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Document 61997CC0052

Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 19. Februar 1998.
Epifanio Viscido (C-52/97), Mauro Scandella u. a. (C-53/97) und Massimiliano Terragnolo u. a. (C-54/97) gegen Ente Poste Italiane.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Pretura circondariale di Trento - Italien.
Staatliche Beihilfen - Begriff - Nationales Gesetz, das eine einzelne Einrichtung von öffentlichem Interesse von der Einhaltung einer allgemein für befristete Arbeitsverträge geltenden Vorschrift befreit.
Verbundene Rechtssachen C-52/97, C-53/97 und C-54/97.

Sammlung der Rechtsprechung 1998 I-02629

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1998:78

61997C0052

Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 19. Februar 1998. - Epifanio Viscido (C-52/97), Mauro Scandella u. a. (C-53/97) und Massimiliano Terragnolo u. a. (C-54/97) gegen Ente Poste Italiane. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Pretura circondariale di Trento - Italien. - Staatliche Beihilfen - Begriff - Nationales Gesetz, das eine einzelne Einrichtung von öffentlichem Interesse von der Einhaltung einer allgemein für befristete Arbeitsverträge geltenden Vorschrift befreit. - Verbundene Rechtssachen C-52/97, C-53/97 und C-54/97.

Sammlung der Rechtsprechung 1998 Seite I-02629


Schlußanträge des Generalanwalts


1 Die Pretura circondariale Trient wirft die Frage auf, ob eine nationale Vorschrift, die es dem Ente Poste Italiane (Unternehmen Italienische Post, im folgenden: Beklagter) abweichend von der allgemeinen Regelung des italienischen Rechts, wonach Arbeitsverträge als auf unbestimmte Zeit geschlossen gelten, ermöglicht, Personal mit befristetem Arbeitsvertrag einzustellen, eine nach Artikel 93 Absatz 3 letzter Satz des Vertrages meldepflichtige staatliche Beihilfe darstellt.

2 Das italienische Recht lässt befristete Arbeitsverträge nur in bestimmten Ausnahmefällen zu. Artikel 1 des Gesetzes Nr. 230 vom 18. April 1962 sieht vor, daß Arbeitsverträge - von einigen gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen(1) abgesehen - als unbefristet gelten.

3 Artikel 9 Absatz 21 des am 28. November 1996 in das Gesetz Nr. 608 umgewandelten Decreto legge Nr. 510 vom 1. Oktober 1996 über Dringlichkeitsbestimmungen auf dem Gebiet der gemeinnützigen Arbeiten schreibt jedoch vor:

"Diejenigen Arbeitnehmer, die ab 1. Dezember 1994 beim Unternehmen Poste Italiane mit befristetem Arbeitsvertrag beschäftigt waren, haben entsprechend den vertraglichen Bestimmungen und den mit den Gewerkschaften getroffenen Vereinbarungen bis zum 31. Dezember 1996 ein Vorrecht bei der unbefristeten Einstellung für eine Stelle der gleichen Gehaltsstufe und/oder des gleichen Aufgabenbereichs durch das Unternehmen Poste Italiane; die betreffenden Arbeitnehmer müssen ihre Absicht, dieses Recht auszuüben, bis zum 30. November 1996 bekunden. Die Einstellungen von Beschäftigten mit befristetem Arbeitsvertrag, die das Unternehmen Poste Italiane ab dem Zeitpunkt seiner Gründung, spätestens aber bis zum 30. Juni 1997 vorgenommen hat, können nicht zu unbefristeten Arbeitsverhältnissen führen und enden bei Ablauf des jeweiligen Arbeitsvertrags."

4 Diese Vorschrift hängt damit zusammen, daß die italienische Post- und Fernmeldeverwaltung mit Wirkung vom 1. Januar 1994 in ein öffentliches Unternehmen umgewandelt wurde. Gemäß Artikel 6 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 71/1994 wurden die Beschäftigten der Post- und Fernmeldeverwaltung Angestellte des Beklagten mit privatrechtlichem Arbeitsvertrag. Wie im Vorlagebeschluß ausgeführt, sollte durch Artikel 9 Absatz 21 eine Übergangsphase festgelegt werden, nach deren Ablauf die Angleichung der Beschäftigungsverhältnisse an die privatrechtliche Regelung abgeschlossen sein sollte.

5 Die Kläger der Ausgangsverfahren Epifanio Viscido, Mauro Scandella und Massimiliano Terragnolo erhoben Klage gegen den Beklagten und beanstandeten, daß dieser seit 1. Januar 1994 seinen Personalbedarf durch Einstellung von Zeitarbeitskräften gedeckt habe. Sie machten geltend, daß die durch diese Einstellungen begründeten Arbeitsverhältnisse als unbefristet anzusehen seien. Die streitige Vorschrift stelle, da sie den Beklagten von einer Belastung befreie, die andere Unternehmen nach den allgemeinen Rechtsvorschriften zu tragen hätten, eine staatliche Beihilfe darstelle, die gegen die Artikel 92 und 93 des Vertrages verstosse.

