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Document 61977CC0030

Schlussanträge des Generalanwalts Warner vom 28. September 1977.
Regina gegen Pierre Bouchereau.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Marlborough Street Magistrates' Court, London - Vereinigtes Königreich.
Öffentliche Ordnung.
Rechtssache 30-77.

Sammlung der Rechtsprechung 1977 -01999

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1977:141

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS JEAN-PIERRE WARNER

VOM 28. SEPTEMBER 1977 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

In dieser Rechtssache ist der Gerichtshof erneut aufgerufen, unter spezifischen Gesichtspunkten die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts auszulegen, nach denen die Mitgliedstaaten „aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“ berechtigt sind, Ausnahmen von den allgemeinen Grundsätzen der Nichtdiskriminierung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten und insbesondere der Freizügigkeit für Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft zu machen, die im EWG-Vertrag gewährleistet sind. Der Gerichtshof hat bereits in bestimmtem Umfang den Rahmen abgesteckt, in dem solche Ausnahmen zulässig sind (vgl. die Entscheidungen in den Rechtssachen 41/74, Van Duyn/Home Office, Slg. 1974, 1337; 67/74, Bonsignore/Stadt Köln, Slg. 1975, 297; 36/75, Rutili/Ministre de l'Intérieur, Slg. 1975, 1219; 48/75, Royer, Slg. 1976, 497; 118/75, Watson und Belman, Slg. 1976, 1185; und aus neuester Zeit 8/77, Sagulo, Brenca und Bakhouche, Urteil vom 14. Juli 1977, noch nicht veröffentlicht).

Die gegenwärtige Rechtssache wurde dem Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens von einem Metropolitan Stipendiary Magistrate beim Marlborough Street Magistrates' Court, London, Vorgelegt. Vor diesem Gericht ist ein Strafverfahren gegen Pierre Roger André Bouchereau anhängig, einen französischen Staatsangehörigen, der jetzt einundzwanzig Jahre alt ist. Von einer kurzen Arbeitslosigkeit zur Zeit seiner Verhaftung im März 1976 abgesehen, war Bouchereau seit Mai 1975 als Kraftfahrzeugmechaniker im Königreich beschäftigt.

Im Vereinigten Königreich ist der Misuse of Drugs Act 1971 in Kraft, der nach seinem vollen Titel Regelungen trifft „with respect to dangerous or otherwise harmful drugs and related matters, and for purposes connected therewith“ (hinsichtlich gefährlicher oder sonst schädlicher Betäubungsmittel und damit zusammenhängender Fragen). Er trat anstelle früherer Vorschriften des Vereinigten Königreichs über den Mißbrauch von Betäubungsmitteln.

Nach Section 5 dieses Gesetzes ist es, von hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen, rechtswidrig, gewisse Arten von Betäubungsmitteln in Besitz zu haben. Bouchereau hat sich zweimal vor Magistrates' Courts in London schuldig bekannt, gegen diese Vorschrift verstoßen zu haben. Das erste Mal bekannte er sich am 7. Januar 1976 vor dem Marylebone Magistrates' Court für schuldig, am 10. Dezember 1975 rechtswidrig geringe Mengen von Amphetaminmethyl und von Cannabis in Besitz gehabt zu haben. Wegen dieser Tat wurde er für die Dauer von 12 Monaten bedingt freigesprochen (conditionnally discharged) und verurteilt, Kosten in Höhe von 5 £ zu tragen. Ein bedingter Freispruch (order for conditional discharge) hat nach englischem Strafrecht kurz gesagt die Wirkung, daß der Betroffene wegen des Vergehens nicht bestraft wird, falls er nicht innerhalb des im Beschluß angegebenen Zeitraums eine weitere Straftat begeht. Tritt dieser Fall ein, so kann er sowohl wegen der ursprünglichen als auch wegen der neuen Tat verurteilt werden (vgl. Powers of Criminal Courts Act 1973, Section 7, der an die Stelle früherer Rechtsvorschriften aus dem Jahre 1948 trat). Am 10. März 1976 wurde Bouchereau erneut im rechtswidrigen Besitz von Betäubungsmittein, nämlich von 28 Tabletten LSD und von drei Päckchen Amphetaminsalz, angetroffen. Dieser Taten bekannte er sich am 9. Juni vor dem Marlborough Street Magistrates' Court für schuldig. Er wurde bisher weder ihretwegen noch wegen seines ersten Verstoßes verurteilt. Anscheinend hat der Richter das Urteil bis zur Entscheidung, ob er die Ausweisung Bouchereaus empfehlen solle, ausgesetzt.

Die Befugnis, die Ausweisung eines Ausländers zu empfehlen, wurde den Gerichten des Vereinigten Königreichs durch den Immigration Act 1971 übertragen. Auch dieses Gesetz trat an die Stelle früherer Rechtsvorschriften, die bis auf das Jahr 1914 zurückgehen. Bis 1914 unterlag die Ausländerkontrolle im Vereinigten Königreich der königlichen Prärogative, anders gesagt, für sie galt das common law.

Das Gesetz von 1971 enthält zwei unterschiedliche Vorschriften mit Tatbeständen, bei deren Vorliegen eine Person „aus dem Vereinigten Königreich ausgewiesen werden kann“. Die erste dieser Vorschriften ist Section 3 (5), nach der eine Person, die kein „patrial“ ist, also kein britischer Untertan mit Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich, ausgewiesen werden kann,

„a)

wenn sie nur eine beschränkte Einreise- oder Aufenthaltserlaubnis besitzt und einer Bedingung nicht nachkommt, an die diese Erlaubnis geknüpft ist, oder wenn sie über den erlaubten Zeitraum hinaus verbleibt oder

b)

wenn der Minister ihre Ausweisung für dem öffentlichen Wohl (public good) dienlich erachtet oder

c)

wenn ein Angehöriger ihrer Familie ausgewiesen wird oder seine Ausweisung angeordnet ist“.

Dieser Absatz unterliegt im Falle eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats der Gemeinschaft offenkundig erheblichen Einschränkungen. Ich muß dem jedoch nicht im einzelnen nachgehen, da Section 3 (5) auf den vorliegenden Fall keine Anwendung findet.

Die zweite, hier einschlägige Vorschrift ist Section 3 (6), die folgenden Wortlaut hat:

„Unbeschadet des Absatzes (5) kann eine Person, die kein, patrial' ist, aus dem Vereinigten Königreich ausgewiesen werden, wenn sie nach Vollendung des 17. Lebensjahres wegen einer mit Freiheitsstrafe bedrohten Straftat verurteilt wird, und wenn ein nach diesem Gesetz dazu befugtes Gericht aufgrund dieser Verurteilung die Ausweisung empfiehlt.“

Die Gerichte, die nach dem Gesetz befugt sind, die Ausweisung zu empfehlen, werden in Section 6 (1) bestimmt. Kurz gesagt sind das die für die Verurteilung des Betroffenen wegen der fraglichen Straftat zuständigen Gerichte.

Section 5 (1) des Gesetzes enthält die Befugnis, tatsächlich auszuweisen. Sie ist dem Minister für den Fall übertragen, „daß eine Person nach Section 3 (5) oder (6) ausgewiesen werden kann“.

Der Rechtsweg unterscheidet sich je nachdem, ob Section 3 (5) oder Section 3 (6) Anwendung findet.

