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Document 61996CC0036

Schlussanträge des Generalanwalts Elmer vom 29. April 1997.
Faik Günaydin, Hatice Günaydin, Günes Günaydin und Seda Günaydin gegen Freistaat Bayern.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesverwaltungsgericht - Deutschland.
Assoziierungsabkommen EWG-Türkei - Beschluß des Assoziationsrates - Freizügigkeit der Arbeitnehmer - Begriffe der Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats und der ordnungsgemäßen Beschäftigung - Befristete und bedingte Arbeits- und Aufenthaltsserlaubnis - Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis - Rechtsmißbrauch.
Rechtssache C-36/96.

Sammlung der Rechtsprechung 1997 I-05143

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1997:224

61996C0036

Schlussanträge des Generalanwalts Elmer vom 29. April 1997. - Faik Günaydin, Hatice Günaydin, Günes Günaydin und Seda Günaydin gegen Freistaat Bayern. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesverwaltungsgericht - Deutschland. - Assoziierungsabkommen EWG-Türkei - Beschluß des Assoziationsrates - Freizügigkeit der Arbeitnehmer - Begriffe der Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats und der ordnungsgemäßen Beschäftigung - Befristete und bedingte Arbeits- und Aufenthaltsserlaubnis - Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis - Rechtsmißbrauch. - Rechtssache C-36/96.

Sammlung der Rechtsprechung 1997 Seite I-05143


Schlußanträge des Generalanwalts


Einleitung

1 In der vorliegenden Rechtssache ersucht das Bundesverwaltungsgericht den Gerichtshof um Stellungnahme dazu, ob nach dem Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei davon auszugehen ist, daß ein türkischer Arbeitnehmer ordnungsgemäß beschäftigt ist und dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, wenn ihm eine vorübergehende Arbeitserlaubnis zu dem Zweck erteilt wurde, sich in diesem Mitgliedstaat auf eine Tätigkeit in einem Tochterunternehmen seines Arbeitgebers in der Türkei vorzubereiten.

Die einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften

2 Das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei(1) hat nach Artikel 2 Absatz 1 zum Ziel, "eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, daß hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden".

In Artikel 12 des Abkommens sind die Vertragsparteien übereingekommen, "sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft leiten zu lassen, um untereinander die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen".

3 Nach Artikel 36 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen vom 23. November 1970(2) legt der Assoziationsrat die erforderlichen Regeln für die schrittweise Herstellung der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und der Türkei nach den Grundsätzen des Artikels 12 des Assoziierungsabkommens fest.

4 Dementsprechend erließ der Assoziationsrat den Beschluß Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im folgenden: Beschluß Nr. 1/80)(3), der am 1. Juli 1980 in Kraft trat. Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses hat folgenden Wortlaut:

"(1) ... der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, [hat] in diesem Mitgliedstaat

- nach einem Jahr ordnungsgemässer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;

- nach drei Jahren ordnungsgemässer Beschäftigung - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;

- nach vier Jahren ordnungsgemässer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis."

Sachverhalt

5 Herr Faik Günaydin, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste 1976 im Alter von 20 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er absolvierte dort zunächst mehrere Deutschkurse und nahm sodann ein Studium der Elektrotechnik auf. 1986 machte er den Abschluß als Diplomingenieur dieser Fachrichtung. 1982 ging er die Ehe mit Hatice Günaydin ein, mit der er zwei Kinder hat, die 1984 und 1988 geboren wurden.

6 Im November 1986 wurde Faik Günaydin im Gerätewerk Amberg der Siemens AG (im folgenden: Siemens) eingestellt. In diesem Zusammenhang teilte Siemens dem Ausländeramt der Stadt Amberg mit Schreiben vom 16. Oktober 1986 mit, das Gerätewerk Amberg arbeite eng mit Siemens-Landesgesellschaften u. a. in der Türkei zusammen; es sei daher vorgesehen, daß Faik Günaydin innerhalb von ca. fünf Jahren Betreuungsfunktionen und Führungsaufgaben in einer der Tochtergesellschaften übernehme. Er solle deshalb nicht auf Dauer im Amberger Werk mitarbeiten, sondern in sein Heimatland versetzt werden. In einem Schreiben der Siemens-Zentrale vom 20. Januar 1987 an das Bayerische Staatsministerium des Innern wurde darum gebeten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis für mindestens drei Jahre zu erteilen, da er nach Abschluß eines gezielten Informations- und Einarbeitungsprogramms in die Türkei versetzt werden solle. In einem weiteren Schreiben der Siemens-Zentrale vom 21. Januar 1987 wurden diese Angaben bestätigt.

