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Document 62004CC0308
Opinion of Mr Advocate General Geelhoed delivered on 19 January 2006. # SGL Carbon AG v Commission of the European Communities. # Appeals - Competition - Agreements, decisions and concerted practices - Graphite electrodes - Article 81(1) EC - Fines - Guidelines on the method of setting fines - Leniency Notice - Principle of non bis in idem. # Case C-308/04 P.
Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed vom 19. Januar 2006.
SGL Carbon AG gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften.
Rechtsmittel - Wettbewerb - Kartell - Graphitelektroden - Artikel 81 Absatz 1 EG - Geldbußen - Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen - Mitteilung über Zusammenarbeit - Grundsatz ne bis in idem.
Rechtssache C-308/04 P.
Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed vom 19. Januar 2006.
SGL Carbon AG gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften.
Rechtsmittel - Wettbewerb - Kartell - Graphitelektroden - Artikel 81 Absatz 1 EG - Geldbußen - Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen - Mitteilung über Zusammenarbeit - Grundsatz ne bis in idem.
Rechtssache C-308/04 P.
Sammlung der Rechtsprechung 2006 I-05977
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2006:54
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
L. A. GEELHOED
vom 19. Januar 20061(1)
Rechtssache C-308/04 P
SGL Carbon AG
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
„Rechtsmittel – Wettbewerb – Graphitelektroden – Artikel 81 Absatz 1 – Geldbußen – Leitlinien für die Berechnung von Geldbußen – Mitteilung über Zusammenarbeit“
1. Die vorliegende Rechtssache ist aufgrund von Rechtsmitteln anhängig, die die SGL Carbon AG (im Folgenden: SGL) und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 29. April 2004 in den verbundenen Rechtssachen T‑236/01, T‑239/01, T‑244/01 bis T‑246/01, T‑251/01 und T‑252/01 (Tokai Carbon u. a./Kommission [im Folgenden: angefochtenes Urteil]) eingelegt haben.
I – Einschlägige Vorschriften
A – Artikel 81 EG und Verordnung Nr. 17/62
2. Artikel 81 verbietet „alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken“.
3. Die Kommission kann wegen derartiger Verhaltensweisen Geldbußen gegen die betreffenden Unternehmen verhängen.
4. Artikel 15 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages(2) (im Folgenden: Verordnung Nr. 17) bestimmt:
„1. Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen in Höhe von einhundert bis fünftausend Rechnungseinheiten festsetzen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig
…
b) eine nach Artikel 11 Absatz (3) oder (5) ... verlangte Auskunft unrichtig ... erteilen,
…
2. Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen in Höhe von eintausend bis einer Million Rechnungseinheiten oder über diesen Betrag hinaus bis zu zehn vom Hundert des von dem einzelnen an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen im letzten Geschäftsjahr erzielten Umsatzes festsetzen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig
a) gegen Artikel 85 Absatz (1) oder Artikel 86 des Vertrages verstoßen,
…
Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße ist neben der Schwere des Verstoßes auch die Dauer der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen.“
B – Die Leitlinien
5. Die Mitteilung der Kommission „Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS‑Vertrag festgesetzt werden“(3) (im Folgenden: Leitlinien) bestimmt in ihrer Präambel:
„Die in [den] Leitlinien dargelegten Grundsätze sollen dazu beitragen, die Transparenz und Objektivität der Entscheidungen der Kommission sowohl gegenüber den Unternehmen als auch gegenüber dem Gerichtshof zu erhöhen, sowie den Ermessensspielraum bekräftigen, der vom Gesetzgeber der Kommission bei der Festsetzung der Geldbußen innerhalb der Obergrenze von 10 % des Gesamtumsatzes der Unternehmen eingeräumt wurde. Dieser Ermessensspielraum muss jedoch nach zusammenhängenden, nicht diskriminierenden Leitlinien ausgefüllt werden, die im Einklang mit den bei der Ahndung der Verstöße gegen die Wettbewerbsregeln verfolgten Zielen stehen.
Das neue Verfahren für die Festsetzung des Betrags der Geldbuße beruht auf folgendem Schema, dem die Errechnung eines Grundbetrags zugrunde liegt, wobei Aufschläge zur Berücksichtigung erschwerender und Abzüge zur Berücksichtigung mildernder Umstände berechnet werden können.“
C – Die Mitteilung über Zusammenarbeit
6. Die Mitteilung der Kommission über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen(4) (im Folgenden: Mitteilung über Zusammenarbeit) enthält die Voraussetzungen, unter denen Geldbußen für Unternehmen, die während der Untersuchung eines Kartellfalls mit ihr zusammenarbeiten, entweder nicht oder niedriger festgesetzt werden können.
7. Nach Abschnitt A Nummer 5 dieser Mitteilung gilt:
„Die Zusammenarbeit eines Unternehmens mit der Kommission ist nur einer von mehreren Gesichtspunkten, denen die Kommission bei der Festsetzung einer Geldbuße Rechnung trägt ...“
D – Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
8. Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten bestimmt:
„Recht, wegen derselben Sache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden
(1) Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz unter dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.
(2) Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.
…“
II – Sachverhalt und Vorgeschichte des Erlasses der streitigen Entscheidung
9. Im angefochtenen Urteil hat das Gericht erster Instanz den dem bei ihm anhängigen Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalt wie folgt zusammengefasst:
„1. In der Entscheidung 2002/271/EG … stellte die Kommission die Beteiligung verschiedener Unternehmen an einer Reihe von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG und Artikel 53 Absatz 1 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (im Folgenden: EWR-Abkommen) in der Graphitelektrodenbranche fest.
2. Graphitelektroden gelangen hauptsächlich bei der Stahlerzeugung in Elektrolichtbogenöfen zum Einsatz. Die Stahlherstellung mit diesen Öfen ist im Wesentlichen ein Wiederaufbereitungsprozess, bei dem – im Unterschied zur traditionellen Herstellung aus Eisenerz in Hochöfen mittels Sauerstoff – Stahlschrott in neuen Stahl umgewandelt wird. In einem gewöhnlichen Lichtbogenofen werden neun in Dreiergruppen angeordnete Elektroden für das Einschmelzen von Schrott verwendet. Eine Elektrode ist wegen der Intensität des Schmelzvorgangs nach ungefähr acht Stunden aufgebraucht. Die Herstellung einer Elektrode dauert etwa zwei Monate. Graphitelektroden können im Rahmen dieses Produktionsverfahrens durch kein anderes Erzeugnis ersetzt werden.
3. Die Nachfrage nach Graphitelektroden ist direkt an die Erzeugung von Stahl in Elektrolichtbogenöfen gebunden. Hauptabnehmer sind die Stahlproduzenten, auf die rund 85 % der Nachfrage entfallen. 1998 wurden weltweit 800 Millionen Tonnen Rohstahl erzeugt, davon 280 Millionen Tonnen in Lichtbogenöfen. …
…
5. In den achtziger Jahren hatten technologische Verbesserungen einen erheblichen Rückgang des Elektrodenverbrauchs pro Tonne erzeugten Stahls zur Folge. Die Stahlindustrie machte in dieser Zeit zudem einen größeren Strukturwandel durch. Aufgrund des Rückgangs der Nachfrage nach Elektroden setzte in der Elektrodenindustrie weltweit ein Strukturwandel ein. Mehrere Produktionsstätten wurden stillgelegt.
6. Im Jahr 2001 belieferten neun westliche Hersteller den europäischen Graphitelektrodenmarkt:
…
7. Am 5. Juni 1997 führten Bedienstete der Kommission gemäß Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 ... gleichzeitig unangekündigte Nachprüfungen ... durch.
8. Am selben Tag nahmen Beamte des Federal Bureau of Investigation (FBI) in den Vereinigten Staaten in den Räumen mehrerer Hersteller Durchsuchungen vor. Im Anschluss daran wurden Strafverfahren gegen SGL ... wegen geheimer Absprachen eingeleitet. Alle Beschuldigten räumten den ihnen zur Last gelegten Sachverhalt ein und akzeptierten Geldbußen, die für SGL auf 135 Millionen USD ... festgesetzt wurden ...
…
10. Im Namen einer Gruppe von Abnehmern wurden in den Vereinigten Staaten Klagen auf dreifachen Schadensersatz (triple damages) gegen SGL ... erhoben.
11. In Kanada ... Im Juli 2000 bekannte sich auch SGL dieser Zuwiderhandlung schuldig und akzeptierte eine Geldbuße in Höhe von 12,5 Millionen CAD. Kanadische Stahlerzeuger erhoben im Juni 1998 gegen SGL ... Zivilklagen wegen abgestimmten Verhaltens.
12. Am 24. Januar 2000 richtete die Kommission eine Mitteilung der Beschwerdepunkte an die betroffenen Unternehmen. Das Verwaltungsverfahren führte am 18. Juli 2001 zum Erlass der Entscheidung, in der den klagenden Unternehmen ... eine weltweite Festsetzung von Preisen und eine Aufteilung der nationalen und regionalen Märkte für das fragliche Erzeugnis nach dem Grundsatz des Marktführers (‚Home producer‘) vorgeworfen wird: UCAR habe diese Rolle für die Vereinigten Staaten und für bestimmte Teile Europas übernommen, SGL für die verbleibenden Teile Europas ...
13. Nach den Angaben in der Entscheidung galten für das Kartell folgende Grundregeln:
– Die Preise für Graphitelektroden sollten weltweit festgesetzt werden.
– Beschlüsse über die Preisgestaltung der einzelnen Unternehmen durften nur vom Chairman oder von General Managers getroffen werden.
– Der jeweilige ‚Home producer‘ sollte den Marktpreis in seinem Heimatmarkt bestimmen, die übrigen Produzenten würden nachziehen.
– Die Preise für andere Märkte – d. h. für Märkte, auf denen es keinen ‚Home producer‘ gab – würden einvernehmlich beschlossen.
– Die ‚Non-home‑producer‘ sollten keinen aggressiven Wettbewerb betreiben und sich von den Heimatmärkten der anderen Anbieter zurückziehen.
– Die Kapazitäten sollten nicht erhöht werden (von den japanischen Herstellern wurde ein Kapazitätsabbau erwartet).
– Der Transfer von Technologie an Kartellaußenseiter sollte unterbunden werden.
14. Weiter heißt es in der Entscheidung, die genannten Grundregeln seien bei Treffen des Kartells umgesetzt worden, die auf verschiedenen Ebenen stattgefunden hätten: Treffen der obersten Führungskräfte, Treffen auf Arbeitsebene, Gruppentreffen der europäischen Hersteller (ohne die japanischen Unternehmen), bestimmten Märkten gewidmete nationale oder regionale Treffen und bilaterale Kontakte zwischen den Unternehmen.
…
16. Aufgrund der Sachverhaltsfeststellungen und der rechtlichen Würdigung in der Entscheidung setzte die Kommission gegen die beschuldigten Unternehmen Geldbußen fest, die anhand der in den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden ..., sowie in der Mitteilung über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen ... geschilderten Methode berechnet wurden.
17. In Artikel 3 der Entscheidung werden folgende Geldbußen festgesetzt:
…
SGL : 80,2 Millionen Euro;
…
18. In Artikel 4 der Entscheidung wird den betroffenen Unternehmen aufgegeben, die Geldbußen innerhalb von drei Monaten ab Zustellung der Entscheidung zu zahlen; andernfalls fallen Zinsen in Höhe von 8,04 % an.“
III – Das Verfahren vor dem Gericht erster Instanz und das angefochtene Urteil
10. Mit ihrer Klageschrift, die am 20. Oktober 2001 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhoben die Klägerin sowie andere Unternehmen, die Adressaten der streitigen Entscheidung waren, gegen diese Nichtigkeitsklagen.
11. Im angefochtenen Urteil hat das Gericht u. a. entschieden:
„…
2. In der Rechtssache T‑239/01, SGL Carbon/Kommission,
– wird die in Artikel 3 der Entscheidung 2002/271 gegen die Klägerin verhängte Geldbuße auf 69 114 000 Euro festgesetzt;
– wird die Klage im Übrigen abgewiesen;
...“
IV – Das Rechtsmittel
12. Die Klägerin beantragt,
– unter Aufrechterhaltung der erstinstanzlich gestellten Anträge das Urteil des Gerichts erster Instanz in der Rechtssache T‑239/01 insoweit teilweise aufzuheben, als es die Klage, soweit sie sich gegen Artikel 3 und 4 der Entscheidung der Kommission vom 18. Juli 2001 richtet, abweist;
– hilfsweise, das gegenüber der Klägerin in Artikel 3 der Entscheidung verhängte Bußgeld sowie die in Artikel 4 der genannten Entscheidung in Verbindung mit dem Schreiben der Kommission vom 23. Juli 2001 festgesetzten Rechtshängigkeits- und Verzugszinsen angemessen herabzusetzen;
– weiter hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtshofes an das Gericht zurückzuverweisen;
– der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
13. Die Kommission beantragt,
– das Rechtsmittel zurückzuweisen;
– der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
V – Rechtsmittelgründe und wesentliche Argumente
14. SGL trägt sieben Rechtsmittelgründe vor:
– Mit dem ersten Rechtsmittelgrund wird ein Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem geltend gemacht.