Für Fälle nach Section 3 (5) sieht das Gesetz vor, daß vor einer Ausweisung der Minister zunächst eine „Entscheidung“ (decision) zu treffen hat, sie zu verfügen. Gegen diese Entscheidung sieht das Gesetz ein Rechtsmittel zu einem „Adjudicator“ und ein weiteres Rechtsmittel zum Immigration Appeal Tribunal vor. In gewissen Fällen geht das Rechtsmittel direkt zu diesem Spruchkörper. Die Ausweisung darf erst nach Erschöpfung des Rechtsweges verfügt werden. Auf das Rechtsmittel hin sind der Adjudicator und das Immigration Appeal Tribunal befugt, alle Gesichtspunkte des Falles einschließlich des für die Ausweisung erheblichen Sachverhalts zu überprüfen (vgl. Sections 12 und 15 des Gesetzes und das kürzlich ergangene Urteil des Queen's Bench Divisional Court in Sachen Regina/Immigration Appeal Tribunal, Ex parte Ekrem Mehmet [1977] 1 W.L.R. 795). Section 15 (3) des Gesetzes sieht eine Ausnahme für den Fall vor, daß die Entscheidung, eine Ausweisung zu verfügen, darauf beruht, daß die Ausweisung des betroffenen Ausländers, „weil sie im Interesse der nationalen Sicherheit oder der Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und einem anderen Staat liegt, oder aus anderen Gründen politischer Art dem öffentlichen Wohl (public good) dienlich ist“. In einem solchen Fall ist kein Rechtsmittel zu einem Adjudicator oder zum Immigration Appeal Tribunal statthaft. Statt dessen wird der Fall außergesetzlich einem Ausschuß vorgelegt, der den Minister zu beraten hat (vgl. hierzu Regina/Secretary of State for Home Affairs, Ex parte Hosenball [1977] I W.L.R. 766). Selbstverständlich unterliegen die Adjudicators, das Immigration Appeal Tribunal und der Minister selbst in allen Verfahrensabschnitten der rechtlichen Kontrolle durch den High Court, wie die von mir zitierten Rechtssachen Ex parte Ekrem Mehmet und Ex parte Hosenball belegen; das gilt insbesondere in Verfahren auf Gewährung einer „order of certiorari“. In diesem Verfahren wird eine Entscheidung des nachgeordneten Gerichts oder Spruchkörpers oder einer Verwaltungsbehörde aufgehoben, wenn ein offenkundiger Rechtsfehler vorliegt oder wenn sie unter Überschreitung oder Mißbrauch der Zuständigkeit ergangen ist oder wenn sie auf eine Art getroffen wurde, die den Regeln der „natürlichen Gerechtigkeit“ widerspricht.

In Fällen der Section 3 (6) ist der eben von mir beschriebene Rechtsweg ausgeschlossen. Gegen die von einem Gericht erlassene Ausweisungsempfehlung ist der allgemeine Strafrechtsweg gegeben, wobei die Empfehlung für diesen Zweck einem Urteil gleichgestellt wird (vgl. Section 6 (5) des Gesetzes) und die Berufungsgerichte den der Empfehlung zugrunde liegenden Sachverhalt überprüfen können (vgl. Regina/Akan [1973] 1 Q.B. 491). Auch hier ist jedoch keine Ausweisung zulässig, solange noch ein Rechtsmittel anhängig ist (vgl. Section 6 (6)). Aufgrund der Empfehlung kann der betroffene Ausländer jedoch „bis zur Ausweisung gemäß der Empfehlung“ in Haft gehalten werden, sofern das Gericht oder der Minister nichts anderes bestimmt (vgl. Section 5 (5) des Gesetzes und Abschnitt 2 des Anhangs 3 hierzu). Ich sollte vielleicht hervorheben, daß eine Ausweisungsempfehlung nur insoweit einem Urteil angeglichen ist. Es ist entschieden worden, daß eine Ausweisungsempfehlung nicht Teil der Strafe wegen des Vergehens ist: Das Gericht verurteilt den Angeklagten zu der gerechten Strafe und behandelt dann davon getrennt die Frage der Ausweisung (vgl. Regina/Edgehill [1963] 1 Q.B. 593, 597). Die Verfahren aufgrund von Section 3 (6) und aufgrund von Section 3 (5) treffen in dem Zeitpunkt wieder zusammen, in dem der Minister vor dem Erlaß einer Ausweisungsverfügung steht. Er unterliegt dann in beiden Fällen der von mir bereits erwähnten rechtlichen Kontrolle durch den High Court.

Ich sollte vielleicht noch hervorheben, daß ich mich im Vorstehenden nur bemüht habe, das in England anwendbare Recht zusammenzufassen. Das Verfahren in Schottland ist nicht in jeder Hinsicht das gleiche. Im vorliegenden Fall sind wir jedoch nicht mit der schottischen Rechtslage befaßt.

Ich komme zu unserem Sachverhalt zurück. Anscheinend wurde, als der Richter seine Absicht hatte erkennen lassen, Bouchereaus Ausweisung zu empfehlen, und das Verfahren gegen ihn vertagt worden war, um die Zustellung der entsprechenden, nach Section 6 (2) des Gesetzes erforderlichen Mitteilung zu ermöglichen, von Bouchereau vorgetragen, daß er ein Arbeitnehmer sei, auf den Artikel 48 des Vertrages Anwendung finde, und daß das Gemeinschaftsrecht unter diesen Umständen seine Ausweisung ausschließe. Daraufhin legte der Richter mit Beschluß vom 20. November 1976 dem Gerichtshof nach Artikel 177 des Vertrages drei Fragen vor. Im folgenden wurde die Frage geprüft, wie Bouchereau in dem Verfahren vor dem Gerichtshof Armenrecht gewährt werden könnte, was zu einer Verzögerung führte. Diese Frage trat erstmals auf, da dies die erste Rechtssache ist, die dem Gerichtshof von einem englischen Strafgericht vorgelegt wird. Sie wurde mit einer Entscheidung des Queen's Bench Divisional Court vom 17. Januar 1977 beantwortet, wonach der Beschluß, durch den Bouchereau vor dem Magistrates' Court das Armen recht gewährt wurde, sich auch auf das Verfahren vor dem Gerichtshof erstreckt (vgl. Regina/Marlborough Street Stipendiary Magistrate, Ex parte Bouchereau [1977] 1 W.L.R. 414). Im Anschluß an diese Entscheidung ist der Vorlagebeschluß am 2. März 1977 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen.

Von den drei dem Gerichtshof vorgelegten Fragen beziehen sich die ersten zwei auf die Auslegung der Richtlinie Nr. 64/221/EWG des Rates „zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind“ (ABl. Nr. 56 vom 4. April 1964, S. 850). Mit dieser Richtlinie hatte sich der Gerichtshof bereits in einer Reihe von Rechtssachen, die ich eingangs erwähnt habe, zu befassen.

Sie werden sich, meine Herren, an die folgenden beiden ersten Absätze des Artikels 3 der Richtlinie erinnern:

„(1)   Bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit, darf ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommende Einzelperson ausschlaggebend sein.