7 Am 12. Januar 1987 erteilte die Stadt Amberg dem Kläger eine bis zum 3. November 1987 befristete Aufenthaltserlaubnis. Diese enthielt den Vermerk: "Erlischt mit Beendigung der Beschäftigung bei der Firma Siemens in Amberg (nur zur Einführung in die Geschäfts- bzw. Arbeitsweise)". Vor Aushändigung der Aufenthaltserlaubnis an den Kläger unterzeichnete dieser eine Erklärung, in der er zur Kenntnis nahm, daß die Aufenthaltserlaubnis ihm nur zu dem vorgenannten Zweck erteilt wurde und daß aufgrund der gegenwärtigen Rechtslage die Erteilung einer unbefristeten, einschränkungslosen Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland nicht möglich war.

8 Die Aufenthaltserlaubnis wurde mit entsprechenden Zusätzen dreimal verlängert, zuletzt befristet bis zum 5. Juli 1990. Parallel zu den Aufenthaltserlaubnissen wurden befristete Arbeitserlaubnisse erteilt, die ebenfalls auf die Arbeit im Gerätewerk Amberg von Siemens beschränkt waren. Vor der letzten Verlängerung erklärte Faik Günaydin am 9. August 1989 gegenüber Siemens, daß er beabsichtige, seine Arbeit im Gerätewerk Amberg bis zum 30. Juni 1990 oder 30. September 1990 fortzusetzen, sofern seine Aufenthaltserlaubnis verlängert werde. Anschließend wolle er mit seiner Familie in die Türkei zurückkehren, um bei der Tochtergesellschaft von Siemens in diesem Land tätig zu werden. Diese Erklärung wurde an die Ausländerbehörden weitergeleitet.

9 Mit Schreiben vom 15. Februar und vom 5. Juli 1990 beantragte Faik Günaydin bei den deutschen Ausländerbehörden eine Daueraufenthaltserlaubnis mit der Begründung, Deutschland sei wegen seines beruflichen Werdegangs in diesem Land sein eigentlicher Lebensraum geworden. Siemens und die Industrie- und Handelskammer Regensburg unterstützten den Antrag. Am 30. Juni 1990 musste Faik Günaydin seine Tätigkeit bei Siemens jedoch wegen Ablaufs seiner Arbeitserlaubnis einstellen.

10 Mit Bescheid vom 11. September 1990 wurde der Antrag von Faik Günaydin auf Aufenthaltserlaubnis von der Stadt Amberg abgelehnt. Auch das Landratsamt Amberg-Sulzbach lehnte den Antrag auf Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid vom 17. April 1991 ab. Der hiergegen bei der Regierung der Oberpfalz eingelegte Widerspruch von Faik Günaydin blieb erfolglos.

Am 3. Dezember 1991 erhoben Faik Günaydin und seine Familie Klage beim Verwaltungsgericht. Das Verwaltungsgericht bestätigte die angefochtenen Bescheide u. a. mit der Begründung, Faik Günaydin könne keine Rechte aus Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 herleiten, da er nicht dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehört habe. Gegen diese Entscheidung legten Faik Günaydin und seine Familie Berufung beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ein, der das Urteil bestätigte. Daraufhin wurde Revision beim Bundesverwaltungsgericht eingelegt.

Vorlagefragen

11 Mit Beschluß vom 24. November 1995 hat das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Gehört ein türkischer Arbeitnehmer im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats an und ist er dort ordnungsgemäß beschäftigt, wenn ihm die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit bei einem Arbeitgeber im Mitgliedstaat nur vorübergehend und nur zu dem Zweck erlaubt wurde, sich auf eine Tätigkeit in einem Tochterunternehmen seines Arbeitgebers in der Türkei vorzubereiten?

Bei Bejahung von Frage 1:

2. Steht einem Anspruch nach Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 der Einwand des Rechtsmißbrauchs entgegen, wenn der türkische Arbeitnehmer seine Absicht, nach Vorbereitung auf die Tätigkeit in der Türkei dorthin zurückzukehren, ausdrücklich erklärt und die Ausländerbehörde seinen vorübergehenden Aufenthalt im Inland nur mit Rücksicht auf diese Erklärung gestattet hat?

Erste Frage

12 Die erste Frage geht dahin, ob ein türkischer Arbeitnehmer im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört und dort ordnungsgemäß beschäftigt ist, wenn ihm die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit bei einem Arbeitgeber im Mitgliedstaat vorübergehend und zu dem Zweck erlaubt wurde, sich auf eine Tätigkeit in einem Tochterunternehmen seines Arbeitgebers in der Türkei vorzubereiten.