– Der zweite Rechtsmittelgrund betrifft die Festsetzung des Ausgangsbetrags, im Einzelnen insbesondere die Nichtvornahme einer Anpassung nach unten.
– Der dritte Rechtsmittelgrund bezieht sich auf die Erhöhung des Grundbetrags um 25 % (wegen eines erschwerenden Umstands) im Hinblick auf die Warnanrufe bei anderen Mitgliedern des Kartells vor der Nachprüfung von 1997.
– Der vierte Rechtsmittelgrund bezieht sich darauf, dass die in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 festgelegte Sanktionsobergrenze von 10 % des Gesamtumsatzes nicht berücksichtigt worden sei.
– Der fünfte Rechtsmittelgrund bezieht sich auf eine Verletzung der Verteidigungsrechte wegen unvollständiger Akteneinsicht.
– Der sechste Rechtsmittelgrund betrifft die Fähigkeit der Klägerin zur Zahlung der Geldbuße (Nichtberücksichtigung ihrer herabgesetzten Zahlungsfähigkeit).
– Im siebten Rechtsmittelgrund geht es um die Festsetzung von Verzugszinsen.
VI – Untersuchung
Vorbemerkungen
15. Die Rechtsmittelführerin in der vorliegenden Rechtssache und auch die Rechtsmittelführerin in der Rechtssache C-289/04 P, in der ich meine Schlussanträge ebenfalls heute vortrage, haben Rechtsmittelgründe vorgetragen, die sich auf bestimmte Merkmale der Geldbuße beziehen. In der Rechtssache C-289/04 P konzentriert sich das Vorbringen insbesondere auf den „Abschreckungsmultiplikator“. In der vorliegenden Rechtssache bezieht sich das Vorbringen eher auf bestimmte Aspekte des Verfahrens zur Festsetzung der Geldbußen.
16. Ich werde daher mit einigen allgemeinen Bemerkungen über die Rechtsprechung zur Politik der Kommission bei der Festsetzung von Geldbußen beginnen.
17. An erster Stelle hat der Gerichtshof in seinem viel zitierten Urteil in der Rechtssache Musique Diffusion française(5) festgestellt, dass die Aufgabe der Kommission gewiss die Pflicht umfasst, einzelne Zuwiderhandlungen zu ermitteln und zu ahnden, aber auch den Auftrag, eine allgemeine Politik mit dem Ziel zu verfolgen, die im Vertrag niedergelegten Grundsätze auf das Wettbewerbsrecht anzuwenden und das Verhalten der Unternehmen in diesem Sinne zu lenken(6).
18. Ferner muss die Kommission bei der für die Festsetzung der Geldbuße erforderlichen Beurteilung der Schwere eines Rechtsverstoßes nicht nur die besonderen Umstände des Einzelfalls, sondern auch den Kontext der Zuwiderhandlung berücksichtigen und sicherstellen, dass ihr Vorgehen vor allem in Bezug auf solche Zuwiderhandlungen, die die Verwirklichung der Ziele der Gemeinschaft besonders beeinträchtigen, die notwendige abschreckende Wirkung hat(7).
19. Damit hat der Gerichtshof in jenem Urteil darauf hingewiesen, dass der der Verhängung von Geldbußen zugrunde liegende Gedanke darin besteht, die Umsetzung der Wettbewerbspolitik der Gemeinschaft sicherzustellen.
20. Aus jenem und aus späteren Urteilen ergab sich, dass zahlreiche Faktoren zu berücksichtigen sind, dass die Kommission keine präzise mathematische Formel anzuwenden braucht, dass die Kommission sowohl den Gesamtumsatz des Unternehmens als auch den Umsatz in Bezug auf Gebiete und Produkte in Betracht ziehen darf, so lange ein Faktor gegenüber anderen Faktoren nicht außer Verhältnis steht, und damit, dass die Festsetzung der angemessenen Geldbuße nicht das Ergebnis einer einfachen Berechnung des Gesamtumsatzes sein kann.
21. Darüber hinaus verfügt die Kommission bei ihrer Geldbußenpolitik über ein weites Ermessen, auch wenn sie die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen muss und den in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 nach dem Umsatz festgesetzten Höchstbetrag nicht überschreiten darf. Außerdem darf die Kommission, wenn sie Leitlinien veröffentlicht, durch die praktische Regeln aufgestellt werden, von diesen Leitlinien in einem Einzelfall nicht abweichen, ohne eine Begründung dafür zu geben, die mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar ist. Unstreitig kann die Kommission ihre Leitlinien, die nur von dem Zeitpunkt an, in dem sie verabschiedet worden sind, angewendet werden können, anpassen.
22. In der Zwischenzeit hat die Kommission die Leitlinien veröffentlicht. Die Leitlinien spiegeln die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte mehr oder weniger wider. Die in den Leitlinien niedergelegte Berechnungsmethode war Gegenstand eines kürzlich erlassenen Urteils, des so genannten Fernwärmetechnikkartell‑Urteils(8). Insoweit hat der Gerichtshof festgestellt, dass „die in den Leitlinien befürwortete Berechnungsmethode, da sie für die Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung im Rahmen der Festsetzung der Höhe der Geldbuße die Berücksichtigung zahlreicher Kriterien vorsieht, darunter die durch die Zuwiderhandlung erzielten Gewinne oder die Notwendigkeit, die abschreckende Wirkung der Geldbußen zu gewährleisten, den durch die Verordnung Nr. 17 vorgeschriebenen Grundsätzen, wie sie vom Gerichtshof u. a. im Urteil Musique Diffusion française u. a./Kommission ausgelegt worden sind, eher zu entsprechen [scheint] als die von den Rechtsmittelführerinnen behauptete frühere Praxis der Kommission, bei der der relevante Umsatz eine vorrangige und relativ mechanische Rolle gespielt haben soll“(9). Er hat außerdem ausgeführt, „dass die Leitlinien verschiedene Spielräume enthalten, die es der Kommission ermöglichen, ihr Ermessen im Einklang mit den Vorschriften des Artikels 15 der Verordnung Nr. 17 in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof auszuüben“(10).
23. Nach den Leitlinien ermittelt die Kommission die Geldbuße in mehreren Schritten. Der erste Schritt besteht darin, gestützt auf die Schwere des Verstoßes (minderschwer, schwer oder besonders schwer) und dessen Dauer (kurze, mittlere, lange Dauer), den Grundbetrag festzusetzen. Die Kommission beginnt damit, den Ausgangsbetrag nach Maßgabe der Schwere des Verstoßes anzusetzen. Besteht ein erheblicher Unterschied in der Größe zwischen den beteiligten Unternehmen, so kann sie diese nach deren Größe in Gruppen zusammenfassen und für jede Gruppe einen anderen Ausgangsbetrag festsetzen, um das jeweilige Gewicht und damit die tatsächliche Auswirkung des Verstoßes jedes einzelnen Unternehmens zu berücksichtigen. Nach der Ermittlung der Schwere eines bestimmten Verstoßes und vor der Ermittlung der Dauer des Verstoßes kann die Kommission die Geldbuße nach oben anpassen, um sicherzustellen, dass die Geldbuße eine ausreichende abschreckende Wirkung hat (und damit den „Abschreckungsmultiplikator“ anwenden). Nach Erhöhung der Geldbuße wegen der Dauer geht sie zum nächsten Schritt, den erschwerenden oder mildernden Faktoren, über.
24. Ist die Zusammenarbeit eines Unternehmens mit der Kommission als eine Zusammenarbeit im Sinne der Mitteilung über Zusammenarbeit anzusehen, so wird der nächste Schritt die Anwendung dieser Mitteilung sein.
25. Ist der in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 genannte 10 %-Höchstbetrag überschritten, so kann die Kommission zunächst den (sich aus der Berechnung nach den Leitlinien ergebenden) Betrag der Geldbuße auf dieses Höchstniveau herabsetzen, bevor sie die Mitteilung über Zusammenarbeit anwendet, um dieser Mitteilung ihre volle Wirksamkeit zu verleihen.
26. In der vorliegenden Rechtssache hat die Kommission die betroffenen Unternehmen nach ihrer jeweiligen Bedeutung auf dem betreffenden Markt, gestützt auf den weltweiten Umsatz mit dem Erzeugnis und den Marktanteil, in drei Kategorien eingeteilt. Die angemessenen Ausgangspunkte für die Geldbußen wurden auf 40 Mio. Euro, 16 Mio. Euro und 8 Mio. Euro festgesetzt. SGL wurde in die höchste Kategorie eingestuft. Der Ausgangsbetrag wurde mit Rücksicht auf die Dauer des Verstoßes von SGL um 55 % erhöht. Beim nächsten Schritt erhöhte die Kommission den Grundbetrag um 85 % wegen erschwerender Umstände; davon wurden 25 % dem Umstand zugeschrieben, dass SGL andere Mitglieder des Kartells vor der bevorstehenden Untersuchung gewarnt hatte. Es gab keine mildernden Umstände. Die Kommission setzte die Geldbuße dann im Rahmen der Mitteilung über Zusammenarbeit um 30 % herab. Das Gericht erster Instanz hat den Betrag der Geldbuße mit der Begründung herabgesetzt, dass die Kommission die Mitarbeit von SGL nicht richtig gewürdigt habe. Dieser Aspekt ist Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens in der Rechtssache C-301/04 P, in der ich meine Schlussanträge ebenfalls heute vortragen werde. Das vorliegende Rechtsmittelverfahren konzentriert sich, wie ich bereits ausgeführt habe, weitgehend auf die verschiedenen Schritte im Verfahren der Festsetzung der Geldbußen.
27. Bevor ich die verschiedenen Rechtsmittelgründe behandele, möchte ich anmerken, dass sich die Kontrolle durch den Gerichtshof im Rechtsmittelverfahren zum einen darauf richtet, inwieweit das Gericht erster Instanz rechtlich korrekt alle Faktoren berücksichtigt hat, die für die Beurteilung der Schwere eines bestimmten Verhaltens anhand des Artikels 81 EG und des Artikels 15 der Verordnung Nr. 17 von Bedeutung sind, und zum anderen auf die Frage, ob das Gericht auf alle von der Rechtsmittelführerin vorgebrachten Argumente für eine Aufhebung oder Herabsetzung der Geldbuße rechtlich hinreichend eingegangen ist.
28. Außerdem ist es nicht Sache des Gerichtshofes, bei der Entscheidung über Rechtsfragen im Rahmen eines Rechtsmittels die Beurteilung des Gerichts, das in Ausübung seiner unbeschränkten Nachprüfungsbefugnis über die Höhe der gegen Unternehmen wegen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht festgesetzten Geldbußen entscheidet, aus Gründen der Billigkeit durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen.
29. Rechtsmittel sind daher unzulässig, soweit sie eine generelle erneute Überprüfung der Geldbußen bezwecken.
A – Erster Rechtsmittelgrund (Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem)
30. In der ersten Instanz hat SGL geltend gemacht, dass die Kommission durch ihre Weigerung, von der in der angefochtenen Entscheidung festgesetzten Geldbuße die bereits in den Vereinigten Staaten und in Kanada verhängten Geldbußen abzuziehen, gegen das Verbot der mehrfachen Ahndung derselben Zuwiderhandlung verstoßen habe.
31. In der Entgegnung auf dieses Vorbringen hat das Gericht erster Instanz zunächst auf frühere Rechtsprechung verwiesen, in der entschieden worden sei, dass es sich bei dem Grundsatz ne bis in idem um einen tragenden Grundsatz des Gemeinschaftsrechts handele und dass dieser Grundsatz es im Bereich des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft verbiete, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, für das es bereits mit einer Sanktion belegt worden sei, erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt werde.