(2)   Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.“

Die erste dem Gerichtshof vorgelegte Frage ist die folgende:

„Stellt eine Ausweisungsempfehlung, die ein Gericht eines Mitgliedstaats an die vollziehende Gewalt dieses Staates richtet — die Empfehlung ist für die vollziehende Gewalt nicht bindend — eine .Maßnahme' im Sinne des Artikels 3 Absätze 1 und 2 der Richtlinie Nr. 64/221/EWG dar?“

Die für die Strafverfolgung Bouchereaus zuständige Metropolitan Police trägt vor, eine von einem Gericht des Vereinigten Königreichs gegenüber dem Minister ausgesprochene Ausweisungsempfehlung sei keine „Maßnahme“ im Sinne der genannten Vorschriften. Zur Unterstützung dieser Ansicht trägt die Metropolitan Police vor, in Wahrheit sei eine Ausweisungsempfehlung nur eine Mitteilung an den Minister, daß ein bestimmter fremder Staatsangehöriger, der ausgewiesen werden könne, einer Tat für schuldig befunden sei, die mit Freiheitsstrafe bestraft werden könne; sie weist darauf hin, daß alle bisher veröffentlichten von dem Gerichtshof entschiedenen Rechtssachen zur Auslegung des Artikels 48 des Vertrages und der Richtlinie echte Entscheidungen betroffen hätten, die unmittelbar zu Beschränkungen der Freizügigkeit von Arbeitnehmern innerhalb der Gemeinschaft geführt hätten.

Die Regierung des Vereinigten Königreichs, die beim Gerichtshof unabhängig von der Metropolitan Police Erklärungen eingereicht hat, gesteht jedoch zu, daß das Vorbringen der Metropolitan Police zu weit gehe. Eine von einem Gericht des Vereinigten Königreichs ausgesprochene Ausweisungsempfehlung sei nicht nur eine schlichte Mitteilung bestimmter Tatsachen an den Minister. Sie habe gesetzliche Folgen. Sie führe nicht nur dazu, daß der betroffene Ausländer in Haft genommen werden könne, sie ermächtige auch den Minister, diesen Ausländer auszuweisen, ohne daß diese Entscheidung in jedem Fall der Überprüfung durch einen Adjudicator oder das Immigration Appeal Tribunal unterworfen wäre.

Die Regierung des Vereinigten Königreichs trägt zweierlei vor. Zum einen könne eine Entscheidung des nationalen Gerichts im Gegensatz zum Handeln der Legislative oder Exekutive eines Mitgliedstaats keine „Maßnahme“ im Sinne des Artikels 3 Absätze 1 und 2 der Richtlinie darstellen. Zum zweiten, selbst wenn eine gerichtliche Entscheidung eine „Maßnahme“ sein könne, so stelle doch eine gerichtliche Empfehlung, die die vollziehende Gewalt, der gegenüber sie ausgesprochen sei, nicht binde und die selbst das Aufenthaltsrecht des betroffenen Ausländers in diesem Mitgliedstaat nicht beende, keine „Maßnahme“ dar. Mit diesem Vorbringen verbindet die Regierung des Vereinigten Königreichs das Zugeständnis, daß ein Gericht eines Mitgliedstaats trotzdem die Vorschriften der Richtlinie nicht außer acht lassen dürfe, daß es sie vielmehr zu beachten habe, wenn es mit einer Angelegenheit befaßt sei, für die diese einschlägig seien.

Die Auffassung der Regierung des Vereinigten Königreichs wirkt auf den ersten Blick verwirrend. Was kann es für einen Sinn haben, in einem Atemzug zu sagen, daß eine gerichtliche Entscheidung keine Maßnahme darstelle, auf die die Richtlinie anwendbar sei, und im nächsten, daß die Gerichte der Mitgliedstaaten an die Vorschriften der Richtlinie gebunden seien?

Es ergab sich, daß dieser Auffassung die Befürchtung zugrunde lag, der Mitgliedstaat selbst könne nach Artikel 169 des Vertrages für schuldig befunden werden, gegen eine Verpflichtung aus dem Vertrag verstoßen zu haben, wenn eine Entscheidung eines Gerichts eines Mitgliedstaats als Maßnahme im Sinne der Richtlinie betrachtet werden und diese Maßnahme dem Gemeinschaftsrecht widersprechen sollte. Die Regierung des Vereinigten Königreichs verweist in diesem Zusammenhang auf die Auffassung, die einer von Ihnen, meine Herren, in einem im Jahre 1970 veröffentlichten Aufsatz („Proceedings against Member States for failure to fulfil their obligations“ von J. Mertens de Wilmars und I. M. Verougstraete, Common Market Law Review 1970, S. 385, 389 bis 390) vertreten hat; sie hebt hervor, daß im Gegensatz zu den Verwaltungsbehörden eines Mitgliedstaats (wie im vorliegenden Zusammenhang dem Minister), die vor Erlaß einer Entscheidung verpflichtet seien, alle einschlägigen Umstände in Betracht zu ziehen, zum Beispiel unter anderem sicherzustellen, daß eine Entscheidung mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei, ein Gericht, jedenfalls ein englisches Gericht, keine solchen Befugnisse zur Erforschung des Sachverhalts habe: Es könne nur auf der Grundlage der Tatsachen tätig werden, die ihm die Parteien vorlegten.

Meines Erachtens wäre es nicht richtig zu sagen, daß ein bestimmtes Tun oder Unterlassen eines Gerichts eines Mitgliedstaats niemals einen Verstoß dieses Staates gegen eine ihm nach dem Vertrag obliegende Verpflichtung darstellen könnte, ich verstehe auch den in Bezug genommenen Aufsatz nicht in diesem Sinne. In diesem Zusammenhang sind meines Erachtens die Schlußanträge des Generalanwalts Gand in der Rechtssache 77/69 (Kommission/Belgien, Slg. 1970, 237) der klassische Fundort. Ich zitiere aus dem Original (Slg. 1970, 247):

„Un tel raisonnement méconnaîtrait que les sujets de droits — ou d'obligations — sont les Etats membres de la Communauté. Ce sont eux qui, en vertu de l'article 5, doivent prendre 'toutes mesures générales ou particulières' propres à assurer l'exécution des obligations découlant du traité. L'engagement qu'ils ont ainsi contracté s'étend aux domaines les plus divers et peut, par suite, nécessiter de leur part des mesures de nature juridique très différentes: il s'agira d'instituer, de modifier ou d'abroger une législation ou une réglementation de portée générale, comme aussi bien de prendre des décisions de portée individuelle destinées à assurer l'exécution du traité et de ses textes d'application. Savoir si, dans un cas donné, cette exécution requiert le concours de l'un seulement ou de plusieurs des pouvoirs qui constituent la structure de l'État est une question dont la solution dépend du système constitutionnel de cet État, mais elle ne peut modifier l'étendue des obligations qui doivent s'imposer également à tous et les organes communautaires n'ont pas à en connaître. Sans doute ceux-ci, conformément à la pratique traditionnelle des relations internationales, n'ont-ils comme interlocuteurs que les gouvernements, mais il ne s'ensuit pas que seuls les actes ou les abstentions du pouvoir exécutif et des services placés sous son autorité constituent des manquements au sens de l'article 169 du traité. Ceux-ci peuvent exister dès lors que l'État membre ne s'acquitte pas des obligations qui lui incombent, sans qu'il y ait lieu de rechercher lequel de ses organes se trouve à l'origine de l'inexécution reprochée.“

