstreckbar gewesen.

74.      Dieser Auffassung vermag ich nicht zu folgen.

75.      Nach Art. 11 „erlässt das Gericht seine Anordnung“ (Abs. 3 Satz 2), wenn „ein Gericht entschieden [hat], die Rückgabe des Kindes gemäß Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 abzulehnen“ (Abs. 6), „[u]ngeachtet einer nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird“ (Abs. 8).(21) In anderen Bestimmungen der Verordnung findet sich, wenn die Vollsteckbarkeit einer Entscheidung zur Voraussetzung gemacht werden soll, eine ausdrückliche dahin gehende Formulierung (vgl. insbesondere die Art. 28, 36 und 44). Der Wortlaut von Art. 11 enthält jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Entscheidung, mit der die Rückgabe verweigert wird, zu dem Zeitpunkt, zu dem das Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts seine Entscheidung gemäß Art. 11 Abs. 8 erlässt, vollstreckbar oder überhaupt noch in Kraft sein muss.

76.      Im Gegenteil: Nach dem Wortlaut der Vorschrift scheint das spätere Schicksal der Entscheidung sogar gleichgültig zu sein. Der Bestimmung liegt weder explizit noch implizit die Vorstellung von einem Rechtsbehelfsverfahren in dem Mitgliedstaat, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, zugrunde. Nach Abs. 6 hat das Gericht, das die Entscheidung erlassen hat, diese unmittelbar zusammen mit allen anderen entsprechenden Unterlagen den Behörden des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts zu übermitteln, so dass sie dem zuständigen Gericht jenes Staates innerhalb einer zwingenden Frist von einem Monat ab dem Datum der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, vorgelegt werden. Diese Mitteilung setzt nach Abs. 7 eine weitere Frist von drei Monaten in Gang, innerhalb deren die Parteien Anträge stellen können, damit das Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts die Frage des Sorgerechts zu prüfen vermag, woraufhin es eine die Rückgabe des Kindes anordnende Entscheidung gemäß Abs. 8 erlassen kann, die – falls für sie eine Bescheinigung ausgestellt wird – nach Art. 42 in vollem Umfang vollstreckbar ist.

77.      Diese Pflichten und Verfahren bilden eine Einheit und werden in ihrem Ablauf automatisch in Gang gesetzt, sobald die Entscheidung erlassen wird, die Rückgabe des Kindes abzulehnen. Allein für den Fall, dass bei dem Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts keine Anträge der Parteien eingehen, ist nach der Regelung ein Abbruch dieses Ablaufs vorgesehen (Abs. 7 Satz 2) – denn dies bedeutet praktisch, dass der zurückgebliebene Elternteil das Verfahren nicht weiterbetreibt.

78.      Wird die die Rückgabe ablehnende Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, anschließend von einem Gericht höherer Instanz aufgehoben, ändert dies nichts an den wesentlichen Umständen, nämlich dass a) eine Entscheidung erlassen wurde, die Rückgabe anzulehnen, b) das Kind immer noch nicht zurückgegeben wurde, c) Zeit verstreicht und d) das Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts weiterhin ausschließlich für die Sorgerechtsentscheidung zuständig ist, wozu zwangsläufig die Befugnis gehört, gegebenenfalls durch eine vorläufige Anordnung sicherzustellen, dass sich das Kind bei derjenigen Person aufhält, der das Gericht das Sorgerecht überträgt.

79.      Es steht völlig im Einklang mit den Zielen und der Systematik der Verordnung bei Kindesentführungsfällen, Art. 11 Abs. 6 bis 8 dahin auszulegen, dass diese Bestimmungen auch dann Anwendung finden, wenn die ursprüngliche Entscheidung, mit der die Rückgabe verweigert wurde, in dem Mitgliedstaat, in dem die Entscheidung ergangen ist, angefochten werden kann. Die genannten Bestimmungen bezwecken, die Verantwortung für die Entscheidung über die Rückgabe des Kindes letztlich demjenigen Gericht zu übertragen, das für die Zuerkennung des vorläufigen oder endgültigen Sorgerechts zuständig ist (wozu zwangsläufig die Befugnis gehört, sicherzustellen, dass sich das Kind bei derjenigen Person aufhält, der das Sorgerecht zuerkannt wird), und dies mit aller gebotenen Zügigkeit zu bewerkstelligen, damit die abschließende Entscheidung über die Rückgabe so schnell wie möglich erlassen werden kann.

80.      Diese Auslegung schränkt auch nicht die Verfahrensrechte und ‑interessen der Parteien ein. Der entführende Elternteil wird kein Interesse daran haben, eine die Rückgabe ablehnende Entscheidung in dem Mitgliedstaat, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, anzufechten, und für den zurückgebliebenen Elternteil wird es normalerweise am vorteilhaftesten sein, seine Argumente vor den Gerichten des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts vorzubringen.

