Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 61998CC0420

Schlussanträge des Generalanwalts Alber vom 13. Januar 2000.
W.N. gegen Staatssecretaris van Financiën.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Raad van State - Niederlande.
Rechtsangleichung - Richtlinie 77/799/EWG - Gegenseitige Amtshilfe zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern - Spontaner Auskunftsaustausch.
Rechtssache C-420/98.

Sammlung der Rechtsprechung 2000 I-02847

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2000:15

61998C0420

Schlussanträge des Generalanwalts Alber vom 13. Januar 2000. - W.N. gegen Staatssecretaris van Financiën. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Raad van State - Niederlande. - Rechtsangleichung - Richtlinie 77/799/EWG - Gegenseitige Amtshilfe zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern - Spontaner Auskunftsaustausch. - Rechtssache C-420/98.

Sammlung der Rechtsprechung 2000 Seite I-02847


Schlußanträge des Generalanwalts


A - Einleitung

1 Im vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren befaßt der Nederlandse Raad van State den Gerichtshof mit Fragen zur Auslegung der Richtlinie über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern. Es geht dabei insbesondere um die Frage, wann Behörden eines Mitgliedstaats spontan - also ohne vorheriges Ersuchen - Auskünfte erteilen müssen bzw. können.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Kläger W. N., der aus Gründen der Vertraulichkeit vom vorlegenden Gericht lediglich mit den Initialen bezeichnet ist, und dem Staatssecretaris van Financiën (im folgenden: Beklagter). Der Kläger ist verheiratet, lebt aber von seiner Frau getrennt. Die Ehefrau hat die Niederlande verlassen und sich in Spanien niedergelassen. Der Beklagte beschloß, die zuständigen Behörden in Spanien über die - über eine Schweizer Bank laufenden - Unterhaltszahlungen des Klägers an seine Frau in Kenntnis zu setzen.

B - Gesetzliche Grundlagen

I - Gemeinschaftsrecht

Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern(1) (im folgenden: Richtlinie)

3 Als Vorbemerkung sei erwähnt, daß der Wortlaut der Richtlinie in den verschiedenen Sprachfassungen voneinander abweicht, was zu Auslegungsschwierigkeiten führt. Deshalb sind die betreffenden Passagen im folgenden zum Teil in mehreren Sprachen aufgeführt.

"Artikel 1

Allgemeine Bestimmungen

(1) Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten erteilen sich nach dieser Richtlinie gegenseitig alle Auskünfte, die für die zutreffende Festsetzung der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen geeignet sein können.

(2) ...

(3) ...

(4) ...

(5) ...

Artikel 2

Auskunft auf Ersuchen

...

Artikel 3

Automatischer Auskunftsaustausch

...

Artikel 4

Spontaner Auskunftsaustausch

(1) Die zuständige Behörde jedes Mitgliedstaats soll der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats die in Artikel 1 Absatz 1 bezeichneten Auskünfte, die ihr bekannt werden, in folgenden Fällen ohne vorheriges Ersuchen erteilen:

a) wenn die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats Gründe für die Vermutung einer Steuerverkürzung in dem anderen Mitgliedstaat hat;

b) wenn ein Steuerpflichtiger eine Steuerermäßigung oder Steuerbefreiung in einem Mitgliedstaat erhält, die für ihn eine Steuererhöhung oder eine Besteuerung in einem anderen Mitgliedstaat zur Folge haben müßte;

c) bei Geschäftsbeziehungen zwischen einem Steuerpflichtigen eines Mitgliedstaats und einem Steuerpflichtigen eines anderen Mitgliedstaats, die über ein oder mehrere weitere Länder in einer Weise geleitet werden, die in einem der beiden oder in beiden Mitgliedstaaten zur Steuerersparnis führen kann;

d) wenn die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats Gründe für die Vermutung einer Steuerersparnis durch künstliche Gewinnverlagerungen innerhalb eines Konzerns hat;

e) wenn in einem Mitgliedstaat im Zusammenhang mit Auskünften, die ihm von der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats erteilt worden sind, ein Sachverhalt ermittelt worden ist, der für die Steuerfestsetzung in dem anderen Mitgliedstaat geeignet sein kann.

(2) ...

(3) Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten können sich in allen anderen Fällen gegenseitig ohne vorheriges Ersuchen die in Artikel 1 Absatz 1 bezeichneten Auskünfte erteilen, die ihnen zur Kenntnis gelangen."

4 Zunächst sei erwähnt, daß der deutsche und der englische Text in Artikel 4 Absatz 1 im Hinblick auf die Auskunftserteilung von soll ... Auskünfte ... erteilen bzw. shall ... forward the information ... spricht, während die französische und niederländische Fassung von teilt mit sprechen (communique bzw. deelt ... mede).

5 Der unter Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a genannte Fall - der vermuteten Steuerverkürzung - wird in der niederländischen, der deutschen, der französischen und der englischen Fassung verschieden und zwar wie folgt formuliert:

(Wenn die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats Gründe ... hat ...)

