Conclusions
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
FRANCIS G. JACOBS
vom 28. Oktober 2004(1)
In der Rechtssache C-53/03
Synetairismos Farmakopoion Aitolias & Akarnanias (Syfait) u. a.
gegen
Glaxosmithkline AEVE
„“
1.
In dieser Rechtssache legt die griechische Wettbewerbskommission (Epitropi Antagonismou) (im Folgenden: Wettbewerbskommission)
dem Gerichtshof Fragen danach vor, ob und unter welchen Umständen sich ein marktbeherrschendes Pharmaunternehmen weigern darf,
die bei ihm eingehenden Bestellungen von Arzneimittelgroßhändlern vollständig auszuführen, um den Parallelhandel mit ihren
Erzeugnissen zu begrenzen.
2.
Zuerst geht es jedoch um die Zulässigkeit der Vorlage, nämlich die Frage, ob die griechische Wettbewerbskommission ein Gericht
im Sinne von Artikel 234 EG und damit zur Vorlage von Fragen an den Gerichtshof befugt ist.
Nationales Verfahren und Vorlagefragen
3.
Die Beschwerdeführer im Ausgangsverfahren sind griechische Arzneimittelgroßhändler. Bei den Beschwerdegegnern handelt es sich
um das Pharmaunternehmen Glaxosmithkline PLC und seine Tochtergesellschaft Glaxosmithkline Aeve (früher Glaxowellcome), die
seine Erzeugnisse nach Griechenland einführt und dort vertreibt (beide zusammen im Folgenden: GSK).
4.
Das Ausgangsverfahren betrifft die Belieferung mit drei Fertigarzneimitteln, und zwar Imigran, Lamictal und Serevent, an denen
GSK die Rechte hat und die von GSK hergestellt werden (im Folgenden: streitige Erzeugnisse).
5.
Bis November 2000 führte GSK die Bestellungen, die es von den Beschwerdegegnern und anderen Arzneimittelgroßhändlern für die
streitigen Erzeugnisse erhalten hatte, in vollem Umfang aus. Ein großer Teil dieser Bestellungen wurde anschließend von den
Großhändlern in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union ausgeführt, in denen die Preise viel höher waren.
6.
Anfang November 2000 jedoch führte GSK die Bestellungen von Arzneimittelgroßhändlern nicht mehr aus und erklärte stattdessen,
dass es Krankenhäuser und Apotheken direkt beliefern werde. GSK behauptete, dass die Ausfuhr der streitigen Erzeugnisse durch
Großhändler zu erheblichen Versorgungsmängeln auf dem griechischen Markt führe. Später nahm es die Belieferung der Großhändler
wieder auf, weigerte sich aber weiterhin, deren Bestellungen vollständig auszuführen.
7.
Diese Weigerung war Gegenstand von Verfahren bei der griechischen Wettbewerbskommission, die sowohl auf Beschwerden der Arzneimittelgroßhändler
als auch auf mehrere Anträge von GSK auf ein Negativattest für seine Vertriebspolitik zurückgingen.
8.
Im August 2001 erließ die Wettbewerbskommission Sicherungsmaßnahmen, mit denen die griechische Tochtergesellschaft von GSK
verpflichtet wurde, einstweilen die bei ihr eingehenden Bestellungen vollständig auszuführen, was sie in dem Umfang, in dem
sie selbst von ihrer Muttergesellschaft beliefert wurde, auch tat. Diese Belieferung überschritt die Nachfrage auf dem Inlandsmarkt,
reichte aber nicht für die viel umfangreicheren Bestellungen der Großhändler aus.
9.
Im Anschluss an die Verhandlung, in der die Beteiligten ihre Standpunkte mündlich vortrugen und Fragen beantworteten, hat
die Wettbewerbskommission mit Entscheidung vom 22. Januar 2003 das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof mehrere Fragen
zur Vorabentscheidung vorgelegt.
10.
In der Vorlageentscheidung führt die Wettbewerbskommission aus, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union in den Markt
eingriffen, um die Preise für Arzneimittel in ihrem Hoheitsgebiet festzulegen. Die auf diese Art und Weise bestimmten Preise
seien von Staat zu Staat unterschiedlich, aber diejenigen in Griechenland befänden sich durchgehend auf dem niedrigsten Niveau,
das in der Europäischen Union anzutreffen sei.
11.
Nach Auffassung der Wettbewerbskommission besitzt GSK eine beherrschende Stellung im Sinne von Artikel 82 EG auf dem relevanten
Markt in Griechenland in Bezug auf mindestens eines der streitigen Erzeugnisse, Lamictal. Sie ist sich jedoch nicht sicher,
ob die Weigerung von GSK, die eingehenden Bestellungen von Arzneimittelgroßhändlern vollständig auszuführen, als missbräuchlich
im Sinne von Artikel 82 EG anzusehen ist.
12.
Sie räumt ein, dass Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten
beschränkten, als besonders schwere Verstöße gegen Artikel 81 EG betrachtet würden und als ihr Ziel eine Beschränkung des
Wettbewerbs angenommen werde, ohne dass ihre Auswirkungen auf dem Markt geprüft zu werden brauchten, sofern sie nicht unter
die De‑minimis‑Regel fielen. Aufgrund dessen könnte die Ansicht vertreten werden, dass alle Maßnahmen eines marktbeherrschenden
Unternehmens zur Beschränkung von Ausfuhren ohne weiteres ein missbräuchliches Verhalten darstellten.
13.
Die Wettbewerbskommission stellt allerdings auch fest, dass ein unbeschränkter Parallelhandel den finanziellen und organisatorischen
Interessen von Arzneimittelherstellern schweren Schaden zufügen könne, indem er ihre Einkünfte schmälere und ihre organisatorischen
Vorkehrungen in den Staaten, die mit den Parallelimporten versorgt würden, beeinträchtige. Den Nutzen aus dem Parallelhandel
schienen darüber hinaus überwiegend die damit befassten Unternehmen und kaum die Endverbraucher der gehandelten Erzeugnisse
zu haben. Jedenfalls würden die meisten Arzneimittel tatsächlich von den Mitgliedstaaten über staatliche Gesundheitssysteme
erworben; wenn sie sich entschieden, weniger zu zahlen, würden sie den auf ihrem nationalen Markt geltenden Preis demgemäß
festsetzen.
14.
Die Wettbewerbskommission stellt sich daher die Frage, ob beherrschende Arzneimittelhersteller eine Beschränkung der Belieferung
auf einem bestimmten nationalen Markt damit rechtfertigen können, dass sie zum Schutz ihrer legitimen geschäftlichen Interessen
den Umfang von Parallelimporten begrenzen müssen, und, wenn ja, welche Faktoren bei der Abwägung, ob die Maßnahmen im Einzelfall
tatsächlich gerechtfertigt sind, zu berücksichtigen sind.
15.
Deshalb legt die Wettbewerbskommission dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:
- 1.
- Ist die Weigerung eines Unternehmens in einer beherrschenden Stellung, die an es gerichteten Bestellungen der Arzneimittelgroßhändler
vollständig auszuführen, missbräuchlich im Sinne von Artikel 82 EG, wenn sie auf die Absicht des Unternehmens zurückzuführen
ist, die Exporttätigkeit einzuschränken und damit den ihm durch den Parallelhandel entstehenden Schaden zu begrenzen? Hat
es einen Einfluss auf diese Frage, dass der Parallelhandel wegen der auf staatliches Eingreifen zurückzuführenden unterschiedlichen
Preise in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union für die Großhandelsunternehmen besonders einträglich ist, d. h., dass
auf dem Arzneimittelmarkt nicht unverfälscht Wettbewerbsbedingungen herrschen, sondern ein in hohem Maße durch staatliches
Eingreifen geprägtes System? Ist schließlich eine nationale Wettbewerbsbehörde verpflichtet, auf Märkte, die wettbewerblich
funktionieren, und auf solche, auf denen der Wettbewerb durch staatliche Eingriffe verzerrt wird, die Wettbewerbsregeln der
Gemeinschaft in gleicher Weise anzuwenden?
- 2.
- Wie ist die eventuelle Missbräuchlichkeit zu beurteilen, wenn der Gerichtshof der Ansicht sein sollte, dass die Beschränkung
des Parallelhandels aus den oben dargelegten Gründen bei Ausübung durch ein Unternehmen in beherrschender Stellung nicht auf
jeden Fall eine missbräuchliche Verhaltensweise darstellt? Im Einzelnen:
-
- 2.1.
- Ist ein geeignetes Kriterium der Prozentsatz der Überschreitung des gewöhnlichen Inlandsverbrauchs und/oder des Schadens,
der dem Unternehmen in beherrschender Stellung im Verhältnis zu seinem Gesamtumsatz oder seinem Gesamtgewinn entsteht? Wenn
ja, wie sind die Höhe des genannten Prozentsatzes der Überschreitung und die Höhe des genannten Schadens zu bestimmen, und
zwar Letzterer als Prozentsatz des Umsatzes und des Gesamtgewinns, jenseits dessen das fragliche Verhalten missbräuchlich
oder nicht missbräuchlich ist?
-
- 2.2.
- Stellt eine Interessenabwägung einen geeigneten Ansatz dar und, wenn ja, welche Interessen sind dabei zu berücksichtigen?
Im Einzelnen:
-
- 2.3.
- Welche andere Kriterien und Ansätze werden im vorliegenden Fall als geeignet angesehen?
16.
Vier Schriftsätze sind von einer Reihe von Beteiligten eingereicht worden: einer von Synetairismos Farmakopoion Aitolias &
Akarnanias (Syfait) und fünfzehn anderen (im Folgenden: Beschwerdeführer zu 1); ein anderer von Panellinios Syllogos Farmakapothikarion,
K. P. Marinopoulos Anonymos Etairia emporias kai dianomis farmakeftikon proïonton, Ionas Stroumsas EPE und Farmakapothiki
Pharma Group Messinias A.E. (im Folgenden: Beschwerdeführer zu 2); ein dritter von Farmakeftikos Syndesmos Anonymi Emporiki
Etairia (im Folgenden: Beschwerdeführer zu 3) und ein letzter von Interfarm – A. Aggelakou & Sia O.E. und neununddreißig anderen
(im Folgenden: Beschwerdeführer zu 4). Schriftliche Erklärungen sind außerdem von GSK, von der Kommission und von der schwedischen
Regierung abgegeben worden. Mit Ausnahme der schwedischen Regierung haben alle Beteiligten oder Gruppen von Beteiligten an
der mündlichen Verhandlung teilgenommen und in deren Verlauf Ausführungen gemacht.
Zulässigkeit
17.
Gemäß Artikel 234 Absatz 2 EG dürfen dem Gerichtshof nur von „einem Gericht eines Mitgliedstaats“ Fragen zur Vorabentscheidung
vorgelegt werden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes handelt es sich bei dem Begriff „Gericht“ um einen solchen des
Gemeinschaftsrechts.
18.
In seiner Rechtsprechung stellt der Gerichtshof zur Beurteilung der Frage, ob eine bestimmte Einrichtung Gerichtscharakter
im Sinne von Artikel 234 EG besitzt, auf eine Reihe von Gesichtspunkten ab, wie gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger
Charakter, Anwendung von Rechtsnormen durch diese Einrichtung, obligatorische Gerichtsbarkeit, Unabhängigkeit, streitiges
Verfahren
(2)
sowie Rechtsprechungscharakter der abschließenden Entscheidung
(3)
.