13 Meiner Auffassung nach enthält diese Frage in Wirklichkeit zwei Fragen. Die erste Frage betrifft die Auslegung des Begriffes der ordnungsgemässen Beschäftigung im Rahmen des regulären Arbeitsmarktes in Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 im Zusammenhang mit der Beschäftigung türkischer Staatsangehöriger in bestimmten Stellungen, die Ausbildungscharakter haben. Die zweite Frage geht dahin, ob die Mitgliedstaaten türkische Staatsangehörige durch die Aufnahme zeitlicher oder anderer Beschränkungen in Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen von der Wahrnehmung der in dieser Vorschrift enthaltenen Rechte ausschließen können.

14 Der Freistaat Bayern, unterstützt von der deutschen, der französischen und der griechischen Regierung sowie der Kommission, hat vorgetragen, Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 sei dahin auszulegen, daß ein türkischer Arbeitnehmer, dem die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit bei einem Arbeitgeber in einem Mitgliedstaat nur vorübergehend und nur zu dem Zweck erlaubt worden sei, sich auf eine Tätigkeit in einem Tochterunternehmen seines Arbeitgebers in der Türkei vorzubereiten, nicht dem regulären Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats angehöre.

15 Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 hat nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes unmittelbare Wirkung(4). Ihrem Wortlaut nach betrifft diese Vorschrift allein das Recht auf Beschäftigung, doch besteht nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes in Verbindung mit diesem Recht auf Beschäftigung ein daraus abgeleitetes Aufenthaltsrecht(5).

Die Vorschrift regelt jedoch nicht die Frage des Rechts auf Beschäftigung und Aufenthalt in den Mitgliedstaaten für türkische Arbeitnehmer, die nicht die dort aufgestellten zeitlichen Bedingungen erfuellen. Vorbehaltlich der im Beschluß Nr. 1/80 aufgeführten Fälle wird somit durch die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten festgelegt, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen türkische Staatsangehörige in ihr Hoheitsgebiet einreisen und sich dort aufhalten sowie eine Beschäftigung ausüben dürfen.

16 Der Gerichtshof hat ferner im Urteil vom 16. Dezember 1992(6) in bezug auf den Beschluß Nr. 1/80 festgestellt, daß

"... diese Bestimmung nach ihrem Wortlaut nur für türkische Arbeitnehmer [gilt], die dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehören; insbesondere hat ein türkischer Arbeitnehmer nach Artikel 6 Absatz 1 schon dann Anspruch auf Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber, wenn er seit mehr als einem Jahr eine ordnungsgemässe Beschäftigung ausgeuebt hat".

Um ein Recht aus Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ableiten zu können, muß der betreffende türkische Arbeitnehmer also dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehören und in den in der Vorschrift angeführten Zeiträumen eine ordnungsgemässe Beschäftigung ausgeuebt haben.

17 Was die Frage angeht, wann ein türkischer Staatsangehöriger "dem regulären Arbeitsmarkt angehört", muß meiner Auffassung nach aufgrund einer rein objektiven Beurteilung der Art der Beschäftigung festgestellt werden, ob es bei der Ausübung der betreffenden Beschäftigung um eine allgemeine Beschäftigung und damit um die Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt in Deutschland ging oder um eine Art von Ausbildung.

18 Im Hinblick auf diese Beurteilung sind bestimmte Extremfälle von Tätigkeiten vorstellbar. Zum einen gibt es die Gruppe der reinen Ausbildungstätigkeiten, bei denen keine Beschäftigung oder Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt vorliegt, z. B. Studien an Universitäten, Wirtschafts- und Fachhochschulen, in deren Rahmen die Studenten ausschließlich eine rein theoretische, ausbildungsmässige Tätigkeit ausüben. Türkische Staatsangehörige, die eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke eines Universitätsstudiums erhalten, erlangen hierdurch keine Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt und können nicht unter Berufung auf ein derartiges Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat ein Recht aus Artikel 6 des Beschlusses Nr. 1/80 ableiten.

19 Zum anderen gibt es türkische Staatsangehörige, die in einem Mitgliedstaat eine allgemeine unselbständige Erwerbstätigkeit nach allgemeinen arbeitsrechtlichen Bestimmungen und zum normalen Lohn ausüben. Solche Personen gehören eindeutig dem Arbeitsmarkt des betreffenden Mitgliedstaats an, und ein türkischer Staatsangehöriger, der eine solche Beschäftigung während der erforderlichen Zeiträume ausgeuebt hat, kann sich daher auf die in Artikel 6 des Beschlusses Nr. 1/80 enthaltenen Rechte berufen.

20 Zwischen diesen Extremfällen ist eine Reihe von Abstufungen vorstellbar, bei denen es möglicherweise schwierig ist, zu entscheiden, ob es de facto um Ausbildung oder um eine Beschäftigung im Rahmen des Arbeitsmarktes geht. Solche Formen der Beschäftigung haben gewiß überwiegend Ausbildungscharakter. Zum Beispiel lässt sich vorstellen, daß zu einer Krankenpflegeausbildung, die von einer speziellen Ausbildungseinrichtung geleitet wird, Abschnitte mit Krankenhauspraktika gehören, und zwar unabhängig davon, ob der Praktikant ein gewisses Entgelt für die Arbeit im Krankenhaus erhält.

