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Document 61995TO0195

Beschluss des Gerichts Erster Instanz (Zweite erweiterte Kammer) vom 11. März 1996.
Guérin Automobiles gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften.
Wettbewerb - Klage wegen Untätigkeit und auf Schadensersatz - Einrede der Unzulässigkeit.
Rechtssache T-195/95.

Sammlung der Rechtsprechung 1996 II-00171

ECLI identifier: ECLI:EU:T:1996:36

61995B0195

Beschluss des Gerichts Erster Instanz (Zweite erweiterte Kammer) vom 11. März 1996. - Guérin Automobiles gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften. - Wettbewerb - Klage wegen Untätigkeit und auf Schadensersatz - Einrede der Unzulässigkeit. - Rechtssache T-195/95.

Sammlung der Rechtsprechung 1996 Seite II-00171


Leitsätze
Entscheidungsgründe
Tenor

Schlüsselwörter


++++

Untätigkeitsklage ° Fristen ° Ausschlußwirkung ° Möglichkeit, sich auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes zu berufen ° Voraussetzung

(EG-Vertrag, Artikel 175)

Leitsätze


Damit sich der Kläger zur Vermeidung der Ausschlußwirkung bei Überschreitung der in Artikel 175 des Vertrages festgesetzten Frist für die Einreichung einer Untätigkeitsklage auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen kann, müssen bei ihm durch klare Zusicherungen der Gemeinschaftsverwaltung Erwartungen geweckt worden sein. Allgemeine öffentliche Erklärungen eines Mitglieds der Kommission oder wiederholte Kontakte zwischen dem Kläger und der Kommission nach einer Aufforderung zum Tätigwerden an diese stellen keine solchen Zusicherungen dar.

Entscheidungsgründe


Sachverhalt

1 Die Klägerin ° ihre Tätigkeit bestand im Kauf und Verkauf von Kraftfahrzeugen, mit Urteil vom 22. Mai 1995 wurde über sie das Konkursverfahren eröffnet ° reichte bei der Kommission eine Beschwerde, eingegangen am 6. Juni 1994, gegen die Nissan France SA ein, die Fahrzeuge der Marke Nissan einführt und Tochtergesellschaft des japanischen Herstellers ist.

2 In dieser Beschwerde führte die Klägerin aus, daß sie Vertragshändlerin von Nissan France gewesen sei und daß diese Anfang 1991 den Konzessionsvertrag zum Jahresbeginn 1992 gekündigt habe. Nach dieser Kündigung habe Nissan France sich weiterhin auf ihr Alleinvertriebssystem berufen, um Herrn Guérin jegliche Entschädigung zu verweigern, einen anderen Vertragshändler in diskriminierender Weise zu bevorzugen und ihm mehrmals den Verkauf zu verweigern. Der von Nissan France verwendete Standard-Konzessionsvertrag sei mit der Verordnung (EWG) Nr. 123/85 der Kommission vom 12. Dezember 1984 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (ABl. 1985, L 15, S. 16) unvereinbar. Da dieser Vertrag infolge seiner Wirkungen nicht unter Artikel 85 Absatz 3 EG-Vertrag fallen könne, wende sie sich an die Kommission, die dafür zuständig sei, über die Praktiken von Nissan zu befinden, da sie nach Artikel 10 der Verordnung Nr. 123/85 die Freistellung entziehen könne. Dabei wies sie auf mehrere Klauseln des Standardvertrags von Nissan France bzw. sich daraus ergebende Praktiken hin, die Nissan France gehandhabt habe, und erklärte, daß sie ihre Beschwerde auf Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag stütze.

3 Mit Schreiben vom 30. Juni 1994 übermittelte die Kommission der Nissan France eine Kopie dieser Beschwerde und forderte sie auf, zu dem behaupteten Sachverhalt Stellung zu nehmen; am selben Tag unterrichtete sie die Klägerin von dieser Übermittlung. Zwei Monate später übersandte die Nissan France ihre Antwort an die Kommission, die diese der Klägerin im September 1994 mitteilte.