Dem folgte der Gerichtshof in seinem Urteil in dieser Sache (vgl. Randnummer 15 der Entscheidungsgründe, Slg. 1970, 243):

„Die Verpflichtungen aus Artikel 95 des Vertrages obliegen den Staaten als solchen, und die Verantwortlichkeit eines Mitgliedstaats nach Artikel 169 besteht unabhängig davon, welches Staatsorgan durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß verursacht hat, selbst wenn es sich um ein verfassungsmäßig unabhängiges Organ handelt.“

Im wesentlichen zu dem gleichen Ergebnis kamen die Schlußanträge des Generalanwalts Mayras und das Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache 39/72 (Kommission/Italien, Slg. 1973, 101). Zwar war in diesen Fällen das verfassungsmäßig unabhängige Organ, dessen Tun oder vielmehr Unterlassen der Vertragsverletzung des betreffenden Mitgliedstaats zugrunde lag, sein Parlament, aber der dort aufgestellte Grundsatz ist weit genug, um auch auf die rechtsprechende Gewalt eines Mitgliedstaats Anwendung finden zu können. Das muß auch aus Gründen der Logik so sein. Meiner Erinnerung nach hatte ich in der Rechtssache 9/75 (Meyer-Burckhardt/Kommiss ion, Slg. 1975, 1171, 1187) keine Bedenken in dieser Richtung.

Andererseits ist es offenkundig, daß einem Mitgliedstaat nicht einfach deswegen, weil eines seiner Gerichte zu einer falschen Entscheidung gelangt ist, vorgeworfen werden kann, gegen eine Verpflichtung aus dem Vertrag verstoßen zu haben. Ein richterlicher Irrtum, gleichgültig, ob er auf einem Tatsachen- oder Rechtsirrtum beruht, stellt keinen Bruch des Vertrages dar. Im Bereich der Rechtsprechung könnte Artikel 169 nur dann in Betracht kommen, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats Gemeinschaftsrecht vorsätzlich außer acht läßt. Deshalb ist die Befürchtung der Regierung des Vereinigten Königreichs in diesem Zusammenhang meines Erachtens unbegründet.

Wäre es jedoch richtig, daß ein Irrtum eines Gerichts eine Vertragsverletzung darstellen könnte, so sähe ich für unsere Zwecke keinen Unterschied zwischen der Auffassung, daß die Entscheidung eines Gerichts eine „Maßnahme“ im Sinne der Richtlinie sei, und derjenigen, daß das zwar nicht der Fall sei, daß ein Gericht aber verpflichtet sei, die Richtlinie zu beachten. In beiden Fällen bestünde die gleiche Möglichkeit eines Irrtums eines Gerichtes.

Ich glaube, ich kann mich mit dem zweiten Vorbringen des Vereinigten Königreichs kürzer befassen.

Das Wort „Maßnahme“ hat keine genaue Bedeutung. Seine Auslegung kann nur aus dem Zusammenhang erfolgen, in dem es sich findet. Offensichtlich könnte eine Empfehlung eines Beamten an seinen Minister keine „Maßnahme“ in diesem Zusammenhang darstellen, da sie keine rechtlichen Auswirkungen hätte. Man kann aber einer solchen Empfehlung eine Empfehlung der hier fraglichen Art, die rechtliche Auswirkungen hat, nicht gleichstellen. Die Auffassung, eine solche Empfehlung sei keine rechtserhebliche „Maßnahme“, hätte seltsame Auswirkungen. Sie würde beispielsweise bedeuten, daß eine solche Empfehlung, jedenfalls insoweit, als es um den ausdrücklichen Wortlaut der Richtlinie geht, allein aufgrund früherer strafrechtlicher Verurteilungen ausgesprochen werden könnte, obwohl die Ausweisung, auf die sie abzielt, nicht deswegen verfügt werden könnte. Diesem semantischen Aspekt des Falles, wenn ich ihn so nennen darf, kann nicht entgegengehalten werden (wie es der Bevollmächtigte des Vereinigten Königreichs in der Sitzung in Beantwortung von Fragen tat, die ich und einer von Ihnen, meine Herren, stellte), daß ein nationales Gericht die Richtlinie in jedem Fall „beachten“ müsse. Wenn man davon ausgeht, daß das Wort „muß“ hier eine gesetzliche Verpflichtung ausdrückt, dann widerspricht diese Antwort im Grunde genommen dem Vorbringen selbst.

Aus Gründen der Vollständigkeit sollte ich meines Erachtens noch auf einige auf die Artikel 8, 9 und 10 der Richtlinie gestützte Ausführungen eingehen, die in der Sitzung für das Vereinigte Königreich vorgetragen wurden. Mir scheint nicht, daß einer dieser Artikel für die Auslegung des Artikels 3 etwas hergibt. In den Artikeln 8 und 9 kommt das Wort „Maßnahme“ nicht vor. In Artikel 10 kommt das Wort „Maßnahme“ zwar vor, aber offenkundig in einem anderen Sinn als dem, in dem es in Artikel 3 gebraucht wird: Es bezieht sich auf allgemeine gesetzliche oder Verwaltungsvorschriften, nicht aber auf das Vorgehen in einem Einzelfall. (Hinsichtlich der verwendeten Ausdrücke gilt das oben Gesagte gleichermaßen für die holländische, englische, französische und deutsche Fassung der Richtlinie. In der dänischen Fassung unterscheiden sich die dem Wort „Maßnahme“ entsprechenden Ausdrücke in den Artikeln 3, 8, 9 und 10. In der italienischen Fassung wird in den Artikeln 3, 8 und 9 der Ausdruck „prowedimenti“ gebraucht, in Artikel 10 aber der Ausdruck „misure“.)

Im Ergebnis bin ich der Meinung, daß Sie, meine Herren, in Beantwortung der ersten dem Gerichtshof vorgelegten Frage entscheiden sollte, daß eine von einem Gericht eines Mitgliedstaats gegenüber der vollziehenden Gewalt dieses Staates ausgesprochene Ausweisungsempfehlung eine „Maßnahme“ im Sinne des Artikels 3 Absätze 1 und 2 der Richtlinie darstellt, wenn sie, obwohl sie diese Behörde nicht bindet, rechtliche Auswirkungen hat.

Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts lautet wie folgt:

„Bedeutet Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie Nr. 64/221/EWG, wonach strafrechtliche Verurteilungen .allein' Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht, ohne weiteres' begründen, daß frühere strafrechtliche Verurteilungen lediglich insoweit von Bedeutung sind, als sie eine gegenwärtige oder künftige Neigung offenbaren, in einer gegen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit verstoßenden Weise zu handeln? Hilfsweise: Was bedeuten die Ausdrücke .allein' und, ohne weiteres' in Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie Nr. 64/221 /EWG ?“

Nach dem Vorlagebeschluß liegt der Grund für diese Frage darin, daß Bouchereau vor dem Magistrates' Court vorgetragen hat, Artikel 3 Absatz 2 besage, daß frühere strafrechtliche Verurteilungen nur insofern von Bedeutung seien, als sich aus ihnen eine gegenwärtige oder künftige Neigung ergebe, in einer gegen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit verstoßenden Weise zu handeln, und daß in seinem Falle nicht eine solche Schlußfolgerung stütze; demgegenüber hat die Strafverfolgungsbehörde vorgetragen, Artikel 3 Absatz 2 bedeute, das Gericht könne keine Ausweisungsempfehlung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, die sich allein auf den Umstand einer früheren Verurteilung stützen, aussprechen, sei aber berechtigt, das frühere Verhalten des Angeklagten in Betracht zu ziehen, das zu der früheren Verurteilung geführt hat.