"redenen om te vermoeden dat in een andere lidstaat een abnormale vrijstelling of vermindering van belasting bestaat";

"Gründe für die Vermutung einer Steuerverkürzung in dem anderen Mitgliedstaat";

"des raisons de présumer qu'il existe une réduction ou une exonération anormales d'impôts dans l'autre État membre";

"grounds for supposing that there may be a loss of tax in the other Member State".(2)

6 Da die Beteiligten in ihrem (nachfolgenden) Vorbringen mehrfach auf das Ziel und den Zweck der Richtlinie eingehen und diese auch in der Stellungnahme zu prüfen sind, seien die wesentlichen Begründungserwägungen, die zum Erlaß der Richtlinie geführt haben und auf die die Beteiligten sich beziehen, bereits an dieser Stelle erwähnt.

7 Die Richtlinie über die gegenseitige Amtshilfe im Bereich der direkten Steuern ist zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung und Steuerflucht erlassen worden. Nach der ersten Begründungserwägung der Richtlinie führen die Praktiken der Steuerhinterziehung und der Steuerflucht über die Grenzen der einzelnen Mitgliedstaaten hinaus zu Haushaltseinnahmeverlusten, verstoßen gegen den Grundsatz der Steuergerechtigkeit und können Verzerrungen des Kapitalverkehrs und der Wettbewerbsbedingungen bewirken; sie beeinträchtigen mithin das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes. Der Rat hat daher - worauf die zweite Begründungserwägung verweist - schon vor Erlaß der Richtlinie eine Entschließung über Maßnahmen der Gemeinschaft zur Bekämpfung der internationalen Steuerflucht und Steuerumgehung(3) angenommen. Wie sich aus der dritten Begründungserwägung ergibt, sind innerstaatliche Maßnahmen - ebenso wie die Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungen auf der Grundlage bilateraler Abkommen - nicht ausreichend. Daher erscheint es - so die vierte Begründungserwägung - geboten, die Zusammenarbeit zwischen den Steuerverwaltungen innerhalb der Gemeinschaft nach gemeinsamen Grundsätzen und Regeln zu verstärken. Gemäß der fünften Begründungserwägung sollten die Mitgliedstaaten sich gegenseitig auf Ersuchen Auskünfte in Einzelfällen und - nach der sechsten Begründungserwägung - auch ohne Ersuchen alle Auskünfte erteilen, die für die zutreffende Festsetzung der Steuern geeignet erscheinen, "insbesondere in den Fällen ..., wenn solche Geschäftsbeziehungen [künstliche Gewinnverlagerungen] zwischen Unternehmen zweier Mitgliedstaaten zur Steuerersparnis über ein drittes Land geleitet werden ...".

II - Nationales Recht

8 Die Niederlande haben die Richtlinie durch das Wet op de internationale bijstandsverlening bij de heffing van belastingen (Gesetz vom 24. April 1986; im folgenden: WIB) umgesetzt.

Artikel 7 des WIB regelt die spontane Auskunftserteilung und bestimmt in Absatz 1 Satz 1:

Unser Minister(4) kann einer zuständigen Behörde von sich aus Auskünfte erteilen, die für sie bei der Festsetzung einer Steuerschuld in den Fällen von Bedeutung sein können, in denen

...

b) in den Niederlanden eine Herabsetzung, ein Erlaß, eine Rückerstattung oder eine Befreiung von der Steuer gewährt wird, die sich auf die Steuererhebung in dem Staat auswirken kann, in dem sich die zuständige Behörde befindet.

...

9 Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe a WIB, der Beschränkungen der Informationsweitergabe vorsieht, bestimmt:

Unser Minister erteilt keine Auskünfte, wenn

a) sich deren Erteilung nicht aus Verpflichtungen nach der Richtlinie ... 77/799/EWG ... oder aus anderen Verpflichtungen nach internationalem oder interregionalem Recht ergibt.

C - Sachverhalt

10 Der (seit 1974) verheiratete Kläger lebt von seiner Ehefrau getrennt, die 1983 die Niederlande verlassen und sich in Spanien angesiedelt hat, wo sie ein Haus erwarb. Der Kläger hat ihr auch nach dem Wegzug Unterhalt bezahlt. Anläßlich der Prüfung seiner Steuererklärung 1988 - bei der festgestellt wurde, daß er wegen der Unterhaltszahlungen an seine Frau erhebliche Steuerermäßigungen erhalten hatte -, hat der Beklagte am 2. Dezember 1992 beschlossen, von sich aus die zuständigen spanischen Behörden über die Unterhaltszahlungen der Jahre 1987 bis 1991, die über eine Schweizer Bank geleistet wurden, zu informieren. Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Widerspruch eingelegt, der am 25. Mai 1993 verworfen wurde. Gegen diesen Bescheid wiederum hat der Kläger mit Schreiben vom 22. Juni 1993 beim vorlegenden Gericht Klage erhoben.

11 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, daß wegen des verschiedenen Wortlauts der Richtlinie Unklarheit herrscht sowohl in bezug auf den Begriff "abnormaal"/"anormales" als auch hinsichtlich der Frage, ob diese Bestimmung ein ausdrückliches Handeln einer Behörde eines anderen Mitgliedstaats voraussetzt. Das vorlegende Gericht weist zudem darauf hin, daß eine weite Auslegung, wie sie der Beklagte vertrete, Zweifel an der noch verbleibenden Bedeutung der übrigen in Artikel 4 der Richtlinie beschriebenen Fälle aufkommen lasse. Außerdem erhebe sich die Frage - falls die in Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie beschriebenen Fälle nicht vorlägen -, ob sich dann aus Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie eine Verpflichtung zur spontanen Auskunftserteilung ergebe.