32. Das Gericht erster Instanz hat dann in Randnummer 134 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass der „Grundsatz ne bis in idem ... im vorliegenden Fall … keine Anwendung finden [kann], da die von der Kommission einerseits und von den amerikanischen und den kanadischen Behörden andererseits betriebenen Verfahren und verhängten Sanktionen eindeutig nicht denselben Zielen dienen. Im ersten Fall geht es darum, im Gebiet der Europäischen Union oder im EWR einen unverfälschten Wettbewerb zu erhalten, im zweiten Fall dagegen um den Schutz des amerikanischen oder des kanadischen Marktes … Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem setzt nämlich nicht nur die Übereinstimmung des Sachverhalts der Zuwiderhandlung und der zur Rechenschaft gezogenen Personen voraus, sondern es muss sich auch um ein einziges geschütztes Rechtsgut handeln ... Diese Feststellung wird durch die Tragweite des in Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK verankerten Grundsatzes des Verbotes einer Mehrfachahndung bestätigt. Nach dem Wortlaut dieses Artikels bewirkt dieser Grundsatz lediglich, dass es den Gerichten eines Staates untersagt ist, sich mit einer Straftat zu befassen oder wegen einer solchen Tat zu bestrafen, wenn die angeklagte Person wegen derselben Tat bereits in demselben Staat rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist. Dagegen verbietet es der Grundsatz ne bis in idem nicht, dass eine Person in zwei oder mehr verschiedenen Staaten mehr als einmal wegen derselben Tat verfolgt oder bestraft wird.“(11)
33. Das Gericht erster Instanz hat auch betont, dass die Klägerinnen keinen völkerrechtlichen Grundsatz angeführt hätten, der es den Behörden oder Gerichten verschiedener Staaten untersage, eine Person wegen derselben Tat zu verfolgen und zu verurteilen, und hat entschieden, dass ein „solches Verbot … sich heute daher nur aus einer sehr engen internationalen Zusammenarbeit ergeben [könnte], die zum Erlass gemeinsamer Bestimmungen führt, wie z. B. der Bestimmungen in dem oben genannten Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen. Die Klägerinnen haben insoweit nicht vorgebracht, dass es ein Übereinkommen gebe, das die Gemeinschaft und Drittstaaten wie die Vereinigten Staaten oder Kanada binde und ein derartiges Verbot enthalte.“(12)
34. Das Gericht erster Instanz hat anerkannt, dass „nach Artikel 50 der Grundrechtecharta niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]. Die Charta soll jedoch nur im Gebiet der Union gelten und beschränkt die Tragweite des in ihrem Artikel 50 festgelegten Rechts ausdrücklich auf die Fälle, in denen der Freispruch oder die Verurteilung innerhalb dieses Gebietes erfolgt ist.“(13)
35. SGL hat außerdem gerügt, die Kommission habe das Urteil in der Rechtssache Boehringer(14) missachtet, in dem entschieden worden sei, dass sie zur Anrechnung einer von den Behörden eines Drittlands verhängten Sanktion verpflichtet sei, wenn sich die gegen das klagende Unternehmen von ihr und von diesen Behörden erhobenen Vorwürfe auf dieselben Handlungen bezögen.
36. In diesem Zusammenhang hat das Gericht erster Instanz darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof in jenem Urteil (in Randnr. 3) entschieden habe: „Die Frage, ob die Kommission auch zur Anrechnung einer von Behörden eines Drittstaates verhängten Sanktion verpflichtet sein kann, braucht nur entschieden zu werden, wenn die der Klägerin im vorliegenden Fall von der Kommission einerseits und den amerikanischen Behörden andererseits vorgeworfenen Handlungen identisch sind.“ Außerdem hat es festgestellt: „Daraus geht eindeutig hervor, dass der Gerichtshof keineswegs die Frage entschieden hat, ob die Kommission zur Anrechnung einer von den Behörden eines Drittstaats verhängten Sanktion verpflichtet ist, wenn sich die gegen ein Unternehmen von ihr selbst und von den betreffenden Behörden erhobenen Vorwürfe auf dieselben Handlungen beziehen; er hat lediglich die Identität der von der Kommission und den Behörden eines Drittstaats beanstandeten Handlungen zur Voraussetzung für diese Prüfung gemacht.“(15)
37. Das Gericht erster Instanz hat dann ausgeführt: „Gerade wegen der besonderen Situation, die sich zum einen aus der engen Wechselbeziehung zwischen den nationalen Märkten der Mitgliedstaaten und dem Gemeinsamen Markt und zum anderen aus dem besonderen System der Zuständigkeitsverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten bei Kartellen in demselben Gebiet, dem Gemeinsamen Markt, ergibt, hat es der Gerichtshof nach Anerkennung der Möglichkeit einer doppelten Verfolgung angesichts der daraus eventuell resultierenden doppelten Sanktion aus Gründen der Billigkeit für erforderlich gehalten, die erste Sanktionsentscheidung zu berücksichtigen. … Eine derartige Situation liegt hier aber nicht vor. Da die Klägerinnen sich nicht auf eine ausdrückliche völkerrechtliche Bestimmung berufen, die die Kommission dazu verpflichtet, bei der Festsetzung der Höhe einer Geldbuße Sanktionen zu berücksichtigen, die gegen dasselbe Unternehmen wegen derselben Tat bereits von Behörden oder Gerichten eines Drittstaats wie der Vereinigten Staaten oder Kanadas verhängt wurden, können sie der Kommission nicht mit Erfolg vorwerfen, im vorliegenden Fall diese angebliche Verpflichtung verletzt zu haben.“(16)
38. Jedenfalls hat das Gericht erster Instanz weiter ausgeführt: „Selbst wenn dem Urteil Boehringer … im Umkehrschluss entnommen werden könnte, dass die Kommission zur Anrechnung einer von den Behörden eines Drittstaats verhängten Sanktion verpflichtet ist, sofern sich die gegen das fragliche Unternehmen von ihr selbst und von den betreffenden Behörden erhobenen Vorwürfe auf ein und dieselben Handlungen beziehen, ist jedenfalls darauf hinzuweisen, dass zwar in dem in den Vereinigten Staaten gegen SGL ergangenen Urteil davon die Rede ist, dass das Graphitelektrodenkartell zur Beschränkung der Herstellung des Erzeugnisses und zur Erhöhung seiner Preise ‚in den Vereinigten Staaten und andernorts‘ gedient habe; es steht aber keineswegs fest, dass sich die Verurteilung in den Vereinigten Staaten auf Durchführungshandlungen oder Auswirkungen des Kartells außerhalb dieses Landes erstreckte (in diesem Sinne auch Urteil Boehringer …, Randnr. 6), insbesondere auf solche im EWR, was auch einen offensichtlichen Eingriff in die räumliche Zuständigkeit der Kommission dargestellt hätte. Letzteres gilt auch für die Verurteilung in Kanada.“(17)
39. Im vorliegenden Rechtsmittelverfahren rügt SGL, dass das Gericht erster Instanz in seinem Urteil nicht festgestellt habe, dass die Kommission gegen den Grundsatz ne bis in idem (oder hilfsweise das allgemeine Erfordernis der „natural justice“ ) aufgrund dessen verstoßen habe, dass die Sanktion, die bereits vor Erlass der angefochtenen Kommissionsentscheidung gegen SGL in den Vereinigten Staaten verhängt worden sei, nicht berücksichtigt worden sei.
40. SGL trägt vor, die Kommission sei verpflichtet gewesen, die Geldbußen anzurechnen, die bereits von den Behörden von Nichtmitgliedstaaten wegen desselben Verstoßes verhängt worden seien. Dies folge aus dem Grundsatz ne bis in idem und jedenfalls aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. In diesem Zusammenhang rügt SGL, dass das Gericht erster Instanz das Urteil in der Rechtssache Boehringer falsch ausgelegt habe. SGL macht geltend, es gebe zwei Ausprägungen des Grundsatzes ne bis in idem, eine engere und eine weitere. Nach dem engen – zumindest auf Fälle innerhalb der Gemeinschaft anwendbaren – Verständnis handele es sich um ein echtes Verbot in dem Sinne, dass eine zweite Verfolgung und Bestrafung ausgeschlossen sei, wenn eine frühere Strafe für denselben Verstoß verhängt worden sei. In dem weiteren Verständnis, das vor allem für Fälle erheblich sei, mit denen sich die Behörden von Nichtmitgliedsländern befasst hätten, komme der Grundsatz ne bis in idem als die Verpflichtung zum Ausdruck, im Ausland verhängte Strafen anzurechnen oder zu berücksichtigen.
41. SGL macht ferner geltend, für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem müssten drei Voraussetzungen erfüllt sein (Identität des Täters, Identität des Sachverhalts und Identität des geschützten Rechtsguts). Die Geldbußen richteten sich gegen SGL, bei der es sich um eine einheitliche und selbständige juristische Person handele; der Sachverhalt sei identisch (ein weltweites Kartell), und die in Europa und in den Vereinigten Staaten geschützten Rechtsgüter seien identisch.
42. SGL beanstandet die Feststellung des Gerichts erster Instanz, dass die Verfahren und die Strafen, die von der Kommission einerseits und von den Behörden der Vereinigten Staaten andererseits durchgeführt bzw. verhängt worden seien, eindeutig nicht denselben Zielen dienten. In diesem Zusammenhang nimmt SGL Bezug auf die Schlussanträge des Generalanwalts Ruíz‑Jarabo Colomer in der Rechtssache Italcementi(18). SGL vertritt die Auffassung, dass diese Argumentation sich auf Drittländer übertragen lasse. Ihrer Ansicht nach sollen beide Rechtsordnungen einen freien Wettbewerb sicherstellen. Der Territorialitätsgrundsatz sei nicht erheblich für die Beantwortung der Frage, ob es sich um ein „idem“ handele, sondern nur für die Zuständigkeit der Kommission, Verstöße zu verfolgen. Während kein Zweifel daran bestehe, dass es parallele Wettbewerbsverfahren geben könne, seien bereits von den Behörden von Nichtmitgliedstaaten verhängte Geldbußen zu berücksichtigen.
43. Selbst wenn der Grundsatz ne bis in idem in Bezug auf Nichtmitgliedstaaten nicht gelten sollte, hätten die Kommission und das Gericht erster Instanz die bereits verhängten Geldbußen berücksichtigen müssen. Dies folge aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem im Urteil in der Sache Walt Wilhelm formulierten naturrechtlichen Erfordernis.
44. SGL macht außerdem geltend, zur Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem sei kein völkerrechtlicher Vertrag erforderlich. In diesem Zusammenhang verweist sie auf mehrere nationale Rechtsordnungen, in denen der Grundsatz anerkannt sei und in denen es daher keine gegenseitige völkerrechtliche Vereinbarung gebe.
45. Die Kommission stimmt den Feststellungen des Gerichts erster Instanz zu.
Beurteilung
46. Die Frage eines möglichen Verstoßes gegen den Grundsatz ne bis in idem ist kürzlich von Generalanwalt Tizzano in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Archer Daniels Midland(19) behandelt worden. In seinem Urteil in jener Rechtssache(20) ist das Gericht erster Instanz zu demselben Ergebnis gelangt wie in der vorliegenden Rechtssache, dass nämlich der Grundsatz ne bis in idem nicht gelte und dass es keine Gründe gebe, die die Kommission verpflichteten, bereits von diesen Behörden verhängte Geldbußen anzurechnen.
47. In seinen Schlussanträgen hat Generalanwalt Tizzano ausgeführt, dass es im Völkerrecht keinen Grundsatz gebe, der es den Behörden oder Gerichten verschiedener Staaten untersage, eine Person wegen derselben Tat zu verfolgen und zu verurteilen und dass die multilateralen Übereinkünfte, die den Grundsatz ne bis in idem bestätigten, dessen Geltung im Allgemeinen auf gerichtliche Entscheidungen desselben Staates beschränkten. In diesem Zusammenhang hat er auf Artikel 14 Absatz 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte von 1966, Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK und auf die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichts für das ehemalige Jugoslawien sowie auf eine Reihe von nationalen Verfassungsgerichten verwiesen. Außerdem hat er zu bedenken gegeben, dass der Grundsatz ne bis in idem selbst im Kontext eines Zusammenschlusses, wie er bei der Gemeinschaft gegeben sei, nur dadurch zur Geltung komme, dass er in eigenen Vereinbarungen vorgesehen sei, wie etwa im Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen.
48. Generalanwalt Tizzano hat aber weiter ausgeführt, dass, selbst wenn es einen solchen allgemeinen Rechtsgrundsatz gäbe (nämlich dass eine Person nicht mehrmals in verschiedenen Staaten für das gleiche rechtswidrige Verhalten bestraft werden dürfe), die drei in der Rechtsprechung des Gerichtshofes niedergelegten Voraussetzungen erfüllt sein müssten. Er hat mit dem Gericht erster Instanz darin übereingestimmt, dass eine dieser Voraussetzungen, die Identität des geschützten Rechtsguts, nicht erfüllt sei, weil sich nicht sagen lasse, dass das Antitrustrecht der Vereinigten Staaten und das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft dasselbe Rechtsgut schützten. Er begründete dies damit – und ich stimme ihm dabei zu –, dass die Kommission mit ihrer Geldbußenpolitik den freien Wettbewerb im Gemeinsamen Markt zu schützen suche, der sich seiner Definition nach von dem Wettbewerb unterscheide, den die Behörden von Drittländern schützten.
