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Document 62003TJ0275

Urteil des Gerichts erster Instanz (Dritte Kammer) vom 9. November 2005.
Focus Magazin Verlag GmbH gegen Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM).
Gemeinschaftsmarke - Widerspruchsverfahren - Anmeldung der Gemeinschaftsmarke Hi-FOCuS - Ältere nationale Wortmarke FOCUS - Umfang der Nachprüfung durch die Beschwerdekammer - Beweiswürdigung vor der Beschwerdekammer.
Rechtssache T-275/03.

Sammlung der Rechtsprechung 2005 II-04725

ECLI identifier: ECLI:EU:T:2005:385

Rechtssache T-275/03

Focus Magazin Verlag GmbH

gegen

Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM)

„Gemeinschaftsmarke – Widerspruchsverfahren – Anmeldung der Gemeinschaftsmarke Hi‑FOCuS – Ältere nationale Wortmarke FOCUS – Umfang der Nachprüfung durch die Beschwerdekammer – Beweiswürdigung vor der Beschwerdekammer“

Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 9. November 2005 

Leitsätze des Urteils

Gemeinschaftsmarke – Beschwerdeverfahren – Beschwerde gegen eine Entscheidung der Widerspruchsabteilung des Amtes – Prüfung durch die Beschwerdekammer – Umfang

(Verordnung Nr. 40/94 des Rates, Artikel 74)

Aus der funktionalen Kontinuität zwischen den Dienststellen des Harmonisierungsamts für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) ergibt sich, dass die Beschwerdekammer im Anwendungsbereich von Artikel 74 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 40/94 ihre Entscheidung auf das gesamte tatsächliche und rechtliche Vorbringen des Beschwerdeführers sowohl im Verfahren vor der Stelle, die in erster Instanz entschieden hat, als auch, wobei sich eine Einschränkung nur aus Artikel 74 Absatz 2 der Verordnung Nr. 40/94 ergibt, im Beschwerdeverfahren zu stützen hat.

Die zwischen den verschiedenen Dienststellen des Amtes bestehende funktionale Kontinuität hat also, anders als das Amt in Bezug auf das Inter-partes-Verfahren geltend macht, nicht zur Folge, dass ein Beteiligter, der vor der Stelle, die in erster Instanz entschieden hat, ein bestimmtes tatsächliches oder rechtliches Vorbringen nicht innerhalb der im Verfahren vor dieser Stelle geltenden Fristen eingeführt hat, mit diesem Vorbringen nach Artikel 74 Absatz 2 der Verordnung Nr. 40/94 vor der Beschwerdekammer nicht mehr gehört werden könnte. Die funktionale Kontinuität bewirkt vielmehr, dass dieser Beteiligte vor der Beschwerdekammer, vorbehaltlich der Beachtung von Artikel 74 Absatz 2 der Verordnung Nr. 40/94 im Verfahren vor dieser Stelle, mit dem betreffenden Vorbringen zu hören ist.

(vgl. Randnr. 37)




URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer)

9. November 2005(*)

„Gemeinschaftsmarke – Widerspruchsverfahren – Anmeldung der Gemeinschaftsmarke Hi‑FOCuS – Ältere nationale Wortmarke FOCUS – Umfang der Nachprüfung durch die Beschwerdekammer – Beweiswürdigung vor der Beschwerdekammer“

In der Rechtssache T‑275/03

Focus Magazin Verlag GmbH mit Sitz in München (Deutschland), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt U. Gürtler,

Klägerin,

gegen

Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM), vertreten durch A. von Mühlendahl, B. Müller und G. Schneider als Bevollmächtigte,

Beklagter,

andere Beteiligte im Verfahren vor der Beschwerdekammer des HABM:

ECI Telecom Ltd mit Sitz in Petach Tikva (Israel),

betreffend eine Klage gegen die Entscheidung der Vierten Beschwerdekammer des HABM vom 30. April 2003 (Sache R 913/2001‑4) im Widerspruchsverfahren zwischen der Focus Magazin Verlag GmbH und der ECI Telecom Ltd

erlässt

DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Jaeger sowie der Richterin V. Tiili und des Richters O. Czúcz,