12 Mit Urteil vom 19. November 1998 hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof deshalb folgende Fragen vorgelegt:

1. Ist der Begriff "Steuerverkürzung" in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 77/799/EWG dahin auszulegen, daß sich diese Verkürzung aus einer ausdrücklichen Handlung der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats ergeben muß?

2. Wie ist in diesem Zusammenhang das Wort "abnormaal" in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a auszulegen?

3. Kann sich, wenn dieser Buchstabe a keine Anwendung findet, eine Verpflichtung zum spontanen Austausch aus Artikel 4 Absatz 3 der genannten Richtlinie ergeben?

D - Zu den Fragen 1 und 2

13 Wegen des sachlichen Zusammenhangs empfiehlt es sich, die beiden ersten Fragen zusammen zu prüfen. Dies deshalb, weil es nicht lediglich um die Auslegung der Begriffe "Steuerminderung" bzw. "Steuerverkürzung" als solche geht, sondern auch um die Gleichsetzung der Ausdrücke "anormale Steuerminderung ..." in einigen Sprachen mit den Worten "Steuerverkürzung" bzw. "loss of taxes" in anderen Sprachfassungen.

14 Mit den beiden ersten Fragen möchte das vorlegende Gericht letztlich wissen, ob es für die Pflicht zur Mitteilung von Informationen zum einen notwendig ist, daß für die Steuerverkürzung eine ausdrückliche Handlung der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats - gemeint ist damit wohl eine förmliche Steuerfestsetzung - vorliegen muß, oder ob es ausreicht, daß es - ohne die mitgeteilten Informationen - zu einer Steuerminderung kommen könnte oder hätte kommen können. Zum anderen will das Gericht wissen, ob der Begriff der "anormalen" Steuerminderung eine solche "entgegen den Vorschriften" - also einen ungerechtfertigten Steuernachlaß - meine oder ob - entsprechend dem Sprachgebrauch - anormal mit außergewöhnlich oder übermäßig gleichzusetzen sei. In diesem Zusammenhang geht es also um die Frage, ob eine anormale Steuerminderung (so der niederländische und französische Wortlaut) mit dem Begriff "Steuerverkürzung" (deutscher Wortlaut) bzw. "loss of taxes" (englischer Wortlaut) gleichzusetzen ist.

Vortrag der Beteiligten

15 Alle Beteiligten - neben der niederländischen Regierung und der Kommission auch die französische Regierung - gelangen im Grunde zum selben Ergebnis, nämlich daß eine ausdrückliche Handlung der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats nicht erforderlich sei und der Begriff "abnormaal" im Sinne einer "Steuerverkürzung" zu verstehen sei.

16 Die niederländische Regierung vergleicht in ihrem Schriftsatz zunächst die niederländische, die französische, die englische und die deutsche Version von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie. Sie stellt dabei fest, daß die verschiedenen Fassungen jedoch bezüglich des Begriffes der Vermutung einer Steuerverkürzung übereinstimmen. Daraus ergebe sich, daß es nicht notwendig sei, festzustellen, ob es tatsächlich zu einer Steuerermäßigung gekommen sei.

17 Hinsichtlich der Abweichungen der sprachlichen Fassungen der Richtlinie bezüglich des Begriffes "anormale Steuerminderung" verweist die niederländische Regierung wie auch die übrigen Beteiligten auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofes, wonach die verschiedenen sprachlichen Fassungen einer Gemeinschaftsvorschrift einheitlich und bei Abweichungen der Fassungen anhand der allgemeinen Systematik und des Zweckes der Regelung ausgelegt werden müssen, zu der die Bestimmung gehört(5).

18 Unter Hinweis auf Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie und deren sechste Begründungserwägung macht die niederländische Regierung geltend, die hier streitige Regelung müsse weit ausgelegt werden und verlange keinen Beweis dahin gehend, daß die mitgeteilten Informationen für die Steuerfeststellung "nützlich" seien. Ähnliches ergebe sich auch aus dem Zweck der Richtlinie, wie er sich aus der ersten, dritten und vierten Begründungserwägung ablesen lasse. Würde die Verpflichtung zur Informationsmitteilung enger ausgelegt, so würde die gegenseitige Amtshilfe, die im Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuerflucht notwendig sei, praktisch unmöglich. Man verlange in diesem Fall von den Behörden des Mitgliedstaats, der die Informationen liefere, nicht nur vertiefte Kenntnisse des Steuersystems aller anderen Mitgliedstaaten, sondern auch eine "Prüfung der speziellen Situation der Person", auf die sich die Informationen bezögen.