49. Ich stimme diesen Feststellungen zu. Es gibt keine völkerrechtliche Regel, die es der Gemeinschaft verbieten würde, Geldbußen zu verhängen, wenn eine andere Behörde bereits Geldbußen für einen Verstoß gegen Wettbewerbsvorschriften verhängt hat, oder eine herabgesetzte Geldbuße zu verhängen. Zweitens gilt der Grundsatz ne bis in idem normalerweise nur innerhalb eines Staates. Drittens lässt sich nicht sagen, dass es ein bilaterales Übereinkommen zwischen der Gemeinschaft und den Vereinigten Staaten oder Kanada gäbe. In den bestehenden Kooperationsabkommen in Bezug auf Wettbewerbsfragen(21) wird dieser Aspekt nicht behandelt. Aber selbst wenn der Grundsatz ne bis in idem anwendbar sein sollte, müssen die drei oben genannten Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein. Ich stimme mit der Kommission und dem Gericht erster Instanz darin überein, dass die dritte Voraussetzung, dasselbe Rechtsgut, nicht erfüllt ist. Ein Kartell begeht Verstöße in jedem der Zuständigkeitsbereiche, in dem es tätig wird. Der Umstand, dass ein Kartell weltweit operiert, ändert somit nichts an der Tatsache, dass das Antitrustrecht der Vereinigten Staaten und das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft in erster Linie mit den Auswirkungen des Kartells auf ihren jeweiligen Gebieten befasst sind. Da die drei Voraussetzungen nicht erfüllt sind, ist die Verweisung der SGL auf eine Reihe von nationalen Rechtsordnungen, in denen eine ausländische Entscheidung als einem inländischen Urteil vergleichbar behandelt werden würde, demzufolge unerheblich.
50. Was das natürliche allgemeine Erfordernis der „natural justice“ angeht, möchte ich zu bedenken geben, dass sich die Urteile in den Rechtssachen Walt Wilhelm oder Boehringer meines Erachtens nicht ohne weiteres auf Drittlandssachverhalte übertragen lassen. Abgesehen davon, dass es im Urteil Walt Wilhelm streng genommen nicht um die Frage des ne bis in idem geht – und auch nicht im Urteil Boehringer –, bestand die Besonderheit in jener Rechtssache, selbst in Anbetracht der Tatsache, dass die Behörde ihn unter einem anderen Blickwinkel betrachtete, darin, dass der Verstoß auf dem Gebiet der Gemeinschaft stattfand. Damit gab es einen stichhaltigen Grund dafür, die territoriale Überschneidung zu berücksichtigen und daher von der zweiten Wettbewerbsbehörde zu verlangen, die erste Geldbuße bei der anschließenden Verhängung einer weiteren finanziellen Sanktion zu berücksichtigen(22). Einen solchen Grund gibt es im Verhältnis zu Drittländern nicht, da sie aus territorialer Sicht unterschiedlich sind. Dass für die Kommission keine Verpflichtung besteht, in einem Drittland verhängte frühere Geldbußen zu berücksichtigen, bedeutet nicht, dass es nicht in ihrem Ermessen stünde, dies zu tun; vorausgesetzt, dass es keine Gegenseitigkeit gibt, lässt sich jedoch nicht sagen, dass die Kommission verpflichtet wäre, eine solche Geldbuße anzurechnen.
51. Als Schlussbemerkung möchte ich unterstreichen, dass Rechtsordnungen sich unterscheiden und dass diese unterschiedlichen Rechtsordnungen zu rechtlichen Parametern für das Verhalten auf dem Markt führen, die unterschiedlichen Inhalt und Tragweite haben; daher hat ein Verstoß nicht nur unterschiedliche abweichende Folgen in den verschiedenen Rechtsordnungen, sondern sogar in derselben Rechtsordnung müssen die Folgen nach ihren Auswirkungen auf diese Ordnung beurteilt werden.
52. Die von SGL vertretene Auffassung würde bedeuten, dass das dem öffentlichen Wirtschaftsrecht innewohnende Konzept der Territorialität seine Bedeutung verlieren würde. Es würde heißen, dass die Regelungen, die für die Bedingungen des Verhaltens von Unternehmen auf dem Markt gelten, weltweit identisch wären, was aus offensichtlichen Gründen nicht der Fall ist.
B – Zweiter Rechtsmittelgrund
53. Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund, der die Feststellungen des Gerichts erster Instanz in Bezug auf die Festsetzung der Ausgangsbeträge der Geldbuße betrifft, macht SGL geltend, dass das Gericht erster Instanz fehlerhaft entschieden habe, als es keine Berichtigung nach unten des Ausgangsbetrags in Bezug auf SGL vorgenommen habe, obwohl dies hätte geschehen müssen, wenn die von diesem Gericht festgesetzten endgültigen Bemessungskriterien in nicht diskriminierender Weise angewandt worden wären.
54. In dieser Hinsicht verweist SGL auf die Neukategorisierung anderer Mitglieder des Kartells, die zu einem niedrigeren Ausgangsbetrag der Geldbuße geführt habe. An allererster Stelle fragt SGL, ob die Berechnung des durchschnittlichen Umsatzes und der durchschnittlichen Marktanteile innerhalb derselben Kategorie zulässig sei, weil eine Beurteilung der Marktbedeutung jedes einzelnen Unternehmens an einer individuellen und nicht an einer konsolidierten Grundlage anknüpfen müsse. Zweitens argumentiert SGL, dass die Abweichung zwischen ihrem Marktanteil und dem von UCAR zu hoch sei, als dass sich rechtfertigen lasse, sie in dieselbe Kategorie wie UCAR einzustufen. Der höchste Unterschied von Marktanteilen, der habe festgestellt werden können, betrage mehr als die Anteilsschwellen in Prozent, die von der Kommission in der Entscheidung verwendet worden seien. Der Ausgangsbetrag sei daher anzupassen. Drittens habe die Neueinstufung einiger anderer Mitglieder in Fällen stattgefunden, in denen die Abweichung zwischen Marktanteilen geringer gewesen sei.
Beurteilung
55. An allererster Stelle darf nicht vergessen werden, dass die Kommission über ein weites Ermessen verfügt, wenn sie die Beträge der Geldbuße festsetzt, und dass für sie keine Verpflichtung besteht, zu diesem Zweck eine genaue mathematische Formel anzuwenden. Jedoch ist es Sache der Gemeinschaftsgerichte, festzustellen, ob die Kommission ihr Ermessen nicht überschritten hat. Schließlich ist es auch feststehende Rechtsprechung, dass es nicht Sache des Gerichtshofes ist, bei der Entscheidung über Rechtsfragen im Rahmen eines Rechtsmittels die Beurteilung des Gerichts erster Instanz, das in Ausübung seiner unbeschränkten Nachprüfungsbefugnis über den Betrag der gegen ein Unternehmen wegen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht festgesetzten Geldbuße entscheidet, aus Gründen der Billigkeit durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen(23).
56. Im angefochtenen Urteil hat das Gericht erster Instanz entschieden, dass die Zuordnung zu bestimmten Kategorien als solche zulässig sei. Außerdem hat es entschieden, dass dann, wenn Unternehmen bei der Festsetzung der Beträge in Kategorien eingeteilt würden, Schwellenwerte für jede der auf diese Weise gebildeten Kategorien schlüssig und objektiv gerechtfertigt sein müssten. Das Gericht erster Instanz hat dann geprüft, ob die Schwellenwerte für die drei Kategorien schlüssig und objektiv gerechtfertigt waren.
57. Wie das Gericht erster Instanz dargelegt hat und wie sich klar aus der Entscheidung der Kommission ergibt, hat diese sich bei der Bildung der drei Kategorien und bei der Festlegung der verschiedenen Ausgangsbeträge auf ein einziges Kriterium gestützt: die konkreten Umsätze und Marktanteile, die die Mitglieder des Kartells mit dem Verkauf des fraglichen Erzeugnisses auf dem Weltmarkt erzielten. Dabei hat sie die Umsätze im Jahr 1998 und die Entwicklung der Marktanteile in der Zeit von 1992 bis 1998 herangezogen. Sie verwendete eine Berechnungsmethode, die auf das Mehrfache bestimmter Marktanteilprozentsätze gestützt war, wobei dieser Prozentsatz damit einem festgelegten Betrag in Euro entsprach. Der Ausgangsbetrag stieg daher in „Tranchen“ an. Das Ergebnis war, dass bei SGL im Licht ihrer Marktanteile wie bei UCAR ein Ausgangsbetrag von 40 Mio. Euro angesetzt wurde. Das Gericht erster Instanz ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Wahl der die Tranchen bildenden Beträge, die zu einem Ausgangsbetrag in Höhe von 40 Mio. Euro für Unternehmen in der ersten Kategorie führte, nicht willkürlich sei und die Grenzen des der Kommission insoweit zustehenden Ermessens nicht überschritten habe.
58. SGL beanstandet nicht den Ausgangsbetrag der ersten Kategorie, aber de facto den Umstand, dass sie in die erste Kategorie eingeordnet wurde. Sie vertritt die Auffassung, das Gericht erster Instanz sei von seiner eigenen festgelegten Methode abgegangen, was entweder einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung oder einen Beurteilungsfehler darstelle.
59. Ich folge dieser Auffassung nicht. Erstens hat das Gericht erster Instanz die Methode der Kommission nicht durch seine eigene ersetzt. Das Gericht erster Instanz hat lediglich festgestellt, ob die Kommission ihre Methode folgerichtig und schlüssig angewandt hat. Wie oben festgestellt, hat es eine Methode gebilligt, bei der die Mitglieder eines Kartells mehreren Kategorien zugeordnet wurden, was zu einem Pauschalsatz als Ausgangsbetrag für alle Unternehmen in der jeweiligen Einzelkategorie führte. Es hat die Schwellenwerte zwischen den Kategorien geprüft und gebilligt. Es hat auch untersucht, ob die Zusammensetzung innerhalb einer Kategorie aus der Sicht der Größenunterschiede und im Vergleich mit der nächsten Kategorie ausreichend schlüssig erschien. Damit ist es innerhalb der allgemeinen Logik des von der Kommission für die Kartellmitglieder verwendeten Systems geblieben.
60. Was die erste Kategorie betrifft, hat das Gericht erster Instanz in Anbetracht der Größenverhältnisse die Einstufung von SGL und UCAR in dieselbe Kategorie durch die Kommission gebilligt. Sie hat lediglich einige der zweiten Kategorie zugeordnete Mitglieder neu eingestuft, weil die Größenverhältnisse im Vergleich zu anderen Mitgliedern in dieser Kategorie zu stark voneinander abwichen. Diese Mitglieder wurden demzufolge der dritten Kategorie zugeordnet. Auf diese Weise musste die frühere dritte Kategorie weiter aufgeteilt werden, um eine vierte Kategorie zu schaffen, damit das Gleichgewicht in der von der Kommission verwendeten Methode aufrechterhalten werden konnte. Dies berührt SGL jedoch nicht.
61. In Wirklichkeit möchte SGL jedoch ein System der Kategorisierung beanstanden, weil nach ihrem Vorbringen der Unterschied beim Marktanteil oder Umsatz in eine getrennte „Kategorie“ für jedes an dem Kartell beteiligte Unternehmen und damit in einen individuellen Ausgangsbetrag umgesetzt werden müsste. Dies würde jedoch der Anwendung eines Systems von Kategorien, das die Verwendung bestimmter Spannen impliziert, die Grundlage entziehen. Wie das Gericht erster Instanz zu Recht festgestellt hat, ist nichts falsch daran, wenn die Mitglieder eines Kartells bei der Bestimmung der Schwere der Verstöße in Kategorien eingeteilt werden, auch wenn bei einem solchen Ansatz die Größenunterschiede zwischen Unternehmen in derselben Kategorie außer Acht gelassen werden, solange die für die Bildung der Kategorien verwendete Methode dem Grundsatz der Gleichbehandlung und damit dem Erfordernis entspricht, dass die Schwellenwerte für jeden der gebildeten Kategorien schlüssig und objektiv gerechtfertigt sind.
62. Der zweite Rechtsmittelgrund ist zurückzuweisen.
C – Dritter Rechtsmittelgrund
63. SGL macht geltend, der spezifische Zuschlag in Höhe von 25 % auf den Bußgeldgrundbetrag, der 15,5 Mio. Euro ausmache, wegen der gegenüber anderen Mitgliedern des Kartells ausgesprochenen Warnungen vor dem Beginn der Nachprüfung durch die Kommission sei rechtswidrig. Das Gericht erster Instanz habe dadurch, dass es die Feststellungen der Kommission gebilligt habe, gegen den Grundsatz nulla poena sine lege, den Grundsatz in dubio pro reo und den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen.