21 Wahrscheinlich enthalten viele Formen der unselbständigen Beschäftigung im Rahmen des Arbeitsmarktes ein Ausbildungselement, vielleicht besonders bei Beschäftigungen, die die Entfaltung intellektueller Fähigkeiten verlangen. Zum Beispiel wird die Beschäftigung als Richter auf Probe so ausgestaltet sein, daß die Richter auf Probe - oder die fähigsten von ihnen - zwecks Anstellung als Richter auf Lebenszeit geschult und qualifiziert werden. Im Rahmen einer beruflichen Laufbahn wird gerade die Ausübung einer Art von Arbeit oder Tätigkeit während eines bestimmten Zeitraums der Umstand sein, der den Betreffenden für eine bestimmte andere Arbeit qualifiziert. In diesem Sinne enthalten viele Arten der Arbeit Elemente der Schulung oder Ausbildung, ohne daß aus diesem Grunde Zweifel daran aufkommen würden, daß der Betreffende eine Beschäftigung im Rahmen des Arbeitsmarktes ausgeuebt hat.

22 Der Begriff der Beschäftigung im Rahmen des regulären Arbeitsmarktes eines Mitgliedstaats im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 muß daher meiner Auffassung nach grundsätzlich auch Tätigkeiten umfassen, zu denen Ausbildungselemente der erwähnten Art gehören. Damit die Vorschrift praktische Wirkung entfalten kann, muß meines Erachtens davon ausgegangen werden, daß eine unselbständige Erwerbstätigkeit nur dann nicht unter diesen Begriff fällt, wenn es sich um eine praktische Tätigkeit handelt, die Teil eines eigenen Ausbildungsgangs ist, wie etwa Praktika in Verbindung mit formalisierten Ausbildungen, die auch und vielleicht überwiegend unterrichtliche (theoretische) Elemente ausserhalb des betreffenden Arbeitsplatzes enthalten.

23 Meiner Ansicht nach eignet sich die vorliegende Rechtssache nicht für eine eingehendere Prüfung des Gerichtshofes, wie die verschiedenen anderen vorstellbaren Mischformen, z. B. Lehrlingsausbildungen, die in den Mitgliedstaaten in ganz unterschiedlicher Form organisiert sein können, zu behandeln sind. In der vorliegenden Rechtssache steht fest, daß Faik Günaydin unter allgemeinen Bedingungen und nicht nach den besonderen Regeln für Lehrverhältnisse angestellt war, daß er nicht ein besonders niedriges "Ausbildungsentgelt" für seine Arbeit bei Siemens erhielt, sondern vielmehr ein normales Gehalt, d. h. dasselbe Gehalt wie andere bei Siemens angestellte Ingenieure, daß er keinerlei Ausbildungsförderung vom deutschen Staat erhielt, und daß er als fertig ausgebildeter Ingenieur über eine Reihe von Jahren im Unternehmen arbeiten sollte, um später eine Stellung in einer Tochtergesellschaft zu übernehmen. Alles weist somit darauf hin, daß es um eine ganz normale Arbeit ging, die im Laufe der Zeit dazu führen konnte, daß Faik Günaydin nach Erlangung hinreichender Kenntnisse von der Unternehmenskultur, der Kommunikationsstruktur im Unternehmen usw. eine vermutlich eher als Vertrauensposition zu bezeichnende Stellung in einer geplanten Tochtergesellschaft in der Türkei übernehmen konnte.

24 Im folgenden widme ich mich der Frage, ob die Mitgliedstaaten türkische Staatsangehörige durch die Aufnahme zeitlicher oder anderer Beschränkungen in Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen von der Wahrnehmung der in dieser Vorschrift enthaltenen Rechte ausschließen können. In meinen Schlussanträgen in der Rechtssache C-434/93 (Bozkurt)(7) habe ich ausgeführt:

"Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates stellt keine selbständigen Bedingungen dafür auf, daß die Beschäftigung $ordnungsgemäß` ist ...

Deshalb ist anzunehmen, daß Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates mit dem Begriff $ordnungsgemässe` Beschäftigung auf die Vorschriften der Mitgliedstaaten darüber verweist, unter welchen Bedingungen türkische Staatsangehörige ein Recht auf Einreise und Aufenthalt und somit auf Ausübung einer Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet haben. Wenn die Bestimmung die Ordnungsmässigkeit der Beschäftigung nicht davon abhängig macht, daß eine förmliche Aufenthaltserlaubnis u. ä. vorliegt, ist es ausserdem das Nächstliegende, dies so zu verstehen, daß eine Beschäftigung $ordnungsgemäß` im Sinne dieser Bestimmung ist, wenn es für einen türkischen Staatsangehörigen nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats nicht rechtswidrig ist, die fragliche Beschäftigung auszuüben."