19 Die niederländische Regierung gelangt deshalb zu dem Ergebnis, Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie verlange nicht, daß die Behörden des Mitgliedstaats, der die Informationen liefere, vorher feststellten, daß eine Steuerminderung aus einer ausdrücklichen Handlung der zuständigen Behörde resultiere. Die mitteilenden Behörden müßten lediglich eine "marginale Kontrolle" durchführen, um festzustellen, ob eine Steuerverkürzung im anderen Mitgliedstaat "bestehe".

20 Nach Meinung der französischen Regierung ergibt sich aus der allgemeinen Systematik der Richtlinie, daß sie nur eine Vermutung der Steuerminderung verlange, nicht aber eine ausdrückliche Handlung der zuständigen Behörden vor dem Informationsaustausch voraussetze. Der Wortlaut des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe a sei insofern unzweideutig. Demnach genüge es, wenn die zuständige Behörde Gründe für die Vermutung einer Steuerverkürzung habe. Dies ergebe sich auch aus der sechsten Begründungserwägung.

21 Ein Informationsaustausch würde - so die französische Regierung weiter - in dem Fall gegenstandslos, in dem der andere Mitgliedstaat eine Steuerbefreiung ausdrücklich rechtlich zugelassen habe. Würde man also eine ausdrückliche Handlung verlangen, würde das dem Sinn und Zweck des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe a zuwiderlaufen. Zumindest würde es den Handlungsspielraum der Behörden erheblich einschränken.

22 Was die Auslegung des Begriffes "abnormaal" angeht, so weist die französische Regierung zusätzlich darauf hin, daß sich aus der allgemeinen Systematik der Richtlinie ergebe, daß an keiner Stelle der Gedanke auftauche, es sei notwendig, den vermuteten Steuerbetrug bzw. die Steuerflucht zu quantifizieren. Analog hierzu werde, selbst wenn der Gedanke der Steuererhöhung bzw. Steuerersparnis mit Situationen der Steuerbefreiung oder -ermäßigung in Zusammenhang gebracht werde - wie in Artikel 4 Absatz 1 Buchstaben b bis d - kein bestimmter Betrag genannt.

23 Dies bedeute jedoch nicht, daß sich aus Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a keinerlei Verpflichtung für die zuständigen Behörden ergebe. Sie müßten vielmehr "die Elemente liefern", die die Vermutung zuließen, daß in einem anderen Mitgliedstaat eine Betrugs- oder Steuerfluchtsituation bestehe. Der Informationsaustausch sei somit an eine tatsächliche Situation gebunden, in der solche Elemente vorlägen.

24 Die Kommission untersucht zunächst die Bedeutung des Wortes "abnormaal". Dieses beziehe sich auf Situationen, die von einer bestimmten Norm abwichen oder - im juristischen Sinne - von anwendbaren Regeln, und die somit ungerechtfertigt seien. Wegen der Abweichung in den verschiedenen sprachlichen Fassungen verweist die Kommission anschließend ebenso wie die anderen Parteien auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes(6). Für die in diesem Zusammenhang notwendige Bestimmung des Zweckes der Richtlinie verweist sie auf die erste und fünfte Begründungserwägung, woraus sich als Zweck der Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuerflucht ergebe und - indirekt - die Förderung des Grundsatzes der Steuergerechtigkeit. Dies impliziere, daß jede Person die Steuern zu zahlen habe, die angesichts ihrer Situation gerecht seien. Dies führe wiederum gemäß Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie zur allgemeinen Regel, daß sich die Mitgliedstaaten alle Auskünfte erteilen, die für die zutreffende Festsetzung der Steuern geeignet sein können.

25 Die Kommission weist in diesem Zusammenhang auch auf die Bedeutung des Systems der gegenseitigen Amtshilfe nach der Richtlinie 77/799 hin, die sich aus der Rechtsprechung ergebe. So habe der Gerichtshof diskriminierende nationale steuerliche Maßnahmen, die als notwendig angesehen wurden, um genaue Informationen zu erhalten, unter Hinweis auf die Möglichkeiten der Amtshilfe nach dieser Richtlinie verworfen(7).

26 Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a sei deshalb dahin gehend auszulegen, daß die mitteilenden Behörden vermuten müßten, daß die Tatsache, daß die zuständigen Behörden des anderen Mitgliedstaats über bestimmte Informationen nicht verfügten, dazu führen könnte, daß ein Steuerpflichtiger einen steuerlichen Vorteil erlange, der nicht den anwendbaren Regelungen entspreche und somit ungerechtfertigt sei. Nach der siebten Begründungserwägung(8) sei diese Vermutung insbesondere in den Fällen als begründet anzusehen, wenn bestimmte finanzielle Transaktionen zwischen zwei Mitgliedstaaten - wie im vorliegenden Fall - über einen Drittstaat abgewickelt werden, der sich noch dazu durch ein striktes Bankgeheimnis von den anderen unterscheide.

27 Die Kommission geht schließlich auf das im Vorlagebeschluß erwähnte Argument ein, wonach eine weite Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe a die Bedeutung der anderen in Artikel 4 Absatz 1 genannten Fälle in Frage stelle. Nach Meinung der Kommission sind die Buchstaben b bis d des Artikels 4 Absatz 1 so speziell, daß sie auch weiterhin ihre Bedeutung behalten.