Kanzler: K. Andová, Verwaltungsrätin,

aufgrund der Klageschrift und der Erwiderung, die am 4. August 2003 bzw. 2. April 2004 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind,

aufgrund der Klagebeantwortung und der Gegenerwiderung, die am 10. Dezember 2003 bzw. 8. Juli 2004 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind,

auf die mündliche Verhandlung vom 12. Mai 2005

folgendes

Urteil

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1       Am 1. Oktober 1999 meldete die ECI Telecom Ltd (im Folgenden: Anmelderin) gemäß der Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. Dezember 1993 über die Gemeinschaftsmarke (ABl. 1994, L 11, S. 1) in ihrer geänderten Fassung beim Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM) eine Gemeinschaftsmarke an.

2       Bei der angemeldeten Marke handelt es sich um das Wortzeichen Hi‑FOCuS.

3       Die Waren und Dienstleistungen, für die die Marke angemeldet wurde, gehören zu den Klassen 9 und 38 im Sinne des Abkommens von Nizza vom 15. Juni 1957 über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken in seiner revidierten und geänderten Fassung und sind wie folgt beschrieben:

–       Klasse 9: „Telekommunikations‑ und Schaltsysteme zur Übertragung verschiedener Telefondienste und bestehend aus einem skalierbaren Breitbandzugriffssystem; Telekommunikationssysteme mit Kupfertechnik; Telekommunikationssysteme mit optischen Fasern; Telekommunikations‑ und Schaltsysteme mit asynchronem Übertragungsmodus; Telekommunikationssysteme zur Übertragung verschiedener Telefondienste zwischen einem Bereichsnetz und einem Teilnehmer mit einer Vermittlungsstelle und einer Teilnehmereinheit“;

–       Klasse 38: „Übertragung verschiedener Telefondienste in einem skalierbaren Breitbandzugriffssystem; Übertragung von Telekommunikation in Systemen mit Kupfertechnik; Übertragung von Telekommunikation in Systemen mit optischen Fasern; Übertragung von Telekommunikation und Bereitstellung von Vermittlungsdienstleistungen in Systemen mit asynchronem Übertragungsmodus; Bereitstellung von Telefondiensten zwischen einem Bereichsnetz und einem Teilnehmer mit einer Vermittlungsstelle und einer Teilnehmereinheit“.

4       Die Anmeldung wurde in englischer Sprache eingereicht. Gemäß Artikel 115 Absatz 3 der Verordnung Nr. 40/94 wurde Französisch als zweite Sprache bestimmt.

5       Diese Anmeldung wurde im Blatt für Gemeinschaftsmarken Nr. 41/00 vom 22. Mai 2000 veröffentlicht.

6       Am 18. Juli 2000 legte die Focus Magazin Verlag GmbH gemäß Artikel 42 der Verordnung Nr. 40/94 Widerspruch gegen die Eintragung der angemeldeten Marke ein. Der Widerspruch wurde auf die nationale Wortmarke FOCUS gestützt, die am 23. Mai 1996 in Deutschland unter der Nr. 394 07 564 für Waren und Dienstleistungen der Klassen 3, 5, 6, 7, 8, 9, 14, 15, 18, 20, 21, 24, 25, 26, 28, 29, 30, 33, 34, 36, 38, 39, 41 und 42 eingetragen worden war.

7       Der Widerspruch wurde bezüglich aller in der Anmeldung der Gemeinschaftsmarke bezeichneten Waren und Dienstleistungen eingelegt und auf alle von der älteren Marke erfassten Waren und Dienstleistungen gestützt. In der Widerspruchsschrift berief sich die Klägerin auf die relativen Eintragungshindernisse des Artikels 8 Absatz 1 Buchstabe b und Absatz 5 der Verordnung Nr. 40/94.

8       Die Widerspruchsschrift enthielt zum Beweis der Eintragung der älteren Marke die in deutscher Sprache ausgestellte Urkunde über die Eintragung der deutschen Marke, auf der der Widerspruch beruhte, und die in französischer Sprache gefertigte Urkunde über die Eintragung der international registrierten Marke FOCUS Nr. 663 349 der Klägerin. Die Klägerin hatte Französisch als Verfahrenssprache gewählt.