25 In seinem Urteil vom 20. September 1990(8) (im folgenden: Sevince-Urteil) hat der Gerichtshof gewisse Leitlinien dafür angegeben, was nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten im Begriff "ordnungsgemässe" Beschäftigung im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 enthalten sein kann:

"Die Ordnungsmässigkeit der Beschäftigung im Sinne dieser Bestimmungen setzt allerdings, selbst wenn sie nicht notwendigerweise vom Besitz einer ordnungsgemässen Aufenthaltserlaubnis abhängen sollte, eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt voraus.(9)

...

Der Begriff $ordnungsgemässe Beschäftigung` in ... Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 kann daher nicht den Fall erfassen, daß ein türkischer Arbeitnehmer die Ausübung einer Beschäftigung nur wegen der aufschiebenden Wirkung seiner Klage bis zur rechtskräftigen Entscheidung des nationalen Gerichts über diese Klage rechtmässigerweise fortsetzen konnte, vorausgesetzt allerdings, daß dieses Gericht seine Klage abweist."(10)

26 Es ließe sich die Auffassung vertreten, daß die Position eines türkischen Arbeitnehmers auf dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats automatisch als vorläufig anzusehen ist, solange er im Besitz einer vorläufigen Arbeitserlaubnis ist, so daß es sich nicht um eine ordnungsgemässe Beschäftigung handelt.

27 Aus dem Sevince-Urteil ergibt sich jedoch, daß es für die Frage, ob bei einem türkischen Arbeitnehmer eine ordnungsgemässe Beschäftigung in einem Mitgliedstaat vorliegt, nicht darauf ankommt, daß der Betreffende formal im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis war. Entscheidend ist vielmehr, ob er nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats materiell berechtigt war, während des fraglichen Zeitraums in dem betreffenden Mitgliedstaat zu arbeiten und sich dort aufzuhalten.

28 Ebensowenig, wie man bei der Prüfung, ob eine ordnungsgemässe Beschäftigung vorliegt, darauf abstellen kann, ob das Aufenthaltsrecht sich aus einer formalen Arbeits- oder Aufenthaltserlaubnis ergibt, kann man meiner Meinung nach auf die zeitliche Geltung einer erteilten Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis abstellen. Wollte man auf die zeitliche Geltung eine Aufenthaltserlaubnis abstellen, könnten die Mitgliedstaaten durch die Erteilung befristeter Aufenthaltserlaubnisse Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 völlig umgehen, so daß türkische Staatsangehörige de facto nicht in den Genuß der ihnen durch diese Vorschrift zuerkannten Rechte gelangen würden. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß es anscheinend eine in den Mitgliedstaaten weit verbreitete Praxis ist, Drittstaatsangehörigen im ersten Jahr, in dem sie das Recht zur Arbeit und zum Aufenthalt in einem Mitgliedstaat haben, nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Die deutsche Regierung hat in der mündlichen Verhandlung angegeben, in Deutschland gebe es keinen Fall, in dem die erste Aufenthaltserlaubnis für Drittstaatsangehörige, u. a. türkische Staatsangehörige, nicht befristet erteilt werde.

29 Dieselben Gesichtspunkte müssen für Fälle gelten, in denen die Mitgliedstaaten die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse auf andere Weise als durch eine Befristung begrenzen, z. B. durch den Vermerk, daß die Erlaubnis nur das Recht zur Beschäftigung bei einem bestimmten Arbeitgeber oder zu einer bestimmten Art von Beschäftigung gibt. Wenn die Mitgliedstaaten die den türkischen Staatsangehörigen gemeinschaftsrechtlich zuerkannten Rechte durch die blosse Vornahme von Beschränkungen der einen oder anderen Art in den Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnissen einschränken könnten, könnten sie die den türkischen Staatsangehörigen nach dem Beschluß Nr. 1/80, der Bestandteil des Gemeinschaftsrechts ist, zustehenden Rechte nach Gutdünken wirkungslos machen.