Ich will gleich vorausschicken, daß die Strafverfolgungsbehörde meines Erachtens in dieser Hinsicht offenkundig recht hat. Artikel 3 Absatz 2 kann nicht dahin gehend ausgelegt werden, daß das Vorliegen einer Verurteilung eine Ausweisung bei einer Sachlage verhindere, bei der das Verhalten der betroffenen Person diese Maßnahme ansonsten rechtfertigen würde. Er kann auch nicht dahin gehend ausgelegt werden, daß er einen Beweis über die Absichten dieser Person erfordere.

Die Frage, wie sie der Richter abgefaßt hat, bezieht sich jedoch nicht auf den Beweis von Absichten. Sie bezieht sich auf „eine gegenwärtige oder künftige Neigung“. Die hier aufgeworfene wirkliche Frage ist meines Erachtens die, ob Artikel 3 Absätze 1 und 2 im Zusammenhang gelesen bedeutet, daß das Verhalten der betroffenen Person eine Neigung offenbaren müsse, in einer gegen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit verstoßenden Weise zu handeln, um ihre Ausweisung zu rechtfertigen.

Seitens der Kommission und natürlich seitens Bouchereaus wurde vorgetragen, daß diese Frage bejaht werden müsse. Die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Metropolitan Police machen jedoch geltend, daß bei Bejahung dieser Fragen eine zu genaue Prüfung erforderlich würde. Die Regierung des Vereinigten Königreichs weist insbesondere darauf hin, daß ausnahmsweise Fälle vorkommen, in denen das Verhalten eines Ausländers zwar nicht notwendigerweise irgendeine klare Neigung seinerseits erkennen lasse, aber doch eine so weitgehende öffentliche Empörung verursacht habe, daß seine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung erforderlich sei. Dem stimme ich zu. Meines Erachtens kann ein Mitgliedstaat in einem solchen Fall den Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats von seinem Hoheitsgebiet ausschließen, wie jedermann einen Gast, sogar einen Verwandten, der sich in besonders anstößiger Weise verhalten hat, seines Hauses verweisen kann. Obwohl das für Artikel 3 maßgebliche Verhalten einer Person deshalb naturgemäß im allgemeinen ein Verhalten sein wird, das eine bestimmte Neigung offenbart, so kann doch nicht gesagt werden, daß dem notwendigerweise so sein muß.

Ich stimme deshalb dem Vorschlag der Regierung des Vereinigten Königreichs zu, der Gerichtshof solle an den Kriterien festhalten, die er in der Rechtssache Rutili aufgestellt hat. Dort hat er entschieden (Randnummer 28 der Entscheidungsgründe, Slg. 1975, 1231), daß „das Recht der Angehörigen der Mitgliedstaaten, ins Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen, sich dort aufzuhalten und frei zu bewegen, nur beschränkt werden [darf], wenn ihre Anwesenheit oder ihr Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt“. Ich stelle fest, daß der Gerichtshof bei dieser Entscheidung der Ansicht folgte, die Generalanwalt Mayras nicht nur in jener Rechtssache, sondern bereits früher in der Rechtssache Bonsignore zum Ausdruck brachte, wo er besonders im Hinblick auf Artikel 3 der Richtlinie ausführte (ich zitiere aus dem Original, Slg. 1975, 311):

„Les auteurs de la directive ont donc voulu qu'indépendamment de toute condamnation les autorités nationales ne puissent décider l'expulsion que dans la mesure où le comportement personnel du ressortissant communautaire, auteur d'une infraction, ait comporté ou risque de comporter dans l'avenir une menace telle, pour l'ordre public national, que la présence de l'individu concerné sur le territoire du pays d'accueil devienne intolérable.“

und nochmals (S. 315):

„La directive exige en vérité que l'atteinte à l'ordre public national, en tant qu'elle résulte du comportement personnel, soit telle que l'expulsion s'impose soit par les faits commis, soit parce que le renouvellement d'actes anti-sociaux est à redouter de la part de l'intéressé.“

Ich behaupte natürlich nicht, daß das Verhalten Bouchereaus seinen weiteren Verbleib auf dem Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs untragbar gemacht habe. Es ist Aufgabe der englischen Gerichte, nicht des Gerichtshofes, sein Verhalten zu beurteilen. Der Gerichtshof muß jedoch auf die Frage des Richters eine nach den Umständen möglichst umfassende und genaue Antwort geben.

Ich habe einen kleineren sprachlichen Vorbehalt zu machen. Die Verfahrenssprache in der Rechtssache Rutiii war Französisch; der in der authentischen Fassung dieses Urteils gebrauchte Ausdruck „une menace réelle et suffisamment grave pour l'ordre public“ ist natürlich unanfechtbares Französisch. Seine wörtliche Übersetzung in das Englische, die den Ausdruck „threat to public polity“ verwendet, liest sich jedoch etwas seltsam. In der vorliegenden Rechtssache, in der der authentische Text des Urteils englisch sein wird, mag es besser sein, auf „a threat to the requirements of public policy“ abzustellen.

Ich bin deshalb der Meinung, daß Sie, meine Herren, die zweite Frage des vorlegenden Gerichts dahin beantworten sollten, Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie bedeute, daß eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht allein auf eine frühere Verurteilung gestützt werden könne, vielmehr nur gerechtfertigt sei, wenn die Anwesenheit oder das Verhalten der betroffenen Einzelperson eine tatsächliche und hinreichend schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit darstelle.

Dem Gebrauch des Adverbs „hinreichend“ wohnt natürlich eine Anspielung auf den vom Gerichtshof in der Rechtssache Watson und Belmann aufgestellten und in der Rechtssache Sagulo bestätigten Grundsatz inne, daß Maßnahmen, die Mitgliedstaaten im Hinblick auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten ergreifen, angemessen sein müssen und nicht außer Verhältnis zur Schwere des vorgeworfenen Verhaltens stehen dürfen.

Die dritte Frage, die dem Gerichtshof vom Magistrates' Court vorgelegt wurde, lautet wie folgt:

„Ist der in Artikel 48 Absatz 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft enthaltene Begriff der ‚public policy‘ (‚öffentlichen Ordnung‘), aus deren Gründen Beschränkungen der in Artikel 48 verankerten Rechte gerechtfertigt sein können, dahin auszulegen,

(a)

daß er, reasons of State' (staatliche Gründe) umfaßt, auch wenn kein, breach of the public peace or order' (Verletzung des öffentlichen Friedens oder der öffentlichen Ordnung) droht, oder

(b)

in einem engeren Sinne, der die Vorstellung des, threatened breach of public peace, order or security' (Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit) umfaßt, oder

(c)

in einem anderen weiteren Sinne?“

Drei der hier gebrauchten Ausdrücke scheinen mir erläuterungsbedürftig. Der erste ist „reasons of State“ (staatliche Gründe), der zweite „breach of the public peace“ (Verletzung des öffentlichen Friedens) und der dritte „order“ (Ordnung) oder „public order“ (öffentliche Ordnung).