4 Mit Schreiben vom 21. Februar 1995 teilte die Klägerin der Kommission ihre Stellungnahme zu den Antworten der Nissan France mit. Sie war insbesondere der Auffassung, bereits der Vergleich der zur Begründung ihrer Beschwerde gelieferten Nachweise, die Prüfung der beiden Fassungen des Vertrages und die von Nissan eingereichte Antwort hätten es der Kommission gestattet, die Beschwerdepunkte mitzuteilen. Nach einer ausführlichen Stellungnahme zu den Antworten der Nissan France forderte sie die Kommission erneut auf, Nissan die Beschwerdepunkte mitzuteilen, die sich eindeutig aus dem Studium der Akten ergäben, und schloß mit der Formel, sie stehe weiter zur Verfügung der Kommission.

5 Dieses Schreiben wurde von der Kommission nicht beantwortet.

Verfahren und Anträge der Parteien

6 Die Klägerin hat mit Klageschrift, die am 17. Oktober 1995 in das Register der Kanzlei des Gerichts eingetragen worden ist, die vorliegende Klage erhoben.

7 Mit besonderem Schriftsatz, der am 4. Dezember 1995 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Kommission gemäß Artikel 114 § 1 der Verfahrensordnung eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben. Die Klägerin hat ihre Stellungnahme zu dieser Einrede am 8. Januar 1996 eingereicht.

8 Die Klägerin beantragt in ihrer Klageschrift,

° die Untätigkeit der Kommission festzustellen;

° hilfsweise gemäß Artikel 215 EG-Vertrag zu erkennen, daß die Kommission der Klägerin ausservertraglich haftet und ihr den auf 1 577 188,53 FF geschätzten Schaden zu ersetzen hat;

° der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

9 Die Kommission beantragt in ihrer Einrede der Unzulässigkeit,

° die Klage als unzulässig abzuweisen;

° der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

10 Die Klägerin vertritt in ihrer Stellungnahme zur Einrede der Unzulässigkeit die Auffassung, daß das Gericht nach Zurückweisung der Einrede über die Klageanträge wegen Untätigkeit und auf Schadensersatz entscheiden könne.

Zur Zulässigkeit der Klage

Vorbringen der Parteien

Zum Antrag wegen Untätigkeit

11 Nach Auffassung der Kommission ist die Klage unzulässig, da bei ihrer Erhebung die Voraussetzungen und Fristen des Artikels 175 EG-Vertrag nicht eingehalten worden seien. Das Schreiben der Klägerin vom 21. Februar 1995 könne nicht als Aufforderung, tätig zu werden , im Sinne dieses Artikels angesehen werden, da sein Zweck im wesentlichen darin bestanden habe, auf das Vorbringen, mit dem Nissan France der Kommission geantwortet habe, zu erwidern. Das Schreiben habe sogar eine Formel enthalten ° Wir stehen weiter zu Ihrer Verfügung , ° die zeige, daß nach den Vorstellungen der Klägerin eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit der Kommission angebracht gewesen sei. Aus dem Schreiben vom 21. Februar 1995 sei daher nicht klar hervorgegangen, daß gegen sie eine Untätigkeitsklage erhoben werde, wenn sie nicht rechtzeitig tätig werde.

12 Zudem sei die vorliegende Untätigkeitsklage, selbst wenn das genannte Schreiben als Aufforderungsschreiben angesehen werden könne, erst nach nahezu acht Monaten eingereicht worden. Nach Artikel 175 EG-Vertrag könne jedoch, wenn das in Frage stehende Organ nicht binnen zwei Monaten nach der Aufforderung Stellung genommen habe ° was die Kommission im vorliegenden Fall nicht bestreite °, eine Untätigkeitsklage gegen dieses Organ nur innerhalb einer weiteren Frist von zwei Monaten erhoben werden. Diese weitere Frist sei im vorliegenden Fall im April 1995 abgelaufen, und die Klägerin habe nicht nachgewiesen, daß ein Zufall oder ein Fall höherer Gewalt im Sinne der Artikel 42 Absatz 2 und 46 Absatz 1 der EG-Satzung des Gerichtshofes vorgelegen habe.

13 Die Klägerin erwidert, Artikel 175 EG-Vertrag schreibe für die Aufforderung, tätig zu werden, keine besondere Form vor. Es genüge, daß diese Aufforderung, der es keinen Abbruch tü, wenn sie höflich formuliert sei, ausreichend klar sei, so daß die Kommission ihre Bedeutung nicht mißverstehen könne. Im vorliegenden Fall habe die Kommission nicht daran zweifeln können, daß der Nichterlaß einer Entscheidung von der Klägerin als Untätigkeit angesehen werde und zur Erhebung einer Klage führen könne.