28 Zu der Frage, ob die Verkürzung aus einer ausdrücklichen Handlung der zuständigen Behörde resultieren muß, trägt die Kommission vor, daß die Vermutung, die bestehen muß, nicht von der Art und Weise abhängt, wie die Steuerverkürzung eintritt. Es würde der Funktionsweise des Systems der gegenseitigen Amtshilfe zuwiderlaufen, wenn man eine ausdrückliche Handlung verlangte. In der Praxis könnten Steuervorteile gerade deshalb entstehen, weil die zuständigen Behörden mangels notwendiger Informationen die Steuer nicht korrekt festsetzen könnten. In diesen Fällen könnte die Behörde nur dann einschätzen, ob sie Steuern erheben kann, wenn sie aufgrund des Systems der Amtshilfe die notwendigen Informationen erhalte.

29 Ansonsten würde den zuständigen Behörden auch eine übertriebene Belastung auferlegt, da vor jeder Mitteilung eine vertiefte Studie über die Situation im Empfängerstaat verlangt würde. Somit wäre der spontane Informationsaustausch nicht mehr möglich.

30 Abschließend trägt die Kommission vor, die in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a verlangte Vermutung könne als gegeben angesehen werden, wenn das Fehlen bestimmter Informationen beim Mitgliedstaat dazu führen könne, daß ein Steuerpflichtiger einen ungerechtfertigten Steuervorteil genieße. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn die Steuer hinterzogen werden könne. Hierbei sei es nicht notwendig, daß sich die Steuerverkürzung aus einer ausdrücklichen Handlung der zuständigen Behörden ergebe.

Stellungnahme

31 Als Vorbemerkung sei erwähnt, daß bei Vorliegen der in Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie genannten Fälle eine Pflicht zur Mitteilung besteht, was sich aus Absatz 1 und dem Sinn und Zweck der Richtlinie ergibt. Aus dem deutschen Wort "soll" kann keine Ermessensmöglichkeit abgeleitet werden.

Zur Bestimmung des Begriffes "abnormaal"

32 Da die verschiedenen sprachlichen Fassungen voneinander abweichen, stellt sich die Frage, wie Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a auszulegen ist. Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß die verschiedenen sprachlichen Fassungen einer Gemeinschaftsvorschrift einheitlich ausgelegt werden müssen; "falls diese Fassungen voneinander abweichen, muß die fragliche Bestimmung daher anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört."(9)

33 Nach Artikel 1 Absatz 1 bezweckt die Richtlinie, die zutreffende Festsetzung der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen zu ermöglichen, denn sie regelt die Erteilung aller Auskünfte, die für diese Festsetzung geeignet sein können. Auch die Begründungserwägungen der Richtlinie geben Hinweise auf ihren Zweck. Es sind hier insbesondere die erste, zweite und dritte Begründungserwägung zu nennen. Demnach dient die Richtlinie der Bekämpfung der internationalen Steuerflucht und Steuerumgehung, die gegen den Grundsatz der Steuergerechtigkeit verstoßen.

34 Wenn nun in einigen sprachlichen Fassungen des Artikels 4 Absatz 1 davon die Rede ist, daß ein spontaner Auskunftsaustausch dann vorgenommen wird, wenn die zuständige Behörde Gründe für die Vermutung einer anormalen Steuerbefreiung hat, so kann es sich im Rahmen einer Richtlinie, die zur Vermeidung der Steuerhinterziehung und zur Ermöglichung der zutreffenden Festsetzung der Steuern erlassen wurde, bei diesem Begriff nur um eine Steuerverkürzung im normalen Sprachgebrauch der anderen Fassungen handeln.

35 Wie die Kommission zu Recht vorträgt, ergibt sich dies auch aus der Auslegung des Begriffes "abnormaal". Bei anormalen Dingen handelt es sich um solche, die nicht einer Norm - auch nicht einer juristischen - entsprechen. Eine anormale Steuerbefreiung, wie sie nach bestimmten sprachlichen Versionen der Richtlinie erwähnt ist, wäre somit nicht - wie man zunächst annehmen könnte - eine übermäßige Steuerbefreiung, sondern eine, die nicht den Steuergesetzen entspricht bzw. von diesen nicht vorgesehen ist. Dies entspricht durchaus dem Begriff "Steuerverkürzung" in der deutschen Version der Richtlinie.

36 Insoweit ist auch der französischen Regierung zuzustimmen, die darauf hinweist, daß die Begriffe der Steuerermäßigung bzw. Steuerersparnis in den anderen in Artikel 4 Absatz 1 genannten Fällen ebenfalls keine Beträge nennen.