64. Diese Rügen beziehen sich auf die Randnummern 312 bis 317 des angefochtenen Urteils und auf die Randnummern 436 bis 438. In ihrer Entscheidung hat die Kommission den Grundbetrag um 25 % erhöht, da sie der Ansicht war, dass die Versuche von SGL, die Untersuchung der Kommission durch die Warnung anderer Unternehmen über bevorstehende Nachprüfungen zu verhindern, einen wesentlichen erschwerenden Umstand darstellten.
65. Vor dem Gericht erster Instanz hat SGL vorgetragen, dass die Warnanrufe nicht mit einer Erhöhung der Geldbuße geahndet werden könnten, da sie keine Gesetzesverstöße darstellten. Außerdem hat sie betont, dass die Warnungen auf Informationen gestützt gewesen seien, die ein Beamter der Kommission habe durchsickern lassen. Dazu komme, dass UCAR, die nach Warnungen ihre Akten überprüft und die belastenden Unterlagen vernichtet oder entfernt habe, von der Kommission für dieses Verhalten nicht bestraft worden sei.
66. Das Gericht erster Instanz hat festgestellt: „Auch die Tatsache, dass SGL andere Unternehmen vor den bevorstehenden Nachprüfungen warnte, durfte als erschwerender Umstand gewertet werden (in diesem Sinne auch Urteil des Gerichts vom 14. Mai 1998 in der Rechtssache T‑334/94, Sarrió/Kommission, Slg. 1998, II‑1439, Randnr. 320). Entgegen dem Vorbringen von SGL handelte es sich dabei nicht um eine spezielle und eigenständige, im Vertrag und in der Verordnung Nr. 17 nicht vorgesehene Zuwiderhandlung, sondern um ein Verhalten, das die Schwere der ursprünglichen Zuwiderhandlung erhöhte. Durch diese an andere Kartellmitglieder gerichteten Warnungen versuchte SGL nämlich, die Existenz des Kartells zu verschleiern und dessen Fortbestand zu sichern, was ihr im Übrigen auch bis März 1998 gelang.“(24)
67. In diesem Zusammenhang ist auch entschieden worden, dass die Bezugnahme von SGL auf Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 17 fehlgehe, weil in dieser Bestimmung solche Behinderungen als eigenständige und vom etwaigen Vorliegen eines Kartells unabhängige Zuwiderhandlungen angesehen würden, während die Warnungen von SGL die Fortführung eines Kartells hätten sichern sollen, von dem festgestanden habe, dass es einen eindeutigen und unbestreitbaren Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft dargestellt habe(25).
68. Was die Berufung von SGL auf den Grundsatz der Gleichbehandlung mit UCAR angeht, bei der die Vernichtung von Unterlagen nicht als erschwerender Umstand berücksichtigt wurde, hat das Gericht erster Instanz entschieden, dass dies nichts an der Einstufung der genannten Warnungen als erschwerender Umstand ändern könne. Das Gericht erster Instanz hat ausgeführt: „Da sich diese Warnungen an andere Unternehmen richteten, gingen sie über die rein interne Sphäre von SGL hinaus und zielten auf das Scheitern der gesamten Untersuchung der Kommission ab, um die Weiterführung des Kartells zu gewährleisten, während UCAR ihre Unterlagen vernichtete, um die Aufdeckung ihrer eigenen Verwicklung in das Kartell zu verhindern. Es handelt sich dabei um zwei verschiedene Verhaltensweisen, so dass der Kommission nicht vorgeworfen werden kann, vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich behandelt zu haben.“
69. Wie oben erwähnt, beruft sich SGL zur Begründung ihres Begehrens, dass dieser Teil des angefochtenen Urteils aufzuheben ist, auf drei Rechtsrügen.
70. Was den angeblichen Verstoß gegen den Grundsatz nulla poena sine lege angeht, verweist SGL auf Artikel 7 EMRK und Artikel 49 Absatz 1 der Grundrechtecharta. Sie verweist auch auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes, nach der feststehe, dass eine Sanktion, selbst wenn sie keinen strafrechtlichen Charakter habe, nur verhängt werden könne, wenn sie auf eine klare und eindeutige Rechtsgrundlage gestützt sei. SGL macht geltend, die Erhöhung des Grundbetrags wegen der Warnung anderer Mitglieder des Kartells verstoße gegen diesen Grundsatz, da diese Warnungen gegen keine Verbotsbestimmung verstießen. Es sei weder ein Tatbestandsmerkmal des Artikels 15 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 17 noch könne es als ein Tatbestandsmerkmal der in den Artikeln 81 EG sowie in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 niedergelegten Verbotsregelung angesehen werden. Die Rechtsmittelführerin macht geltend, die Verordnung Nr. 17 und die neue Verordnung Nr. 1/2003 sähen Sanktionen nur für den Fall von Behinderungen während einer Nachprüfung an Ort und Stelle vor. Solange keine Anordnung für eine Nachprüfung ergangen sei, gebe es keine Vorschrift, die die Vernichtung von Unterlagen verbiete. Es gebe überhaupt keine Regelung, die es verbiete, andere Kartellmitglieder zu warnen. Die Kommission und das Gericht erster Instanz dürften die Rechtslage nicht durch eine Erhöhung der Geldbuße auf dem Weg umgehen, dass sie dieses Verhalten zu Unrecht als erschwerenden Umstand einstuften.
71. SGL macht geltend, das Gericht erster Instanz habe auch gegen den Grundsatz in dubio pro reo verstoßen, weil es seine Beurteilung auf Annahmen gestützt habe. Dazu führt sie aus, das Sarrió‑Urteil sei auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar, weil die Verschleierung kein Bestandteil der Kartellabsprachen zwischen dessen Mitgliedern sei. Zweitens sei die Annahme des Gerichts erster Instanz, dass nämlich SGL die anderen Mitglieder des Kartells gewarnt habe, um das Bestehen des Kartells zu verschleiern und dessen Fortbestand zu sichern, und dass ihr dies bis März 1998 gelungen sei, weder erwiesen noch plausibel.
72. Schließlich trägt SGL vor, die Erhöhung der Geldbuße wegen der Warnung anderer Kartellmitglieder laufe, verglichen damit, dass UCAR wegen der Vernichtung von Unterlagen nicht mit einer Geldbuße belegt worden sei, auf Diskriminierung hinaus.
73. Nach dem Vorbringen der Kommission sind die erste und die dritte Rüge unzulässig. In jedem Fall seien die drei Rügen zurückzuweisen. Was das angebliche Fehlen einer Rechtsgrundlage betrifft, macht die Kommission geltend, SGL vergesse, dass die Kommission nicht spezifisch eine Geldbuße wegen der Warnung der anderen Kartellmitglieder festgesetzt habe, sondern dass sie dieses Verhalten als erschwerenden Umstand im Rahmen der Bemessung der Geldbuße gewertet habe. Was die angebliche diskriminierende Behandlung angeht, trägt die Kommission vor, diese Warnung anderer Kartellmitglieder sei mit der Vernichtung von Unterlagen nicht vergleichbar. In diesem Zusammenhang führt die Kommission aus, dass SGL sich nicht darauf beschränkt habe, eigene Unterlagen beiseite zu schaffen oder zu vernichten oder die Anfertigung belastender Unterlagen zu vermeiden, sondern dabei geholfen habe, die Nachprüfung bei anderen Unternehmen zu vereiteln. Schließlich macht die Kommission geltend, die Rüge betreffend die angeblichen Annahmen des Gerichts erster Instanz sei nicht überzeugend.
Beurteilung
74. In einem Rechtsmittelverfahren ist es Sache des Gerichtshofes, festzustellen, ob dem Gericht erster Instanz Rechts‑ oder Begründungsfehler unterlaufen sind oder ob es Beweise nicht richtig gewürdigt hat.
75. Im angefochtenen Urteil hat das Gericht erster Instanz entschieden, dass die Erhöhung der Geldbuße wegen der Warnung anderer Unternehmen nicht unverhältnismäßig oder diskriminierend gewesen sei, und hat die Qualifizierung des Obstruktionsverhaltens der SGL durch die Kommission bestätigt.
76. Es ist die Frage zu stellen, ob SGL Recht hat, wenn sie feststellt, dass es keine Rechtsgrundlage für die Ahndung von Behinderungen gebe, außer im Fall einer von der Kommission mit einer Entscheidung gemäß Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 angeordneten Nachprüfung.
77. Meines Erachtens hat das Gericht erster Instanz zu Recht entschieden, dass das in Frage stehende Verhalten keine spezielle und eigenständige Zuwiderhandlung darstellte, sondern ein Verhalten, das erschwerend zu der ursprünglichen Zuwiderhandlung hinzukam. Dass Artikel 15 Absatz 1 sich auf bestimmte Behinderungen in einem speziellen Rahmen bezieht, die eigenständige Zuwiderhandlungen darstellen, bedeutet nicht, dass ein Verhalten außerhalb dieses Rahmens nicht zu der Schwere einer Zuwiderhandlung gegen Artikel 81 EG oder Artikel 82 EG beitragen kann.
78. Was das letztgenannte Verhalten angeht, findet sich die Rechtsgrundlage für eine Erhöhung der Geldbuße tatsächlich in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17(26). Somit hat SGL Unrecht, soweit das angebliche Fehlen einer Rechtsgrundlage betroffen ist. Es liegt kein Verstoß gegen den Grundsatz nulla poena sine lege vor.
79. In diesem Zusammenhang weise ich auf die feststehende Rechtsprechung hin, wonach die Höhe der Geldbuße nach der Schwere der (ursprünglichen) Zuwiderhandlung festgesetzt wird, die Schwere der Zuwiderhandlung nach Maßgabe zahlreicher Faktoren zu bestimmen ist, die Kommission einen Ermessensspielraum bei der Festsetzung von (Bestandteilen der) Geldbußen hat und auch jederzeit die Höhe der Geldbußen anpassen darf, um die Einhaltung der Wettbewerbsregeln sicherzustellen. Die Berücksichtigung erschwerender Umstände bei der Festsetzung der Geldbuße besteht in Einklang mit der Aufgabe der Kommission, die Einhaltung der Wettbewerbsregeln sicherzustellen. In diesem Zusammenhang verweise ich auch auf das Verzeichnis von Beispielen für erschwerende Umstände, das in den Leitlinien unter 2. wiedergegeben ist.
80. Das Verzeichnis erschwerender Umstände, die eine Erhöhung der Geldbuße rechtfertigen, ist nicht erschöpfend, wie sich aus dem letzten Gedankenstrich entnehmen lässt, aber dies braucht auch nicht der Fall zu sein. Die Beantwortung der Frage, ob ein erschwerender Umstand vorliegt, der eine Erhöhung der Geldbuße rechtfertigt, wird von dem jeweiligen Einzelfall abhängen. Es versteht sich von selbst, dass der erschwerende Umstand, der eine Erhöhung der Geldbuße rechtfertigt, (ein Bestandteil der oder) hinreichend mit der Zuwiderhandlung verknüpft sein muss. So muss – zur Veranschaulichung – bei einem Rückfall klar sein, dass das betroffene Unternehmen bereits eine gleichartige Zuwiderhandlung begangen hat. Ist dem so, so kommt eine erneute Beteiligung an einer ähnlichen Zuwiderhandlung zu der Zuwiderhandlung, um die es geht, erschwerend hinzu. Dasselbe gilt für Gewinne, die infolge der Zuwiderhandlung erzielt werden. Diese Gewinne stellen einen der Faktoren dar, der bei der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen ist. Wenn es objektiv möglich ist, die Höhe von unlauter erzielten Gewinnen zu schätzen, werden diese ihren Ausdruck in einer Erhöhung der Geldbuße finden. Das Gleiche lässt sich in Bezug auf Obstruktionsverhalten oder Warnungen gegenüber anderen Kartellmitgliedern sagen, die sich als Behinderung auswirken.
81. Ein Kartellmitglied, das, auf welche Weise auch immer, von einer möglichen bevorstehenden Untersuchung unterrichtet wird, kann unterschiedlich reagieren: 1. Es kann die anderen Mitglieder warnen und vorschlagen, das Kartell zu beenden, 2. es kann die anderen Mitglieder warnen und vorschlagen, das Kartell fortzusetzen, was dann impliziert, dass auch Maßnahmen zur Verschleierung des Kartells getroffen werden, wie z. B. die Vernichtung belastender Unterlagen, und 3. statt die anderen Mitglieder zu warnen, kann es sich dafür entscheiden, sich die Politik der Sanktionsmilderung der Kommission dadurch zu Nutzen zu machen, dass es mit der Kommission zusammenarbeitet.