„Reasons of State“ im Unterschied zum „act of state“ (hoheitsrechtlichen Handeln) ist kein Ausdruck der englischen Rechtssprache; mir ist auch keine Fundstelle bekannt, wo er im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsrecht gebraucht würde. Der Gerichtshof hat in der Sitzung gebeten, sich dazu zu äußern, was er in der Frage des vorlegenden Gerichts bedeuten könnte; die Prozeßvertreter konnten uns jedoch nicht wesentlich weiterhelfen. Meines Erachtens kam der Vertreter des Vereinigten Königreichs der Antwort am nächsten, als er sagte, er verstehe den Begriff so, daß er die Recht-' fertigung aus Gründen des öffentlichen Interesses abdecken solle, die weiter seien, als „breaches of the peace and public order“ (Verletzungen des öffentlichen Friedens und der öffentlichen Ordnung). Meines Erachtens handelt es sich dabei um einen Begriff von so unbestimmter Bedeutung, daß man ihn am besten meiden sollte.

Der Gebrauch des Ausdrucks „breach of the public peace“ im vorliegenden Zusammenhang scheint auf einen Fehler in der englischen Übersetzung des Urteils des Gerichtshofes in der Rechtssache Bonsignore zurückzugehen, deren Randnummer 6 im zweiten Unterabsatz folgenden Wortlaut hat (vgl. Slg. 1975, 307):

„As departures from the rules concerning the free movement of persons constitute exceptions which must be strictly construed, the concept of, personal conduct' expresses the requirement that .eportation order may only be made for breaches of the peace and public security which might be committed by the individual affected.“

In der authentischen deutschen Fassung des Urteils entsprechen jedoch den Worten „breaches of the peace and public security which might be committed by the individual affected“ die Worte „Gefährdungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit …, die von der betroffenen Einzelperson ausgehen könnten“, was nach meinem Verständnis wörtlich bedeutet „threats to public policy and security that could be occasioned by the person affected“, wobei der Ausdruck „öffentliche Ordnung“ dem Ausdruck „public policy“ in Artikel 48 des Vertrages entspricht. Diese fehlerhafte Übersetzung ist insbesondere deshalb unglücklich, weil der Ausdruck „breach of the peace“, wie seitens der Regierung des Vereinigten Königreichs dargelegt wurde, im englischen Recht eine andere Bedeutung hat, nämlich einen Straftatbestand darstellt. Ich möchte dem Ubersetzungsdienst des Gerichtshofes zugute halten, daß er diesen Ausdruck gebrauchte, um den im Englischen seltsam klingenden Ausdruck „threats to public policy“ zu vermeiden, obwohl er diese Seltsamkeit hinnahm, als er das Urteil Rutiii übersetzte.

Der Gebrauch des Ausdrucks „public order“ scheint ein Vorbringen Bouchereaus widerzuspiegeln, nach dem der Ausdruck „public policy“ in Artikel 48 wie auch der Ausdruck „public order“ eng ausgelegt werden sollte. Der Vertreter Bouchereaus hat uns auf verschiedene internationale Abkommen hingewiesen, zum Beispiel auf die Europäische Menschenrechtskonvention, in deren englischer Fassung der Ausdruck „public order“ anstelle des Ausdrucks „public policy“ gebraucht ist, wo in der französischen Fassung „ordre public“ steht (vgl. insbesondere die Artikel 6 und 9 der Konvention). All dies könnte hilfreich sein, wenn der Ausdruck „public order“ in der englischen Rechtssprache eine klare Bedeutung hätte. Dem ist aber nicht so. Dieser Ausdruck ist, soweit ich sehe, dem common law unbekannt. Meines Wissens wird er im geschriebenen Recht (statue law) nur in der Überschrift des Public Order Act 1936 verwendet, eines Gesetzes mit beschränktem Anwendungsbereich, das erlassen wurde, um in den dreißiger Jahren Maßnahmen gegen die Aktivitäten der britischen Faschistenbewegung zu ergreifen. Wie sich aus diesem Gesetz ergibt, bestand sein Hauptzweck darin, das Tragen von Uniformen im Zusammenhang mit politischen Zielen und die Bildung von Vereinigungen mit militärischem oder ähnlichem Charakter durch Privatpersonen zu verbieten. Es traf ferner Vorsorge für die Aufrechterhaltung der Ordnung bei öffentlichen Veranstaltungen und Demonstrationen, indem es insbesondere den Besitz von Angriffswaffen sowie Drohungen oder Beleidigungen oder drohendes oder beleidigendes Verhalten bei solchen Gelegenheiten verbot.

Im Gegensatz zu „public order“ ist der Begriff der „public policy“ dem common law bekannt. Herr Bouchereau hat uns auf einen Artikel von Professor Lyon-Caen („La réserve d'ordre public en matière de liberté d'établissement et de libre circulation“, Revue trimestrielle de Droit Européen 1966, S. 693) hingewiesen, in dem dieser die Bedeutung des Ausdrucks„ordre public“, der in der französischen Fassung des Vertrages dem Ausdruck „public policy“ in der englischen Fassung entspricht, unter Berücksichtigung des Rechts der sechs ursprünglichen Mitgliedstaaten untersucht. Professor Lyon-Caen bemerkt zu Beginn, der Anwendungsbereich des Begriffs „ordre public“ sei so ausgedehnt, daß dieser Begriff alle Genauigkeit verloren habe. Der Autor unterscheidet, wie ich ihn verstehe, drei Bereiche, in denen dieser Begriff Anwendung finden kann. Der erste betrifft private Rechtsbeziehungen. Hier kann er Anwendung finden, um die Vertragsfreiheit oder die Anwendung fremden Rechts auszuschließen, das normalerweise anwendbar wäre. In diesem Bereich entspricht er dem Begriff der „public policy“ des common law, wo er am häufigsten im Vertragsrecht Anwendung findet (um Verträge ungültig zu machen, die sonst bindend wären), im internationalen Privatrecht (um Anwendung fremden Rechts auszuschließen, das sonst anwendbar wäre) und im Sachenrecht (um eine Verfügung unwirksam zu machen, die sonst wirksam wäre). Natürlich ist die hier fragliche „public policy“ nicht die der Regierung, sondern die des Rechts, wie es von den Gerichten entwickelt wurde. Nichtdestoweniger wurde sie von hervorragenden Richtern des common law als „störrisches Pferd“, das sie zu reiten hätten, beschrieben (vgl. z. B. Burrough J. in Sachen Richardson/Mellish (1824) 2 Bing. 229, 252 und Scrutton L. J. in Sachen Foster/Driscoll [1929] 1 K.B. 470, 498). Der zweite Bereich, den Professor Lyon-Caen für die Anwendung des Begriffs des „ordre public“ erkennt, ist der des „public law“ (öffentlichen Rechts). Er führt aus, hier „on y a recours pour restreindre ou supprimer une liberté au nom d'exigences supérieures“. Auch das klingt für einen englischen Juristen vertraut, obgleich der Ausdruck „public law“ für ihn keine technische Bedeutung hat, und er es im allgemeinen vorziehen würde, sich im Zusammenhang des Verwaltungsrechts auf „public interest“ statt auf „public policy“ zu beziehen. Als den beiden ersten Bereichen, in denen der Ausdruck „ordre public“ Anwendung finden kann, gemeinsamen Zug stellt Professor Lyon-Caen fest, daß er dort zu einer Ausnahme von jedweder gesetzlichen Regel führt, die üblicherweise Anwendung fände. Im dritten Bereich jedoch, in dem er Anwendung findet, dem der Ausländerpolizei („police des étrangers“), fehlt dieser gemeinsame Zug. In diesem Bereich stellt die Bezugnahme auf den „ordre public“ keine Ausnahme dar, sondern die Grundlage des Rechts selbst. Es wird dort als Rechtfertigung eines im Wortsinne unbeschränkten Ermessens der Verwaltung begriffen. Professor Lyon-Caen nennt das „un ordre public spécial“. Er scheint mir in englischer Terminologie dem „public good“ zu entsprechen, von dem der Immigration Act 1971 spricht.