37 Der Begriff "abnormaal" ist somit im Sinne einer Steuerverkürzung zu verstehen.

Zur Frage der Erforderlichkeit einer ausdrücklichen Handlung der zuständigen Behörde

38 Eine ausdrückliche Handlung der zuständigen Behörde würde wohl darin bestehen, daß eine bestimmte Steuer festgesetzt bzw. eine Steuerermäßigung tatsächlich bewilligt wird. Bereits aus dem Wortlaut der hier streitigen Regelung ergibt sich, daß eine solche Erforderlichkeit nicht besteht. Nach der Richtlinie sind die Auskünfte zu erteilen, wenn die zuständige Behörde "Gründe für die Vermutung einer Steuerverkürzung" hat. Die bloße Vermutung, daß in einem anderen Mitgliedstaat die Steuern nicht korrekt festgesetzt werden (können), reicht somit aus. Die tatsächliche Situation im anderen Mitgliedstaat muß nicht geprüft werden. Das heißt, die Behörde ist auch nicht verpflichtet zu prüfen, ob die Steuerminderung oder der Steuererlaß aufgrund einer ausdrücklichen Handlung der Behörden des anderen Mitgliedstaats erfolgt. In diesem Fall wäre die Steuerverkürzung auch keine vermutete mehr, da die Behörden nun nicht nur wüßten, daß sie besteht, sondern sogar, woraus sie resultiert.

39 Es bleibt somit festzuhalten, daß Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a dahin gehend auszulegen ist, daß Gründe für die Vermutung einer Steuerverkürzung bestehen müssen, aber keine ausdrückliche Handlung der zuständigen Behörden des anderen Mitgliedstaats vorliegen muß.

40 Was die übrigen Fallgruppen in Artikel 4 Absatz 1 anbelangt, so ist der Kommission zuzustimmen, daß sie so speziell sind, daß sie auch bei der oben geschilderten relativ weiten Auslegung des Buchstaben a ihre eigenständige Bedeutung nicht verlieren. Sie konkretisieren zudem besonders "verdächtige" Sachverhalte.

E - Zu Frage 3

Vortrag der Beteiligten

41 Die niederländische Regierung ist auf diese Frage vor allem in der mündlichen Verhandlung eingegangen, um auf den Schriftsatz der Kommission zu antworten. Sie hat zum einen vorgetragen, daß es angesichts der vorgeschlagenen Beantwortung der Fragen 1 und 2 eigentlich nicht mehr notwendig sei, die dritte Frage zu beantworten.

42 Zum anderen ergebe sich die Antwort auf die dritte Frage aus dem Wortlaut und der Systematik von Artikel 4 der Richtlinie. Absatz 1 nenne dabei die Fälle, in denen eine Verpflichtung zum Austausch von Informationen bestehe. Dabei müsse immer die Zielsetzung der Richtlinie, nämlich die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerflucht mit bedacht werden. Mit Bezug auf diese Zielsetzung der Richtlinie könne es auch notwendig sein, in anderen Fällen Informationen weiterzugeben. In ihrem Schriftsatz ist die niederländische Regierung dabei davon ausgegangen, daß es sich um eine Möglichkeit und nicht um eine Verpflichtung zur Weitergabe von Informationen handele.

43 In der mündlichen Verhandlung hat sie in diesem Zusammenhang weiter ausgeführt, daß Artikel 4 Absatz 3 bestimme, daß die Gesetzgeber der Mitgliedstaaten den zuständigen Behörden die Kompetenz zuteilten, auch in diesen eben genannten Fällen Informationen weiterzugeben. Artikel 4 Absatz 3 sehe eine Verpflichtung vor, wobei es aber von der Beurteilung der zuständigen Behörde abhänge, ob es sich im konkreten Fall um eine Verpflichtung handele oder nicht.

44 Im Gegensatz zur Kommission ist die niederländische Regierung der Meinung, daß diese Verpflichtung in niederländisches Recht umgesetzt worden sei. Sie zitiert in diesem Zusammenhang Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe d WIB, wonach der (Finanz-)Minister - neben den verpflichtenden Fällen, die in der Richtlinie genannt würden - immer, wenn er es zur Festlegung der Steuerschuld für notwendig halte, Informationen weitergeben könne.

45 Die in der Richtlinie vorgesehene Verpflichtung sei somit in niederländisches Recht umgesetzt worden. Da es sich hierbei um eine Verpflichtung aufgrund der Richtlinie handele, stehe Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe a einer tatsächlichen Ausübung dieser Befugnis durch die Behörden nicht entgegen.

46 Die niederländische Regierung weist abschließend darauf hin, daß die Fragen, die die Kommission aufgeworfen habe, die Auslegung des nationalen niederländischen Rechts beträfen, für die alleine der nationale Richter zuständig sei und die nicht im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vom Gerichtshof zu beantworten seien.

47 Man habe den Behörden die entsprechenden Kompetenzen gegeben und somit die Verpflichtung, die aus der Richtlinie resultiere, erfuellt, so daß Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe a hier nicht einschlägig sei. Als Ergebnis hält die niederländische Regierung fest, Artikel 4 Absatz 3 verpflichte die Mitgliedstaaten dazu, bei der Umsetzung der Richtlinie die Befugnis vorzusehen, Auskünfte auch dann zu erteilen, wenn dies in anderen Fällen als den in Artikel 4 Absatz 1 genannten notwendig sei, um die Ziele der Richtlinie zu verwirklichen.

48 Zu der Bemerkung der Kommission, daß bei einer solchen Auslegung nicht nachzuvollziehen sei, weshalb der vorlegende Richter die dritte Frage überhaupt gestellt habe, weist die niederländische Regierung darauf hin, daß es Sache des nationalen Richters sei zu entscheiden, welche Fragen er für entscheidungserheblich halte und deshalb zur Vorabentscheidung vorlege.