9       Am 19. September 2000 gewährte die Widerspruchsabteilung der Klägerin eine Frist bis zum 19. November 2000, um das Waren- und Dienstleistungsverzeichnis in dieser Sprache vorzulegen; andernfalls würde der Widerspruch als unzulässig zurückgewiesen. Das Fax, in dem die Frist eingeräumt wurde, trug die Überschrift „Mitteilung an die Widersprechende über Mängel der Widerspruchsschrift (Regeln 15 und 18 [Absatz] 2 der [Verordnung (EG) Nr. 2868/95 der Kommission vom 13. Dezember 1995 zur Durchführung der Verordnung Nr. 40/94 (ABl. L 303, S. 1)])“.

10     Mit Fax vom 27. September 2000 teilte die Klägerin dem HABM mit, dass sie die verlangte Übersetzung bereits zusammen mit der Widerspruchsschrift vorgelegt habe. Sie übermittelte erneut die Eintragungsurkunde der internationalen Marke Nr. 663 349 und merkte an, dass es sich dabei um die von der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) erstellte offizielle Übersetzung der internationalen Eintragung der deutschen Widerspruchsmarke handele.

11     Am 15. Januar 2001 richtete die Widerspruchsabteilung ein weiteres Schreiben mit folgender Überschrift an die Klägerin: „Mitteilung an die Widersprechende über den Zeitpunkt der Eröffnung des kontradiktorischen Teils des Widerspruchsverfahrens und über die Frist zur Vorlage von Tatsachen, Beweismitteln oder Bemerkungen zur Stützung des Widerspruchs (Regeln 19 [Absatz] 1, 16 [Absatz] 3, 17 [Absatz] 2 und 20 [Absatz] 2 der [Verordnung Nr. 2868/95])“. Diesem Schreiben waren Erläuterungen zu den zur Stützung des Widerspruchs vorzulegenden Beweismitteln beigefügt.

12     Mit Schreiben vom 21. März 2001 teilte die Anmelderin der Klägerin ihren Wunsch mit, den Streit auf gütlichem Wege außeramtlich beizulegen.

13     Am 15. Mai 2001 legte die Klägerin ergänzende Unterlagen mit Tatsachen, Beweismitteln und Bemerkungen zur Stützung ihres Widerspruchs vor.

14     Am 12. Juli 2001 teilte das HABM der Klägerin mit, dass es diese Unterlagen an die Anmelderin weitergeleitet habe. Es wies dabei jedoch darauf hin, dass es über den Widerspruch entscheiden werde, da die Klägerin keine vollständige Übersetzung der Eintragungsurkunde der einzigen Widerspruchsmarke, der deutschen Marke Nr. 394 07 564, in die Verfahrenssprache vorgelegt habe.

15     Am 16. Juli 2001 übermittelte die Klägerin noch einmal ihr Schreiben vom 27. September 2000, wonach das Waren- und Dienstleistungsverzeichnis der älteren deutschen Marke dem der internationalen Marke entspreche. Sie wies darauf hin, dass die Urkunde über die internationale Eintragung ausdrücklich die ältere deutsche Marke als Basismarke und das Prioritätsdatum nenne; die Eintragungsurkunde der älteren Marke enthalte alle Informationen, die mit standardisierten Ziffern versehen seien, so dass die Anmelderin Kenntnis von allen notwendigen Informationen habe erlangen können.

16     Mit Entscheidung vom 27. August 2001 wies die Widerspruchsabteilung den Widerspruch zurück, da die Klägerin mangels Vorlage einer vollständigen Übersetzung der Urkunde über die Eintragung ihrer deutschen Marke die Existenz ihrer älteren Marke nicht bewiesen habe. Die Bezugnahme auf das Waren- und Dienstleistungsverzeichnis der internationalen Marke könne nicht als vollständige Übersetzung der deutschen Eintragungsurkunde ins Französische angesehen werden.

17     Am 15. Oktober 2001 legte die Klägerin gemäß den Artikeln 57 bis 62 der Verordnung Nr. 40/94 gegen die Entscheidung der Widerspruchsabteilung beim HABM Beschwerde ein. Im Anhang der Beschwerdebegründung war eine französische Übersetzung der deutschen Urkunde über die Eintragung der älteren Marke enthalten.