19.
Die Wettbewerbskommission ist der Ansicht, sie erfülle diese Kriterien. Die Kommission und GSK stimmen dem zu. Die Beschwerdeführer
zu 2 und zu 4 haben die Zulässigkeit der Vorlage in ihren schriftlichen Erklärungen bestritten. In der mündlichen Verhandlung
haben die Beschwerdeführer zu 2 ihren Standpunkt jedoch geändert und eingeräumt, dass die Wettbewerbskommission Fragen nach
Artikel 234 EG vorlegen könne. Die schwedische Regierung äußert sich nicht zur Zulässigkeit der Vorlage.
20.
Meines Erachtens ergibt sich aus den Angaben in der Vorlageentscheidung, dass die Wettbewerbskommission viele der Kriterien,
die der Gerichtshof als maßgeblich für die Feststellung angesehen hat, ob eine bestimmte Einrichtung als Gericht eingestuft
werden kann, eindeutig erfüllt. Sie wurde durch Artikel 8 des Gesetzes Nr. 703/77 über die Kontrolle der Monopole und der
Oligopole sowie den Schutz des freien Wettbewerbs (im Folgenden: Gesetz Nr. 703/77) dauerhaft als Einrichtung eingesetzt,
deren Aufgabe es ist, für die Einhaltung dieses Gesetzes zu sorgen. Sie verfügt über die ausschließliche Zuständigkeit für
die Verhängung der im Gesetz Nr. 703/77 vorgesehenen Sanktionen. Ihre Entscheidungen sind deshalb verbindlich.
21.
All diese Faktoren sind wahrscheinlich für jedes Rechtsprechungsorgan erforderlich, würden aber auch für eine Vollzugsbehörde
gelten. Kennzeichnender für ein Gericht ist die mündliche Verhandlung vor der Wettbewerbskommission, in der sowohl die Beschwerdeführer
als auch die Beschwerdegegner sich gesetzlich vertreten lassen dürfen und über Verfahrensrechte verfügen, die denen von Parteien
in gewöhnlichen Gerichtsverfahren entsprechen. Diese Garantien verleihen dem Entscheidungsfindungsprozess der Wettbewerbskommission
in gewisser Weise das erforderliche Element eines streitigen Verfahrens.
22.
Ungeachtet dieser Merkmale der Wettbewerbskommission halte ich eine genauere Analyse für angebracht, um festzustellen, ob
sie in Aufbau und Zusammensetzung einem Rechtsprechungsorgan entspricht, insbesondere, was die strukturellen Garantien für
ihre Unabhängigkeit angeht, die zu den Wesensmerkmalen solcher Organe gehört.
23.
Der Vorlageentscheidung zufolge besteht die Wettbewerbskommission aus neun Mitgliedern, die vom Minister für Entwicklung für
drei Jahre ernannt werden. Vier Mitglieder werden vom Minister aus Listen von je drei Personen ausgewählt, die ihm von Verbänden
aus Handel und Industrie vorgelegt werden. Zu den anderen Mitgliedern zählen ein Mitglied des Juristischen Rats des Staates
oder ein anderer hochrangiger Beamter des Justizwesens, zwei Hochschullehrer, davon der eine aus dem Bereich der Rechts-,
der andere aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften, und zwei Personen von hohem Ansehen und mit einschlägiger Erfahrung.
Der Minister bestimmt außerdem unter den Mitgliedern der Wettbewerbskommission ihren Vorsitzenden.
24.
Artikel 8 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 703/77 bezeichnet die Wettbewerbskommission ausdrücklich als „unabhängige Behörde“ und
erläutert, dass ihre Mitglieder „persönliche und funktionale Unabhängigkeit genießen“ und „in der Ausübung ihrer Rechte und
Pflichten nur durch das Recht und ihr Gewissen gebunden sind“. Wie die Wettbewerbskommission erklärt, wird die Unabhängigkeit
ihrer Mitglieder außerdem dadurch gewährleistet, dass ihnen jede gewerbliche Tätigkeit im Zusammenhang mit den bei ihr anhängigen
Sachen verboten ist.
25.
Der Wettbewerbskommission beigeordnet ist ein Sekretariat, dessen Aufgabe offenbar darin besteht, die bei der Kommission anhängigen
Fälle zu untersuchen und schriftliche Vorschläge für ihre Erledigung zu machen. Der Vorlageentscheidung zufolge wird das Sekretariat
vom Vorsitzenden der Kommission als Dienstvorgesetzter im Rahmen der Ausübung der Disziplinargewalt koordiniert und geleitet.
Dessen ungeachtet bestätigt die Wettbewerbskommission die vollständige funktionale Trennung ihres Sekretariats und führt aus,
weder der Vorsitzende noch sonst jemand in der Kommission sei an den Vorschlägen des Sekretariats beteiligt.
26.
In zwei spezifischen Punkten habe ich Zweifel, die sich aus dem dargelegten Aufbau und der beschriebenen Zusammensetzung der
Wettbewerbskommission ergeben. Erstens muss es aus meiner Sicht bei der Beurteilung, ob eine Einrichtung den Charakter eines
Rechtsprechungsorgans hat, von Bedeutung sein, wie viele der ernannten Mitglieder zum Richteramt oder zur Ausübung anderer
juristischer Berufe befähigt sein müssen. Im Fall der griechischen Wettbewerbskommission brauchen, wie die Vorlageentscheidung
erklärt, nach den Vorschriften über die Kommission nur zwei von insgesamt neun Mitgliedern Juristen zu sein: das eine als
Hochschullehrer aus dem Bereich der Rechtswissenschaften und das andere als Mitglied des Juristischen Rats des Staates, im
Dienst oder außer Dienst, oder als ehemaliger Richter der Zivil- oder der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Anscheinend gibt es
keine Garantie dafür, dass der Vorsitzende über juristische Qualifikationen verfügt. Die vergleichsweise beschränkte Anzahl
von Posten in der Wettbewerbskommission, die ausdrücklich an Juristen vergeben werden, muss meines Erachtens Anlass für gewisse
Zweifel an ihrer Bezeichnung als Gericht geben.
27.
Zweitens habe ich, was die Unabhängigkeit der Wettbewerbskommission angeht, Bedenken in Bezug auf die strukturellen Verbindungen
zwischen der Wettbewerbskommission und ihrem Sekretariat, die ich oben dargestellt habe
(4)
.
28.
Dem Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache Gabalfrisa
(5)
ist zu entnehmen, dass die funktionale Trennung zwischen einem Rechtsprechungsorgan und einem Verwaltungsorgan für richterliche
Unabhängigkeit sorgt. In der betreffenden Rechtssache ließ der Gerichtshof die Vorlage einer regionalen, für Rechtsbehelfe
in Steuersachen zuständigen Einrichtung in Spanien u. a. mit der Begründung zu, dass eine funktionale Trennung zwischen ihr
und der staatlichen Steuerverwaltung bestand, deren Stellen die mit dem Rechtsbehelf angefochtene Entscheidung erlassen hatten
(6)
. In der vorliegenden Rechtssache kann entsprechend der Gabalfrisa‑Formel eine funktionale Trennung zwischen der Kommission
und dem Sekretariat angenommen werden, sofern die vom Sekretariat durchgeführte Untersuchung der behaupteten Verstöße gegen
das Gesetz Nr. 703/77 von der Rolle der Wettbewerbskommission als Entscheidungsorgan getrennt werden kann.
29.
Das Problem, um das es hier geht, scheint mir eng mit der Frage zusammen zu hängen, ob das Verfahren bei der Wettbewerbskommission
seiner Art nach als streitiges Verfahren eingestuft werden kann. Nur wenn das Sekretariat in hinreichendem Maße von der Wettbewerbskommission
getrennt ist, kann es als Dritter angesehen werden, der sowohl von dem durch die Untersuchung Betroffenen als auch von der
Wettbewerbskommission als Richter unabhängig ist.
30.
Auch wenn es in der Vorlageentscheidung heißt, dass der Vorsitzende in der Praxis nicht eingreife, um vom Sekretariat durchgeführte
Untersuchungen zu beeinflussen, hat er doch eindeutig gewisse Befugnisse diesem gegenüber. Bestimmungen oder andere Vorkehrungen
zum Schutz der Unabhängigkeit des Sekretariats bei seinen Untersuchungen werden nicht erwähnt.
31.
Angesichts der beiden von mir erwähnten Bedenken meine ich, dass der Status der griechischen Wettbewerbskommission fast in
der Schwebe bleibt. Diese Einrichtung scheint mir sehr nahe an der Grenze zwischen einem Rechtsprechungsorgan und einer Behörde
mit gewissen Merkmalen eines Gerichts zu liegen.
32.
Nach Abwägung aller Umstände bin ich jedoch der Auffassung, dass die Wettbewerbskommission hinreichenden Rechtsprechungscharakter
hat, um sie als Gericht im Sinne von Artikel 234 EG einzustufen.
33.
Was den juristischen Sachverstand der Einrichtung angeht, so sind zusätzlich zu den beiden Posten, die ausdrücklich Juristen
vorbehalten sind, zwei weitere Positionen mit Personen von hohem Ansehen und mit Erfahrung in Fragen des nationalen und des
gemeinschaftlichen Wirtschaftsrechts sowie der Wettbewerbspolitik zu besetzen. Die Vertreter der Einrichtung werden in der
Vorlageentscheidung ebenfalls als Personen von hohem Ansehen und mit Erfahrung in Bezug auf das Wettbewerbsrecht beschrieben.
Da die Mitglieder der Wettbewerbskommission bei der Ausübung ihrer Pflichten ausdrücklich auch an das Recht gebunden sind,
bin ich davon überzeugt, dass die beschränkte Anzahl von Plätzen, die Richtern oder anderen Juristen vorbehalten sind, kein
ausreichender Grund ist, um ihre Gerichtsqualität auszuschließen. In einer rechtsprechenden Einrichtung, die mit der Tätigkeit
in einem komplexen Fachgebiet wie dem Wettbewerbsrecht betraut ist, wo neben juristischen Qualifikationen auch ein Bedarf
an wirtschaftlichem und kaufmännischem Sachverstand besteht, ist ohnehin ein geringerer Anteil an Personal mit rein juristischen
Qualifikationen zu erwarten.
34.
Was die Frage der strukturellen Verbindungen zwischen der Wettbewerbskommission und ihrem Sekretariat betrifft, so scheinen
mir diese Verbindungen nicht so ausgeprägt zu sein, dass sie die vielen anderen Faktoren überwiegen, die für die Gerichtsqualität
sprechen. Erstens halte ich es nicht für wahrscheinlich, dass die Ausübung der Disziplinargewalt über das Sekretariat durch
den Vorsitzenden die Durchführung irgendeiner Untersuchung beeinflussen würde. Zweitens würde, selbst wenn das Gegenteil der
Fall wäre, die mündliche Verhandlung vor der Wettbewerbskommission der Gefahr einer Beeinträchtigung der funktionalen Trennung
während der Untersuchung hinreichend entgegenwirken. Denn damit dürften alle Beteiligten ausreichend Gelegenheit zu eigenen
Ausführungen haben, wodurch sichergestellt wird, dass am Ende eine faire Entscheidung getroffen wird.