14 Die Klage sei nicht wegen Überschreitung der Klagefrist unzulässig. Angesichts häufiger Kontakte mit der Kommission nach der Aufforderung habe die Klägerin annehmen dürfen, daß das der Kommission unterbreitete Problem im positiven Sinn gelöst werden würde (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 16. Februar 1993 in der Rechtssache C-107/91, ENU/Kommission, Slg. 1993, I-599). Nach dem Grundsatz des Vertrauensschutzes könne ein Beschwerdeführer Anlaß haben, die Erhebung einer Klage hinauszuschieben, wenn ihm in einer namens der Kommission zum Ausdruck gebrachten Absichts- oder Willenserklärung zu verstehen gegeben werde, daß sein Vorgang noch bearbeitet werde. Die Klägerin verweist insoweit auf die wiederholten öffentlichen Erklärungen des für Wettbewerb zuständigen Mitglieds der Kommission Van Miert, u. a. im Journal de l' Automobile vom 13. Januar 1995 ( Je suis déterminé à agir avec rapidité et avec détermination sans faille. Il n' y aura pas de mansütúde ... [Ich bin entschlossen, schnell, entschieden und konsequent zu handeln. Es wird keine Nachsicht geben ...]) sowie auf seine Stellungnahme zu der Entschließung des Parlaments vom 16. März 1995 zum 23. Bericht der Kommission über ihre Wettbewerbspolitik ( Die Konsolidierung des Binnenmarktes erfordert eine strikte Einhaltung der bestehenden Vorschriften verbunden mit einer strengen Überwachung der Gemeinschaftsverordnungen [auf dem Gebiet des Wettbewerbs] ). Im vorliegenden Fall habe die Kommission in ihrer Einrede der Unzulässigkeit anerkannt, daß die Klägerin sich zur Mitarbeit bereit gezeigt habe und habe annehmen dürfen, daß die Zusammenarbeit weiter so verlaufen werde, daß ihr Vorgang einer Lösung näher gebracht werde, was ihr Abwarten gerechtfertigt habe.

15 Ausserdem könne das Gericht jedenfalls befinden, daß die Zustellung der Klageschrift an die Kommission durch den Kanzler die Übermittlung einer eindeutigen Aufforderung zum Tätigwerden darstelle, der das verfahrenseinleitende Schriftstück gleichzustellen sei. Schließlich habe sie für alle Fälle mit Schreiben vom 2. Januar 1996 eine erneute Aufforderung zum Tätigwerden an die Kommission gerichtet, um eine neue Untätigkeitsklage erheben zu können, da die Kommission keine Absicht zeige, tätig zu werden.

Zum Antrag auf Schadensersatz

16 Die Kommission nimmt zu diesem Punkt nicht Stellung. Die Klägerin weist darauf hin, daß ihre Haftungsklage gegenüber der Untätigkeitsklage selbständig sei. Werde ein Gemeinschaftsorgan, insbesondere die Kommission, auf Haftung in Anspruch genommen, so könne das Gericht anhand einer rechtlichen Prüfung des Sachverhalts unmittelbar befinden, daß dieser einen Fehler darstelle, der hinreichend schwerwiege, um diese Haftung zu begründen. Da die Kommission nicht bestreite, innerhalb der gesetzten Frist nicht Stellung genommen zu haben, habe sie offensichtlich gegen ihre Verpflichtung verstossen, die Beschwerde vollständig und zusammenhängend zu prüfen und die Nichtbehandlung sorgfältig zu begründen.

Würdigung durch das Gericht

17 Gemäß Artikel 114 § 3 der Verfahrensordnung wird über eine vom Beklagten erhobene Einrede der Unzulässigkeit mündlich verhandelt, sofern das Gericht nichts anderes bestimmt. Soweit es im vorliegenden Fall um die Untätigkeitsklage geht, hält das Gericht die sich aus den Akten ergebenden Angaben für ausreichend. Die mündliche Verhandlung braucht also insoweit nicht eröffnet zu werden.

