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Document 61988CC0236

Schlussanträge des Generalanwalts Van Gerven vom 12. Juni 1990.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Französische Republik.
Soziale Sicherheit - Zusatzbeihilfe des Fonds national de solidarité - Exportierbarkeit beitragsunabhängiger Leistungen.
Rechtssache C-236/88.

Sammlung der Rechtsprechung 1990 I-03163

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1990:243

61988C0236

Schlussanträge des Generalanwalts Van Gerven vom 12. Juni 1990. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN FRANZOESISCHE REPUBLIK. - SOZIALE SICHERHEIT - ZUSAETZLICHE BEIHILFE DES FONDS NATIONAL DE SOLIDARITE - AUSFUEHRBARKEIT DER NICHT AUF BEITRAEGEN BERUHENDEN LEISTUNGEN. - RECHTSSACHE 236/88.

Sammlung der Rechtsprechung 1990 Seite I-03163
Schwedische Sonderausgabe Seite 00469
Finnische Sonderausgabe Seite 00489


Schlußanträge des Generalanwalts


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Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1 . Die Kommission beantragt mit ihrer auf Artikel 169 EWG-Vertrag gestützten Klage die Feststellung, daß die Französische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 48 bis 51 EWG-Vertrag und aus Artikel 10 der Verordnung ( EWG ) Nr . 1408/71 des Rates vom 14 . Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern ( 1 ), verstossen hat, indem sie es ablehnt, den Beziehern einer französischen Invaliden -, Alters - oder Hinterbliebenenrente, die ihren Wohnort in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft haben oder ihn dorthin verlegen, die Zusatzbeihilfe des Fonds national de solidarité zu gewähren oder weiter zu gewähren .

Dieser Rechtsstreit steht in engem Zusammenhang mit der Rechtssache C-307/89, in der die Kommission ebenfalls Klage gegen die Französische Republik erhoben hat, weil diese es ablehnt, diese Zusatzbeihilfe Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, die in Frankreich wohnen, zu gewähren .

2 . Artikel 10 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Verordnung Nr . 1408/71 lautet wie folgt :

"Die Geldleistungen bei Invalidität, Alter oder für die Hinterbliebenen, die Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten und die Sterbegelder, auf die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten Anspruch erworben worden ist, dürfen, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat ."

Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten ergibt sich eindeutig aus dem Wortlaut von Artikel 10, sofern die in Rede stehende Zusatzbeihilfe des Fonds national de solidarité auf Grund von Rechtsvorschriften gewährt wird, für die die Verordnung Nr . 1408/71 gilt .

Die einschlägigen Bestimmungen von Artikel 4 Absätze 1 und 4 der Verordnung Nr . 1408/71 lauten wie folgt :

"1 ) Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen :

...

b ) Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind,

c ) Leistungen bei Alter,

d ) Leistungen an Hinterbliebene,

...

4 ) Diese Verordnung ist (( nicht )) auf die Sozialhilfe

... anzuwenden ."

Artikel 1 Buchstabe t der Verordnung gibt folgende weite Definition der Begriffe "Leistungen" und "Renten ":

"sämtliche Leistungen und Renten einschließlich aller ihrer Teile aus öffentlichen Mitteln, alle Zuschläge, Anpassungsbeträge und Zulagen, soweit Titel III nichts anderes vorsieht; ferner die Kapitalabfindungen, die an die Stellen der Renten treten können, sowie Beitragserstattungen ".

3 . Unter Berufung auf diese weiten Definitionen hat der Gerichtshof bereits mehrmals festgestellt, daß die Leistung, um die es im vorliegenden Rechtsstreit geht, zum Geltungsbereich der Verordnung Nr . 1408/71 gehört und nicht unter die nach Artikel 4 Absatz 4 ausgenommenen Sozialhilfesysteme fällt . So hat der Gerichtshof unter anderem im Urteil vom 9 . Oktober 1974 in der Rechtssache Biason ( 2 ) und im Urteil in der Rechtssache Giletti ( 3 ) entschieden; zu der Zusatzbeihilfe des Fonds national de solidarité hat er im letztgenannten Urteil in den Randnummern 9 bis 12 folgendes ausgeführt :

"In seinem Urteil vom 9 . Oktober 1974 in der Rechtssache 24/74 ( Biason, Slg . 1974, 999 ) hat der Gerichtshof ausgeführt, daß es zwar für die Anwendung der Gemeinschaftsregelung über die soziale Sicherheit wünschenswert erscheinen mag, die gesetzlichen Systeme eindeutig danach zu unterscheiden, ob sie der sozialen Sicherheit oder der Sozialhilfe zuzurechnen sind, daß aber nicht auszuschließen ist, daß nationale Rechtsvorschriften ihrem persönlichen Geltungsbereich, ihren Zielen und ihren Einzelbestimmungen nach beiden Rechtsgebieten gleich nahestehen .