30 Dies bedeutet nicht, daß solche zeitlichen oder anderen Beschränkungen bedeutungslos würden, da sie die Bedeutung erhalten, die ihnen die betreffende nationale Rechtsordnung beilegt, soweit die Drittstaatsangehörigen keine gemeinschaftsrechtlichen Rechte erworben haben. Ist also die Arbeitserlaubnis eines türkischen Staatsangehörigen auf die Arbeit bei einem bestimmten Arbeitgeber beschränkt und endet die Beschäftigung innerhalb des ersten Jahres, ergibt sich im Umkehrschluß aus Artikel 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80, daß der türkische Staatsangehörige nach Gemeinschaftsrecht kein Recht auf Verlängerung der Beschäftigung erlangt hat und seine Aufenthalts- und Arbeitsmöglichkeiten in dem betreffenden Mitgliedstaat alleine nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats zu beurteilen sind.

31 Entscheidend dafür, ob ein türkischer Arbeitnehmer als in einem Mitgliedstaat ordnungsgemäß beschäftigt anzusehen ist, ist somit meiner Auffassung nach nur, ob der Betreffende nach dem Ausländerrecht des Mitgliedstaats in dem streitigen Zeitraum materiell zum Aufenthalt und zur Arbeit in diesem Land berechtigt war. Somit kommt es nicht darauf an, ob der Betreffende in diesem Zeitraum formal im Besitz einer gültigen Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis war und ob diese Erlaubnis zeitlich oder anderweitig beschränkt war.

32 Die erste Frage ist daher meiner Auffassung nach in der Weise zu beantworten, daß Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, daß bei einem türkischen Staatsangehörigen, der eine unselbständige Beschäftigung unter normalen Bedingungen und zum normalen Lohn bei einem Arbeitgeber in einem Mitgliedstaat ausübt und keinen Sonderregeln für die Beschäftigung als Lehrling oder ähnliche unterliegt, davon auszugehen ist, daß er eine Beschäftigung im Rahmen des Arbeitsmarktes des betreffenden Mitgliedstaats ausübt, selbst wenn die Beschäftigung ursprünglich den Zweck hatte, den Betreffenden im Hinblick darauf zu schulen, daß er nach einigen Jahren der Beschäftigung bei seinem Arbeitgeber eine Stelle in einem Tochterunternehmen des Arbeitgebers in der Türkei übernehmen sollte, und daß die Mitgliedstaaten nicht durch Aufnahme zeitlicher oder anderer Beschränkungen in die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis des türkischen Staatsangehörigen den Betreffenden an der Erlangung von Rechten nach dieser Vorschrift hindern können.

Zweite Frage

33 Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob einem Anspruch nach Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 der Einwand des Rechtsmißbrauchs entgegenstehen kann.

34 Faik Günaydin hat vorgetragen, die Tochtergesellschaft von Siemens in der Türkei, in der er nach Ablauf des Schulungszeitraums bei Siemens in Deutschland habe beschäftigt werden sollen, habe im Januar 1991 mitgeteilt, aufgrund der aktuellen Situation in der Türkei sei es gegenwärtig nicht möglich, ihn einzustellen. Er habe also ursprünglich beabsichtigt, in die Türkei zurückzukehren, doch hätten sich die Umstände geändert.

35 Der Freistaat Bayern, unterstützt von der deutschen und der griechischen Regierung, ist der Auffassung, im vorliegenden Fall liege ein derartiger Mißbrauch vor, daß ein Rechtsanspruch nach Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht gegeben sei.

36 Nach Ansicht der Kommission kann nicht davon ausgegangen werden, daß Faik Günaydin ursprünglich nur vorgegeben habe, nach Ablauf seiner Beschäftigung bei Siemens in die Türkei zurückkehren zu wollen, um die deutschen Ausländerbehörden zur Erteilung einer Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis an ihn zu veranlassen.

37 Die zweite Frage lässt nicht ganz klar erkennen, was das vorlegende Gericht mit dem Begriff "Rechtsmißbrauch" im Zusammenhang mit den Rechten aus Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 meint. Meiner Ansicht nach liegt in dem Begriff "Mißbrauch" jedoch ein Betrugselement, so daß ich es für das Nächstliegende halte, daß das vorlegende Gericht in Wirklichkeit danach fragt, ob es sich auf die Rechte eines türkischen Arbeitnehmers aus Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 auswirkt, wenn er die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in einem Mitgliedstaat aufgrund einer Täuschung erlangt hat.

38 In meinen Schlussanträgen vom 6. März 1997 in der Rechtssache C-285/95 (Suat Kol)(11) habe ich ausgeführt:

"16. Die Arbeitsberechtigung ist somit in der Zeit, in der sich der türkische Arbeitnehmer auf die Bestimmungen des Beschlusses Nr. 1/80 berufen kann, dadurch bedingt, daß er nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats bereits ein Aufenthaltsrecht erworben hat. Ob und unter welchen Voraussetzungen ein türkischer Arbeitnehmer ein Aufenthaltsrecht besitzt, ist nach nationalem Recht zu beurteilen. Dafür ist entscheidend, ob sich der Betroffene nach den materiellen Vorschriften des Mitgliedstaats rechtmässig im Land aufhält. Die formale Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis ist ohne Bedeutung.