35.
Ich weise darauf hin, dass der Gerichtshof bereits eine Vorlage von einer Wettbewerbsbehörde, dem spanischen Tribunal de Defensa
de la Competencia (Kommission für die Verteidigung des Wettbewerbs), zugelassen hat
(7)
. Diese Einrichtung hatte in vielerlei Hinsicht die gleichen Eigenschaften wie die griechische Wettbewerbskommission. Sie
war ebenfalls eine durch Gesetz errichtete dauerhafte Einrichtung, die über die Anwendung der Wettbewerbsregeln in einem streitigen
Verfahren entschied. Sie wurde gleichfalls nach Erhalt eines Berichts tätig, der in diesem Fall von einer anderen Einrichtung
kam
(8)
.
36.
Ich kann in den Ausführungen der Beschwerdeführer zu 2 und 4 nichts entdecken, was irgendwelche anderen Zweifel an der Zulässigkeit
der Vorlage aufkommen ließe.
37.
Die betreffenden Beschwerdeführer weisen erstens darauf hin, dass die Wettbewerbskommission ungeachtet der in Artikel 8 Absatz
1 des Gesetzes Nr. 703/77 enthaltenen Feststellung ihrer Unabhängigkeit nicht zu den fünf unabhängigen Behörden zähle, die
in der griechischen Verfassung seit ihrer Neufassung im Jahr 2001 ausdrücklich vorgesehen seien. Folglich würden der Wettbewerbskommission
nicht die ausdrücklichen Verfassungsgarantien gewährt, die solche Behörden genössen. Ihre Mitglieder würde nicht nach dem
besonderen Verfahren ausgewählt, das in der Verfassung vorgeschrieben sei. Zudem sei ihre Verfahrensordnung nicht gesetzlich
festgelegt und stattdessen in Form eines interministeriellen Erlasses geregelt.
38.
Zweitens entspreche die Verfahrensordnung der Wettbewerbskommission gegenwärtig nicht den fundamentalen Rechtsgrundsätzen,
da es betroffenen Dritten nicht möglich sei, dem Verfahren vor der Kommission beizutreten.
39.
Drittens machen die Beschwerdeführer geltend, die Wettbewerbskommission habe nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist
von sechs Monaten über ihre Beschwerden entschieden.
40.
Keiner der von den Beschwerdeführern vorgebrachten Argumente überzeugt mich. Dass die Wettbewerbskommission nicht nach griechischem
Verfassungsrecht als unabhängige Behörde eingestuft wird, schmälert weder die im Gesetz aufgenommene Bestätigung ihrer Unabhängigkeit
noch die Vorkehrungen zur Sicherung dieser Unabhängigkeit in der Praxis.
41.
Sodann können Rechtsprechungsorgane meines Erachtens betroffenen Dritten legitimerweise in unterschiedlichem Umfang gestatten,
dem Verfahren beizutreten, ohne dass dadurch ihre Gerichtsqualität in Frage gestellt wird. Jedenfalls waren die Beschwerdeführer
offenbar imstande, in angemessener Weise an dem Hauptverfahren bei der Wettbewerbskommission teilzunehmen, indem sie ihre
Beanstandungen als Beschwerden eingereicht haben.
42.
Schließlich können Verzögerungen bei der Verhandlung über einen Fall meiner Meinung nach niemals die Gerichtsqualität der
damit befassten Einrichtung in Frage stellen, auch wenn sie natürlich die Qualität der Rechtspflege beeinträchtigen können.
43.
Ich habe mich bis jetzt mit den besonderen Merkmalen der griechischen Wettbewerbskommission befasst, wie sie in der Vorlageentscheidung
geschildert werden. Es mag jedoch nützlich sein, die Zulässigkeit der Vorlage kurz unter dem Gesichtspunkt der Durchsetzung
der Wettbewerbsregeln und insbesondere der Verordnung Nr. 1/2003 zu betrachten, durch die mit Wirkung vom 1. Mai 2004 ein
System der dezentralisierten Durchsetzung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln eingeführt worden ist
(9)
.
44.
Erstens ist bemerkenswert, dass die Verordnung Nr. 1/2003 den Mitgliedstaaten die Befugnis einräumt, die Aufgaben einer Wettbewerbsbehörde
Einrichtungen mit Merkmalen eines Gerichts zu übertragen
(10)
, und Vorschriften enthält, die die Unabhängigkeit solcher Einrichtungen sicherstellen sollen
(11)
.
45.
Zweitens gibt es aus meiner Sicht eine Reihe von praktischen Gründen für die Zulassung von Vorlagen solcher Einrichtungen.
Erwägungen der Prozessökonomie sprechen dafür, die Vorlage im frühestmöglichen Stadium zuzulassen und damit zu vermeiden,
dass ein anschließendes Verfahren bei einem Rechtsmittelgericht durchgeführt werden muss, um ein Vorabentscheidungsersuchen
zu ermöglichen. Außerdem ist zumindest denkbar, dass eine spezialisierte Wettbewerbsbehörde mit Merkmalen eines Gerichts möglicherweise
eher in der Lage ist, die entscheidenden Fragen des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts zu erkennen, als ein Gericht mit
Allgemeinzuständigkeit, das mit der Überprüfung von Entscheidungen der betreffenden Behörde in einem anschließenden Stadium
betraut ist. Im Zuge der Dezentralisierung des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts würde die Befugnis der gerichtsförmig
strukturierten nationalen Wettbewerbsbehörden, dem Gerichtshof Fragen vorzulegen, eine zusätzliche Garantie für die Einheitlichkeit
des Gemeinschaftsrecht geben. Darüber hinaus steht nunmehr fest, dass nationale Wettbewerbsbehörden berechtigt und verpflichtet
sind, nationale Rechtsvorschriften, die gegen Artikel 81 Absatz 1 EG verstoßende Verhaltensweisen vorschreiben oder erleichtern
oder deren Wirkungen verstärken, besonders im Hinblick auf die Festlegung von Preisen oder auf Marktaufteilungsvereinbarungen,
nicht anzuwenden
(12)
. Diese Befugnis spricht ebenfalls für eine großzügige Auslegung bei Vorlagen solcher Behörden, damit sichergestellt wird,
dass alle Unklarheiten in Bezug auf die anwendbaren Gemeinschaftsregeln beseitigt werden, bevor es zur Nichtanwendung nationaler
Rechtsvorschriften kommt.
46.
Meines Erachtens stützen diese praktischen Erwägungen meine vorangehende Schlussfolgerung, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen
als zulässig angesehen werden sollte. Dementsprechend werde ich mich jetzt den inhaltlichen Fragen zuwenden, die die griechische
Wettbewerbskommission aufgeworfen hat.
In der Sache
47.
Vorab möchte ich darauf hinweisen, dass einige der Ausführungen vor dem Gerichtshof die Marktabgrenzung und die beherrschende
Stellung betreffen. Die vorgelegten Fragen setzen jedoch eine beherrschende Stellung auf den relevanten Märkten voraus. Die
Wettbewerbskommission hat eine beherrschende Stellung bei einem der streitigen Erzeugnisse, Lamictal, bejaht und den Gerichtshof
nicht um Hinweise zu Kriterien für die Marktabgrenzung oder für die Beurteilung, ob eine beherrschende Stellung vorliegt,
ersucht. Ich werde mich daher in meinen Schlussanträgen auf die von der Wettbewerbskommission tatsächlich aufgeworfene Frage
der missbräuchlichen Ausnutzung im Sinne von Artikel 82 EG beschränken.
48.
Die Wettbewerbskommission möchte insoweit erstens wissen, ob das Verhalten eines marktbeherrschenden Pharmaunternehmens stets
deshalb schon als missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung im Sinne von Artikel 82 EG anzusehen ist, weil
es die bei ihm eingehenden Bestellungen nicht vollständig ausführt, um die Exporttätigkeit ihrer Abnehmer zu begrenzen. Zweitens
fragt die Wettbewerbskommission für den Fall, dass dies zu verneinen ist, von welchen Faktoren es abhängt, ob ein Unternehmen
für dieses Verhalten zur Verantwortung gezogen werden kann.
49.
Die Europäische Kommission trägt vor, eine derartige Beschränkung der Belieferung sei missbräuchlich, sofern das marktbeherrschende
Unternehmen keine objektive Rechtfertigung anführen könne, die angemessen und von hinreichendem Gewicht sei. Nach Auffassung
der Kommission ist keiner der von der griechischen Wettbewerbskommission genannten Faktoren für diese Rechtfertigung von Bedeutung.
50.
Die Kommission stützt ihre Ansicht zum Teil auf den wettbewerbswidrigen Charakter des fraglichen Verhaltens. Das Verhalten
eines marktbeherrschenden Unternehmens sei als missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung anzusehen, wenn sich
das Unternehmen weigere, seine Waren zu liefern oder seine Dienstleistungen zu erbringen, um den Anteil tatsächlicher oder
potenzieller Wettbewerber an einem bestimmten Markt zu begrenzen oder sie von ihm auszuschließen oder um seine Stellung auf
diesem Markt zu stärken. Da dem Versuch eines Herstellers, die Belieferung einzuschränken, um den Parallelhandel zu begrenzen,
gewöhnlich das Bestreben zugrunde liege, den markeninternen Wettbewerb auf dem Einfuhrmarkt zu beschränken, sei eine Lieferbeschränkung
in der Regel als missbräuchlich anzusehen. Zum Teil stützt sich die Kommission auch auf das mit dem fraglichen Verhalten verfolgte
Ziel der Marktaufteilung. Der Gerichtshof habe die Artikel 81 EG und 82 EG in ständiger Rechtsprechung dahin ausgelegt, dass
ein auf die Aufteilung des Gemeinsamen Marktes gerichtetes Verhalten verboten sei.
51.
Die Beschwerdeführer und die schwedische Regierung stimmen im Wesentlichen mit der Kommission überein.
52.
Nach Auffassung von GSK handelt ein marktbeherrschendes Pharmaunternehmen nicht missbräuchlich im Sinne von Artikel 82 EG,
wenn es seine Lieferungen einschränkt, um Parallelhandel zu begrenzen. Eine solche Einschränkung falle nicht unter die außergewöhnlichen
Umstände, unter denen Lieferverweigerungen als missbräuchlich angesehen worden seien. Vor dem hier gegebenen wirtschaftlichen
und rechtlichen Hintergrund und angesichts der besonderen Situation der pharmazeutischen Industrie in Europa könne eine derartige
Einschränkung nicht als missbräuchlich angesehen werden, sondern müsse als angemessene Maßnahme eines Unternehmens zum Schutz
seiner legitimen geschäftlichen Interessen begriffen werden.
Ist das fragliche Verhalten ohne weiteres missbräuchlich?
53.