81.      Auf der anderen Seite würde die gegenteilige Auslegung unweigerlich zu einer weiteren Verzögerung bei der Sicherstellung der sofortigen Rückgabe des Kindes führen, die eines der vorrangigen Gebote sowohl des Übereinkommens als auch der Verordnung darstellt. Im Extremfall könnte es dann – wie hier deutlich wird – zu einer Prozessverschleppung ohne ein klar absehbares Ende kommen, womit die sachgerechte Wirkung der beiden Rechtsakte irreparabel untergraben würde.

82.      Eine solche Auslegung der Verordnung ist meines Erachtens nicht durch den Wortlaut geboten und liefe einem der Hauptziele der Verordnung entgegen.

83.      Dass die Entscheidung des Gerichts in Klaipėda vom 22. Dezember 2006 vom litauischen Berufungsgericht am 15. März 2007 aufgehoben wurde, steht daher der gemäß Art. 11 Abs. 8 der Verordnung ergangenen Entscheidung des Amtsgerichts Oranienburg vom 20. Juni 2007, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wurde, nicht entgegen.

84.      Folglich war jenes Gericht zur Ausstellung einer Bescheinigung nach Art. 42 befugt, so dass seine ordnungsgemäß bescheinigte Entscheidung in Litauen vollstreckt werden konnte, „ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf und ohne dass die Anerkennung angefochten werden kann“.

85.      Zu den Bedenken der Mutter, die auch beim vorlegenden Gericht anklingen und die das Verhältnis zwischen der Entscheidung des litauischen Berufungsgerichts vom 15. März 2007 und der Entscheidung des Amtsgerichts Oranienburg vom 20. Juni 2007 betreffen, die beide auf Rückgabe des Kindes lauteten, möchte ich erstens darauf hinweisen, dass zwei Entscheidungen mit derselben Anordnung sich in der Regel nicht ins Gehege kommen dürften. Sollte eine solche Situation jedoch nach dem Verfahrensrecht des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, problematisch sein, müssten die jeweiligen Vorschriften geändert oder entsprechend dem Zweck der Verordnung ausgelegt und angewandt werden. Falls die beiden Entscheidungen unterschiedliche Bedingungen für die Rückgabe festlegen, hat die Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts Vorrang, da dieses Gericht für alle die elterliche Verantwortung betreffenden Entscheidungen zuständig ist. Darüber hinaus ist weder im Übereinkommen noch in der Verordnung vorgesehen, dass das Gericht des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, in seiner Entscheidung Bedingungen festlegen darf. Seine Rolle beschränkt sich darauf (sofern die in den Art. 13 und 20 aufgeführten Gründe für eine ablehnende Entscheidung ausgeschlossen worden sind), die Rückgabe des Kindes an den Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen, dessen zuständige Behörden und Gerichte die notwendigen Maßnahmen treffen, um die Wahrung des Wohls und der Interessen des Kindes zu gewährleisten.

 Befugnis des Gerichts des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, die Gültigkeit einer nach Art. 42 ausgestellten Bescheinigung zu überprüfen

86.      Es bleibt noch ein letzter Aspekt dieser Frage zu behandeln, der in den schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung zur Sprache gekommen ist, der aber, falls sich der Gerichtshof meiner Würdigung anschließen sollte, im vorliegenden Fall keine Konsequenzen nach sich zieht: Wenn das Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts die Rückgabe des Kindes anordnet und für seine Entscheidung eine Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 der Verordnung ausstellt, obwohl es hierfür nicht zuständig ist, weil die Voraussetzung des Vorliegens einer die Rückgabe ablehnenden Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, nicht erfüllt ist, darf dann das letztgenannte Gericht diese Zuständigkeit überprüfen und gegebenenfalls die Bescheinigung als ungültig ansehen?

87.      Meines Erachtens ist diese Frage zu verneinen.

88.      Erstens sieht die Verordnung eine derartige Überprüfung eindeutig nicht vor. Im Gegenteil: Der Umstand, dass nach der Ausstellung einer Bescheinigung unter den Voraussetzungen von Art. 42 Abs. 2 die Entscheidung „in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt [wird] und … dort vollstreckt werden [kann], ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf und ohne dass die Anerkennung angefochten werden kann“, schließt eine Nachprüfung ausdrücklich aus.

89.      Dieser Ausschluss dient dem Ziel, die Endgültigkeit der nach Art. 11 Abs. 8 erlassene Entscheidung sicherzustellen (wobei zu beachten ist, dass bei Erlass dieser Entscheidung die gemäß Art. 11 Abs. 3 für den Normalfall geltende Sechswochenfrist naturgemäß bereits um einiges überschritten ist), und steht im Einklang mit dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens und gegenseitiger Anerkennung im Verhältnis der Gerichte der einzelnen Mitgliedstaaten untereinander.