49 Nach Meinung der französischen Regierung sieht Artikel 4 Absatz 3 eindeutig keine Verpflichtung zum spontanen Informationsaustausch vor. Dies ergebe sich aus der allgemeinen Systematik von Artikel 4, der eine klare Aufteilung zwischen Absatz 1 und Absatz 3 vorsehe. Absatz 1 nenne die Fälle, für die eine Verpflichtung zum Austausch bestehe, während Absatz 3 für alle anderen Fälle nur die Möglichkeit des Austauschs vorsehe.

50 Die Kommission weist ebenso wie die niederländische Regierung darauf hin, daß bei der von ihr vorgeschlagenen Beantwortung der beiden ersten Fragen die dritte Frage für den vorliegenden Rechtsstreit ihre Bedeutung verliere. Der Vollständigkeit halber macht sie trotzdem Ausführungen zu Frage 3. Sie weist zunächst darauf hin, daß diese - ebenso wie die beiden ersten Fragen - im Zusammenhang mit Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe a WIB verstanden werden müsse. Dieser scheine eine Weitergabe von Informationen zu untersagen, wenn sich aus der Richtlinie keine entsprechende Verpflichtung dazu ergebe. Es stelle sich deshalb die Frage, ob nicht Artikel 13 der korrekten Umsetzung von Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie in Artikel 7 WIB entgegenstehe. Darin - d. h. im Bereich des nationalen Rechts und nicht auf der Ebene der Richtlinie - liege auch das eigentliche Problem, das den nationalen Richter zur Vorlage der Frage veranlaßt habe.

51 Nach Meinung der Kommission ist Artikel 4 Absatz 3 dahin gehend auszulegen, daß er eine Verpflichtung an die Mitgliedstaaten beinhalte, den Behörden bezüglich der Frage der Weitergabe von Informationen einen Ermessensspielraum einzuräumen. Werde die Möglichkeit zum spontanen Austausch von vornherein ausgeschlossen, so verliere die Richtlinie - vor allem auch im Hinblick auf ihre Zielsetzung - ihre Bedeutung.

52 Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe a WIB scheine dieses in der Richtlinie vorgesehene Ermessen nicht zu gewähren. Dabei sei es jedoch fraglich, wie die Formulierung "Verpflichtungen nach der Richtlinie" in Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe a zu verstehen sei. Es könne sich um die Verpflichtung der Mitgliedstaaten handeln, die Richtlinie in einer bestimmten Art und Weise umzusetzen, oder um die Verpflichtung der zuständigen Behörden, bestimmte Informationen weiterzugeben.

53 Die Kommission erinnert in diesem Zusammenhang daran, daß das nationale Recht möglichst richtlinienkonform auszulegen sei(10). Eine solche Auslegung könne darin bestehen, Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe a WIB so zu verstehen, daß der Minister keine Informationen weitergebe, wenn sich dies nicht aus Verpflichtungen oder Kompetenzen der Behörden ergebe, die vom nationalen Gesetzgeber vorgesehen seien, um die Verpflichtungen zur Umsetzung, wie sie sich aus der Richtlinie ergäben, zu erfuellen.

54 In diesem Fall habe für den nationalen Richter jedoch kein Anlaß bestanden, eine entsprechende Frage an den Gerichtshof zu richten. Daraus lasse sich schließen, daß der nationale Richter die Verpflichtung in Artikel 13 als Verpflichtung zur Weitergabe von Informationen ausgelegt habe.

55 Die Kommission weist schließlich darauf hin, daß in dem Fall, in dem den Behörden ein Ermessen eingeräumt werde, dieses auch ausgeübt werden müsse(11), wobei die Behörde sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht darauf beschränken könne, vorgegebene allgemeine Kriterien anzuwenden, sondern vielmehr eine "globale" Untersuchung jedes Einzelfalls vornehmen müsse(12). Die Behörde sei dann auch gehalten, die sich aus dieser Beurteilung ergebenden Konsequenzen zu ziehen, so daß auch in diesem Fall unter bestimmten Umständen eine Verpflichtung zur Weitergabe von Informationen gegeben sein könne.

56 Abschließend hält die Kommission fest, daß sie sich inhaltlich der Auslegung, die die niederländische Regierung vorgetragen hat, anschließen könne. Dennoch bestehe ein gewisser Mangel an Klarheit, weshalb der Gerichtshof dem vorlegenden Richter Hinweise über den Anwendungsbereich von Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie geben sollte. Es sei nicht Sache des Gerichtshofes, sondern des nationalen Richters, eine konforme Auslegung des nationalen Rechts vorzunehmen. Der Gerichtshof könne aber darauf hinweisen, daß Artikel 4 Absatz 3 die Verpflichtung an die Mitgliedstaaten enthalte, ein Ermessen für die Behörden vorzusehen, so daß die Behörde selbst zu entscheiden habe, ob sie Informationen weitergebe oder nicht.