Was den ersten Teil der ersten Vorlagefrage angeht, so halte ich das Vorbringen der Kommission und von GSK für zutreffend,
dass ein marktbeherrschendes Pharmaunternehmen durch seine Weigerung, die von Arzneimittelgroßhändlern bei ihm aufgegebenen
Bestellungen vollständig auszuführen, nicht zwingend seine beherrschende Stellung missbraucht, auch wenn es seine Absicht
ist, dadurch den Parallelhandel zu begrenzen. Das scheint mir aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes zu Lieferverweigerungen
eindeutig hervorzugehen. Nach dieser Rechtsprechung kann, wie der folgende Überblick – der notgedrungen ziemlich ausführlich
sein muss – zeigt, jedwede Lieferpflicht gemäß Artikel 82 EG nur nach genauer Untersuchung des tatsächlichen und rechtlichen
Hintergrundes statuiert werden, und selbst dann nur in vergleichsweise engen Grenzen.
54.
Dass ein marktbeherrschendes Unternehmen unter bestimmten Umständen möglicherweise verpflichtet ist, seine bisherigen Kunden
zu beliefern, wurde erstmals in der Rechtssache Commercial Solvents
(13)
bestätigt. Diese Rechtssache betraf die Weigerung von Commercial Solvents, einen Dritten, Zoja, weiterhin mit Rohstoffen
zu beliefern, die zur Herstellung eines Derivats benötigt wurden und nur bei Commercial Solvents erhältlich waren. Die Weigerung
beruhte auf der Entscheidung von Commercial Solvents, auf dem nachgelagerten Markt für dieses Derivat mit Zoja in Wettbewerb
zu treten. Der Gerichtshof entschied, dass ein Unternehmen in beherrschender Stellung auf einem Rohstoffmarkt, das sich den
Rohstoff für die Herstellung seiner eigenen Derivate vorbehält und sich weigert, einen Kunden, der seinerseits Hersteller
dieser Derivate ist, zu beliefern, seine beherrschende Stellung missbraucht; das gilt aber nur, wenn es „auch auf die Gefahr
hin [handelt], jeglichen Wettbewerb durch diesen Kunden auszuschalten“
(14)
.
55.
In der Rechtssache United Brands
(15)
stellte ein Unternehmen (UBC), das eine beherrschende Stellung bei der Erzeugung von Bananen hatte, die es unter der Marke
Chiquita vermarktete, die Lieferungen an einen dänischen Reifereibetrieb und Vertriebshändler ein, als dieser nach Unstimmigkeiten
mit UBC damit begann, den Verkauf der Bananen eines Wettbewerbers zu fördern und bei der Reiferei der Bananen von UBC weniger
Sorgfalt aufzuwenden. Der Gerichtshof hielt es für angebracht, „festzustellen, dass ein Unternehmen mit beherrschender Stellung
für den Vertrieb eines Erzeugnisses – mit dem Ansehen einer bekannten und von den Verbrauchern geschätzten Marke – seine Lieferungen
an einen langjährigen Kunden, dessen Geschäftsgebaren den Gebräuchen des Handels entspricht, nicht einstellen darf, wenn die
Bestellungen dieses Kunden in keiner Weise anomal sind“
(16)
.
56.
Der Gerichtshof befand, dass ein solches Verhalten gegen Artikel 82 EG verstößt, da „die Lieferverweigerung … zum Nachteil
der Verbraucher die Absatzmöglichkeiten beschränken und eine Diskriminierung schaffen [würde], die bis zur Ausschaltung eines
Geschäftspartners vom relevanten Markt gehen könnte“
(17)
. Der Gerichtshof stellte jedoch auch fest, dass selbst ein marktbeherrschendes Unternehmen das Recht haben muss, angemessene
Schritte zu ergreifen, die es zum Schutz seiner geschäftlichen Interessen für erforderlich hält, vorausgesetzt, dass sein
Verhalten in einem angemessenen Verhältnis zu der Bedrohung steht und nicht auf die Verstärkung oder den Missbrauch seiner
beherrschenden Stellung abzielt
(18)
.
57.
In der Rechtssache BP
(19)
ging es um eine Lieferbeschränkung eines marktbeherrschenden Mineralölunternehmens während der Ölknappheit in den Jahren
1973 und 1974. BP wandte sich gegen eine Entscheidung der Kommission, mit der festgestellt worden war, BP habe seine beherrschende
Stellung dadurch missbräuchlich ausgenutzt, dass es die Belieferung eines bestimmten Abnehmers wesentlich und in deutlich
stärkerem Ausmaß als gegenüber anderen Abnehmern eingeschränkt habe, ohne dass hierfür objektive Gründe vorgelegen hätten.
Die Kommission war der Auffassung, ein marktbeherrschendes Unternehmen müsse die verfügbaren Warenmengen in gerechter Weise
unter allen seinen Abnehmern aufteilen, wenngleich es Eigenheiten oder Unterschiede in Bezug auf deren wirtschaftliche Situation
berücksichtigen dürfe, und im Falle einer allgemeinen Versorgungskrise in erster Linie seine üblichen Kunden beliefern, wobei
die Einschränkungen der Lieferungen an die Abnehmer in einer Zeit der Knappheit auf der Grundlage eines der Krise vorausgehenden
Bezugszeitraums zu erfolgen hätten. Die Kommission hielt ein Jahr für angemessen.
58.
Generalanwalt Warner hielt die Definition des Missbrauchs angesichts der Schwierigkeit, den vorgeschlagenen Bezugszeitraum
festzulegen und zu ermitteln, ob Unterschiede zwischen den Abnehmern deren unterschiedliche Behandlung rechtfertigten, für
nicht handhabbar
(20)
. Auch der Gerichtshof befand, dass BP seine beherrschende Stellung nicht missbräuchlich ausgenutzt hatte. Der betreffende
Abnehmer war im Jahr vor der Krise aus dem Kreis der Stammkunden ausgeschieden. Da er somit bei Ausbruch der Krise nur Gelegenheitskunde
war, konnte von BP nicht erwartet werden, dass es ihn genauso wie ihre Stammkunden behandelte
(21)
. Der Gerichtshof bezweifelte außerdem, dass ein Bezugszeitraum auf einem Abnehmer angewandt werden kann, mit dem die geschäftliche
Verbindung während dieses Zeitraums geendet hat
(22)
. Schließlich wies er darauf hin, dass der betreffende Abnehmer in der Lage war, die durch die Krise verursachten Schwierigkeiten
zu überwinden
(23)
. Er war folglich weder offensichtlich, unmittelbar und wesentlich in seiner Marktposition benachteiligt noch in eine existenzgefährdende
Lage gebracht worden
(24)
.
59.
Der Rechtssache Telemarketing
(25)
lag eine Klage bei einem belgischen Gericht zugrunde, mit der einem Fernsehsender untersagt werden sollte, sich zu weigern,
einem Unternehmen, das auf dem nachgelagerten Markt für Telefonmarketing mit dem Sender konkurrierte, Sendezeit zu verkaufen.
Der Sender weigerte sich außerdem, Werbekunden Zeit für Werbespots mit der Aufforderung zu Telefonanrufen zu verkaufen, sofern
es sich bei der verwendeten Telefonnummer nicht um diejenige ihrer eigenen nachgelagerten Telefonmarketing‑Maßnahme handelte.
60.
Der Gerichtshof stellte als Antwort auf eine vom nationalen Gericht vorgelegte Frage fest, dass es einen Missbrauch im Sinne
von Artikel 82 EG darstellt, wenn ein Unternehmen, das auf einem bestimmten Markt eine beherrschende Stellung innehat, sich
oder seinem Tochterunternehmen eine andere Tätigkeit vorbehält, die von einem dritten Unternehmen im Rahmen seiner Tätigkeit
auf einem benachbarten, aber getrennten Markt ausgeübt werden könnte, so dass jeglicher Wettbewerb seitens dieses Unternehmens
ausgeschaltet zu werden droht. Der Gerichtshof wies darauf hin, dass in einem solchen Fall die von dem marktbeherrschenden
Unternehmen zurückgehaltene Vorleistung für die Tätigkeit des anderen Unternehmens unerlässlich wäre
(26)
.
61.
Die bis hierhin betrachteten Rechtssachen betrafen alle die Lieferverweigerung gegenüber einem bereits vorhandenen Abnehmer.
In einer Reihe anderer Rechtssachen hat sich der Gerichtshof mit der Weigerung eines Unternehmers befasst, einem Dritten die
erstmalige Verwendung seines geistigen Eigentums oder seiner physischen Infrastruktur zu gestatten.
62.
In der Rechtssache Volvo/Weng
(27)
entschied der Gerichtshof, dass kein Missbrauch einer beherrschenden Stellung vorliegt, wenn ein Kraftfahrzeughersteller,
der eingetragene Geschmacksmusterrechte an Karrosserieteilen für seine Kraftfahrzeuge besitzt, es ablehnt, Dritten Lizenzen
für die Herstellung solcher Teile zur Verwendung als Ersatzteile zu erteilen. Der Gerichtshof führte aus, dass die Befugnis
des Inhabers eines geschützten Musters, Dritte an der Herstellung und dem Verkauf oder der Einfuhr der das Muster verkörpernden
Erzeugnisse ohne seine Zustimmung zu hindern, gerade die Substanz seines ausschließlichen Rechts darstellt. Die Weigerung,
eine Lizenz zu erteilen, kann deshalb als solche keinen Missbrauch darstellen. Allerdings könnte die Ausübung des ausschließlichen
Rechts missbräuchlich werden, wenn z. B. das marktbeherrschende Unternehmen sich willkürlich weigern würde, unabhängige Reparaturwerkstätten
mit Ersatzteilen zu beliefern, unangemessene Ersatzteilpreise festsetzen würde oder entscheiden würde, keine Ersatzteile mehr
für ein bestimmtes Kraftfahrzeugmodell herzustellen, von dem noch viele Fahrzeuge verkehren
(28)
.
63.
In der Folgezeit bestätigte der Gerichtshof in der Rechtssache Magill
(29)
das Urteil des Gerichts erster Instanz, mit dem dieses eine Entscheidung der Kommission aufrechterhalten hatte, wonach Fernsehsender
in Irland die beherrschende Stellung, die sie auf dem Markt für ihre Fernsehprogrammvorschauen besaßen, missbräuchlich ausgenutzt
hätten, indem sie sich auf ihr Urheberrecht an diesen Vorschauen berufen hätten, um Dritte an der Herausgabe eines einzigen,
umfassenden wöchentlichen Programmführers zu hindern, der mit den Führern in Wettbewerb getreten wäre, die jeder Sender für
seine eigenen Programme herausgab. Der Missbrauch ergab sich für den Gerichtshof aus folgenden Umständen: Erstens verhinderte
die Weigerung der Sender, die Verwendung von Informationen über ihre Programme, einem unentbehrlichen Ausgangsmaterial für
einen umfassenden wöchentlichen Programmführer, zu gestatten, das Auftreten eines neuen Erzeugnisses, das die Sender nicht
anboten und nach dem eine potenzielle Nachfrage der Verbraucher bestand. Dies stellte einen Missbrauch nach Artikel 82 Absatz
2 Buchstabe b dar
(30)
. Zweitens war diese Weigerung nicht gerechtfertigt
(31)
. Drittens behielten sich die Sender durch ihr Verhalten einen abgeleiteten Markt – den der wöchentlichen Fernsehprogrammführer
– vor, indem sie jeden Wettbewerb auf diesem Markt ausschlossen, da sie den Zugang zu den Grundinformationen – dem unentbehrlichen
Ausgangsmaterial für die Herstellung eines solchen Programmführers – verweigerten
(32)
.