82. Es lässt sich daher nicht sagen, dass die Warnung der anderen Kartellmitglieder vor einer bevorstehenden Untersuchung unvermeidlich die Schwere einer Zuwiderhandlung erhöht; meiner Ansicht nach waren die Kommission und das Gericht erster Instanz in der vorliegenden Rechtssache jedoch zu der Feststellung berechtigt, dass dies der Fall war. In seiner früheren Rechtsprechung hat das Gericht erster Instanz bestätigt, dass die Feststellung der Kommission, dass der Umstand, dass Unternehmen sich nicht nur der Rechtswidrigkeit ihres Verhaltens bewusst waren, sondern auch Schritte unternahmen, es zu verschleiern, zu einer Zuwiderhandlung erschwerend hinzukomme. Die im vorliegenden Fall ausgesprochenen Warnungen liegen auf der gleichen Linie. In der vorliegenden Rechtssache wurden die Warnungen von SGL, einem bedeutenden europäischen Mitglied des Kartells, gegenüber anderen (europäischen) Kartellmitgliedern ausgesprochen. Auch steht fest, dass diese Warnungen sich auf die Untersuchungen dieses Kartells durch die Kommission ausgewirkt haben, da bis zu dem Zeitpunkt, in dem die Kommission in den Räumlichkeiten der an dem Kartell beteiligten Unternehmen Durchsuchungen im Morgengrauen durchführte, viele Beweise verloren gegangen waren. Für die Kommission stellten diese Tatsachen objektive Gründe dafür dar, die Warnungen als erschwerenden Umstand zu qualifizieren, der eine Erhöhung der Geldbuße rechtfertigte. Meiner Ansicht nach fehlt es dem Vorbringen von SGL, seine eigene Absicht bei der Warnung der anderen Kartellmitglieder habe darin bestanden, diese zu beeindrucken, an Überzeugungskraft. Die Wirkung der Warnungen deutet stark in eine andere Richtung. Das Gericht erster Instanz war daher zu der Schlussfolgerung berechtigt, dass durch die Warnungen das Kartell verschleiert und seine Fortsetzung sichergestellt werden sollte und dass dies bis zu einem gewissen Zeitpunkt damit gelang, ohne gegen den Grundsatz in dubio pro reo zu verstoßen. Übrigens hätte SGL, wie ich in der vorstehenden Nummer ausgeführt habe, sich, als sie von einer möglichen bevorstehenden Untersuchung hörte, auch dafür entscheiden können, mit der Kommission im Rahmen der Mitteilung über Zusammenarbeit zu kooperieren; in diesem Fall hätte sie in den Genuss einer viel höheren Herabsetzung der Geldbuße kommen können. Ihre Entscheidung zur Zusammenarbeit wurde in einem viel späteren Stadium getroffen. Sie hat sich auch in einem späteren Stadium dafür entschieden, dem Kartell ein Ende zu machen.
83. Die Rüge, mit der eine Diskriminierung geltend gemacht wird, ist ebenfalls zurückzuweisen. Es ist wichtig, eine Unterscheidung zwischen externen und internen Wirkungen eines Verhaltens zu treffen, wie es das Gericht erster Instanz getan hat. In der Tat gibt es keine allgemeine Verpflichtung des Inhalts, belastende Unterlagen aufzubewahren. Um die Entdeckung seiner Beteiligung an einem Kartell zu verhindern, kann das betroffene Unternehmen sich daher als eine interne Angelegenheit dafür entscheiden, derartige Unterlagen zu vernichten (es sei denn, die systematische Verschleierung ist Teil eines Planes wie in der Rechtssache Sarrió). Dieses Verhalten kann als solches nicht als ein erschwerender Umstand angesehen werden. An ein anderes Kartellmitglied gerichtete Warnungen erzeugen jedoch Wirkungen, die über die rein interne Sphäre hinausgehen. Durch sie soll die gesamte Untersuchung der Kommission vereitelt werden. Der Gerichtshof hat daher zu Recht entschieden, dass es sich dabei um zwei verschiedene Verhaltensweisen handelt und daher der Kommission nicht vorgeworfen werden kann, vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich behandelt zu haben.
D – Vierter Rechtsmittelgrund
84. Mit diesem Rechtsmittelgrund macht SGL geltend, 1. das Gericht erster Instanz habe in den Randnummern 366 bis 368 des Urteils nicht berücksichtigt, dass die von der Kommission festgesetzte Geldbuße (in ihrem Zwischenbetrag) über die in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung niedergelegte Obergrenze für eine Geldbuße hinausgehe, 2. dass dies auf einen Verstoß gegen den Grundsatz nulla poene sine lege und 3. gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz hinauslaufe und dass darüber hinaus in dieser Hinsicht 4. die Begründung mangelhaft sei.
85. SGL macht geltend, das Gericht erster Instanz habe nicht berücksichtigt, dass ein Teil des Umsatzes im Jahr 2000 einer anderen Gesellschaft hätte zugerechnet werden müssen, die SGL zu Anfang des Jahres 2000 und damit nach der Beendigung der Zuwiderhandlung (im März 1998) erworben habe. Dabei verweist SGL auf das Zement‑Urteil(27). Außerdem verweist SGL auf ihre Beschwerde über die Dauer des Verwaltungsverfahrens, da die sich daraus ergebende Verzögerung sich auf ihre finanziellen Umsätze nachteilig auswirke. Die Kommission hätte daher von den Umsatzzahlen des Jahres 1999 ausgehen müssen.
86. Ferner habe das Gericht erster Instanz trotz des ausführlichen Vorbringens vor diesem Gericht die Frage offen gelassen, ob die Kommission die Umsatzzahlen des Jahres 1999 (980 Mio. Euro) oder des Jahres 2000 (1,08 oder 1,26 Mrd. Euro) hätte heranziehen müssen. Mit der Entgegnung, dass es allein darauf ankomme, dass die letztlich verhängte Geldbuße nicht über 10 % des weltweiten Umsatzes hinausgehe, d. h., nachdem erschwerende oder mildernde Umstände berücksichtigt worden seien und Herabsetzungen aus Strafmilderungsgründen vorgenommen worden seien, und dass die in Bezug auf das übermäßig lange Verwaltungsverfahren und das Zement‑Urteil vorgebrachten Argumente unerheblich seien(28), habe das Gericht erster Instanz übersehen, dass die Kommission die Obergrenze von 10 % des Umsatzes im vorangehenden Geschäftsjahr bei UCAR vor der Anwendung über die Mitteilung der Zusammenarbeit angewandt habe. Das Gericht erster Instanz habe daher in Randnummer 353 des angefochtenen Urteils zu Unrecht die Ansicht vertreten, dass SGL nicht in der gleichen Lage wie UCAR gewesen sei. SGL macht geltend, die Annahme des Gerichts erster Instanz sei nicht zutreffend gewesen. Der Gesamtumsatz von SGL im Jahr 1999 wie auch der Umsatz im Jahr 2000, vermindert um den der Firma Keramchemie zugeschriebenen Umsatz, sei der Art gewesen, dass die 10 %-Obergrenze vor der Anwendung der Mitteilung über Zusammenarbeit überschritten gewesen sei. Das Gericht erster Instanz sei daher nicht berechtigt gewesen, die Frage, welches Umsatzjahr relevant gewesen sei, offen zu lassen.
87. Zweitens kritisiert SGL die Feststellungen des Gerichts erster Instanz in Randnummer 368 des angefochtenen Urteils, wo ausgeführt wird, dass keine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts minimale oder maximale Verwaltungssanktionen für die verschiedenen Kategorien von Zuwiderhandlungen festlege und dass es der Kommission daher grundsätzlich freistehe, die Höhe der Geldbußen anhand der Schwere und Dauer der Zuwiderhandlungen zu bestimmen, vorausgesetzt, dass der Endbetrag der Geldbuße die in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 vorgesehene Obergrenze von 10 % nicht überschreite. Dazu trägt SGL unter Verweisung auf Artikel 7 EMRK und Artikel 49 Absatz 1 der Grundrechtecharta vor, dass die Obergrenze von 10 %, die eine echte Sanktionsobergrenze darstelle, unter keinen Umständen überschritten werden dürfe und dass sie auch für die Zwischenrechnungen der Geldbuße gelte.
88. Drittens macht SGL einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz mit der Begründung geltend, dass die Kommission den die Höchstgrenze von 10 % überschreitenden Betrag im Fall der Firma UCAR vor der Anwendung der Mitteilung über Zusammenarbeit reduziert habe. Dabei verweist SGL auf die ebenfalls vom Gericht erster Instanz getroffene Feststellung (Randnr. 232), dass die Kommission ihre eigene Methode korrekt, schlüssig und vor allem ohne Diskriminierung anwenden müsse. Die Kommission habe daher zu Unrecht festgestellt, dass der vor der Anwendung der Mitteilung über Zusammenarbeit festgesetzte Grundbetrag nur im Fall der UCAR die zulässige Höchstgrenze überschritten habe.
89. Schließlich trägt SGL vor, das Gericht erster Instanz habe rechtsfehlerhaft verneint, dass eine Verletzung der Begründungspflicht vorgelegen habe. Entgegen der vom Gericht erster Instanz zum Ausdruck gebrachten Auffassung macht SGL geltend, dass die Kommission in der Entscheidung die Gründe dafür hätte angeben müssen, warum sie vor Anwendung der Mitteilung über Zusammenarbeit bei UCAR eine Ermäßigung vorgenommen habe und dies im Fall von SGL nicht getan habe. Die Vorgehensweise der Kommission habe SGL benachteiligt, weil ihre Lage ähnlich gewesen sei. Die Kommission habe daher gegen Artikel 253 EG verstoßen.
90. Die Kommission merkt an, das Gericht erster Instanz habe diese Argumente in den Randnummern 366 bis 368 des angefochtenen Urteils bereits zu Recht zurückgewiesen. Weder die von der Kommission verhängte Geldbuße noch die vom Gericht erster Instanz herabgesetzte Geldbuße überschreite den Schwellenwert des Artikels 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17.
Beurteilung
91. Was die angeblich falsche Auslegung durch das Gericht erster Instanz angeht, möchte ich folgende Anmerkungen machen. Die Vorgehensweise der Kommission bei der Festsetzung der Geldbußen ist bereits erläutert worden. Wie das Gericht erster Instanz zutreffend ausgeführt hat, war die Aufteilung in drei Gruppen auf Umsatzzahlen für 1998, das Jahr, in dem die Zuwiderhandlung zu Ende ging, und Marktanteile in vorangehenden Jahren gestützt. Es lässt sich daher nicht sagen, dass das Gericht erster Instanz diesen Punkt nicht behandelt hätte. Darüber hinaus gibt es, wie die Kommission ebenfalls ausgeführt hat, einen Unterschied zwischen der Berechnung der Geldbuße einerseits und dem Bemühen, sicherzustellen, dass die Geldbuße nach Abschluss der Berechnung den in der Verordnung Nr. 17 festgelegten 10 %‑Höchstbetrag nicht überschreitet, andererseits. Das Bezugsjahr für diese Berechnung braucht nicht dasselbe zu sein. Wie bereits erklärt, ist die Berechnung der Geldbuße auf Zahlen für das Jahr 1998 gestützt. Um festzustellen, ob der Höchstbetrag erreicht war, berücksichtigte die Kommission die Umsatzzahlen des Jahres 2000, was nach Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 der richtige Bezugspunkt war. Es liegt daher auch keine Unvereinbarkeit mit dem Zement‑Urteil vor.
92. Das Gericht erster Instanz hat das Vorbringen, dass das Verfahren zu lang gewesen sei, zurückgewiesen. SGL trägt kein überzeugendes neues Argument dafür vor, wie das Gericht erster Instanz in dieser Hinsicht fehlgegangen wäre.
93. Was das Vorbringen zum Verstoß gegen den Grundsatz nulla poena sine lege angeht, verweise ich auf das kürzlich ergangene Urteil in der Rechtssache Fernwärmetechnik‑Kartell(29). Durch dieses Urteil wird klargestellt, dass Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 der Kommission nicht verbietet, bei ihrer Berechnung einen Zwischenbetrag heranzuziehen, der diese Grenze übersteigt, und ebenso wenig untersagt, Zwischenrechnungen, mit denen Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung berücksichtigt werden, an einem über der Obergrenze liegenden Betrag vorzunehmen(30). Somit darf nur der Betrag, der letztlich gegen ein Unternehmen festgesetzt wird, die 10 %‑Grenze nicht übersteigen.
94. Es liegt auch kein Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung vor. Das Gericht erster Instanz hat lediglich festgestellt, dass auf der Grundlage der Umsatzzahlen von SGL und denjenigen von UCAR die Stellung von SGL nicht ähnlich gewesen sei.