18     Mit Entscheidung vom 30. April 2003 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung) wies die Vierte Beschwerdekammer die Beschwerde zurück. Sie vertrat die Ansicht, dass die Klägerin den Beweis für das Bestehen ihrer älteren Marke und eine Übersetzung davon vorzulegen habe und dass der vorgelegte Beweis unzureichend gewesen sei. Außerdem sei das HABM nicht verpflichtet, die Widersprechende darauf hinzuweisen, dass ein Dokument oder seine Übersetzung zum Beweis der Inhaberschaft an einem älteren Recht nicht ausreiche. Darüber hinaus lehnte die Beschwerdekammer die Berücksichtigung der erstmals bei ihr vorgelegten Übersetzung der deutschen Eintragungsurkunde ab.

 Anträge der Beteiligten

19     Die Klägerin beantragt,

–       die Entscheidung der Widerspruchsabteilung aufzuheben;

–       die angefochtene Entscheidung aufzuheben;

–       das HABM anzuweisen, unter Berücksichtigung der Entscheidung des Gerichts in der Sache zu entscheiden;

–       dem HABM die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

20     Das HABM beantragt:

–       die Klage abzuweisen;

–       die Klägerin zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

 Zur Zulässigkeit des dritten Antrags der Klägerin

21     Mit ihrem dritten Antrag beantragt die Klägerin, das HABM anzuweisen, unter Berücksichtigung der Entscheidung des Gerichts in der Sache zu entscheiden.

22     Hierzu ist daran zu erinnern, dass nach Artikel 63 Absatz 6 der Verordnung Nr. 40/94 das HABM die Maßnahmen zu ergreifen hat, die sich aus dem Urteil des Gemeinschaftsrichters ergeben. Das Gericht kann somit dem HABM keine Anordnungen erteilen. Dieses hat die Konsequenzen aus dem Tenor und den Gründen der Urteile des Gerichts zu ziehen (vgl. Urteile des Gerichts vom 31. Januar 2001 in der Rechtssache T‑331/99, Mitsubishi HiTec Paper Bielefeld/HABM [Giroform], Slg. 2001, II‑433, Randnr. 33, vom 27. Februar 2002 in der Rechtssache T‑34/00, Eurocool Logistik/HABM [EUROCOOL], Slg. 2002, II‑683, Randnr. 12, und vom 3. Juli 2003 in der Rechtssache T‑129/01, Alejandro/HABM – Anheuser-Busch [BUDMEN], Slg. 2003, II‑2251, Randnr. 22).

23     Der dritte Antrag der Klägerin ist daher unzulässig.

 Zur Begründetheit

24     Zur Begründung ihrer Klage macht die Klägerin im Wesentlichen drei Klagegründe geltend: erstens Nichtberücksichtigung der vorgelegten Beweise durch die Widerspruchsabteilung, zweitens Verstoß gegen die Verpflichtung zur Würdigung der von ihr der Beschwerdekammer vorgelegten Beweismittel und drittens Verstoß gegen die Regeln für den Nachweis des Bestehens der älteren Marke.

25     Zunächst ist der zweite Klagegrund zu prüfen.

 Vorbringen der Beteiligten

26     Die Klägerin macht geltend, der Beweis für das ältere Recht könne auch noch in der Beschwerdeinstanz nachgereicht werden.

27     Die Regeln 16 bis 20 der Verordnung Nr. 2868/95, die den Zeitraum begrenzten, in dem Beweis erbracht werden könne, gälten nämlich nur für das Widerspruchsverfahren. Außerdem würde es gegen den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes verstoßen, wenn es nicht möglich wäre, im Beschwerdeverfahren weitere Beweise für das Vorliegen der älteren Marke zu erbringen.

28     Aus dem Urteil des Gerichts vom 23. September 2003 in der Rechtssache T‑308/01 (Henkel/HABM – LHS [UK] [KLEENCARE], Slg. 2003, II‑3253) ergebe sich, dass der Beweis für die Existenz des älteren Markenrechts auch noch in der Beschwerdeinstanz nachgereicht werden könne. Ob neue Beweismittel zu berücksichtigen seien, sei jedoch von einer Abwägung im Einzelfall abhängig, die im vorliegenden Fall dafür spreche, dass die nachgereichte Übersetzung hätte berücksichtigt werden müssen.