64.
Um einen weiteren Fall der Lieferverweigerung ging es in der Rechtssache Bronner
(33)
. Der Gerichtshof wurde gefragt, ob es eine gegen Artikel 82 EG verstoßende missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden
Stellung darstellt, wenn sich eine Zeitungsverlagsgruppe, die über einen wesentlichen Anteil am Tageszeitungsmarkt verfügt,
weigert, dem Verleger einer konkurrierenden Tageszeitung Zugang zu ihrem Hauszustellungssystem zu gewähren, oder diesen Zugang
davon abhängig macht, dass der betreffende Verleger bestimmte zusätzliche Leistungen von der Gruppe erwirbt. Der Gerichtshof
führte aus, dass er in seinen Urteilen Commercial Solvents und Telemarketing die Weigerung, einem Wettbewerber Waren zu liefern
oder Dienstleistungen zu erbringen, die für dessen Tätigkeit unerlässlich sind, nur dann als missbräuchlich angesehen hatte,
wenn das betreffende Verhalten geeignet war, jeglichen Wettbewerb durch das konkurrierende Unternehmen auszuschalten
(34)
. Der Gerichtshof rief sodann das Urteil Magill in Erinnerung und bemerkte, selbst wenn diese Rechtsprechung zur Ausübung
eines gewerblichen Schutzrechts auf die Ausübung eines beliebigen Eigentumsrechts anwendbar wäre, ließe sich ein Missbrauch
nur dann feststellen, wenn die Verweigerung der in der Hauszustellung liegenden Dienstleistung zum einen geeignet wäre, jeglichen
Wettbewerb auf dem Tageszeitungsmarkt durch denjenigen, der die Dienstleistung begehrt, auszuschalten, und nicht objektiv
zu rechtfertigen wäre, und zum anderen die Dienstleistung selbst für die Ausübung der Tätigkeit des Wettbewerbers in dem Sinne
unentbehrlich wäre, dass kein tatsächlicher oder potenzieller Ersatz für das Hauszustellungssystem bestünde
(35)
. Das war in Wirklichkeit nicht der Fall
(36)
.
65.
Schließlich ist der Gerichtshof in der kürzlich entschiedenen Rechtssache IMS Health
(37)
auf die Umstände zurückgekommen, unter denen die Weigerung eines marktbeherrschenden Unternehmens, eine Lizenz zur Verwendung
seines geistigen Eigentums zu erteilen, einen Missbrauch im Sinne von Artikel 82 EG darstellen kann. In Anlehnung an das Urteil
Magill hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein Unternehmen, das über ein Recht des geistigen Eigentums verfügt und den
Zugang zu Erzeugnissen oder Dienstleistungen verweigert, die für eine bestimmte Tätigkeit unerlässlich sind, bereits dann
missbräuchlich handelt, wenn drei Bedingungen kumulativ erfüllt sind: Die Weigerung muss das Auftreten eines neuen Erzeugnisses
verhindern, nach dem eine potenzielle Nachfrage der Verbraucher besteht, sie darf nicht gerechtfertigt sein, und sie muss
geeignet sein, jeglichen Wettbewerb auf einem abgeleiteten Markt auszuschließen
(38)
.
66.
Mir scheint, dass folgende für unseren Fall bedeutsamen Punkte aus der bisherigen gemeinschaftlichen Rechtsprechung und Praxis
abgeleitet werden können: Erstens ist offensichtlich, dass ein marktbeherrschendes Unternehmen gelegentlich zur Lieferung
seiner Waren oder zur Erbringung seiner Dienstleistungen verpflichtet ist. Das ist beispielsweise der Fall, wenn eine Lieferunterbrechung
zu einer schwerwiegenden Störung des Wettbewerbs zwischen dem Unternehmen und dem Abnehmer auf einem nachgelagerten Markt
oder zwischen dem Unternehmen und seinen tatsächlichen oder potenziellen Wettbewerbern auf dem Rohstoffmarkt führen würde.
Es gibt außerdem eine begrenzte Anzahl von Umständen, unter denen ein marktbeherrschendes Unternehmen verpflichtet ist, einem
Dritten erstmalig seine Einrichtungen zur Verfügung zu stellen oder für seine Rechte am geistigen Eigentum eine Lizenz zu
erteilen. Damit dies der Fall ist, muss eine außergewöhnliche Beeinträchtigung des Wettbewerbs nachgewiesen werden.
67.
Zweitens ist allerdings auch klar, dass die sich aus Artikel 82 EG ergebenden Lieferpflichten eines marktbeherrschenden Unternehmens
in mehrfacher Hinsicht begrenzt sind. Wie der Gerichtshof im Urteil United Brands festgestellt hat, braucht ein marktbeherrschendes
Unternehmen keine Bestellungen außerhalb des normalen Rahmens auszuführen und darf angemessene Schritte zum Schutze seiner
geschäftlichen Interessen ergreifen. Entsprechend konnte in der Rechtssache BP ein marktbeherrschendes Unternehmen vor dem
Gerichtshof erfolgreich eine Geschäftspolitik verteidigen, wonach die Abnehmer bei der Zuteilung knapper Güter unterschiedlich
behandelt wurden. Der Gerichtshof hat zudem die Verpflichtung von marktbeherrschenden Unternehmen durchgängig mit dem Hinweis
auf die Möglichkeit einer objektiven Rechtfertigung beschränkt.
68.
Aus welchen Faktoren sich ergibt, ob sich ein Unternehmen mit seiner Lieferverweigerung missbräuchlich verhält, hängt drittens
entscheidend von dem jeweiligen wirtschaftlichen und rechtlichen Hintergrund ab, vor dem sich der Fall abspielt. Die Kommission
deutet genau das in ihrer kürzlich erlassenen Microsoft‑Entscheidung an
(39)
. Ähnlich hat sich vor kurzem der Supreme Court in den Vereinigten Staaten geäußert
(40)
.
69.
Angesichts dieses Befundes ist für mich klar, dass die erste Vorlagefrage verneint werden muss: Ein marktbeherrschendes Pharmaunternehmen,
dass die Belieferung mit seinen Erzeugnissen einschränkt, missbraucht nicht zwingend seine beherrschende Stellung im Sinne
von Artikel 82 EG, nur weil es seine Absicht ist, dadurch den Parallelhandel zu begrenzen.
70.
Ich halte es ebenso wie die Kommission für plausibel, dass die Absicht, den Parallelhandel zu begrenzen, als einer der Umstände
angesehen werden sollte, die die Lieferverweigerung eines marktbeherrschenden Unternehmens in der Regel missbräuchlich machen.
Ein solches Verhalten zielt normalerweise eindeutig darauf ab, potenzielle Konkurrenz für das marktbeherrschende Unternehmen
im Einfuhrmitgliedstaat zu beseitigen. Selbst wenn eine hinreichende Auswirkung auf den Wettbewerb nicht in allen Fällen nachweisbar
sein sollte, lässt sich hierfür zusätzlich das mit dem betreffenden Verhalten verfolgte Ziel der Marktaufteilung vorbringen.
71.
Im vorliegenden Fall wird zwar die Absicht einer Marktaufteilung angenommen und anscheinend sogar eingeräumt. Die Marktaufteilung
ist aber nicht das vorrangige Ziel, sondern aufgrund der Besonderheiten des Marktes eine unvermeidliche Folge des Versuchs
von GSK, das, was es als seine legitimen geschäftlichen Interessen ansieht, zu schützen, indem es sich weigert, die bei ihr
eingehenden Bestellungen vollständig auszuführen. Die Frage der Absicht sollte daher nicht die Aufmerksamkeit von der entscheidenden
Frage ablenken, ob eine solche Weigerung unter Berücksichtigung aller Umstände gerechtfertigt ist.
72.
Wie die Kommission vorträgt, steht aber jedenfalls fest, dass es marktbeherrschenden Unternehmen nach der Gemeinschaftsrechtsprechung
freisteht, nachzuweisen, dass ihr Verhalten objektiv gerechtfertigt ist, selbst wenn es dem ersten Anschein nach einen Missbrauch
darstellt, und ich möchte mich jetzt der Frage der objektiven Rechtfertigung zuwenden. Hinzufügen möchte ich, dass die zweistufige
Prüfung, die durch die Unterscheidung zwischen einem Missbrauch und seiner objektiven Rechtfertigung nahe gelegt wird, meiner
Ansicht nach ein wenig künstlich ist. Artikel 82 enthält anders als Artikel 81 keine ausdrückliche Bestimmung über die Freistellung
eines Verhaltens, das anderenfalls unter den Tatbestand des Artikels fiele. In der Tat legt gerade der Umstand, dass das Verhalten
als „missbräuchliche Ausnutzung“ charakterisiert wird, nahe, dass es bereits zu einer negativen Bewertung gekommen ist, im
Gegensatz zu der neutraleren Wortwahl „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung“ in Artikel 81 EG. Meines Erachtens ist
es daher richtiger, zu sagen, dass bestimmte Verhaltensweisen des marktbeherrschenden Unternehmens von vornherein nicht in
die Kategorie des Missbrauchs fallen. Da die Kommission jedoch angesichts einiger Fälle aus der früheren Gemeinschaftsrechtsprechung
zur objektiven Rechtfertigung Stellung bezogen hat, dürfte es sinnvoll sein, diese Struktur hier zu übernehmen.
Kann das fragliche Verhalten objektiv gerechtfertigt sein?
73.
Da ich vorgeschlagen habe, den ersten Teil der ersten Vorlagefrage zu verneinen, ist auch zu prüfen, ob die verschiedenen
Faktoren, die die griechische Wettbewerbskommission genannt hat, für die Beurteilung, ob ein Verhalten der fraglichen Art
objektiv gerechtfertigt sein kann, von Bedeutung sind, als da sind: die Tatsache, dass im europäischen Arzneimittelsektor
keine unverfälschten Wettbewerbsbedingungen herrschen; der Prozentsatz, um den das Angebot an Arzneimitteln, das von dem Unternehmen
in beherrschender Stellung zur Verfügung gestellt wird, den Inlandsverbrauch überschreitet; die Auswirkungen des Parallelhandels
auf den Umsatz oder den Gewinn des marktbeherrschenden Unternehmens und das Ausmaß, in dem der Endverbraucher oder Patient
und der Erwerber der gehandelten Erzeugnisse vom Parallelhandel profitiert.
74.
Auf den ersten Blick fällt es schwer, die Ansicht der Europäischen Kommission zu widerlegen, dass es nur in sehr wenigen Fällen
möglich sein sollte, eine Lieferbeschränkung, die die Begrenzung des Parallelhandels zum Ziel hat, zu rechtfertigen. In den
meisten Fällen liegen die Vorteile des Parallelhandels auf der Hand: Parallelhandel sorgt für markeninternen Wettbewerb, indem
er die Preise im Einfuhrstaat zugunsten der dortigen Verbraucher senkt. Bei näherer Untersuchung des besonderen Kontextes
des europäischen Arzneimittelsektors bin ich jedoch nicht davon überzeugt, dass es so wenige Möglichkeiten der Rechtfertigung
gibt, wie die Kommission meint.
75.