18 Zu den Fristen des Artikels 175 Absatz 2 EG-Vertrag ist festzustellen, daß die Kommission auf die Übersendung des Schreibens vom 21. Februar 1995 durch die Klägerin ° unterstellt, daß dieses als Aufforderung zum Tätigwerden im Sinne des Artikels 175 Absatz 2 EG-Vertrag angesehen werden kann ° gegenüber der Klägerin bis zur Einreichung der vorliegenden Klage am 17. Oktober 1995 nicht Stellung genommen hat. Die Untätigkeitsklage hätte aber gemäß Artikel 175 Absatz 2 EG-Vertrag innerhalb von vier Monaten nach Übersendung dieses Schreibens, also spätestens Ende Juni 1995, eingereicht werden müssen. Diese Klagefrist wurde also offensichtlich überschritten.

19 Obwohl die Kommission in ihrer Einrede der Unzulässigkeit diese Möglichkeit ausdrücklich erwähnt hat, hat sich die Klägerin in ihrer Stellungnahme zu der Einrede nicht auf das Vorliegen eines Zufalls, eines Falls höherer Gewalt oder eines entschuldbaren Fehlers berufen, die diese Fristüberschreitung hätten erklären können.

20 Die Klägerin macht geltend, die öffentlichen Erklärungen von Herrn Van Miert und die häufigen Kontakte mit der Kommission nach dem Aufforderungsschreiben hätten bei ihr ein Vertrauen begründet, so daß sie sich für berechtigt habe halten dürfen, die Erhebung ihrer Klage hinauszuschieben. Der Begriff des berechtigten Vertrauens setzt jedoch voraus, daß bei dem Betroffenen durch klare Zusicherungen der Gemeinschaftsverwaltung berechtigte Erwartungen geweckt worden sind (Urteil des Gerichts vom 19. Mai 1994 in der Rechtssache T-465/93, Consorzio gruppo di azione locale Murgia Messapica /Kommission, Slg. 1994, II-361, Randnr. 67). In Anbetracht der Allgemeinheit der fraglichen öffentlichen Erklärungen kann jedoch im vorliegenden Fall keine Rede von klaren, auf den Einzelfall der Klägerin bezogenen Zusicherungen der Kommission sein, die es hätten rechtfertigen können, die oben festgestellte Überschreitung der Frist zu rechtfertigen. Ausserdem befreien etwaige Kontakte, zu denen es nach einer Aufforderung der Kommission zwischen ihr und der Klägerin gekommen sein mag, nicht von der Einhaltung der Fristen des Artikels 175 EG-Vertrag.

21 Der Hinweis der Klägerin auf das Urteil ENU/Kommission (a. a. O., Randnrn. 23 f.) geht fehl. Die angemessene Frist , um die es in jener Rechtssache ging, war nicht die Klagefrist des Artikels 175 Absatz 2 EG-Vertrag; diese Viermonatsfrist war eingehalten worden. Es ging vielmehr um die Frist, innerhalb der das betroffene Gemeinschaftsorgan befasst werden muß, um rechtswirksam aufgefordert werden zu können. Das Argument, das die Klägerin aus dem Urteil ENU/Kommission abzuleiten versucht, geht also, wie gesagt, fehl.

22 Die Klägerin macht schließlich geltend, daß die Zustellung der Klageschrift selbst eine Aufforderung zum Tätigwerden darstelle, so daß die Voraussetzungen für die Anwendung des Artikels 175 EG-Vertrag im vorliegenden Fall erfuellt seien. Sowohl Wortlaut als auch Sinn dieses Artikels stehen jedoch einer solchen Argumentation entgegen. Da die Voraussetzungen der Zulässigkeit einer Klage zwingenden Rechts sind, kann der Gemeinschaftsrichter sie nicht in dem von der Klägerin gewünschten Sinne weit auslegen und eine verfrühte Klage zulassen.

23 Nach alledem ist der Antrag wegen Untätigkeit als unzulässig abzuweisen.

24 Dagegen ist die Entscheidung über die Einrede der Unzulässigkeit in bezug auf den Antrag auf Schadensersatz dem Endurteil vorzubehalten.

Tenor


Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT (Zweite erweiterte Kammer)

beschlossen:

1. Die Klage wird als unzulässig abgewiesen, soweit sie auf die Feststellung einer Untätigkeit der Kommission gerichtet ist.

2. Soweit die Klage auf Schadensersatz gerichtet ist, wird die Entscheidung über die Unzulässigkeitseinrede der Beklagten dem Endurteil vorbehalten.

3. Die Entscheidung über die Kosten wird dem Endurteil vorbehalten.

Luxemburg, den 11. März 1996

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