6 Unter diesen Umständen hat das nationale Gericht dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Fällt unter den Begriff "staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art" eine gesetzliche Bestimmung, die ein einzelnes öffentliches Wirtschaftsunternehmen von der Einhaltung der allgemein für befristete Arbeitsverträge geltenden Vorschriften befreit?

2. Falls die erste Frage bejaht wird: Hätte eine solche Beihilfe dem Vorprüfungsverfahren gemäß Artikel 93 Absatz 3 EG-Vertrag unterzogen werden müssen?

3. Kann das Verbot einer solchen Beihilfe, wenn das vorgenannte Verfahren nicht durchgeführt wurde, als im innerstaatlichen Recht des italienischen Staates unmittelbar anwendbar betrachtet werden?

4. Falls die dritte Frage bejaht wird: Kann sich ein einzelner, der in einem Rechtsstreit mit dem öffentlichen Wirtschaftsunternehmen die Nichtanwendung der allgemeinen Vorschriften über Zeitarbeit in seinem Fall beanstandet, um die Umwandlung seines Arbeitsverhältnisses in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis und/oder Schadensersatz zu erlangen, auf ein solches Verbot berufen?

7 Die Kläger haben sich vor dem Gerichtshof weder schriftlich noch mündlich geäussert. Die deutsche und die italienische Regierung sowie die Kommission vertreten die Auffassung, daß die streitige Vorschrift keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 des Vertrages sei. Ich teile diese Auffassung.

8 Artikel 92 Absatz 1 lautet:

"Soweit in diesem Vertrag nicht etwas anderes bestimmt ist, sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen."

9 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes geht klar hervor, daß eine Maßnahme nur dann eine Beihilfe darstellt, wenn dadurch staatliche Mittel auf ein Unternehmen übertragen werden (oder das Unternehmen von finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem Staat befreit wird, wie bei Steuer- oder Soziallasten).

10 Im Urteil van Tiggele(2) hat der Gerichtshof entschieden, daß die Festsetzung von Mindestpreisen im Einzelhandel mit dem Ziel, den Verkäufer eines Erzeugnisses allein zu Lasten der Verbraucher zu begünstigen, keine staatliche Beihilfe darstellte, da sie nicht mit einer unmittelbaren oder mittelbaren Übertragung staatlicher Mittel verbunden war.

11 Später hat der Gerichtshof im Urteil Sloman Neptun(3) entschieden, daß die teilweise Nichtanwendung des deutschen Arbeits- und Sozialrechts auf ausländische Besatzungen von Schiffen, die die deutsche Flagge führten, keine staatliche Beihilfe darstellte. Unter Hinweis auf sein Urteil in der Rechtssache van Tiggele hat der Gerichtshof ausgeführt(4), daß

"... nur solche Vorteile als Beihilfen im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EWG-Vertrag anzusehen [sind], die unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährt werden. Schon der Wortlaut dieser Bestimmung wie auch die in Artikel 93 EWG-Vertrag enthaltenen Verfahrensvorschriften zeigen nämlich, daß die aus anderen als staatlichen Mitteln gewährten Vorteile nicht in den Anwendungsbereich der fraglichen Vorschrift fallen. Die Unterscheidung zwischen staatlichen Beihilfen und aus staatlichen Mitteln gewährten Beihilfen dient dem Zweck, in den Beihilfebegriff nicht nur unmittelbar vom Staat gewährte Beihilfen, sondern auch jene Beihilfen einzubeziehen, die durch vom Staat benannte oder errichtete öffentliche oder private Einrichtungen gewährt werden."

12 Zu den deutschen Rechtsvorschriften hat der Gerichtshof ausgeführt(5):

"Die fragliche Regelung zielt in ihrem Zweck und ihrer allgemeinen Systematik nicht auf die Schaffung eines Vorteils ab, der eine zusätzliche Belastung für den Staat oder für die genannten Einrichtungen darstellen würde, sondern mit ihr soll lediglich zugunsten der Seeschiffahrtsunternehmen der Rahmen verändert werden, innerhalb dessen die vertraglichen Beziehungen zwischen diesen Unternehmen und ihren Arbeitnehmern zustande kommen. Die sich daraus ergebenden Folgen sind, sowohl soweit sie die vom vorlegenden Gericht erwähnte Differenz in der Berechnungsgrundlage für die Sozialversicherungsbeiträge als auch soweit sie die von der Kommission angeführte eventuelle Einbusse an Steuererträgen infolge der geringen Höhe der Vergütungen betreffen, einer solchen Regelung immanent und stellen kein Mittel dar, um den betroffenen Unternehmen einen bestimmten Vorteil zu gewähren."