In der Tat scheinen mir mehrere der Besonderheiten dieses Sektors, auf die die griechische Wettbewerbskommission hinweist,
von Bedeutung zu sein für die Frage nach der Verantwortlichkeit eines marktbeherrschenden Pharmaunternehmens, das seine Lieferungen
einschränkt, um den Parallelhandel zu begrenzen.
76.
Bei den Faktoren, die meiner Ansicht nach berücksichtigt werden müssen, handelt es sich erstens um die durchgehende Regulierung
der Preise und des Vertriebs in diesem Sektor, zweitens um die voraussichtlichen Auswirkungen des ungeminderten Parallelhandels
auf Pharmaunternehmen angesichts der wirtschaftlichen Verhältnisse in diesem Sektor und drittens um die Auswirkungen des Parallelhandels
auf Verbraucher und Abnehmer von Arzneimitteln.
Die Regulierung der Preise und des Vertriebs im europäischen Arzneimittelsektor
77.
Meiner Meinung nach ist es bei der Beurteilung eines Verhaltens der in diesem Verfahren fraglichen Art unmöglich, die durchgehende
und vielfältige Regulierung außer Acht zu lassen, der der Arzneimittelsektor sowohl auf nationaler als auch auf Gemeinschaftsebene
unterworfen ist und die ihn, wie mir scheint, von allen anderen Industriezweigen unterscheiden, die sich mit der Herstellung
leicht handelbarer Güter befassen.
78.
Mitgliedstaaten intervenieren, um die in ihrem Hoheitsgebiet für Arzneimittel zu zahlenden Preise zu begrenzen. Diese Intervention
soll die Budgets der gesetzlichen Krankenversicherungen schützen, die den größten Teil der Kosten für Arzneimittel tragen.
Die Staaten intervenieren in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlichen Methoden, um den Preis für Arzneimittel festzulegen
oder zu beeinflussen. Einige Staaten sind bereit, den Verkauf von Arzneimitteln zu einem höheren Preis zuzulassen als andere
Staaten. Damit erkennen sie womöglich – ausdrücklich oder stillschweigend – an, dass den Pharmaunternehmen die Erzielung eines
ausreichenden Gewinns als Anreiz für die Forschung und die Entwicklung neuer Arzneimittel erlaubt werden muss. Infolgedessen
ist der Preis für Arzneimittel in einigen Mitgliedstaaten regelmäßig viel höher als in anderen. Es sind die Preisunterschiede
zwischen Mitgliedstaaten, die Gelegenheiten zum Parallelhandel eröffnen. In einer kürzlich herausgegebenen, vor der letzten
Erweiterung der Europäischen Union veröffentlichten Mitteilung hat die Kommission vorausgesagt, dass die Erweiterung diese
Unterschiede noch vergrößern werde
(41)
.
79.
Die Preisfestsetzung durch Mitgliedstaaten ist durch Gemeinschaftsvorschriften nur begrenzt harmonisiert worden
(42)
. In ihrer 1998 herausgegebenen Mitteilung über den Binnenmarkt für Arzneimittel
(43)
kam die Kommission zu dem Ergebnis, dass die Schaffung eines zentral verwalteten europäischen Preisfestsetzungssystems für
Arzneimittel nicht wünschenswert und derzeit unpraktikabel sei. Sie stellte fest, dass „sich die Festlegung eines angemessenen
Preisniveaus für die gesamte Gemeinschaft als äußerst schwierig erweisen dürfte. Niedrige Preisniveaus würden sich unmittelbar
positiv auswirken in Bezug auf die Einhaltung der Vorgaben für die Gesundheitsausgaben (zumindest in den Ländern mit gegenwärtig
hohen Preisen), sie würden jedoch auch einen stetigen Rückgang des europäischen Beitrags zur globalen FuE‑Investition auslösen,
der letztendlich zum Kapitalabzug aus der europäischen Wirtschaft führen würde. Hohe Preisniveaus würden den Zugang zu Verbrauchern
und Zahlern in denjenigen Ländern einschränken, in denen aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen solche Preise
nicht erschwinglich sind.“
(44)
Stattdessen schlug die Kommission verschiedene Maßnahmen zur Verringerung der Störungen des Binnenmarktes vor, die infolge
der Preisfestsetzung für Arzneimittel durch die Mitgliedstaaten auftreten.
80.
Ein zweiter bedeutsamer Punkt, der zeigt, dass in der europäischen Arzneimittelindustrie keine normalen Wettbewerbsbedingungen
herrschen, ist der hohe Grad an Regulierung, dem der Vertrieb von Arzneimitteln sowohl auf nationaler als auch auf Gemeinschaftsebene
unterworfen ist. Nach den Gemeinschaftsregelungen für Humanarzneimittel müssen die Mitgliedstaaten ein System schaffen, wonach
jeder, der als Arzneimittelgroßhändler tätig ist, einer Genehmigung bedarf. Die Genehmigung wird nur erteilt, wenn eine Reihe
von Mindestanforderungen erfüllt ist
(45)
.
81.
In zahlreichen Mitgliedstaaten sind Pharmaunternehmen und Großhändler verschiedenen zusätzlichen, durch nationales Recht begründeten
Pflichten unterworfen, um die Verfügbarkeit von Arzneimitteln zu gewährleisten. Wie die griechische Wettbewerbskommission
in der Vorlageentscheidung erläutert, sieht beispielsweise das griechische Recht für einige der Beschwerdeführer eine gemeinwirtschaftliche
Verpflichtung vor, permanent vollständige und diversifizierte Bestände von Arzneimitteln bereitzuhalten, die für die Deckung
der Ansprüche eines räumlich festgelegten Gebietes und die Sicherung der Auslieferung der bestellten Erzeugnisse innerhalb
sehr kurzer Zeit im gesamten festgelegten Gebiet geeignet sind.
82.
Artikel 81 Absatz 2 der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel sieht nunmehr
ebenfalls folgende Verpflichtung für Pharmahersteller und die ihre Arzneimittel vertreibenden Großhändler vor:
„Der Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels und die Großhändler, die dieses in einem Mitgliedstaat
tatsächlich in Verkehr gebrachte Arzneimittel vertreiben, stellen im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit eine angemessene und
kontinuierliche Bereitstellung des Arzneimittels für Apotheken und zur Abgabe von Arzneimitteln zugelassene Personen sicher,
damit der Bedarf der Patienten in dem betreffenden Mitgliedstaat gedeckt ist.“
83.
Die Regulierung des europäischen Arzneimittelsektors auf nationaler und auf Gemeinschaftsebene ist meines Erachtens in mehrfacher
Hinsicht für die Beurteilung eines Verhaltens der hier fraglichen Art von Bedeutung.
84.
Erstens wirft diese Regulierung Licht auf die Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit einer Lieferbeschränkung. Versuchen Pharmaunternehmen,
Parallelhandel zu verhindern, so tun sie dies nicht, um selbst geschaffene Preisunterschiede festzuschreiben, sondern, um
die Folgen zu vermeiden, die es hätte, wenn die sehr niedrigen Preise, die ihnen in einigen Mitgliedstaaten vorgeschrieben
werden, gemeinschaftsweit durchgesetzt würden.
85.
Auch hindert eine Lieferbeschränkung als solche die Großhändler nicht daran, die Erzeugnisse, mit denen sie beliefert werden,
auszuführen. Normalerweise verhindert eine derartige Beschränkung den Parallelhandel nicht wirksam, wenn Preisunterschiede
zwischen Mitgliedstaaten bestehen. Sämtliche Bestände, die in einem Mitgliedstaat mit niedrigem Preisniveau angeboten würden,
würden ausgeführt werden, und es gäbe keinen Grund für das Unternehmen, diesen Staat überhaupt zu beliefern. Was Großhändler
in der pharmazeutischen Industrie daran hindert, Erzeugnisse in ihrem Besitz auszuführen, ist offensichtlich die ihnen auferlegte
gemeinwirtschaftliche Verpflichtung, ausreichende Bestände für den Inlandsverbrauch vorzuhalten. Die mit einer Lieferbeschränkung
in Verbindung gebrachte Marktaufteilungswirkung ergibt sich aus den Maßnahmen der nationalen Behörden im Ausfuhrstaat.
86.
Zweitens begründen die rechtlichen und moralischen Verpflichtungen, denen marktbeherrschende Unternehmen in Bezug auf die
Bereitstellung von Arzneimitteln in allen Mitgliedstaaten unterliegen, Zweifel daran, ob es angemessen und verhältnismäßig
ist, von ihnen die Belieferung der Großhändler in Mitgliedstaaten mit niedrigem Preisniveau zu verlangen, wenn diese Großhändler
beabsichtigen, die gelieferten Mengen auszuführen. Es ist unklar, ob sich ein Pharmaunternehmen aus einem Mitgliedstaat zurückziehen
könnte, in dem ihm ein niedriger Preis vorgeschrieben wurde. Mir scheint, dass zwei rechtliche Hindernisse einem solchen Rückzug
entgegenstünden. Zum einen könnte es sein, dass marktbeherrschende Unternehmen aufgrund von Artikel 82 EG nur unter bestimmten
Umständen bestehende Geschäftsbeziehungen beenden dürfen, zumindest, soweit sie dies ohne Einhaltung einer angemessenen Kündigungsfrist
tun. Zum anderen müssen Pharmaunternehmen nach Artikel 81 der Richtlinie 2001/83/EG im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit eine
angemessene und kontinuierliche Bereitstellung eines genehmigten und in einem Mitgliedstaat tatsächlich in Verkehr gebrachten
Arzneimittels für Apotheken und zur Abgabe von Arzneimitteln zugelassene Personen sicherstellen, damit der Bedarf der Patienten
in dem betreffenden Mitgliedstaat gedeckt ist. Die Einzelheiten dieser Verpflichtung bedürfen noch der Klärung, aber sie kann
meines Erachtens in gewissem Umfang den Spielraum einschränken, über den ein Pharmaunternehmen verfügt, wenn es ein Erzeugnis,
das bereits in einem bestimmten Mitgliedstaat in den Verkehr gebracht worden ist, wieder vom Markt nehmen möchte.
87.
Drittens ist die Regelung des Arzneimittelvertriebs in Europa auf nach Mitgliedstaaten getrennten Systemen errichtet, die
sicherstellen sollen, dass der Bedarf in jedem Mitgliedstaat gedeckt wird, die sowohl den Pharmaunternehmen als auch den Großhändlern
Verpflichtungen auferlegen und die durch die anwendbaren Gemeinschaftsvorschriften ausdrücklich gestärkt werden. Die Tätigkeiten
der Parallelhändler durchkreuzen ein solches System und beschwören damit die Gefahr herauf, sowohl im Einfuhr- als auch im
Ausfuhrmitgliedstaat die Vorkehrungen zunichte zu machen, die Arzneimittelhersteller und –großhändler aufgrund ihrer gemeinwirtschaftlichen
Verpflichtungen nach nationalem und nach Gemeinschaftsrecht treffen müssen. Die Entscheidung eines marktbeherrschenden Pharmaunternehmens,
die Mengen zu begrenzen, die es denen zur Verfügung stellt, die einen Parallelhandel betreiben wollen, ist meiner Ansicht
nach vor dem Hintergrund dieser Verpflichtungen zu bewerten.
88.