95. Dass die Kommission in der Entscheidung selbst nicht dargelegt hat, dass sie den Betrag der Geldbuße von UCAR vor der Anwendung der Mitteilung über Zusammenarbeit herabgesetzt hat, berührt SGL nicht.
E – Fünfter Rechtsmittelgrund
96. Mit diesem Rechtsmittelgrund beanstandet SGL, dass die Bedeutung bestimmter Dokumente, in die sie keine Einsicht erhalten habe, nicht ausreichend beachtet worden sei. Zusätzlich zu ihrem Vorbringen in erster Instanz macht SGL geltend, dass neue belastende Unterlagen, von denen sie keine Kenntnis gehabt habe und zu denen sie vorher nicht habe Stellung nehmen können, in der Entscheidung durch das Gericht erster Instanz sogar erstmals verwandt worden seien.
97. SGL behauptet, die Feststellung des Gerichts erster Instanz sei widersprüchlich. Zunächst habe es entschieden, dass die Unterlagen über die Zusammenarbeit der Unternehmen nicht in den internen Akten geführt würden, sondern zur Ermittlungsakte gehörten, die den Unternehmen zugänglich gemacht worden sei(31). In der Folge habe sich jedoch herausgestellt, dass die internen Akten von UCAR gegebene und die Zusammenarbeit von Unternehmen betreffende Auskünfte enthalten hätten, die Beweiswert gehabt hätten oder die das Gericht erster Instanz jedenfalls als Beweismittel herangezogen habe und die für ihre Verteidigung hätten nützlich sein können(32).
98. Erst während des Verfahrens vor dem Gericht erster Instanz habe SGL erfahren, dass UCAR die Kommission davon unterrichtet habe, dass das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung in Bezug auf den Beamten, der angeblich für das Durchsickern von Informationen verantwortlich gewesen sei, tätig geworden sei und dass in Italien ein Strafverfahren gegen den betroffenen Beamten eingeleitet worden sei(33). SGL nimmt an, dass diese Information sich ebenfalls in der internen Akte der Kommission befunden habe und Material darstelle, das für ihre Verteidigung von Nutzen gewesen wäre.
99. Auch diese Schriftstücke könnten nicht als interne und damit als nicht einsehbare Schriftstücke klassifiziert werden. Dies ergebe sich aus der Mitteilung der Kommission über interne Verfahrensvorschriften für die Behandlung von Anträgen auf Akteneinsicht(34). Aus dieser Mitteilung und aus der Rechtsprechung(35) folge auch, dass Beweisunterlagen rechtzeitig zugänglich gemacht werden müssten. Entgegen der vom Gericht erster Instanz zum Ausdruck gebrachten Auffassung(36) habe daher keine Notwendigkeit bestanden, eine Liste oder eine nichtvertrauliche Zusammenfassung der Unterlagen anzufordern, die geheime oder vertrauliche Elemente enthielten. Die Kommission hätte daher die nicht einsehbaren Dokumente angeben müssen.
100. Aus demselben Grund enthalte der Bericht des Anhörungsbeauftragten Fehler. Nach der oben genannten Mitteilung müsse, was die Akteneinsicht angehe, die Ablage der internen (nicht einsehbaren) Dokumente unter Aufsicht des Anhörungsbeauftragten erfolgen, der gegebenenfalls bestätigen werde, dass die darin enthaltenen Papiere „interne Schriftstücke“ darstellten(37). In dem Bericht würden die von SGL erhobenen Rügen nicht erwähnt. Das Gericht erster Instanz habe daher zu Unrecht festgestellt, dass der Anhörungsbeauftragte dem Kollegium der Kommissionsmitglieder nur die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Ablaufs des Verwaltungsverfahrens relevanten Rügen mitteilen müsse. Der Abschlussbericht wäre überflüssig, wenn er nur begründete Rügen enthalten müsste.
Beurteilung
101. Soweit SGL geltend macht, ihr Schreiben an die Kommission enthalte zusätzlich zu dem Antrag auf Einsichtnahme in die internen Dokumente der Kommission einen Antrag auf Zurverfügungstellung einer Liste oder nichtvertraulichen Zusammenfassung der Unterlagen, die geheime oder vertrauliche Elemente enthielten, ist ihr Vorbringen zurückzuweisen. Die Rechtsmittelführerin rügt keinen rechtlichen Gesichtspunkt, sondern eine Tatsachenfeststellung. Diesbezüglich hat das Gericht erster Instanz festgestellt, dass der Antrag von SGL sich nicht auf eine Liste oder eine nichtvertrauliche Zusammenfassung bezogen habe.
102. Soweit SGL geltend macht, der Abschlussbericht des Anhörungsbeauftragten enthalte Fehler, ist ihr Vorbringen ebenfalls zurückzuweisen. Erstens bestand, was die angeblich unrichtige Ablage bestimmter Dokumente als interne Dokumente angeht, zur maßgeblichen Zeit für den Anhörungsbeauftragten keine Notwendigkeit, festzustellen, ob die Ablage als interne Dokumente richtig war oder nicht. Eine derartige Kontrolle wird nur „gegebenenfalls“ durchgeführt, wie sich aus dem Wortlaut von Punkt II.A.2 der Mitteilung ergibt. SGL hat diese Frage vor dem Anhörungsbeauftragten nicht angesprochen, sondern lediglich beanstandet, dass die Kommission ihr keine Einsicht in ihre interne Akte gegeben oder keine Liste oder Zusammenfassung vertraulicher Dokumente zur Verfügung gestellt habe. Zweitens hat das Gericht erster Instanz dieses Vorbringen in den Randnummern 50 bis 54 des angefochtenen Urteils bereits zutreffend behandelt. SGL hat kein stichhaltiges neues Argument vorgebracht.
103. Was die die Zusammenarbeit von Unternehmen betreffenden Dokumente angeht, darf nicht vergessen werden, dass das Gericht erster Instanz diese Dokumente zur Unterstützung des Antrags von UCAR auf eine stärkere Herabsetzung der Geldbuße unter Berücksichtigung von Informationen verwandt hat, die UCAR der Kommission, sei es auch mündlich, geliefert hatte (und die in einem internen Vermerk wiedergegeben worden waren, der von Beamten der Kommission erstellt und nicht in die Ermittlungsakte der Kommission aufgenommen worden war). In diesem Zusammenhang hat das Gericht erster Instanz, das entschieden hat, dass nicht schriftlich niedergelegte Informationen im Rahmen der Strafmilderungspolitik der Kommission ebenfalls erheblich seien, diese belastenden Unterlagen nicht gegen SGL verwendet. SGL hat nicht erklärt, wie ihre Verteidigungsrechte in dieser Hinsicht hätten berührt sein können. Das Gleiche gilt für das angebliche interne Dokument über die OLAF‑Untersuchung. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass SGL ihre Beteiligung an dem Kartell gegenüber der Kommission zugegeben hat und im Rahmen der Mitteilung über Zusammenarbeit selbst mit der Kommission kooperiert hat.
104. Abgesehen davon ist es – selbst wenn die Kommission verpflichtet war, diese Dokumente oder zumindest ihre Existenz bekannt zu geben – feststehende Rechtsprechung, dass die unterbliebene Übermittlung eines Schriftstücks nur dann eine Verletzung der Verteidigungsrechte darstellt, wenn das betreffende Unternehmen erstens dartut, dass sich die Kommission zur Untermauerung ihres Vorwurfs, dass eine Zuwiderhandlung vorliege, auf dieses Schriftstück gestützt hat und, zweitens, dass dieser Vorwurf nur durch Heranziehung dieses Schriftstücks belegt werden kann. Gibt es überdies andere Belege, von denen die Parteien im Verwaltungsverfahren Kenntnis hatten und die speziell die Schlussfolgerungen der Kommission stützen, so würde der Wegfall des nicht übermittelten Belegs als Beweismittel die Begründetheit der in der angefochtenen Entscheidung erhobenen Vorwürfe nicht beeinträchtigen. Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass das betroffene Unternehmen dartun muss, dass das Ergebnis, zu dem die Kommission in ihrer Entscheidung gekommen ist, anders ausgefallen wäre, wenn ein nicht übermitteltes Schriftstück, auf das die Kommission ihre Vorwürfe gegen dieses Unternehmen gestützt hat, als belastendes Beweismittel ausgeschlossen werden müsste(38).
105. Wie oben festgestellt, rügt SGL, dass ihr in Bezug auf die Zusammenarbeit anderer Unternehmen keine ausreichende Akteneinsicht gewährt worden sei, erklärt aber nicht, wie dies ihre Stellung hätte beeinträchtigen können.
F – Sechster Rechtsmittelgrund (Leistungsfähigkeit)
106. Mit diesem Rechtsmittelgrund beanstandet SGL die kategorische Entscheidung, ihre herabgesetzte finanzielle Leistungsfähigkeit bei der Berechnung der Geldbuße nicht zu berücksichtigen. SGL macht geltend, eine solche Unterlassung stelle einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und einen Angriff auf ihre Eigentumsfreiheit dar. SGL trägt vor, im Rahmen des Wettbewerbsrechts verhängte Sanktionen dürften die Existenz derjenigen, gegen die die Sanktionen verhängt würden, nicht gefährden, und das funktionsfähige Unternehmen müsse der Standard sein, anhand dessen die Angemessenheit und die Ordnungsmäßigkeit von Sanktionen in Einzelfällen zu beurteilen seien. Es sei im Allgemeinen unzulässig, sich auf die Teile eines Unternehmens zu konzentrieren, die nach einem durch die Verhängung einer Geldbuße herbeigeführten Konkurs noch gerettet werden könnten. Jede Geldbuße müsse in der Weise berechnet werden, dass keine wirtschaftlichen „Todesurteile“ verhängt würden.
107. In der angefochtenen Entscheidung ist die Kommission nach der Prüfung der Finanzlage von SGL zu dem Ergebnis gelangt, dass es nicht angebracht sei, die Höhe der Geldbuße anzupassen. Diese Feststellung ist vom Gericht erster Instanz bestätigt worden. Es hat unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung entschieden, dass die Kommission nicht verpflichtet sei, die defizitäre finanzielle Lage eines betroffenen Unternehmens bei der Bemessung der Geldbuße zu berücksichtigen, da die Anerkennung einer solchen Verpflichtung darauf hinauslaufen würde, den am wenigsten den Marktbedingungen angepassten Unternehmen einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil zu verschaffen Das Gericht erster Instanz hat ausgeführt, dass die Verpflichtung, die tatsächliche Zahlungsfähigkeit eines Unternehmens zu berücksichtigen, nur im „gegebenen sozialen Umfeld“ bestehe, das in den Auswirkungen bestehe, die die Zahlung der Geldbuße u. a. in Form einer Zunahme der Arbeitslosigkeit oder einer Beeinträchtigung der dem betreffenden Unternehmen vor‑ und nachgelagerten Wirtschaftssektoren hätte. Außerdem hat es festgestellt, dass die Tatsache, dass eine Maßnahme einer Gemeinschaftsbehörde zum Konkurs oder zur Auflösung eines bestimmten Unternehmens führe, als solche gemeinschaftsrechtlich nicht zu beanstanden sei(39).
Beurteilung
108. Soweit SGL rügt, dass das Gericht erster Instanz ihr Vorbringen zurückgewiesen habe, dass die Kommission die Fähigkeit von SGL, die Geldbuße zu bezahlen, hätte berücksichtigen müssen und den Betrag der Geldbuße auf einem Niveau festgesetzt habe, das das Überleben von SGL bedroht habe, kann die Rüge nicht aufrechterhalten werden. Wie das Gericht erster Instanz zutreffend entschieden hat, ist die Kommission nicht verpflichtet, bei der Bemessung der Geldbuße die schlechte Finanzlage eines Unternehmens zu berücksichtigen, da die Anerkennung einer solchen Verpflichtung darauf hinauslaufen würde, den am wenigsten den Marktbedingungen angepassten Unternehmen einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil zu verschaffen(40).
109. Soweit SGL geltend macht, dass die Kommission die bereits von Behörden von Drittländern verhängten Geldbußen, die den Faktor dargestellt hätten, der die verminderte Leistungsfähigkeit verursacht habe, hätte berücksichtigen müssen, kann auch dieses Argument nicht aufrechterhalten werden. Auch wenn Leistungsfähigkeit sich von dem Konzept des ne bis in idem unterscheidet, so ist die Kommission doch in beiden Fällen nicht verpflichtet, durch die Behörden von Drittländern verhängte Geldbußen zu berücksichtigen.