90.      Hierdurch werden auch nicht die Rechte des entführenden Elternteils eingeschränkt.

91.      Erstens sind in Art. 42 eine Reihe verfahrensrechtlicher Voraussetzungen aufgestellt, die erfüllt sein müssen, ehe das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats eine solche Bescheinigung ausstellen darf.

92.      Zweitens kann der entführende Elternteil – auch wenn Art. 43 einen Rechtsbehelf gegen die Ausstellung der Bescheinigung als solche ausschließt – auf alle Fälle (nach Maßgabe der Verfahrensvorschriften des Ursprungsmitgliedstaats) die bescheinigte Entscheidung selbst anfechten. Wenn das Rechtsmittelgericht dem Rechtsbehelf stattgibt – z. B. wegen Nichtberücksichtigung der in Art. 11 Abs. 6 und 7 genannten Kriterien –, hebt es die Entscheidung und damit die Rechtsfolgen der Bescheinigung auf.

93.      Darüber hinaus heißt es in der Verordnung selbst: „Die Bescheinigung ist nur im Rahmen der Vollstreckbarkeit des Urteils wirksam“ (Art. 44). Nach Art. 47 „darf eine Entscheidung, für die eine Bescheinigung nach Artikel 41 Absatz 1 … ausgestellt wurde, nicht vollstreckt werden, wenn sie mit einer später ergangenen vollstreckbaren Entscheidung unvereinbar ist“. Eine Entscheidung in der Rechtsmittelinstanz, mit der die erste Entscheidung aufgehoben wird, erfüllt diese Voraussetzung und steht daher der Vollstreckung der Entscheidung, für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde, entgegen.

94.      Der Partei, die die Bescheinigung angreifen will, wird der Rechtsschutz damit nicht genommen; der geeignete Weg besteht darin, die Aufhebung der Entscheidung zu beantragen, für die die Bescheinigung erteilt wurde.

95.      Meiner Meinung nach reicht diese Möglichkeit durchaus aus, um den entführenden Elternteil vor Fehlern eines Gerichts des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts zu schützen.

96.      Ich möchte hinzufügen, dass die Verordnung in einer Situation wie hier vom Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats zwar das Vertrauen in die Gegenseite, das Voraussetzung für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist, aber keineswegs ein blindes Vertrauen verlangt. Im Gegenteil: Die Regelung fordert von dem Gericht lediglich, die Integrität, Objektivität und Unabhängigkeit eines Gerichts in einem anderen Mitgliedstaat, gegen dessen Entscheidung die Partei, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll, Rechtsbehelf einlegen kann, in der gleichen Weise anzuerkennen und zu respektieren wie bei Gerichten des eigenen Mitgliedstaats. Das ist letzten Endes nicht zu viel verlangt.

 Zur sechsten Frage

97.      Da ich bei meiner Würdigung der fünften Frage zu dem Ergebnis gekommen bin, dass die Entscheidung vom 20. Juni 2007 unter Einhaltung des in der Verordnung vorgesehenen Verfahrens erlassen worden ist, verliert die sechste Frage, die von der Nichteinhaltung des Verfahrens ausgeht, für den vorliegenden Fall ihre Bedeutung.

98.      Gleichwohl ist zu beachten, dass – wie sich aus Art. 21 in Verbindung mit Art. 31 Abs. 2 der Verordnung ergibt – eine die elterliche Verantwortung betreffende Entscheidung in der Regel in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und vollstreckt werden muss, sofern nicht einer der in Art. 23 genannten Gründe für die Nichtanerkennung vorliegt, und dass nach Art. 24 die Nachprüfung der Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats ausdrücklich verboten ist.

99.      Entsprechend meinen obigen Ausführungen in den Nrn. 86 bis 96 ist eine Überprüfung der Einhaltung des in Art. 11 der Verordnung vorgesehenen Verfahrens ebenfalls unzulässig.

 Zur vierten Frage

100. Die ersten vier Fragen beziehen sich auf den Antrag der Mutter auf Nichtanerkennung der Entscheidung des Amtsgerichts Oranienburg vom 20. Juni 2007, soweit diese das Sorgerecht und die Rückgabe des Kindes betrifft. Ich halte es für zweckmäßig, mit der vierten dieser Fragen zu beginnen.

101. Das vorlegende Gericht will die Bedeutung der Wendung „unbeschadet des Abschnitts 4“ in Art. 21 Abs. 3 der Verordnung geklärt wissen.