...

18. Der Gerichtshof hat ... entschieden, daß nicht allein aufgrund eines vorläufigen Aufenthaltsrechts, das während der Zeit bis zur Entscheidung eines Rechtsstreits besteht, zurückgelegte Beschäftigungszeiten als Zeiten einer ordnungsgemässen Beschäftigung angesehen werden können. In der vorliegenden Rechtssache verhält es sich anders, da Suat Kol - aufgrund einer Täuschung - im streitigen Zeitraum im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis war, die erst durch eine spätere Ausweisungsverfügung aufgehoben wurde. Formal war die Position von Suat Kol auf dem deutschen Arbeitsmarkt also keine vorläufige. Da jedoch die Aufenthaltserlaubnis durch Täuschung erlangt worden war, war sie nach deutschem Recht anfechtbar."

In meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Suat Kol führte ich weiter aus, der Fall, der dort zur Entscheidung angestanden habe, sei meines Erachtens "ebenso wie der der Rechtssachen Sevince und Kus so zu beurteilen, daß der Zeitraum zwischen der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis aufgrund der falschen Erklärung über die eheliche Lebensgemeinschaft vom 2. Mai 1991 und der Ausweisung am 7. Juli 1994 nicht als Zeitraum angesehen werden kann, in dem die Position von Suat Kol auf dem Arbeitsmarkt gesichert und nicht nur vorläufig war, da sein formales Aufenthaltsrecht anfechtbar war. Andernfalls wäre eine gerichtliche Entscheidung, durch die Suat Kol ein Aufenthaltsrecht nach deutschem Recht endgültig verweigert würde, bedeutungslos, und es würde ihm ermöglicht, die in Artikel 6 Absatz 1 festgelegten Rechte in einem Zeitraum zu erwerben, in dem er die Voraussetzungen dieser Bestimmung nicht erfuellte. Wollte man es Suat Kol erlauben, sich an die deutschen Ausländerbehörden zu wenden, um seine Beschäftigung nach dem 2. Mai 1991 zu legalisieren, so würde dies bedeuten, ein verwerfliches Verhalten zu belohnen, was andere ermutigen würde, den Ausländerbehörden der Mitgliedstaaten gegenüber falsche Erklärungen abzugeben, statt sie davon abzuschrecken."

Schließlich führte ich in Nummer 21 meiner Schlussanträge aus: "... auch der Zweck des Artikels 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 [muß] zu dem genannten Ergebnis führen. Die beschäftigungsrechtlichen Vorteile dieser Bestimmung bezwecken, türkischen Arbeitnehmern, die bereits in den regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats integriert sind, eine weitere Integration in dem betreffenden Mitgliedstaat zu gewährleisten. Diese Integrationsabsicht würde die entgegengesetzte Wirkung haben, wenn sich ein türkischer Arbeitnehmer durch Täuschung eine Rechtsposition verschaffen könnte, die nur den in Artikel 14 genannten Bedingungen unterliegt."

Aufgrund dieser Erwägungen schlug ich dem Gerichtshof vor, die erste Frage dahin zu beantworten, daß "Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 so auszulegen ist, daß Zeiten einer Beschäftigung, die ein türkischer Arbeitnehmer aufgrund einer durch Täuschung erwirkten Aufenthaltserlaubnis in einem Mitgliedstaat verbracht hat, nicht als $ordnungsgemässe Beschäftigung` anzusehen sind".

39 Ausschlaggebend dafür, ob unrichtige oder fehlende Angaben im Zusammenhang mit der Erteilung einer Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis sich auf die Frage auswirken können, ob eine "ordnungsgemässe" Beschäftigung im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vorliegt, ist daher meiner Auffassung nach, ob der Betreffende die Aufenthaltserlaubnis durch Täuschung, d. h. durch Abgabe bewusst unrichtiger Angaben oder durch vorsätzliches Verschweigen maßgeblicher Umstände gegenüber den betreffenden Behörden erlangt hat. In solchen Fällen werden die Ausländerbehörden der Mitgliedstaaten die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis des Betreffenden vermutlich normalerweise mit Wirkung für die Vergangenheit zurücknehmen, so daß der türkische Arbeitnehmer nicht ordnungsgemäß beschäftigt war und die fraglichen Aufenthalts- und Beschäftigungszeiten nicht im Hinblick auf die in Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 enthaltenen Rechte geltend machen kann.