Diese Überlegungen gelten auch für den vorliegenden Fall . Rechtsvorschriften wie die, um die es in der Vorlagefrage geht, haben in Wirklichkeit eine Doppelfunktion, die einerseits darin besteht, bedürftigen Personen ein Existenzminimum zu sichern, und andererseits darin, den Empfängern unzureichender Leistungen der sozialen Sicherheit eine Einkommensergänzung zu gewährleisten .

Soweit solche Rechtsvorschriften einen Anspruch auf Zusatzleistungen verleihen, durch die die Höhe der Renten der sozialen Sicherheit, unabhängig von jeder Beurteilung der individuellen Bedürftigkeit und Verhältnisse, die für die Sozialhilfe kennzeichnend ist, erhöht werden soll, gehören sie zum System der sozialen Sicherheit im Sinne der Verordnung Nr . 1408/71 . Daß sich ein und dasselbe Gesetz auch auf Vergünstigungen bezieht, die als solche der Sozialhilfe qualifiziert werden können, kann im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht nichts am eigentlichen Charakter einer Leistung, die an eine Invaliditäts -, Alters - oder Hinterbliebenenrente, zu der sie automatisch hinzutritt, gebunden ist, als einer Leistung der sozialen Sicherheit ändern .

Auf die erste Frage ist demgemäß zu antworten, daß Artikel 4 Absatz 4 der Verordnung Nr . 1408/71 dahin auszulegen ist, daß er eine von einem nationalen Solidaritätsfonds gezahlte, aus Steuermitteln finanzierte Ergänzungszulage, die den Empfängern von Alters -, Hinterbliebenen - oder Invaliditätsrenten gewährt wird, um ihnen ein Existenzminimum zu sichern, nicht vom sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnung ausnimmt, soweit die Betroffenen einen gesetzlich geschützten Anspruch auf eine solche Zulage haben ."

Mit dem Urteil vom 17 . Dezember 1987 in der Rechtssache Zaoui hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung zu dieser französischen Zulage erneut bestätigt ( 4 ).

4 . Die französische Regierung hat in ihrer Klagebeantwortung und in ihrer Gegenerwiderung keine Gesichtspunkte vorgetragen, die Zweifel daran hervorrufen können, daß diese Rechtsprechung auf den vorliegenden Rechtsstreit anwendbar ist . Nach alledem ist die Klage der Kommission meines Erachtens begründet . Vollständigkeitshalber werde ich dennoch kurz auf die Argumente eingehen, auf die sich die Französische Republik in ihrer Klagebeantwortung und in ihrer Gegenerwiderung stützt .

5 . Die Französische Republik beruft sich in erster Linie auf die dem Rat von der Kommission vorgelegten Änderungsvorschläge, durch die die derzeit geltende Regelung nach der Verordnung Nr . 1408/71 geändert werden soll .

Es lässt sich jedoch nicht vorhersagen, wie die Verhandlungen im Rat verlaufen werden und ob denkbare zukünftige Auslegungsbestimmungen Rückwirkung haben werden, wobei sich übrigens die Frage stellen würde, ob aus dem gemeinschaftlichen Sozialrecht abgeleitete Ansprüche den Betroffenen in dieser Weise rückwirkend entzogen werden können .

Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofes, etwaige Änderungen der gemeinschaftsrechtlichen Regelung vorwegzunehmen .

Diesem Vorbringen kann demnach nicht gefolgt werden .

6 . Zweitens weist die Französische Republik auf eine Reihe von praktischen Problemen hin, die die Auslegung des Gerichtshofes aufwerfe und auf die die Verordnung Nr . 1408/71 keine befriedigende Antwort geben könne . So sei es etwa in der Praxis schwierig, das reale Einkommen von Personen festzustellen, die in anderen Mitgliedstaaten wohnen, oder eine Hypothek auf etwa bestehendes Immobiliarvermögen solcher Personen eintragen zu lassen .

Die Kommission führt aus, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes praktische

"Schwierigkeiten, die sich bei der Anwendung der Gemeinschaftsregelung ... ergeben, ... nicht geeignet (( sind )), die Rechte zu beeinträchtigen, die Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a der Verordnung Nr . 1408/71 aus den Grundsätzen der Sozialgesetzgebung der Gemeinschaft herleiten" ( 5 ).