102. Art. 21 Abs. 3 Unterabs. 1 bestimmt: „Unbeschadet des Abschnitts 4 kann jede Partei, die ein Interesse hat, gemäß den Verfahren des Abschnitts 2 eine Entscheidung über die Anerkennung oder Nichtanerkennung der Entscheidung beantragen.“

103. Damit wird die allgemeine Regel (Art. 21 gilt für alle Entscheidungen, die Ehesachen oder die elterliche Verantwortung betreffen) aufgestellt, dass jede Partei, die ein Interesse hat, gegebenenfalls vorbehaltlich Kapitel III Abschnitt 4 die Anerkennung oder Nichtanerkennung einer vom Geltungsbereich der Verordnung erfassten Entscheidung beantragen kann.

104. Abschnitt 4 betrifft bestimmte Entscheidungen über das Umgangsrecht und bestimmte Entscheidungen, mit denen die Rückgabe des Kindes angeordnet wird. Bezüglich der letztgenannten Entscheidungen findet er Anwendung auf die Rückgabe eines Kindes, die mit einer nach Art. 11 Abs. 8 erlassenen Entscheidung angeordnet wurde (Art. 40 Abs. 1 Buchst. b). Genau um eine solche Entscheidung geht es im vorliegenden Fall.

105. Demnach kann jede Partei, die ein Interesse hat, die Nichtanerkennung einer Entscheidung beantragen, die unter den Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 8 erlassen und mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wurde, sofern dies nicht gegen die Bestimmungen des Kapitels III Abschnitt 4 verstößt, die in einem solchen Fall als lex specialis der allgemeinen Regel vorgehen.

106. In Abschnitt 4 bestimmt Art. 42 Abs. 1 insbesondere: „Eine in einem Mitgliedstaat ergangene vollstreckbare Entscheidung über die Rückgabe des Kindes im Sinne des Artikels 40 Absatz 1 Buchstabe b), für die eine Bescheinigung nach Absatz 2 im Ursprungsmitgliedstaat ausgestellt wurde, wird in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und kann dort vollstreckt werden, ohne dass … die Anerkennung angefochten werden kann.“

107. In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem eine Bescheinigung ausgestellt wurde, hat die Wendung „unbeschadet des Abschnitts 4“ in Art. 21 Abs. 3 der Verordnung daher praktisch die Bedeutung, dass eine Anfechtung der Anerkennung der mit der Bescheinigung versehenen Entscheidung und erst recht eine eigenständige Beantragung der Nichtanerkennung der Entscheidung unzulässig sind.

 Zur dritten Frage

108. Aufgrund meines Ergebnisses bei der Prüfung der vierten Frage, wonach die Nichtanerkennung einer die Rückgabe des Kindes anordnenden Entscheidung, die unter den Voraussetzungen von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung erlassen und für die eine Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 ausgestellt worden ist, nicht beantragt werden kann, wird die dritte Frage irrelevant, da sie von der Zulässigkeit eines solchen Antrags ausgeht.

109. Eine Überprüfung der Entscheidung oder der Bescheinigung – ob von Amts wegen oder auf Antrag der Person, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll – durch das Gericht des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, ist dann ausgeschlossen.

 Zur ersten und zur zweiten Frage

110. Das Gleiche gilt für die erste und die zweite Frage, soweit sie den Antrag auf Nichtanerkennung desjenigen Teils der Entscheidung betreffen, mit dem die Rückgabe des Kindes angeordnet wurde.

111. Im Gegensatz zu den anderen Fragen zielen diese ersten beiden Fragen jedoch nicht ausdrücklich nur auf die Entscheidung ab, mit denen die Rückgabe des Kindes angeordnet wurde. Soweit die Mutter auch die Nichtanerkennung desjenigen Teils der Entscheidung beantragt, mit dem das Sorgerecht auf den Vater übertragen wurde, können die Fragen weiterhin relevant sein. Anders als die Rückgabeanordnung unterliegt dieser Aspekt nicht den Bestimmungen des Kapitels III Abschnitt 4 der Verordnung, denen zufolge die Anerkennung einer die Rückgabe anordnenden Entscheidung, für die eine Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 ausgestellt worden ist, nicht abgelehnt werden darf.

112. Das vorlegende Gericht fragt, ob eine Partei, die ein Interesse hat, im Sinne von Art. 21 der Verordnung die Nichtanerkennung einer Entscheidung beantragen kann, ohne dass ein Antrag auf Anerkennung der Entscheidung gestellt wurde, und, falls diese Frage zu bejahen ist, wie das nationale Gericht, wenn es den Antrag der Person, der gegenüber die Entscheidung vollstreckbar ist, auf Nichtanerkennung dieser Entscheidung prüft, Art. 31 Abs. 1 der Verordnung anzuwenden hat, wonach diese Person in diesem Abschnitt des Verfahrens keine Erklärung abgeben kann.