29     Dadurch, dass neue Beweismittel und Tatsachen nicht berücksichtigt würden, werde die Arbeitsbelastung nicht kleiner, sondern größer, was der Rechtssicherheit zuwiderlaufe. Sollte nämlich der Widerspruch allein wegen eines formellen Fehlers erfolglos bleiben, so könne der Inhaber der älteren Marke sofort ein Löschungsverfahren nach den Artikeln 52 und 55 der Verordnung Nr. 40/94 einleiten, was zur einer erneuten Überprüfung des gesamten Sachverhalts führen würde.

30     Auch die Anmelderin müsse sich auf die Vorlage von weiteren Beweismitteln einlassen, weil sie der Existenz der älteren Marke in erster Instanz nicht widersprochen habe. Eine Interessenabwägung nach Artikel 74 Absatz 2 der Verordnung Nr. 40/94 spreche dafür, dass die Übersetzung der deutschen Eintragungsurkunde hätte berücksichtigt werden müssen. Da die Klägerin im Widerspruchsverfahren bereits Beweis erbracht habe, wenn auch in einer anderen als der Verfahrenssprache, sei es nur gerecht, ihr auch in der Beschwerdeinstanz die Vorlage der entsprechenden Übersetzung zu ermöglichen. Schließlich stehe der Anmelderin auch der Klageweg zum Gericht erster Instanz offen, so dass ihre Verteidigungsrechte nicht verletzt würden.

31     Das HABM ist der Ansicht, das Urteil KLEENCARE sei hier nicht einschlägig. Das Abstellen auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung könne nämlich nicht zur Folge haben, dass Verfahrensfehler geheilt würden oder die Akten außerhalb der gesetzten Fristen ergänzt werden könnten. In Inter‑partes-Verfahren stehe dem HABM nur dann ein Ermessen bezüglich der Zulassung neuer Tatsachen oder Beweismittel zu, wenn es vorher für ihre Vorlage keine Frist gesetzt habe, was hier nicht der Fall gewesen sei. Diese Auslegung werde durch das Urteil des Gerichts vom 23. Oktober 2002 in der Rechtssache T‑388/00 (Institut für Lernsysteme/HABM – Educational Services [ELS], Slg. 2002, II‑4301, Randnr. 29) gestützt, das die Erbringung des Nachweises der Benutzung der älteren Marke betroffen habe (Urteil des Gerichts vom 13. Juni 2002 in der Rechtssache T‑232/00, Chef Revival USA/HABM – Massagué Marín [Chef], Slg. 2002, II‑2749).

32     Wenn es den Beteiligten freistünde, Fristversäumnisse vor der ersten Prüfungsinstanz des HABM durch die erstmalige Vorlage von Tatsachen oder Beweismitteln vor der Beschwerdekammer zu korrigieren, so hätte dies eine erhebliche Verlängerung des Verfahrens für die Eintragung von Gemeinschaftsmarken zur Folge, die den Grundsatz der Rechtssicherheit stark beeinträchtigen würde.

33     Außerdem komme Entscheidungen in Widerspruchsverfahren keine Bindungswirkung zu, während die unanfechtbare Ablehnung eines Nichtigkeitsantrags in Rechtskraft erwachse. Es handele sich um zwei unterschiedliche auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhende Verfahren, und die Auffassung der Klägerin liefe auf eine Infragestellung dieser Unterscheidung hinaus.

34     Es wäre unzumutbar, die Verteidigungsrechte der Anmelderin lediglich auf die interne Beschwerdeinstanz des HABM zu beschränken (Beschluss des Gerichts vom 17. November 2003 in der Rechtssache T‑235/02, Strongline/HABM – Scala [SCALA], Slg. 2003, II‑4903). Die funktionelle Kontinuität zwischen den Instanzen des HABM erfordere, dass die Rechtsfolgen einer eingetretenen Fristversäumung vor der Beschwerdekammer fortwirkten. Das Abschneiden einer Instanz bei Zulassung neuen Vorbringens in der Beschwerdeinstanz könne nicht durch die Möglichkeit ausgeglichen werden, das Gericht und möglicherweise den Gerichtshof anrufen zu können, da das Verfahren vor den Gemeinschaftsgerichten einen wesentlich größeren Aufwand darstelle und mit wesentlich höheren Kosten verbunden sei als das Verwaltungsverfahren vor dem HABM.