Unter den von Professor Lyon-Caen gezogenen Schlußfolgerungen ist die von Bedeutung, daß der Vertrag dahin gehend aufgefaßt werden müsse, daß er in bezug auf diejenigen Angehörigen von Mitgliedstaaten, auf die er Anwendung findet, diesen „ordre public, spécial'“ beseitigt habe. „L'ordre public“, führt er aus, „est ramené à son rôle de mécanisme exceptionnel“. Das muß zutreffen, da es die Aufgabe der „öffentlichen Ordnung“ („public policy“ oder „ordre public“) nach dem Vertrag ist, eine Grundlage für eine Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz der Nichtdiskriminierung zwischen solchen Staatsangehörigen zu bieten. Die Untersuchung von Professor Lyon-Caen zeigt meines Erachtens auch, daß von einer Untersuchung der Bedeutung der Begriffe „public policy“, „ordre public“, „öffentliche Ordnung“ und so weiter im nationalen Recht der Mitgliedstaaten nur eine geringe Hilfe für die Erschließung ihrer Bedeutung im Vertrag zu erlangen ist.

Auf andere Weise scheint mir der Wortlaut des Vertrages einen Hinweis auf den Anwendungsbereich des dort gebrauchten Ausdrucks „public policy“ zu geben. Ich sehe ihn in dem Nebeneinander der Ausdrücke „public policy, public security or public health“ (öffentliche Ordnung, öffentliche Sicherheit oder öffentliche Gesundheit), woraus sich meines Erachtens ergibt, daß die Vertragsverfasser davon ausgingen, daß diese Ausdrücke drei verschiedene Begriffe darstellen, auch wenn sie einander vielleicht überlappen.

Darüber hinaus haben die Vertragsverfasser anscheinend die Definition und Entwicklung des Begriffs der „public policy“ dem abgeleiteten Gemeinschaftsrecht und den Entscheidungen des Gerichtshofes überlassen.

Besonders die Entscheidungen des Gerichtshofes in den Rechtssachen Van Duyn und Rutiii stellen, um aus dem letzteren Urteil zu zitieren (Randnummer 26 der Entscheidungsgründe, Slg. 1975, 1231), klar, daß „die Mitgliedstaaten … auch weiterhin … im wesentlichen frei nach ihren nationalen Bedürfnissen bestimmen [können], was die öffentliche Ordnung verlangt.“ Diese Freiheit ist jedoch beschränkt; ihre Ausübung unterliegt der Kontrolle durch die Gemeinschaftsorgane.

Das Problem, vor das sich der Richter in der vorliegenden Sache gestellt sieht, kann deshalb nur gelöst werden, wenn untersucht wird, ob irgendeine spezifische Vorschrift des Gemeinschaftsrechts ausdrücklich oder stillschweigend das Ermessen der Mitgliedstaaten unter Umständen, wie sie hier vorliegen, beschränkt.

In diesem Zusammenhang verwies die Kommission in ihren schriftlichen Stellungnahmen auf Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie Nr. 64/221. Die übrigen Beteiligten sind darauf nicht eingegangen, doch hat der Gerichtshof sie in der Sitzung um Stellungnahmen hierzu gebeten. Diese Absätze haben den folgenden Wortlaut:

„(1)   Als Krankheiten oder Gebrechen, die eine Verweigerung der Einreise oder der ersten Aufenthaltserlaubnis rechtfertigen, gelten nur diejenigen, die im Anhang aufgeführt sind.

(2)   Das Auftreten von Krankheiten oder Gebrechen nach der Erteilung der ersten Aufenthaltserlaubnis kann die Verweigerung einer Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet nicht rechtfertigen.“

Der Anhang, auf den Absatz 1 verweist, besteht aus zwei Teilen. Teil A mit der Überschrift „Krankheiten, welche die öffentliche Gesundheit gefährden können“ ist hier nicht einschlägig. Teil B, der mit „Krankheiten und Gebrechen, welche die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden können“, überschrieben ist, führt hingegen folgendes auf:

„1.

Suchtkrankheiten;

2.

Schwere geistige und seelische Störungen; offensichtliche Psychosen, mit Erregungszuständen, Wahnvorstellungen oder Sinnestäuschungen und mit Verwirrungszuständen.“

Obwohl es meines Erachtens eigentlich nicht einschlägig ist, sollte ich wohl festhalten, daß wir in der Sitzung von der Regierung des Vereinigten Königreichs gehört haben, daß Bouchereau am 28. Januar 1977 eine erste Aufenthaltserlaubnis erhielt, also lange Zeit nach seiner zweiten Verurteilung, als die Vorlage an den Gerichtshof bereits anhängig war. Diese Tatsache hat Herr Bouchereau zugestanden.

Wichtiger ist meines Erachtens der Umstand, daß in der Sitzung allgemeines Einvernehmen darüber bestand, daß keine Beweise für eine Drogenabhängigkeit Bouchereaus vorliegen. Beweise gibt es ausschließlich dafür, daß er sich im rechtswidrigen Besitz von Betäubungsmitteln befunden hat. Aufgrund dessen hat der Vertreter der Kommission einen Teil seines Vorbringens in den schriftlichen Stellungnahmen zurückgezogen und zugestanden, daß Artikel 4 hier nicht unmittelbar einschlägig sei.

Dieses schnell erzielte Einvernehmen geht zurück auf den im englischen Recht bestehenden Unterschied zwischen dem rechtswidrigen Besitz schädlicher Betäubungsmittel, der eine Straftat darstellt, und der Drogenabhängigkeit, die dies nicht ist, obwohl sie die Folgen früheren strafbaren Verhaltens sein mag. Wir wurden in diesem Zusammenhang auf die Misuse of Drugs (Notification of and Supply to Addicts) Regulations 1973 [Verordnung über den Mißbrauch von Betäubungsmitteln (Mitteilung von Süchtigen und Verabreichung an diese)] (S.I. 1973 Nr. 799) hingewiesen, die der Minister kraft einer Ermächtigung durch den Misuse of Drugs Act 1971 erlassen hat und die an die Stelle früherer Verordnungen gleicher Art traten, die unter einer früheren Gesetzeslage erlassen worden waren. Nach dieser Verordnung kann, um es kurz zu fassen, ein Arzt vom Minister die Erlaubnis erhalten, eine Person, die er für drogenabhängig hält, mit Betäubungsmitteln zu versorgen, wenn er dem Chief Medical Officer at the Home Office (Leiter des medizinischen Dienstes beim Innenministerium) den Namen und bestimmte andere Daten dieser Person mitteilt. Es ist nicht rechtswidrig, wenn ein Abhängiger Betäubungsmittel besitzt, mit denen er aufgrund einer solchen Erlaubnis versorgt wurde. Für die Zwecke der Regelung wird ein Abhängiger als eine Person definiert, die „als Ergebnis einer wiederholten Verabreichung von einem Betäubungsmittel in einem solchen Maße abhängig ist, daß sie ein überwältigendes Verlangen nach der Fortsetzung der Verabreichung hat“. Die Verordnung findet nur auf bestimmte Arten von Betäubungsmitteln Anwendung, die in einem Anhang aufgeführt sind. Es ist zu bemerken, daß sie keine der Betäubungsmittel einschließt, die im Besitz Bouchereaus gefunden wurden, vermutlich, weil diese nicht als suchterzeugend betrachtet werden, womit natürlich nicht gesagt ist, daß sie nicht als schädlich anzusehen sind.