113. Art. 21 der Verordnung gehört zu Kapitel III Abschnitt 1 mit der Überschrift „Anerkennung“. Nach Art. 21 Abs. 1 werden die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen „in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf“. Nach Art. 21 Abs. 3 kann jedoch (unbeschadet des Abschnitts 4, der – wie vorstehend ausgeführt – bei Sorgerechtsentscheidungen nicht einschlägig ist) „jede Partei, die ein Interesse hat, gemäß den Verfahren des Abschnitts 2 eine Entscheidung über die Anerkennung oder Nichtanerkennung der Entscheidung beantragen“. In Art. 23 sind sieben Gründe für die Nichtanerkennung einer Entscheidung über die elterliche Verantwortung aufgezählt.

114. Kapitel III Abschnitt 2 trägt die Überschrift „Antrag auf Vollstreckbarerklärung“. Nach Art. 28 Abs. 1 werden die „in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen über die elterliche Verantwortung für ein Kind, die in diesem Mitgliedstaat vollstreckbar sind und die zugestellt worden sind, … in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt, wenn sie dort auf Antrag einer berechtigten Partei für vollstreckbar erklärt wurden“. In Art. 31 Abs. 1 heißt es, dass das mit dem Antrag befasste Gericht seine Entscheidung ohne Verzug erlässt, und zwar „ohne dass die Person, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll, … in diesem Abschnitt des Verfahrens Gelegenheit [erhält], eine Erklärung abzugeben“. Nach Art. 31 Abs. 2 darf “[d]er Antrag … nur aus einem der in den Artikeln 22, 23 und 24 aufgeführten Gründe abgelehnt werden“, wobei es sich ausnahmslos um Gründe für die Nichtanerkennung handelt. Art. 33 bestimmt, dass jede Partei innerhalb eines Monats (Abs. 5) gegen die Entscheidung über den Antrag auf Vollstreckbarerklärung Rechtsbehelf einlegen kann (Abs. 1) und dass über den Rechtsbehelf „nach den Vorschriften entschieden [wird], die für Verfahren mit beiderseitigem rechtlichen Gehör maßgebend sind“.

115. Ich verstehe, warum der Oberste Gerichtshof so perplex ist. Nach Art. 21 Abs. 3 kann offenbar die Person, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll (bei der es sich ganz sicherlich um eine „Partei, die ein Interesse hat“, handelt), die Nichtanerkennung der Entscheidung beantragen, während Art. 31 Abs. 1 jede Möglichkeit auszuschließen scheint, dass diese Person(22) in diesem Abschnitt des Verfahrens eine Erklärung abgibt.

116. Zur Lösung des Problems müssen wir meines Erachtens auf die Unterscheidung zwischen „Anerkennung“ und „Vollstreckbarerklärung“ einer Entscheidung abstellen. In einigen Fällen werden diese beiden Vorgänge naturgemäß Hand in Hand gehen. Dies gilt z. B. für die Rückgabe des Kindes anordnende Entscheidungen, bei denen es sinnlos wäre, die Entscheidung anzuerkennen, ohne sie vollstreckbar zu machen. Hingegen ist es nicht notwendig, Scheidungsurteilen „Vollstreckbarkeit“ zu verleihen, um dem ehemaligen Ehepartner die Wiederheirat zu ermöglichen – zu diesem Zweck reicht die bloße Anerkennung der Gültigkeit der Entscheidung aus. Bei Entscheidungen über die elterliche Verantwortung kommt es auf die jeweiligen Gegebenheiten an. Wenn sich der Elternteil, dem die elterliche Verantwortung nicht übertragen wird, widersetzt, ist eine Vollstreckbarerklärung notwendig. Herrscht jedoch Einvernehmen zwischen den Eltern, reicht die bloße Anerkennung aus.

117. Kapitel III Abschnitt 1 der Verordnung betrifft die Anerkennung. Art. 21 Abs. 1 sieht die automatische Anerkennung aller von der Verordnung erfassten Entscheidungen vor. Nach der eindeutigen Absicht des Gemeinschaftsgesetzgebers sollen alle diese Entscheidungen nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens regelmäßig und automatisch anerkannt werden (vgl. die Erwägungsgründe 21 und 23). Allerdings kann nach Art. 21 Abs. 3 „gemäß den Verfahren des Abschnitts 2“ eine Entscheidung über die Nichtanerkennung einer Entscheidung beantragt werden. Aus der Tatsache, dass Abschnitt 2 Anträge auf Vollstreckbarerklärung zum Gegenstand hat, schließe ich, dass damit Sachverhalte geregelt sind, in denen Anerkennung und Vollstreckung erforderlich sind. Genau so verhält es sich im vorliegenden Fall bezüglich der Entscheidung, mit der dem Vater das Sorgerecht übertragen wurde, da die Mutter damit nicht einverstanden ist.