Schließlich lässt, wie ich unten erörtern werde, der Umstand, dass die Mitgliedstaaten völlig unterschiedliche Preisniveaus
für Arzneimittel im Inland geschaffen haben und selbst Hauptabnehmer von Arzneimitteln sind, Zweifel an der Vorstellung aufkommen,
dass Käufer von Arzneimitteln tatsächlich vom Parallelhandel profitieren.
Die wirtschaftliche Seite innovativer pharmazeutischer Industrie
89.
Meiner Ansicht nach ist es auch wichtig, einige der wirtschaftlichen Faktoren zu betrachten, die sich auf die Geschäftspolitik
von Pharmaunternehmen auswirken. Innovation ist ein wichtiger Wettbewerbsparameter im Pharmaziesektor
(46)
. Die Forschung im Hinblick auf ein neues Arzneimittel und dessen Entwicklung bedürfen in der Regel erheblicher Investitionen
(47)
. Die Produktion eines Arzneimittels zeichnet sich gewöhnlich durch hohe Fixkosten (für die Forschung und die Entwicklung
eines Produkts) und vergleichsweise niedrige variable Kosten (für die Herstellung des Produkts, wenn es erst einmal entwickelt
worden ist) aus
(48)
. Es liegt auf der Hand, dass die Entscheidung des Herstellers, ob er in die Entwicklung eines neuen Arzneimittels investiert,
teilweise davon abhängen wird, ob er mit ausreichenden Gewinnen rechnen kann, um die Investitionskosten wieder hereinzuholen.
Sobald die Investition getätigt ist, sind diese Kosten jedoch gesunken. Ein Unternehmen verhält sich daher rational, wenn
es mit seinen Erzeugnissen jeden Markt beliefert, auf dem der Preis oberhalb der variablen Kosten festgesetzt ist. Dass ein
Erzeugnis auf einem bestimmten Markt zu einem bestimmten Preis vertrieben wird, bedeutet noch nicht, dass ein Pharmaunternehmen
sämtliche hierfür aufgewendeten Kosten hereinholen könnte, wenn dieser Preis überall in der Gemeinschaft gelten würde. Dies
ließe sich überprüfen, wenn das nationale Gericht feststellen könnte, ob der Preis, der an das marktbeherrschende Unternehmen
in einem bestimmten Mitgliedstaat gezahlt wird, es ihm ermöglicht, seine fixen und variablen Kosten zu decken sowie einen
angemessenen Gewinn zu erzielen.
90.
Diese Faktoren gewähren einen gewissen Einblick in die möglichen Folgen eines Verbots der Lieferbeschränkungen, die ein marktbeherrschendes
Unternehmen in der Absicht vornimmt, den Parallelhandel zu begrenzen.
91.
Für solche Unternehmen gäbe es dann eindeutig einen Anreiz, in Mitgliedstaaten, in denen die Preise auf niedrigem Niveau festgesetzt
sind, keine Erzeugnisse zu vermarkten, die ihnen möglicherweise eine beherrschende Stellung verschaffen. Wie ich oben erörtert
habe, könnten die rechtlichen und moralischen Verpflichtungen der Unternehmen es ihnen erschweren, Erzeugnisse, die in diesen
Staaten bereits vertrieben werden, wieder vom Markt zu nehmen. Noch wahrscheinlicher ist es, dass sie das Inverkehrbringen
neuer Erzeugnisse in diesen Staaten aufschieben werden. Daher würde innerhalb der Gemeinschaft die Produktion einiger Arzneimittel
sinken und das durch sie hervorgerufene Wohlergehen der Verbraucher beeinträchtigt.
92.
Zugleich würden die Verhandlungen zur Festsetzung der Preise in Mitgliedstaaten mit niedrigem Preisniveau mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit schwieriger werden. Es gäbe erheblichen Druck, die Preise in diesen Staaten heraufzusetzen,
wenn sie infolge des Parallelhandels fortan in der gesamten Gemeinschaft gelten würden. Diese vereinbarten Preiserhöhungen
würden wiederum die Produktion senken und das Wohlergehen der Verbraucher in den Staaten beeinträchtigen, in denen sie erfolgten.
Darüber hinaus würden sie im Ergebnis zu einer Umverteilung der Ressourcen von Verbrauchern in den Mitgliedstaaten mit niedrigem
Preisniveau zu denen in den Mitgliedstaaten mit hohem Preisniveau führen.
93.
Wären die Mitgliedstaaten mit niedrigem Preisniveau imstande, dem Druck zur Anhebung der Preise zu widerstehen, und würden
Pharmaunternehmen keine Erzeugnisse vom Markt nehmen oder zurückhalten, würden die Einnahmen aus dem Verkauf von Erzeugnissen,
bei denen eine beherrschende Stellung des betreffenden Unternehmens festgestellt würde, zurückgehen. Der Anreiz für ein Pharmaunternehmen,
in Forschung und Entwicklung zu investieren, wäre aufgrund des niedrigeren Gewinns, mit dem dieses Unternehmen während der
Laufzeit seines Patentschutzes rechnen könnte, entsprechend schwächer.
94.
Die Kommission trägt vor, Pharmaunternehmen hätten die Wahl, ob sie ein Erzeugnis zu einem bestimmten Preis vertrieben, und
wenn sie dies täten, sei anzunehmen, dass der Verkauf zu dem fraglichen Preis rentabel sei. Wie ich oben erläutert habe
(49)
, geht dieser Schluss meines Erachtens zu weit. Ein Unternehmen kann einen Preis in einem bestimmten Mitgliedstaat akzeptieren,
auch wenn es zu diesem Preis die mit der Entwicklung eines bestimmten Arzneimittels verbundenen Kosten nur begrenzt wieder
hereinholen kann, sofern die variablen Kosten für die Herstellung gedeckt sind und sofern der Preis nicht fortan für die gesamte
Gemeinschaft gilt und dadurch die in anderen Mitgliedstaaten erzielten Einnahmen nicht mehr zulässt.
95.
Infolgedessen ist es durchaus vorstellbar, dass marktbeherrschende Pharmaunternehmen, wenn sie keine Preiserhöhung in einem
Mitgliedstaat mit niedrigem Preisniveau aushandeln können, auf eine Pflicht zur Belieferung von Parallelhändlern in einem
bestimmten Mitgliedstaat in der Weise reagieren würden, dass sie in dem betreffenden Staat vorhandene Erzeugnisse vom Markt
nähmen, falls sie dazu in der Lage wären, und das Inverkehrbringen neuer Erzeugnisse in diesem Staat aufschöben. An die Stelle
der Preisunterschiede träte eine größere Zersplitterung des Marktes mit einem von Staat zu Staat unterschiedlichen Sortiment
von Erzeugnissen.
Die Folgen des Parallelhandels für Verbraucher und Abnehmer im Einfuhrmitgliedstaat
96.
Schließlich halte ich es für wichtig, die Auswirkungen des Parallelhandels auf Verbraucher und Abnehmer im Einfuhrmitgliedstaat
zu untersuchen. Normalerweise sind die Vorteile des Parallelhandels für diejenigen spürbar, die Erzeugnisse auf dem Bestimmungsmarkt
zu einem niedrigeren Preis kaufen können. Es zeigt sich jedoch, dass besondere Merkmale der europäischen pharmazeutischen
Industrie diese Vorteile in Frage stellen.
97.
Der Parallelhandel mit Arzneimitteln führt nicht zwingend zu einem Preiswettbewerb, der für die Endverbraucher dieser Erzeugnisse
wahrnehmbar wäre. In vielen Mitgliedstaaten leisten Patienten nur einen kleinen Pauschalbeitrag zum Preis der ihnen verschriebenen
Arzneimittel. Die restlichen Kosten für den Erwerb des Erzeugnisses fallen dem System der staatlichen Gesundheitsfürsorge
zur Last. In diesen Staaten bringt der Parallelhandel deshalb keine Vorteile für die Endverbraucher der auf diese Art und
Weise verkauften Arzneimittel.
98.
Ebenso wenig bewirkt der Parallelhandel in jedem Fall einen Preiswettbewerb zugunsten der öffentlichen Einrichtungen, die
die gehandelten Erzeugnisse tatsächlich abnehmen, oder zugunsten der Steuerzahler, die zu den entsprechenden Mitteln beitragen.
In einigen Staaten z. B. haben Apotheker das Recht erhalten, für gehandelte Erzeugnisse den Preis zu verlangen, der für Erzeugnisse
gilt, die in dem betreffenden Staat erstmalig auf den Markt eingeführt werden. Infolgedessen ist der Preisunterschied, der
zum Parallelhandel geführt hat, von den an der Vertriebskette Beteiligten vollständig als Gewinn abgeschöpft worden. Als Reaktion
hierauf haben einige dieser Staaten Erstattungsregelungen erlassen, um einen Teil des Gewinns von den Apothekern wiederzuerlangen.
Die Kommission räumt in ihrer Mitteilung aus dem Jahre 1998 ein: „Wenn der Parallelhandel sich nicht dynamisch auf die Preise
auswirken kann, so führt er zu Ineffizienz, da der Gewinn größtenteils, wenngleich nicht völlig, nicht dem Gesundheitssystem
oder dem Patienten, sondern dem Parallelhändler zufällt.“
(50)
99.
Da öffentliche Stellen sowohl Arzneimittel erwerben als auch eine bedeutende Rolle bei der Festsetzung ihrer Preise spielen,
ist jedenfalls nicht anzunehmen, dass das Interesse des Abnehmers in einem Mitgliedstaat mit hohem Preisniveau allein auf
Preissenkungen gerichtet ist. Wäre der Staat an niedrigeren Preisen interessiert, wäre zu erwarten, dass er sich mehr für
deren unmittelbare Herabsetzung einsetzt. Preiswettbewerb, wie er sich aus dem Parallelhandel ergibt, läuft daher womöglich
der Präferenz des Abnehmers zuwider.
Folgerungen für die Möglichkeit einer objektiven Rechtfertigung
100.
In Anbetracht aller oben erwogenen Faktoren bin ich der Ansicht, dass eine Lieferbeschränkung eines marktbeherrschenden Pharmaunternehmens,
die darauf abzielt, den Parallelhandel zu begrenzen, als eine angemessene und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutze seiner
geschäftlichen Interessen gerechtfertigt sein kann. Eine solche Beschränkung schützt weder Preisunterschiede, die auf die
Unternehmen selbst zurückgehen, noch behindert sie unmittelbar den Handel, der vielmehr durch von Mitgliedstaaten auferlegte
gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen blockiert wird. Von dem Unternehmen die Ausführung aller bei ihm aufgegebenen Bestellungen
zu verlangen, wäre in vielen Fällen angesichts seiner moralischen und rechtlichen Verpflichtung, in allen Mitgliedstaaten
Bestände bereitzuhalten, eine unverhältnismäßige Belastung. Aufgrund der wirtschaftlichen Besonderheiten der pharmazeutischen
Industrie würde eine Lieferpflicht nicht zwingend die Freizügigkeit oder den Wettbewerb fördern und könnte dem Anreiz für
Pharmaunternehmen, innovativ tätig zu werden, abträglich sein. Darüber hinaus ist nicht anzunehmen, dass der Parallelhandel
den Endverbrauchern von Arzneimitteln oder den Mitgliedstaaten als deren Hauptabnehmern tatsächlich nützen würde.