13 Im Urteil Kirsammer-Hack(6) hat der Gerichtshof seine frühere Rechtsprechung bestätigt und entschieden, daß die Befreiung von Kleinbetrieben von einer nationalen Kündigungsschutzregelung für Arbeitnehmer keine staatliche Beihilfe darstellte. Der Gerichtshof hat ausgeführt(7):

"Im vorliegenden Fall stellt die Befreiung einer Gruppe von Unternehmen von der in Rede stehenden Schutzregelung keine unmittelbare oder mittelbare Übertragung staatlicher Mittel auf diese Unternehmen dar; sie ist lediglich Ausdruck des Willens des Gesetzgebers, für die arbeitsrechtlichen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Kleinbetrieben einen besonderen rechtlichen Rahmen zu erstellen und zu verhindern, daß diesen finanzielle Lasten auferlegt werden, die ihre Entwicklung behindern können."

14 Diese Rechtsprechung ist auf den vorliegenden Fall eindeutig anwendbar. Dadurch, daß die italienischen Rechtsvorschriften den Beklagten vorübergehend von der Verpflichtung, Personal mit unbefristetem Arbeitsvertrag einzustellen, befreien, werden keine staatlichen Mittel unmittelbar oder mittelbar auf dieses Unternehmen übertragen. Mit dieser Ausnahme von den allgemeinen Vorschriften des italienischen Arbeitsrechts sollten vielmehr rechtliche Zwänge beseitigt werden, die eine reibungslose Umwandlung der italienischen Postverwaltung in ein öffentliches Unternehmen hätten behindern können.

15 Man könnte einwenden, daß dem Staat durch befristete Arbeitsverträge Kosten durch Steuerausfälle oder zu zahlende Arbeitslosenunterstützung entstehen könnten. Wie der Gerichtshof jedoch im Urteil Sloman Neptun(8) ausgeführt hat, sind solche Kosten "einer solchen Regelung immanent und stellen kein Mittel dar, um den betroffenen Unternehmen einen bestimmten Vorteil zu gewähren. Jedenfalls sind solche Kosten ungewiß und nicht quantifizierbar, da der Beklagte, wenn er nicht über die ihm durch die streitige Vorschrift eingeräumte Flexibilität verfügt hätte, bei kurzfristigem Bedarf möglicherweise überhaupt nicht oder in geringerem Umfang zusätzliches Personal eingestellt hätte.

16 In Anbetracht der Auswirkungen, die arbeits- und sozialrechtliche Maßnahmen auf den Wettbewerb haben können, mag man sich auch die Frage stellen, warum Artikel 92 Absatz 1 nicht alle diejenigen Maßnahmen erfasst, die durch ihre selektive Wirkung den Wettbewerb verfälschen und sich daher ebenso auswirken können wie eine staatliche Beihilfe. Der Grund ist wohl im wesentlichen praktischer Art: Wollte man alle derartigen Regelungen prüfen, so müsste man allein auf der Grundlage des Vertrages das gesamte Sozial- und Wirtschaftssystem eines Mitgliedstaats untersuchen(9).

17 Daher ist die erste Frage des nationalen Gerichts dahin zu beantworten, daß eine Vorschrift wie die vorliegend streitige keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 des Vertrages darstellt. Die übrigen Fragen des nationalen Gerichts brauchen somit nicht mehr erörtert zu werden.

Ergebnis

18 Die von der Pretura circondariale Trient vorgelegten Fragen sind daher meiner Ansicht nach wie folgt zu beantworten:

Eine nationale Vorschrift, die ein Unternehmen von der Einhaltung der allgemein für die Dauer von Arbeitsverträgen geltenden Rechtsvorschriften befreit, stellt keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 des Vertrages dar.

(1) - Das Gesetz Nr. 56 vom 28. Februar 1987 sah eine Reihe weiterer Ausnahmen vor.

(2) - Urteil vom 24. Januar 1978 in der Rechtssache 82/77 (Slg. 1978, 25).

(3) - Urteil vom 17. März 1993 in den verbundenen Rechtssachen C-72/91 und C-73/91 (Slg. 1993, I-887).

(4) - Randnr. 19 des Urteils.

(5) - Randnr. 21 des Urteils.

(6) - Urteil vom 30. November 1993 in der Rechtssache C-189/91 (Slg. 1993, I-6185).

(7) - Randnr. 17 des Urteils.

(8) - Zitiert in Fußnote 3.

(9) - Diese Frage erörtert Paul Davies in "Market Integration and Social Policy in the Court of Justice", Industrial Law Journal 1995, S. 49, insbesondere S. 58 ff.

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