118. Darüber hinaus ergibt sich aus Art. 31 der Verordnung, dass das Verfahren zur Erwirkung der Vollstreckbarerklärung (das daher sowohl bei Anträgen auf Anerkennung als auch bei Anträgen auf Nichtanerkennung eingreifen kann) vereinfacht und zügig ausgestaltet sein muss. Dies entspricht genau dem Grundsatz automatischer Anerkennung auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens.

119. Ein Antrag auf Anerkennung oder Nichtanerkennung einer Sorgerechtsentscheidung muss daher gemäß den Verfahren des Abschnitts 2 gestellt werden. Das Problem bei Sachverhalten wie dem vorliegenden dürfte angesichts des Wortlauts von Art. 31 Abs. 1 in der scheinbaren Waffenungleichheit zwischen den Parteien bestehen. Falls der Elternteil, dem das Sorgerecht übertragen wurde, diese Entscheidung anerkennen und vollstecken lassen will, kann er nach Belieben Erklärungen abgeben, während der andere Elternteil nicht in gleicher Weise Gelegenheit hierzu hat. Wenn der andere Elternteil die Nichtanerkennung der Entscheidung beantragt, kehrt sich die Situation jedoch nicht um – jedenfalls nicht bei einer wörtlichen Auslegung der Vorschrift.

120. In den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wurde die Auffassung vertreten, dass Art. 31 Abs. 1, der vorderhand vor allem auf Anträge auf Anerkennung oder Vollstreckung ausgerichtet sei, entweder dahin ausgelegt werden müsse, dass er auf Anträge auf Nichtanerkennung entsprechend anwendbar sei (d. h., dass die Wendung „die Person, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll“ im Sinne von „die Person, die dem Antrag entgegentritt“ zu verstehen sei), oder dahin, dass die Vorschrift auf solche Anträge keine Anwendung finde.

121. Meines Erachtens gibt es jedoch keinen zwingenden Grund, die Vorschrift nicht wörtlich auszulegen und anzuwenden. Die Waffenungleichheit lässt sich nicht bestreiten, sie entspricht jedoch der vorrangigen Stellung, die dem Gesichtspunkt des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung zukommt, ist weniger bedeutsam, als man annehmen möchte, und nimmt der benachteiligten Partei auch nicht jede Möglichkeit, ihre Argumente vorzutragen.

122. Einerseits hat in Fällen, in denen der Elternteil, dem das Sorgerecht übertragen wurde, die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung beantragt, das befasste Gericht ohnehin prüfen, ob einer der in Art. 31 Abs. 2 bezeichneten Gründe für die Nichtanerkennung vorliegt. Dies sind auch die einzigen Gründe, die der andere Elternteil allenfalls geltend machen könnte. Ihm wird daher lediglich die Möglichkeit genommen, seine Argumente zu den Nichtanerkennungsgründen näher auszuführen.

123. Andererseits müssen in Fällen, in denen der letztgenannte Elternteil die Nichtanerkennung der Entscheidung betreiben will, in der entsprechenden Antragsschrift naturgemäß die für die Nichtanerkennung geltend gemachten Gründe dargelegt werden. Selbst wenn sich der Elternteil in diesem Abschnitt des Verfahrens zu diesen Gründen nicht weiter äußern kann, während der Elternteil, dem das Sorgerecht übertragen wurde, geeignet erscheinende Erklärungen abgeben darf, so wird der Standpunkt des antragstellenden Elternteils doch jedenfalls vom befassten Gericht berücksichtigt. Es handelt sich eigentlich um ein Verfahren, bei dem es zwischen den Parteien nur zu einem einzigen Austausch von Argumenten kommt, was im Rahmen eines vereinfachten und beschleunigten Verfahrens kaum ungewöhnlich ist.

124. In beiden Fällen kann jede Partei gemäß Art. 33 der Verordnung nach Vorschriften, die für Verfahren mit beiderseitigem rechtlichen Gehör maßgebend sind, einen Rechtsbehelf einlegen.

125. Die Regelung schafft daher einen vernünftigen Ausgleich zwischen einerseits dem Ziel, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens mittels eines vereinfachten und beschleunigten Verfahrens sicherzustellen, und andererseits den Verteidigungsrechten, die im Übrigen keiner der beiden Parteien vorenthalten werden.