101.
Der Schluss, zu dem ich hier gekommen bin, bezieht sich jedoch ganz speziell auf die pharmazeutische Industrie in ihrer derzeitigen
Verfassung und auf die besondere Art des im vorliegenden Verfahren streitigen Verhaltens.
102.
Meines Erachtens ist es sehr unwahrscheinlich, dass irgendein anderer Sektor die Merkmale aufweist, die mich zu dem Schluss
gebracht haben, dass eine Lieferbeschränkung zur Begrenzung des Parallelhandels bei Arzneimitteln vertretbar ist. Desgleichen
müsste, wenn sich der wirtschaftliche und rechtliche Hintergrund des europäischen Arzneimittelsektors ändern sollte, über
die Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit einer Lieferbeschränkung in einem Mitgliedstaat mit niedrigem Preisniveau vielleicht
neu nachgedacht werden.
103.
Ich bin außerdem der Auffassung, dass das Verhalten eines marktbeherrschenden Unternehmens, das den Binnenmarkt deutlicher
und unmittelbarer aufteilen würde, nicht in ähnlicher Weise gerechtfertigt werden könnte. Die Verhältnismäßigkeit der Lieferbeschränkung
rührt teilweise daher, dass die Beschränkung nur sehr begrenzt zur Marktaufteilung im Arzneimittelsektor beiträgt.
104.
Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass die obige Analyse nicht ausschließt, dass eine Lieferbeschränkung eines marktbeherrschenden
Pharmaunternehmens mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Lieferverweigerung in Konflikt geraten könnte, wenn
sie nachteilige Folgen für den Wettbewerb hätte, die nicht aus der Begrenzung des Parallelhandels herrühren.
Ergebnis
105.
Aus den oben genannten Gründen bin ich deshalb der Ansicht, dass die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen wie folgt beantwortet
werden sollten:
- 1.
- Ein Pharmaunternehmen in einer beherrschenden Stellung nutzt diese Stellung nicht zwingend missbräuchlich aus, wenn es sich
nur deshalb weigert, die an es gerichteten Bestellungen von Arzneimittelgroßhändlern vollständig auszuführen, um auf diese
Weise den Parallelhandel zu begrenzen.
- 2.
- Eine solche Weigerung kann objektiv gerechtfertigt und somit nicht missbräuchlich sein, wenn der Preisunterschied, der zum
Parallelhandel geführt hat, das Ergebnis staatlicher Eingriffe im Ausfuhrmitgliedstaat ist, mit denen der Preis dort auf einem
niedrigeren Niveau, als es sonst in der Gemeinschaft herrscht, festgesetzt worden ist, und wenn sämtliche Umstände, die für
den europäischen Arzneimittelsektor in seiner derzeitigen Verfassung bestimmend sind, berücksichtigt werden, insbesondere:
-
- –
- die umfassenden und zahlreichen staatlichen Eingriffe in die Preisgestaltung von Arzneimitteln, die für die Preisunterschiede
zwischen Mitgliedstaaten verantwortlich sind;
-
- –
- die Regulierung des Arzneimittelvertriebs durch die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten, mit der Pharmaunternehmen und ‑großhändlern
national begrenzte Verpflichtungen auferlegt werden, um die Verfügbarkeit angemessener Arzneimittelbestände sicherzustellen;
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- die aufgrund der wirtschaftlichen Besonderheiten der pharmazeutischen Industrie potenziell nachteiligen Auswirkungen des Parallelhandels
auf den Wettbewerb, den Binnenmarkt und die Innovationsanreize;
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- die Tatsache, dass der Parallelhandel den Endverbrauchern von Arzneimitteln nicht in jedem Fall zugute kommt und nicht anzunehmen
ist, dass öffentliche Stellen in den Mitgliedstaaten als Hauptabnehmer dieser Erzeugnisse von niedrigeren Preisen profitieren,
da sie selbst für die Festsetzung von Preisen in dem jeweiligen Mitgliedstaat zuständig sind.
- 1 –
- Originalsprache: Englisch.
- 2 –
- Vgl. insbesondere Urteile vom 17. September 1997 in der Rechtssache C‑54/96 (Dorsch Consult, Slg. 1997, I‑4961, Randnr. 23
und die dort angeführte Rechtsprechung), vom 21. März 2000 in den verbundenen Rechtssachen C‑110/98 bis C‑147/98 (Gabalfrisa
u. a., Slg. 2000, I‑1577, Randnr. 33) und vom 30. Mai 2002 in der Rechtssache C‑516/99 (Schmid, Slg. 2002, I‑4573, Randnr.
34).
- 3 –
- Vgl. Beschluss vom 18. Juni 1980 in der Rechtssache 138/80 (Borker, Slg. 1980, 1975, Randnr. 4) und Urteile vom 19. Oktober
1995 in der Rechtssache C‑111/94 (Job Centre, Slg. 1995, I‑3361, Randnr. 9) und vom 15. Januar 2002 in der Rechtssache C‑182/00
(Lutz u. a., Slg. 2002, I‑547, Randnrn. 15 und 16).
- 4 –
- In Nr. 25.
- 5 –
- Zitiert in Fußnote 2.
- 6 –
- In Randnrn. 39 und 40 des Urteils.
- 7 –
- Urteil vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C‑67/91 (Asociación Española de Banca Privada u. a., Slg. 1992, I‑4785).
- 8 –
- Das Verfahren, in dem ein Vorschlag von einer eigenständigen Untersuchungsbehörde gemacht wurde, wird im Sitzungsbericht beschrieben
(auf S. 4790).
- 9 –
- Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten
Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1).
- 10 –
- Artikel 35 und Begründungserwägung 35.
- 11 –
- Vgl. insbesondere Artikel 35 Absatz 4.
- 12 –
- Urteil des Gerichtshofes vom 9. September 2003 in der Rechtssache C‑198/01 (CIF, Slg. 2003, I‑8055).
- 13 –
- Urteil vom 6. März 1974 in der Rechtssache 6/73 (Commercial Solvents/Kommission, Slg. 1974, 223).
- 14 –
- Randnr. 25 des Urteils.
- 15 –
- Urteil vom 14. Februar 1978 in der Rechtssache 27/76 (Slg. 1978, 207).
- 16 –
- Randnr. 182 des Urteils.
- 17 –
- Randnr. 183 des Urteils.
- 18 –
- Randnrn. 189 und 190 des Urteils.
- 19 –
- Urteil vom 29. Juni 1978 in der Rechtssache 77/77 (Slg. 1978, 1513).
- 20 –
- Seite 1540.
- 21 –
- Randnrn. 28 und 29 sowie 32 und 33 des Urteils.
- 22 –
- Randnr. 30 des Urteils.
- 23 –
- Randnr. 42 des Urteils.
- 24 –
- Randnr. 20 des Urteils.
- 25 –
- Urteil vom 3. Oktober 1985 in der Rechtssache 311/84 (CBEM/CLT und IPB, Slg. 1985, 3261).
- 26 –
- Randnrn. 25 bis 27 und Tenor des Urteils.
- 27 –
- Urteil vom 5. Oktober 1988 in der Rechtssache C‑238/87 (Slg. 1988, 6211).
- 28 –
- Randnrn. 8 und 9 des Urteils.
- 29 –
- Urteil vom 6. April 1995 in den verbundenen Rechtssachen C‑241/91 P und C‑242/91 P (RTE und ITP/Kommission, Slg. 1995, I‑743).
- 30 –
- Randnrn. 53 und 54 des Urteils.
- 31 –
- Randnr. 55 des Urteils.
- 32 –
- Randnr. 56 des Urteils.
- 33 –
- Urteil vom 26. November 1998 in der Rechtssache C‑7/97 (Slg. 1998, I‑7791).
- 34 –
- Randnr. 38.
- 35 –
- Randnr. 41 des Urteils.
- 36 –
- Randnrn. 42 bis 44 des Urteils.
- 37 –
- Urteil vom 29. April 2004 in der Rechtssache C‑418/01 (Slg. 2004, I‑0000).
- 38 –
- Randnr. 38 des Urteils.
- 39 –
- Entscheidung der Kommission vom 24. März 2004 in einem Verfahren gemäß Artikel 82 EG‑Vertrag (Sache COMP/C‑3/37.792 Microsoft).
Die Kommission verleiht in Randnr. 555 ihrer Ansicht Ausdruck, dass „ein Ansatz, wonach es eine abschließende Checkliste außergewöhnlicher
Umstände gäbe und die Kommission andere Umstände außergewöhnlicher Art, die bei der Beurteilung einer Lieferverweigerung möglicherweise
berücksichtigt zu werden verdienen, von vornherein außer Acht lassen müsste, nicht überzeugend ist“.
- 40 –
- In Verizon Communications Inc . v Law Offices of Curtis V. Trinko, LLP , einem Fall der Lieferverweigerung nach US‑Kartellrecht, erklärte Richter Scalia in der Entscheidung des Supreme Court: „Die
kartellrechtliche Prüfung muss immer auf die jeweilige Struktur und die Gegebenheiten der betreffenden Branche abgestimmt
sein. Zur Beachtung des wirtschaftlichen Hintergrundes gehört das Bewusstsein um die Bedeutung der Rechtsvorschriften.“
- 41 –
- Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den
Ausschuss der Regionen – Die Pharmazeutische Industrie Europas zum Wohl der Patienten stärken: was zu tun ist, KOM(2003)383
endg., Nr. 14.
- 42 –
- Nach der Richtlinie 89/105/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung
bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme (ABl.
1989, L 40, S. 8) müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Entscheidungen über die Preisfestsetzung und Erstattung auf
transparente und nicht‑diskriminierende Art und Weise und innerhalb eines genauen zeitlichen Rahmens getroffen werden.
- 43 –
- KOM(1998)588 endg.
- 44 –
- S. 14.
- 45 –
- Die einschlägigen Bestimmungen finden sich in Titel VII der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. L 311, S. 67) in der durch die Richtlinie
2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. L 136, S. 34) geänderten Fassung.
- 46 –
- Entscheidung der Kommission vom 8. Mai 2001 in einem Verfahren gemäß Artikel 81 EG‑Vertrag (Glaxo Wellcome) (ABl. L 302, S.
1, Nr. 155).
- 47 –
- In einem Bericht für die Generaldirektion Unternehmen der Europäischen Kommission mit dem Titel „Globale Wettbewerbsfähigkeit
im Arzneimittelbereich – eine europäische Perspektive“ stellen A. Gambardella, L Orsenigo und F. Pammolli auf S. 38 fest,
dass „ein FuE‑Projekt für ein neues Medikament meistens 8 bis 12 Jahre dauert und Kosten in Höhe von 350 bis 650 Mio. USD
verursacht“.
- 48 –
- Ebenda., S. 3, Fußnote 1, in der die Verfasser ausführen, dass „die Herstellung in dieser Branche nicht so wichtig ist im
Vergleich zu FuE und Vermarktung, die den größten Teil der Investition ausmachen“.
- 49 –
- In Nrn. 89 bis 93.
- 50 –
- Mitteilung der Kommission über den Binnenmarkt für Arzneimittel, zitiert in Fußnote 43, S. 4.