 Würdigung durch das Gericht

35     Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Klägerin zusammen mit der Widerspruchsschrift die deutsche Urkunde über die Eintragung der älteren Marke und die in französischer Sprache gefertigte Urkunde über die Eintragung ihrer auf der älteren nationalen Marke beruhenden international registrierten Marke Nr. 663 349 vorgelegt hat. Es steht auch fest, dass die Klägerin im Anhang ihrer Beschwerde gegen die Entscheidung der Widerspruchsabteilung die französische Übersetzung der deutschen Urkunde über die Eintragung der älteren Marke vorgelegt hat.

36     Dieses Dokument ist von der Klägerin eingereicht worden, weil die Widerspruchsabteilung die Ansicht vertreten hatte, dass die Urkunde über die Eintragung der auf der älteren nationalen Marke beruhenden internationalen Marke nicht als vollständige Übersetzung der deutschen Eintragungsurkunde in die Verfahrenssprache angesehen werden könne, obwohl die Klägerin ihr mitgeteilt hatte, dass es sich dabei um die von der WIPO erstellte offizielle Übersetzung der internationalen Eintragung der deutschen Widerspruchsmarke handele.

37     Aus der funktionalen Kontinuität zwischen den Dienststellen des HABM ergibt sich, dass die Beschwerdekammer im Anwendungsbereich von Artikel 74 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 40/94 ihre Entscheidung auf das gesamte tatsächliche und rechtliche Vorbringen des Beschwerdeführers sowohl im Verfahren vor der Stelle, die in erster Instanz entschieden hat, als auch, wobei sich eine Einschränkung nur aus Artikel 74 Absatz 2 der Verordnung Nr. 40/94 ergibt, im Beschwerdeverfahren zu stützen hat (Urteil KLEENCARE, Randnr. 32). Die zwischen den verschiedenen Dienststellen des HABM bestehende funktionale Kontinuität hat also, anders als das HABM in Bezug auf das Inter-partes-Verfahren geltend macht, nicht zur Folge, dass ein Beteiligter, der vor der Stelle, die in erster Instanz entschieden hat, ein bestimmtes tatsächliches oder rechtliches Vorbringen nicht innerhalb der im Verfahren vor dieser Stelle geltenden Fristen eingeführt hat, mit diesem Vorbringen nach Artikel 74 Absatz 2 der Verordnung Nr. 40/94 vor der Beschwerdekammer nicht mehr gehört werden könnte. Die funktionale Kontinuität bewirkt vielmehr, dass dieser Beteiligte vor der Beschwerdekammer, vorbehaltlich der Beachtung von Artikel 74 Absatz 2 der Verordnung Nr. 40/94 im Verfahren vor dieser Stelle, mit dem betreffenden Vorbringen zu hören ist (Urteil des Gerichts vom 10. November 2004 in der Rechtssache T‑164/02, Kaul/HABM – Bayer [ARCOL], Slg. 2004, II‑0000, Randnr. 29).

38     Da das fragliche Dokument im vorliegenden Fall nicht verspätet im Sinne von Artikel 74 Absatz 2 der Verordnung Nr. 40/94, sondern in Form einer Anlage zu dem am 15. Oktober 2001 von der Klägerin bei der Beschwerdekammer eingereichten Schriftsatz, d. h. innerhalb der durch Artikel 59 der Verordnung Nr. 40/94 gewährten Frist von vier Monaten, vorgelegt wurde, konnte die Beschwerdekammer die Berücksichtigung dieses Dokuments folglich nicht verweigern.

39     Insofern ist der Verweis des HABM auf das Urteil Chef ohne Belang, in dem es nicht um die Vorlage von Beweismitteln vor der Beschwerdekammer ging, sondern um die Frage, ob die Widerspruchsabteilung verpflichtet gewesen war, den Widersprechenden auf den Mangel hinzuweisen, den die versäumte Vorlage der Übersetzung der Eintragungsurkunde der älteren nationalen Marke innerhalb der hierfür gesetzten Frist bildete. In diesem Verfahren war das Gericht außerdem der Ansicht, es brauche nicht darüber entschieden zu werden, ob und inwieweit das HABM gemäß Artikel 74 Absatz 2 der Verordnung Nr. 40/94 noch nach Ablauf einer von ihm gesetzten Frist beigebrachte Tatsachen oder Beweismittel berücksichtigen dürfe, da der Widersprechende auch nach Ablauf der Frist keine Übersetzung eingereicht hatte (Urteil Chef, Randnrn. 63 bis 65).