110. Leistungsfähigkeit ist somit kein relevantes Kriterium für die Festsetzung von Geldbußen. Dies bedeutet nicht, dass die Kommission eine verminderte Leistungsfähigkeit nicht berücksichtigen könnte. In den Urteilen des Gerichtshofes, in denen es um die Leistungsfähigkeit geht, hat der Gerichtshof lediglich entschieden, dass die Kommission nicht verpflichtet ist, die Finanzlage des betreffenden Unternehmens zu berücksichtigen. Er hat der Kommission nicht verboten, dies zu tun.
111. Die Leistungsfähigkeit (Steuerkraft) wird jetzt in den Leitlinien der Kommission in Nummer 5 Buchstabe b unter der Überschrift „Allgemeines“ ausdrücklich erwähnt. Wie das Gericht erster Instanz in Randnummer 371 seines Urteils zutreffend ausgeführt hat, stellt dieser Punkt die Rechtsprechung in diesem Zusammenhang nicht in Frage. Zweitens: Wenn in den Richtlinien festgestellt wird, dass die tatsächliche Steuerkraft der an dem Verstoß Beteiligten in einem gegebenen Umfeld zu berücksichtigen sei und die Geldbußen entsprechend anzupassen seien, so steht dies unter dem Vorbehalt „kann es je nach Fall angezeigt sein“ und, und wie das Gericht erster Instanz zutreffend angemerkt hat, unter dem Vorbehalt „in einem gegebenen sozialen Umfeld“. Es gibt daher in dieser Sache keinen Automatismus.
112. SGL rügt auch die Auffassung, dass Sanktionen zu ihrem Ausscheiden aus dem Markt führen dürften. Sie trägt vor, dass dies auf eine Verletzung ihres Eigentumsrechts hinauslaufe und verweist in diesem Zusammenhang auf die Artikel 16 und 17 der Grundrechtecharta der Europäischen Union. Zweitens beanstandet sie die gezogene Parallele mit der Rechtsprechung zu staatlichen Beihilfen.
113. Was die Verweisung auf die Unternehmensfreiheit und das Eigentumsrecht angeht, sei angemerkt, dass diese Freiheit und dieses Recht Beschränkungen unterliegen. Sie geben daher Kartellen sicherlich keine Carte blanche und bieten keine Rechtfertigung, wenn ein Kartell aufgedeckt wird.
114. Was die Parallele zu staatlichen Beihilfen angeht, hat das Gericht erster Instanz lediglich die allgemeine Anmerkung gemacht – wobei es in dieser Hinsicht auf die Rechtsprechung auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen verwiesen hat –, dass die Tatsache, dass eine Maßnahme einer Gemeinschaftsbehörde zum Konkurs oder zur Auflösung eines bestimmten Unternehmens führe, als solche gemeinschaftsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Dies ist als solches zutreffend, und SGL kann es nicht bestreiten. Im Übrigen möchte ich hinzufügen, dass das Konzept eines wirksamen freien Wettbewerbs u. a. impliziert, dass weniger leistungsfähige Marktteilnehmer normalerweise den Markt verlassen werden. Auch ist bekannt, dass solche nicht leistungsfähigen Marktteilnehmer aufgrund von Kartellen länger überleben können. Die Vorschriften über staatliche Beihilfen und die Wettbewerbsvorschriften haben somit das gemeinsame Merkmal, dass sie beide wettbewerbsfähige Märkte garantieren; in dieser Hinsicht versuchen beide Politiken, Schaden zu verhindern oder ungeschehen zu machen, sei es auch auf unterschiedliche Weise. Die Kommission darf bei ihrer Geldbußenpolitik sicherlich die Auswirkungen ihrer Geldbußen und, wo dies angemessen erscheint, die verminderte Leistungsfähigkeit berücksichtigen. In der Tat wird eine Geldbuße, die über die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft hinausgeht und zum Zahlungsverzug und letztlich zum Konkurs führt, wirkungslos. Im vorliegenden Fall hat die Kommission jedoch die Finanzlage der Rechtsmittelführerin ermittelt, aber keinen Grund dafür gefunden, von ihrer beabsichtigten Geldbuße abzugehen. Außerdem ist der Umstand, dass eine Geldbuße weh tut, weil interne Maßnahmen getroffen werden müssen, um Mittel verfügbar zu machen, für die Kommission nicht von Belang.
115. Das Gericht erster Instanz hat auch zutreffend entschieden, dass SGL aus der so genannten Spezialgraphit‑Entscheidung(41) nichts für sich herleiten kann. In dieser Entscheidung hat die Kommission herabgesetzte Leistungsfähigkeit berücksichtigt. Das Vorbringen von SGL, dass die Kommission in der vorliegenden Rechtssache daher ebenso verfahren müsse, geht an der Sache vorbei. In dieser späteren Entscheidung hat die Kommission die Leistungsfähigkeit von SGL gerade wegen der bereits verhängten gewaltigen Geldbuße und deshalb berücksichtigt, weil es nicht nötig erschien, den gesamten Betrag der Geldbuße zu verhängen, um eine effektive Abschreckung zu erzielen. Das Gericht erster Instanz hat daher zutreffend entschieden, dass der Kommission kein Rechtsfehler oder offensichtlicher Beurteilungsfehler unterlaufen ist.
116. Dieser Rechtsmittelgrund ist zurückzuweisen.
G – Siebter Rechtsmittelgrund (betreffend Verzugszinsen)
117. Im Verfahren vor dem Gericht erster Instanz hat SGL die Rechtmäßigkeit des Zinssatzes und auch die Rechtmäßigkeit des bei der Stellung einer Bankbürgschaft durch ein Unternehmen angewandten Zinssatzes in Abrede gestellt. SGL hat eingeräumt, dass die Kommission berechtigt sei, Zinssätze anzuwenden, um rechtsmissbräuchliche Klagen zu verhindern und sicherzustellen, dass Unternehmen aus verspäteten Zahlungen keine Vorteile ziehen könnten, aber nur soweit, als die in Frage stehenden Sätze die in der Praxis angewandten seien. Nach dem Vorbringen von SGL gibt es keine Gründe dafür, einen solchen Marktzins nochmals um 3,5 Prozentpunkte zu erhöhen.
118. Mit ihrem siebten Rechtsmittelgrund macht SGL geltend, das Gericht erster Instanz sei auf die von ihr erhobenen Rügen nicht eingegangen, sondern habe stattdessen auf der Grundlage einer Rüge entschieden, die SGL nicht erhoben habe.
119. Dieses Vorbringen ist unbegründet.
120. Das Gericht erster Instanz hat in seinem Urteil auf ständige Rechtsprechung verwiesen, nach der feststeht, dass die der Kommission gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 eingeräumte Befugnis das Recht umfasst, den Fälligkeitstermin für Geldbußen und den Beginn der Laufzeit der Verzugszinsen zu bestimmen sowie den Zinssatz für diese Zinsen und die Einzelheiten der Durchführung ihrer Entscheidung festzulegen, wobei sie gegebenenfalls die Stellung einer Bankbürgschaft verlangen kann, die die Hauptforderung und die Zinsen für die festgesetzten Geldbußen abdeckt. Gäbe es eine solche Befugnis nicht, so könnten Unternehmen aus verspäteten Zahlungen Vorteile ziehen und dadurch die Wirkung der Sanktionen abschwächen. Verzugszinsen auf Geldbußen sind daher gerechtfertigt.
121. Das Gericht erster Instanz hat dann auf Rechtsprechung verwiesen, in der es Verzugszinsen in Höhe des Marktzinses zuzüglich 3,5 Prozentpunkte und im Fall der Stellung einer Bankbürgschaft in Höhe des Marktzinses zuzüglich 1,5 Prozentpunkte gebilligt hat und in der es Verzugszinsen in Höhe von bis zu 13,75 % gebilligt und ausgeführt hat, dass die Kommission befugt sei, eine Bezugsgröße zu wählen, die über dem üblichen durchschnittlichen Marktzins liege, soweit dies erforderlich sei, um hinhaltenden Maßnahmen vorzubeugen (siehe Randnrn. 475 und 476). Schließlich ist das Gericht erster Instanz zu dem Ergebnis gelangt, dass die Kommission ihr Ermessen bei der Festlegung des Satzes der Verzugszinsen nicht überschritten habe.
122. Meines Erachtens ist dem Gericht erster Instanz kein Rechtsfehler unterlaufen.
VII – Ergebnis
123. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,
– das Rechtsmittel zurückzuweisen;
– SGL die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
1 – Originalsprache: Englisch.
2 – ABl. 1962, Nr. 13, S. 204.
3 – ABl. 1998, C 9, S. 3.
4 – ABl. 1996, C 207, S. 4.
5 – Urteil vom 7. Juni 1983 in den verbundenen Rechtssachen 100/80 bis 103/80 (Musique Diffusion française u. a./Kommission, Slg. 1983, 1825).
6 – Musique Diffusion française u. a./Kommission (Randnr. 105).
7 – Musique Diffusion française u. a./Kommission (Randnr. 106).
8 – Urteil des Gerichtshofes vom 28. Juni 2005 in den verbundenen Rechtssachen C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P (Dansk Rørindustri A/S u. a., Slg. 2005, I‑0000, Randnrn. 244 und 245) sowie die dort zitierte Rechtsprechung.
9 – Randnr. 260.
10 – Randnr. 267.
11 – Siehe Randnrn. 134 und 135.
12 – Randnr. 136.
13 – Randnr. 137.
14 – Urteil des Gerichtshofes vom 14. Dezember 1972 in der Rechtssache 7/72 (Boehringer/Kommission, Slg. 1972, 1281).
15 – Randnrn. 139 und 140.
16 – Randnrn. 141 und 142.
17 – Randnr. 143.
18 – Siehe Nrn. 91 bis 94 der Schlussanträge vom 11. Februar 2003 in der Rechtssache C-213/00 P (Italcementi/Kommission, Slg. 2004, I‑123).
19 – Schlussanträge vom 7. Juni 2005 in der Rechtssache C‑397/03 P.
20 – Urteil vom 9. Juli 2003 in der Rechtssache T‑224/00 (Archer Daniels Midland Company und Archer Daniels Midland Ingredients/Kommission, Slg. 2003, II‑2597).
21 – Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika über die Anwendung der „Positive Comity“‑Grundsätze bei der Durchsetzung ihrer Wettbewerbsregeln vom 4. Juni 1998 (ABl. L 173, S. 28) und das Abkommen von 1991 (ABl. 1995, L 95, S. 47).
22 – Seit dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1/2003 ist diese Rechtsprechung weitgehend überholt. Siehe auch Wouter P. L. Wils, „The principles of ne bis in idem in EC Antitrust Enforcement: A Legal and Economic Analysis“, in World Competition 2003.
23 – Siehe Urteil Dansk Rørindustri A/S u. a. (zitiert oben in Fußnote 8, Randnrn. 244 und 245) und die dort zitierte Rechtsprechung.
24 – Siehe Randnr. 312 des Urteils.
25 – Siehe Randnr. 313.
26 – Siehe Randnr. 293 des Fernwärmetechnikkartell‑Urteils.
27 – Urteil vom 15. März 2000 in den verbundenen Rechtssachen T‑25/95 T‑26/95, T‑30/95 bis T‑32/95, T‑34/95 bis T‑39/95, T‑42/95 bis T‑46/95, T‑48/95, T‑50/95 bis T‑65/95, T‑68/95 bis T‑71/95, T‑87/95, T‑88/95, T‑103/95 und T‑104/95 (Cimenteries CBR u. a./Kommission, Slg. 2000, II‑491, Randnr. 5045).
28 – Randnr. 367 des angefochtenen Urteils.
29 – Urteil Dansk Rørindustrie u. a. (zitiert oben in Fußnote 8).
30 – Siehe Randnr. 278 des Urteils.
31 – Randnr. 41 des angefochtenen Urteils.
32 – Randnrn. 430 bis 433 des angefochtenen Urteils.
33 – Siehe Randnr. 437 des angefochtenen Urteils.
34 – ABl. 1997, C 23, S. 3.
35 – Urteil des Gerichts vom 29. Juni 1995 in der Rechtssache T‑30/91 (Solvay/Kommission, Slg. 1995, II‑1775).
36 – Siehe Randnr. 39 des angefochtenen Urteils.
37 – Siehe II.A.2 der Mitteilung.
38 – Urteil vom 7. Januar 2004 in den verbundenen Rechtssachen C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P, C‑219/00 P (Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I‑123 [„Zement-Urteil“], Randnrn. 71 bis 73) und die dort zitierte Rechtsprechung.
39 – Siehe Randnrn. 370 bis 372 des angefochtenen Urteils.
40 – Siehe Urteil in der Rechtssache Fernwärmertechnik‑Kartell, Randnr. 327, und die dortige Verweisung auf das Urteil in der Sache IAZ/Kommission.
41 – Entscheidung K (2002) 5083 endg. vom 17. Dezember 2002.