Sie weist insoweit auf die Möglichkeit hin, eine Lösung für diese Probleme innerhalb der Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer zu finden, die gemäß Artikel 81 Buchstabe d der Verordnung Nr . 1408/71 speziell für diesen Zweck vorgesehen sei . Darüber hinaus könnten sich derartige praktische Schwierigkeiten bei Erfuellung der aus dem Vertrag und aus Artikel 10 der Verordnung folgenden Verpflichtungen ebenso auch unter anderen Umständen ergeben .

Meines Erachtens hat die Kommission recht .

7 . Schließlich kann auch dem Argument der Französischen Republik nicht zugestimmt werden, daß die in Rede stehende Zusatzbeihilfe nicht ausserhalb des Gebiets eines Mitgliedstaats gewährt werden könne, weil ihre Höhe eng an das wirtschaftliche und soziale Umfeld gebunden sei . Der EWG-Vertrag, insbesondere dessen Artikel 48 bis 51, und Artikel 10 der Verordnung Nr . 1408/71 sollen nämlich die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft fördern und folglich die Leistungen für Wanderarbeitnehmer und deren Familienangehörige unabhängig von ihrem Wohnort innerhalb der Gemeinschaft und damit unabhängig von wirtschaftlichen und sozialen Unterschieden gleich halten ( 6 ). Das Argument, daß die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, z . B . die Lebenshaltungskosten, an verschiedenen Orten unterschiedlich sind, gilt im übrigen zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten oft nicht mehr als zwischen verschiedenen Gebieten ein und desselben Mitgliedstaats . Ausserdem berücksichtigt dieses Argument nicht die Kosten, die mit der Mobilität als solcher verbunden sind . Solche Argumente, die sich auf solche allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse beziehen, gehören in die politischen Organe, nicht vor den Gerichtshof .

Antrag

8 . Aus den angeführten Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, der Klage der Kommission stattzugeben und die Kosten der Beklagten aufzuerlegen .

(*) Originalsprache : Niederländisch .

( 1 ) Aktualisiert durch die Verordnung ( EWG ) Nr . 2001/83 des Rates vom 2 . Juni 1983 ( ABl . L 230, S . 6, Anhang I ).

( 2 ) Urteil vom 9 . Oktober 1974 in der Rechtssache 24/74, Biason, Slg . 1974, 999, Randnrn . 9 bis 12 .

( 3 ) Urteil vom 24 . Februar 1987 in den verbundenen Rechtssachen 379/85 bis 381/85 und 93/86, Giletti u . a ., Slg . 1987, 955 .

( 4 ) Urteil vom 17 . Dezember 1987 in der Rechtssache 147/87, Zaoui, Slg . 1987, 5511, Randnr . 9 . Siehe auch das Urteil vom 5 . Mai 1983 in der Rechtssache 139/82, Piscitello, Slg . 1983, 1427, mit dem der Gerichtshof hinsichtlich einer vergleichbaren italienischen Beihilfe für alte Personen ebenso entschieden hat .

( 5 ) Urteil vom 28 . Mai 1974 in der Rechtssache 187/73, Callemeyn, Slg . 1974, 553, Randnr . 12 .

( 6 ) In dem Urteil vom 27 . September 1988 in der Rechtssache 313/86 ( Lenoir, Slg . 1988, 5391, Randnr . 16 ) hat der Gerichtshof zwar hinsichtlich von Zulagen für unterhaltsberechtigte Kinder von Rentnern ( Artikel 77 der Verordnung Nr . 1408/71 ) anerkannt, daß eine Leistung, die zur Deckung von Kosten bestimmt ist, die durch den Beginn des Schuljahres der Kinder veranlasst sind, meist eng an das soziale Umfeld und damit auch an den Wohnort des Betroffenen gebunden ist . In derselben Randnummer hat der Gerichtshof jedoch entschieden, daß der Wohnort bedeutungslos ist, wenn es sich um gewöhnliche Familienbeihilfen handelt, die nach Maßgabe der Zahl und des Alters der Familienangehörigen gewährt werden . Das Urteil in der Rechtssache Lenoir geht also in die gleiche Richtung wie die angeführte Rechtsprechung, mit der der Gerichtshof die streitige Zusatzbeihilfe in den Geltungsbereich der Verordnung Nr . 1408/71 fallen lässt .

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