40     Auch der Verweis des HABM auf das Urteil ELS, das die Erbringung des Nachweises der Benutzung der älteren Marke nach Ablauf der vom HABM vor der Widerspruchsabteilung gesetzten Frist betraf, greift nicht durch, da die Beschwerdekammer bei der Prüfung der Beschwerde Beweismittel berücksichtigen muss, wenn sie rechtzeitig vorgelegt wurden (vgl. Urteil KLEENCARE, Randnr. 32, und ARCOL, Randnr. 29). Im vorliegenden Fall hat die Klägerin jedenfalls bereits vor der Widerspruchsabteilung rechtzeitig Beweise für das Bestehen ihres älteren Rechts und dann vor der Beschwerdekammer eine ergänzende Übersetzung vorgelegt, da die Widerspruchsabteilung die internationale Eintragungsurkunde nicht als vollständige Übersetzung der älteren Marke anerkannt hatte.

41     Der Hinweis des HABM auf den Beschluss SCALA geht ebenso fehl. In dieser Rechtssache hatte die Klägerin die erforderlichen Dokumente und Übersetzungen nämlich erstmalig vor dem Gericht beigebracht, während hier die Vorlage und Berücksichtigung der fraglichen Übersetzung vor der Beschwerdekammer es der Anmelderin erlaubt hätte, ihre Verteidigungsrechte im Inter-partes-Verfahren auszuüben, und es der Beschwerdekammer ermöglicht hätte, sich mit hinreichender Sicherheit vom tatsächlichen Bestehen der geltend gemachten Rechte zu überzeugen (vgl. Beschluss SCALA, Randnr. 45). Außerdem kann angesichts der Art der internationalen Eintragungsurkunde, die in der Verfahrenssprache erstellt wurde, nicht ausgeschlossen werden, dass diese zusammen mit der in deutscher Sprache ausgestellten deutschen Eintragungsurkunde es der Anmelderin erlaubt hätte, schon im Verfahren vor der Widerspruchsabteilung ihre Verteidigungsrechte im Inter-partes-Verfahren auszuüben, und es der Beschwerdekammer gestattet hätte, sich hinreichende Gewissheit vom tatsächlichen Bestehen der geltend gemachten Rechte zu verschaffen.

42     Schließlich vermag hier auch das Argument des HABM nicht zu überzeugen, dass das Verfahren für die Eintragung von Gemeinschaftsmarken erheblich verlängert würde, wenn es den Beteiligten freistünde, Tatsachen oder Beweismitteln auch noch vor der Beschwerdekammer erstmalig vorzulegen. Da mehrere schlüssige Beweismittel für das Bestehen des älteren Rechts bereits vor der Widerspruchsabteilung vorgelegt worden sind, hat vielmehr die Zurückweisung der vor der Beschwerdekammer vorgelegten ergänzenden Übersetzung dazu geführt, dass dieses Verfahren verlängert worden ist.

43     Daraus folgt, dass die Beschwerdekammer gegen Artikel 74 der Verordnung Nr. 40/94 verstoßen hat, als sie das ihr von der Klägerin innerhalb der durch Artikel 59 der Verordnung gewährten Frist vorgelegte Dokument nicht berücksichtigt hat. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben, ohne dass auf die anderen Klagegründe eingegangen werden müsste und ohne dass das Gericht über die Zulässigkeit des Antrags auf Aufhebung der Entscheidung der Widerspruchsabteilung zu entscheiden brauchte.

 Kosten

44     Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

45     Da das HABM unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT (Dritte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Entscheidung der Vierten Beschwerdekammer des Harmonisierungsamts für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) vom 30. April 2003 (Sache R 913/2001-4) wird aufgehoben.

2.      Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Jaeger

Tiili

Czúcz

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. November 2005.

Der Kanzler

 

      Der Präsident

E. Coulon

 

      M. Jaeger


* Verfahrenssprache: Deutsch.

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