 Ergebnis

126. Aus den vorstehend dargelegten Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, in Beantwortung der vom Obersten Gerichtshof von Litauen gestellten Fragen zu entscheiden, dass die Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 wie folgt auszulegen sind:

–        Der Erlass einer Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, durch das Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts, nachdem das Gericht des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, eine Entscheidung erlassen hat, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, ist mit den Zielen und Verfahrensregeln der Verordnung keineswegs unvereinbar;

–        die Ausstellung einer Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung für eine die Rückgabe anordnende Entscheidung durch das Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts, nachdem das Gericht des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, seinerseits eine Entscheidung erlassen hat, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, ist grundsätzlich nicht mit den Verfahrensregeln der Verordnung vereinbar;

–        der Umstand, dass ein Gericht des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind tatsächlich befindet, eine Entscheidung erlassen hat, mit der die Rückgabe verweigert wird, reicht für das Ingangsetzen der in Art. 11 Abs. 6 bis 8 der Verordnung vorgesehenen Verfahren aus, ohne dass es auf das weitere Schicksal der Entscheidung ankommt, und zwar insbesondere auch dann, wenn die Entscheidung später mit einem Rechtsbehelf angegriffen oder wenn sie aufgehoben wird;

–        hat ein Gericht eines Mitgliedstaats eine Entscheidung erlassen, mit der die Rückgabe eines Kindes angeordnet wird, und für diese Entscheidung eine Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung ausgestellt, kann seine Zuständigkeit insoweit nur dadurch angefochten werden, dass bei dem zuständigen höherinstanzlichen Gericht desselben Mitgliedstaats Rechtsbehelf gegen die Entscheidung eingelegt wird, was jede Möglichkeit einer Überprüfung durch die Gerichte des ersuchten Mitgliedstaats ausschließt;

–        wurde eine solche Bescheinigung ausgestellt, ist eine Anfechtung der Anerkennung der mit der Bescheinigung versehenen Entscheidung und erst recht eine eigenständige Beantragung der Nichtanerkennung der Entscheidung unzulässig;

–        im Fall anderer gerichtlicher Entscheidungen, deren Anfechtung nicht aufgrund von Art. 42 der Verordnung ausgeschlossen ist, kann eine Partei, die ein Interesse hat, im Sinne von Art. 21 der Verordnung die Nichtanerkennung beantragen, ohne dass zuvor ein Antrag auf Anerkennung gestellt wurde;

–        in einem solchen Fall ist es der Partei nach Art. 31 Abs. 1 der Verordnung erlaubt, in ihrem Antrag die geltend gemachten Gründe für die Nichtanerkennung anzuführen, nicht aber, sich in diesem Abschnitt des Verfahrens zu den Argumenten der Gegenpartei zu äußern.


1 – Originalsprachen: Französisch und Englisch.


2 – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1, im Folgenden: Verordnung).


3 – Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Übereinkommen oder Haager Übereinkommen). Im Gegensatz zur Verordnung enthält das Übereinkommen keine Zuständigkeitsregelung. In dieser Beziehung greift die Verordnung auf das Haager Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern zurück, das noch nicht zwischen allen Mitgliedstaaten und insbesondere nicht zwischen Deutschland und Litauen in Kraft getreten ist. Zu beachten ist, dass die Verordnung nach ihrem Art. 60 insoweit Vorrang vor dem Übereinkommen hat, als dieses Bereiche betrifft, die in der Verordnung geregelt sind.


4 – Der Kürze halber verwende ich diesen ungenauen Begriff zur Bezeichnung sowohl des erstinstanzlichen Klaipėdos apylinkes teismas (Amtsgericht Klaipėda) als auch des zweitinstanzlichen Klaipėdos apygardos teismas (Bezirksgericht Klaipėda).


5 – Nach Art. 2 Abs. 4 der Verordnung bezeichnet der Ausdruck „Entscheidung“ jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe sowie jede Entscheidung über die elterliche Verantwortung, ohne Rücksicht auf die Bezeichnung der jeweiligen Entscheidung, wie Urteil oder Beschluss.


6 – Bericht, abrufbar auf der Website der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht, Nr. 16. Als weitere Rechtfertigung ließe sich anführen, dass „der Elternteil, der das Kind entführt, einen unfehlbaren Verbündeten hat: die Zeit. Mit zunehmendem Zeitablauf werden die Bindungen an die alte Heimat schwächer und wird es immer schwieriger, die Wiederherstellung des status quo ante anzustreben“ (Fulchiron, H., „La lutte contre les enlèvements d’enfants“ in Le nouveau droit communautaire du divorce et de la responsabilité parentale, Dalloz, 2005). Die sofortige und wirksame Rückgabe des Kindes ist daher ein unerlässliches Erfordernis.


7 – Vgl. auch „Leitfaden zur Anwendung der neuen Verordnung Brüssel II“ (ausgearbeitet von der Europäischen Kommission im Einvernehmen mit dem Europäischen Justiziellen Netz für Zivil- und Handelssachen, im Folgenden: Leitfaden), Abschnitt VII, S. 37: „Die Verordnung zielt darauf, Kindesentführung durch einen Elternteil zwischen Mitgliedstaaten zu verhindern; findet sie aber trotzdem statt, soll die sofortige Rückkehr des Kindes an seinen Ursprungsmitgliedstaat gewährleistet werden.“


8 – Im Folgenden werde ich mit der Kurzform „Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts“ den Staat bezeichnen, aus dem das Kind entführt wurde und in dem es vor der Entführung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.