Soweit ich feststellen konnte, gibt es im Recht der anderen Mitgliedstaaten nichts, was dieser Regelung entspräche. Wie nicht anders zu erwarten, bestehen hinsichtlich des Betäubungsmittelrechts Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten; zumindest in manchen Mitgliedstaaten ist dieses Recht sehr verwickelt. Anscheinend ist jedoch in allen Mitgliedstaaten mit Ausnahme Italiens der unbefugte Besitz von schädlichen Betäubungsmitteln eine Straftat. In Italien besteht die einzige Sanktion gegen den rechtswidrigen Besitz von Betäubungsmitteln als solchen darin, daß sie insoweit eingezogen werden können, als ihre Menge das überschreitet, was mit dem Gebrauch für therapeutische Zwecke vereinbar ist (vgl. Artikel 80 des Gesetzes Nr. 685 vom 22. Dezember 1975, Gazz. Uff. vom 30. Dezember 1975, Nr. 342). Andererseits ist der rechtswidrige Verkehr mit Betäubungsmitteln in Italien wie in anderen Mitgliedstaaten strafbar. Anscheinend wird der Besitz von Cannabis oder seinen Derivaten für den persönlichen Gebrauch im Gegensatz zu dem Besitz anderer Betäubungsmittel in zwei Mitgliedstaaten, nämlich in Dänemark und den Niederlanden, nur als geringfügiges Vergehen betrachtet. In den meisten Mitgliedstaaten ist die Drogenabhängigkeit in größerem oder kleinerem Maße einer Krankheit angeglichen, in zwei Fällen (Bundesrepublik Deutschland und Irland) in gewisser Hinsicht besonders einer Geisteskrankheit. In vielen Mitgliedstaaten wurden Vorschriften erlassen, die eher die ärztliche Behandlung von Drogenabhängigen als deren Bestrafung sicherstellen sollen; hierzu verweise ich insbesondere auf Artikel 9 des belgischen Gesetzes vom 24. Februar 1921 in der Fassung des Gesetzes vom 9. Juli 1975 (Moniteur Belge vom 26. September 1975), auf das französische Gesetz Nr. 70-1320 vom 31. Dezember 1970 (Journal Officiel der Französischen Republik vom 3. Januar 1971, Seiten 74 bis 76) das die Artikel L 355-14 bis L 355-21 und L 626 bis L 630-2 in den Code de la Santé Publique eingefügt hat, auf Section 28 des irischen Misuse of Drugs Act 1977, auf Artikel 100 des von mir bereits erwähnten italienischen Gesetzes und auf Artikel 23 bis 30 des luxemburgischen Gesetzes vom 19. Februar 1973 (Mémorial A Nr. 12 vom 3. März 1973, S. 319).

Wichtiger als die Lage in den einzelnen Mitgliedstaaten ist meines Erachtens der in der Richtlinie selbst eingeschlagene Weg. Artikel 4 findet nach seinem Wortlaut nur auf „Krankheiten und Gebrechen“ Anwendung. Artikel 4 Absatz 2 bewirkt, daß keine irgendwie geartete Krankheit, kein irgendwie geartetes Gebrechen, das nach der Ausstellung einer ersten Aufenthaltserlaubnis eintritt, eine Ausweisung rechtfertigen kann. Die Bedeutung des Anhangs besteht darin, daß er eine Anzahl von besonderen Krankheiten und Gebrechen aufzählt, die gemäß Artikel 4 Absatz 1 eine Verweigerung der Einreise oder der ersten Aufenthaltserlaubnis rechtfertigen können. Keine Krankheit, kein Gebrechen, das nicht in den Anhang aufgenommen ist, vermag auch nur das zu rechtfertigen.

Das Vorbringen Bouchereaus in der Sitzung bestand, wie ich es verstanden habe, kurz gefaßt darin, daß er, wäre er drogenabhängig, deswegen nicht ausgewiesen werden könnte; um so weniger könne er „nur“ aus dem Grund ausgewiesen werden, daß er im rechtswidrigen Besitz von Betäubungsmitteln befunden worden sei. Meines Erachtens ist das nicht schlüssig. Sicherlich könnte Bouchereau, jedenfalls wenn er nach Erteilung der ersten Aufenthaltserlaubnis drogenabhängig geworden wäre, deswegen nicht ausgewiesen werden. Artikel 4 untersagt jedoch nicht die Ausweisung eines Drogenabhängigen aus anderen Gründen als seiner Drogenabhängigkeit, natürlich nur, soweit diese Gründe nicht in einer anderen Krankheit oder einem anderen Gebrechen bestehen. Unterstellen wir, daß eine Person zugleich Scientologe und drogenabhängig sei. Sie könnte aus dem Vereinigten Königreich offenkundig wegen ihrer Verbindung mit der Scientologie ausgewiesen werden, nicht aber wegen ihrer Drogenabhängigkeit. Der rechtswidrige Besitz von Betäubungsmitteln ist weder eine Krankheit noch ein Gebrechen, obwohl er mit der Drogenabhängigkeit die Verbindung mit Betäubungsmitteln gemeinsam hat. Artikel 4 findet deshalb darauf keine Anwendung; er schließt den Besitz von Betäubungsmitteln als Grund für eine Ausweisung nicht aus. In einem Mitgliedstaat, in dem der Besitz von Betäubungsmitteln als eine Straftat oder sonst als sozialschädlich betrachtet wird, ist Artikel 3 die einschlägige Vorschrift der Richtlinie.

Es bleibt zu prüfen, wie Sie, meine Herren, die dritte Frage des vorlegenden Gerichts beantworten sollen. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hält es für ausreichend, wenn Sie aussprechen, daß der Begriff der „public policy“ (öffentlichen Ordnung) in Artikel 48 des Vertrages nicht auf den „threatened breach of public peace, order or security“ (die Gefährdung des öffentlichen Friedens, der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit) beschränkt ist. Das würde vielleicht genügen, aber ich würde es vorziehen, wenn Sie, meine Herren Richter, etwas genauer wären und hinzufügten, daß dieser Begriff nicht dahin auszulegen ist, daß er als möglichen Grund für die Beschränkung der Rechte, die einem Arbeitnehmer durch diesen Artikel übertragen werden, den Umstand ausschließt, daß dieser wiederholt im rechtswidrigen Besitz schädlicher Betäubungsmittel angetroffen worden ist.


( 1 ) Aus dem Englischen übersetzt.

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