40 Macht ein türkischer Staatsangehöriger dagegen nach bestem Wissen zu einem bestimmten Zeitpunkt Angaben über seine Situation und seine Absichten, ändert sich diese Situation jedoch ohne Verschulden des Betreffenden zu einem späteren Zeitpunkt, z. B. aufgrund der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung, handelt es sich nicht um eine Täuschung, sondern um den normalen Wegfall von Voraussetzungen, und mir erscheint es unbillig, das Risiko für einen solchen Wegfall von Voraussetzungen ausschließlich dem betreffenden türkischen Staatsangehörigen aufzuerlegen. Die Ausländerbehörden der Mitgliedstaaten werden in einem solchen Fall die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis normalerweise wohl nur mit Wirkung für die Zukunft zurücknehmen (oder die Verlängerung ablehnen).

41 In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß die bei der Beantwortung der ersten Frage angesprochenen ausdrücklichen Befristungen und anderen Bedingungen in Wirklichkeit nur ein Unterfall eines solchen Wegfalls von Voraussetzungen sind. Der einzige Unterschied ist ja, daß in den in der ersten Frage angesprochenen Fällen die Voraussetzungen zu einer ausdrücklichen Bedingung gemacht wurden. Die zuvor erwähnten Gesichtspunkte müssen daher um so mehr für von den Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich aufgestellte Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis gelten, da die Mitgliedstaaten anderenfalls auch hierdurch die Rechte aus Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 wirkungslos machen könnten.

42 Wenn man von der Erklärung von Faik Günaydin ausgeht, hatte er zum Zeitpunkt des Antrags auf Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und der Abgabe der damit verbundenen Erklärungen die Absicht, nach Abschluß einer mehrjährigen Beschäftigung bei Siemens in die Türkei zurückzukehren; da sich jedoch die tatsächlichen Umstände insoweit änderten, als er keine Möglichkeit mehr hatte, bei einer Tochtergesellschaft von Siemens in der Türkei eingestellt zu werden, änderte er seine Meinung und wollte in Deutschland bleiben. Somit liegt hier offensichtlich keine Täuschung vor, sondern nur ein Fall des Wegfalls von Voraussetzungen. Es ist jedoch Sache des nationalen Gerichts, zu dieser Frage Stellung zu nehmen.

43 Die zweite Frage ist daher meiner Auffassung nach in der Weise zu beantworten, daß Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, daß Beschäftigungszeiten, die ein türkischer Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat aufgrund einer Aufenthaltserlaubnis zurückgelegt hat, die er durch Täuschung erlangt hat, nicht als "ordnungsgemässe" Beschäftigung anzusehen sind.

Entscheidungsvorschlag

44 Aufgrund dessen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates, der aufgrund des am 12. September 1963 in Ankara unterzeichneten und durch den Beschluß 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft gebilligten Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei geschaffen wurde, vom 19. September 1980 ist dahin auszulegen,

daß daß bei einem türkischen Staatsangehörigen, der eine unselbständige Beschäftigung unter normalen Bedingungen und zum normalen Lohn bei einem Arbeitgeber in einem Mitgliedstaat ausübt und keinen Sonderregeln für die Beschäftigung als Lehrling oder ähnliche unterliegt, davon auszugehen ist, daß er eine Beschäftigung im Rahmen des Arbeitsmarktes des betreffenden Mitgliedstaats ausübt, selbst wenn die Beschäftigung ursprünglich den Zweck hatte, den Betreffenden im Hinblick darauf zu schulen, daß er nach einigen Jahren der Beschäftigung bei seinem Arbeitgeber eine Stelle in einem Tochterunternehmen des Arbeitgebers in der Türkei übernehmen sollte,

daß die Mitgliedstaaten nicht durch Aufnahme zeitlicher oder anderer Beschränkungen in die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis des türkischen Staatsangehörigen den Betreffenden an der Erlangung von Rechten nach dieser Vorschrift hindern können,

daß Beschäftigungszeiten, die ein türkischer Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat aufgrund einer Aufenthaltserlaubnis zurückgelegt hat, die er durch Täuschung erlangt hat, nicht als "ordnungsgemässe" Beschäftigung anzusehen sind.

(1) - Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, unterzeichnet am 12. September 1963 in Ankara und im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluß 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 gebilligt (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685).

(2) - ABl. C 113 vom 24. Dezember 1973.

(3) - Der Beschluß wurde nicht veröffentlicht.

(4) - Vgl. Urteil vom 20. September 1990 in der Rechtssache C-192/89 (Sevince, Slg. 1990, I-3461).

(5) - Siehe Fußnote 4.

(6) - Rechtssache C-237/91 (Kus, Slg. 1992, I-6781).

(7) - Urteil vom 6. Juni 1995 (Slg. 1995, I-1475).

(8) - Siehe Fußnote 4.

(9) - Randnr. 30.

(10) - Randnr. 30.

(11) - Noch nicht in der Sammlung der Rechtsprechung veröffentlicht.

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