9 – Vom 20. November 1989 – von allen Mitgliedstaaten ratifiziert.


10 – ABl. 2000, C 364, S. 1 (zuletzt ABl. 2007, C 303, S. 1).


11 – Vgl. unten, Nrn. 34 ff.


12 – Eine Abschrift dieser Entscheidung liegt uns nicht vor, jedoch ist offenbar unstreitig, dass die Ablehnung auf Art. 13 Buchst. b des Übereinkommens gestützt wurde, der diese Möglichkeit vorsieht, wenn „die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt“.


13 – In der mündlichen Verhandlung hat die Bevollmächtigte der deutschen Regierung dem Gerichtshof mitgeteilt, dass die litauische Zentrale Behörde diese Entscheidung der deutschen Zentralen Behörde übermittelt habe, die sie ihrerseits an den Anwalt des Vaters, infolge eines Versehens jedoch nicht an das Amtsgericht Oranienburg weitergeleitet habe. Aus dem Urteil des Amtsgerichts vom 20. Juni 2007 und dem dieses Urteil bestätigenden Urteil des Oberlandesgerichts Brandenburg vom 20. Februar 2008 geht jedoch hervor, dass beide Gerichte Kenntnis von der Entscheidung hatten.


14 – Den Angaben des Prozessbevollmächtigten des Vaters in der mündlichen Verhandlung zufolge allerdings eine andere Kammer des Obersten Gerichtshofs.


15 – Aus den in den Akten befindlichen deutschen Entscheidungen geht hervor, dass die Mutter in den Verfahren, die zu den Entscheidungen des Amtsgerichts Oranienburg vom 14. August 2006 und 20. Juni 2007 führten, zwar nicht persönlich anwesend, aber vertreten war und zur Sache vortragen konnte und dass sie im Verfahren, das zur bestätigenden Entscheidung des Oberlandesgerichts Brandenburg vom 20. Februar 2008 führte, persönlich erschien und gehört wurde. Diese Angaben wurden in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof, zu der die Mutter ebenfalls erschienen ist, bestätigt.


16 – Insoweit nämlich die Art. 12 und 13 des Übereinkommens keine Zuständigkeit festlegen, sondern Vorschriften für das jeweils zuständige Gericht enthalten und Art. 11 Abs. 1 bis 5 der Verordnung auf die genannten Artikel des Übereinkommens verweist.


17 – Hervorhebung nur hier.


18 – Aus der Wendung „mit diesem Antrag verbunden“ ergibt sich, dass der Antrag tatsächlich gestellt worden sein muss; die theoretische Zuständigkeit des Gerichts, über derartige Anträge zu entscheiden, reicht nicht.


19 – In Nr. VII.2.4 des Leitfadens der Kommission wird es zur Einhaltung der in Art. 11 Abs. 3 vorgeschriebenen Sechswochenfrist für denkbar gehalten, a) dass das nationale Recht die Möglichkeit ausschließt, gegen eine Entscheidung, in der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, Rechtsmittel einzulegen, oder b) dass das nationale Recht zum einen die Möglichkeit des Rechtsmittelverfahrens vorsieht und zum anderen, dass eine Entscheidung, in der die Rückgabe angeordnet wird, vollstreckbar ist, auch wenn ein Rechtsbehelfsverfahren anhängig ist, oder c) dass ein beschleunigtes Berufungsverfahren gewährleistet wird. Außerdem bleibt festzuhalten, dass das litauische Recht im selben Sinne offenbar jeden weiteren Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts vom 15. März 2007 ausschließt, mit der im vorliegenden Fall die Rückgabe des Kindes angeordnet wurde (auch wenn anderweitige Schritte zur Wiederaufnahme des Verfahrens in der Realität offenbar nicht unmöglich sind).


20 – Die spanische Sprachfassung „aun cuando se haya dictado una resolución de no restitución …“ scheint einer solchen Auslegung sogar noch zugänglicher zu sein.


21 – Hervorhebung in den jeweiligen Zitaten nur hier. In den meisten Sprachfassungen von Art. 11 Abs. 8 ist von einer „nach Art. 13 ergangenen Entscheidung“ die Rede.


22 – Selbst wenn es bei einer Entscheidung, mit der einem Elternteil das Sorgerecht übertragen wird, etwas seltsam erscheinen mag, von der Vollstreckung dieser Entscheidung gegen den anderen Elternteil zu sprechen, so scheint mir doch aus der Systematik des Kapitels III Abschnitt 2 der Verordnung hervorzugehen, dass unter den Begriff „Person, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll“ auch ein Elternteil fällt, dem das Sorgerecht nicht übertragen worden ist.

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