Stellungnahme

57 Der niederländischen Regierung und der Kommission ist darin zuzustimmen, daß eine Beantwortung der dritten Frage eigentlich nicht mehr notwendig ist. Die unter den Fragen 1 und 2 vorgeschlagene Auslegung von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie führt unter Zugrundelegung der vom vorlegenden Gericht gemachten Angaben dazu, daß sich im vorliegenden Fall bereits aus Artikel 4 Absatz 1 eine Verpflichtung zur Weitergabe der Informationen ergibt. Der Vollständigkeit halber soll trotzdem auf die dritte Frage eingegangen werden. Dabei ist jedoch zu beachten, daß der Gerichtshof nur für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zuständig ist, während die Auslegung der nationalen - hier niederländischen - Vorschriften dem vorlegenden Gericht vorbehalten bleibt.

58 Betrachtet man den Wortlaut und den Aufbau von Artikel 4 insgesamt, so gelangt man zu dem Ergebnis, daß Artikel 4 Absatz 3 keine grundsätzliche Verpflichtung zur Weitergabe von Informationen enthält. Dies erscheint auch aufgrund der Systematik des Artikels 4 sinnvoll, der zunächst in Absatz 1 bestimmte Fälle nennt, in denen die Weitergabe von Informationen verpflichtend vorgeschrieben wird, und in Absatz 3 den zuständigen Behörden für alle anderen Fälle ein Ermessen einräumt, so daß die Behörde selbst entscheidet, ob sie im konkreten Fall Informationen weitergibt oder nicht.

59 Wie die Kommission und die niederländische Regierung zu Recht vortragen, muß dieses Ermessen den zuständigen Behörden bei der Umsetzung der Richtlinie durch den nationalen Gesetzgeber auch wirklich zugestanden werden. Eine Regelung, die eine Auskunftserteilung nur in den zur Informationsweitergabe verpflichtenden Fällen des Artikels 4 Absätze 1 und 2 zuließe, wäre somit nicht konform mit der Richtlinie, da sie das Weitergeben-Können von Informationen und somit die Möglichkeit der Behörden, selbst zu bestimmen, ob sie Auskünfte übermitteln, ausschließen würde. Dieses ihnen zugestandene Ermessen müssen die Behörden auch ausüben, d. h. sie müssen im jeweiligen Fall - ausgehend vom Sinn und Zweck der Richtlinie und von der allgemeinen Verpflichtung gemäß Artikel 1 - prüfen, ob sie Informationen weitergeben oder nicht.

F - Ergebnis

60 Aufgrund der vorangegangenen Überlegungen schlage ich folgende Beantwortung der Vorlagefragen vor:

1. Der Begriff "Steuerverkürzung" in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 77/799/EWG ist dahin auszulegen, daß sich die Steuerverminderung oder der -erlaß nicht aus einer ausdrücklichen Handlung der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats ergeben muß, sondern daß die Vermutung ausreicht, daß die Steuer möglicherweise verkürzt wird.

2. Das Wort "anormal" in einigen sprachlichen Fassungen von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 77/799 ist im Sinne einer ungerechtfertigten Steuerermäßigung oder Steuerbefreiung auszulegen.

3. Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie 77/799 sieht vor, daß den zuständigen Behörden hinsichtlich der Frage, ob in allen anderen als den in Artikel 4 Absätze 1 und 2 genannten Fällen Informationen an andere Behörden weitergegeben werden, ein Ermessen eingeräumt wird. Der nationale Gesetzgeber ist bei der Umsetzung der Richtlinie verpflichtet, den Behörden das in Artikel 4 Absatz 3 vorgesehene Ermessen einzuräumen. Bei der Ausübung dieses Ermessens kann sich in bestimmten Fällen eine Verpflichtung zur Auskunftsübermittlung ergeben.

(1) - ABl. L 336, S. 15.

(2) - Alle Hervorhebungen durch den Verfasser.

(3) - ABl. C 35 vom 14. 2. 1975, S. 1.

(4) - Gemeint ist der Finanzminister.

(5) - Urteil vom 7. Dezember 1995 in der Rechtssache C-449/93 (Rockfon, Slg. 1995, I-4291, Randnr. 28) mit Hinweis auf das Urteil vom 27. Oktober 1977 in der Rechtssache 30/77 (Bouchereau, Slg. 1977, 1999, Randnr. 14).

(6) - Siehe Fußnote 5.

(7) - Urteile vom 12. April 1994 in der Rechtssache C-1/93 (Halliburton Services, Slg. 1994, I-1137) und vom 15. Mai 1997 in der Rechtssache C-250/95 (Futura, Slg. 1997, I-2471, Randnrn. 41 und 43).

(8) - Gemeint ist hier wohl die sechste Begründungserwägung.

(9) - Urteile Rockfon (zitiert in Fußnote 5) und Bouchereau (zitiert in Fußnote 5).

(10) - Urteile vom 10. April 1984 in der Rechtssache 14/83 (Von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, Randnr. 26) und vom 13 November 1990 in der Rechtssache C-106/89 (Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Randnr. 8).

(11) - In Analogie zum Urteil vom 5. Oktober 1995 in der Rechtssache T-17/95 (Alexopoulou, Slg. ÖD 1995, II-683, Randnrn. 22 ff.).

(12) - Urteil vom 17. Juli 1997 in der Rechtssache C-28/95 (Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161, Randnr. 41).

Top