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Document 61964CC0050

Schlussanträge des Generalanwalts Gand vom 1. Juli 1965.
Ralph Loebisch und andere gegen Räte der EWG, EAG und EGKS.
Verbundene Rechtssachen 50, 51, 53, 54 und 57-64.

Englische Sonderausgabe 1965 01082

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1965:66

Schlußanträge des Generalanwalts Herrn Joseph Gand

vom 1. Juli 1965 ( 1 )

Herr Präsident, meine Herren Richter!

Die fünf Klagen, zu deren Zulässigkeit ich heute Stellung zu nehmen habe und die Sie durch Beschluß vom 17. Juni dieses Jahres verbunden haben, sind von Beamten eingereicht, die alle seit mehr oder weniger langer Zeit dem Sprachendienst des Generälsekretariats der Räte angehören; einer von ihnen, Herr Noack, ist sogar Leiter dieser Dienststelle.

Während die Herren Battin und Noack schon dem EGKS-Statut von 1956 unterstanden haben, hatten die Herren Loebisch, Valerio und Van Royen sogenannte „Brüsseler Verträge“. Nach Inkrafttreten des Statuts von 1962 wurde die Einstufung der Kläger durch verschiedene individuelle Verfügungen geregelt, deren letzte vom 28. März 1963 die Beförderung der vier ersten Kläger in die Besoldungsgruppe L/A 4 und des Herrn Noack in die Besoldungsgruppe L/A 3 aussprachen. Diese Verfügungen, die auf den 1. Januar 1962 zurückwirkten, setzten auch die Dienstaltersstufen dieser Beamten in den ihnen zuerkannten Besoldungsgruppen fest.

Schon vor Erlaß dieser Verfügungen hatten die Betroffenen sich Sorgen über ihr zukünftiges Schicksal gemacht, von dem sie zumindest in offiziöser Form Kenntnis erlangt hatten. Ohne förmliche Beschwerde zu erheben, hatten sie im Oktober 1962 entweder ihre „Besorgnis“ über die für sie vorgesehene Einstufung ausgesprochen, oder erklärt, zu welcher Einstufung die richtige Auslegung des Statuts, insbesondere der Vorschriften für die Beamten des Sprachendienstes, nach ihrer Ansicht führen müsse. Aber keiner der Kläger hat seinerzeit gegen die ihn betreffende Verfügung vom 28. März 1963 bei der zuständigen Stelle Beschwerde oder beim Gerichtshof Klage erhoben.

Anders nach Erlaß Ihres Urteils 70/63 vom 7. Juli 1964 (Collotti), das die Einstufung des Leiters des Sprachendienstes beim Gerichtshof regelte. Die Kläger reichten nunmehr Beschwerden beim Generalsekretär der Räte ein, in denen sie ausdrücklich auf dieses Urteil Bezug nahmen und ihre Neueinstufung nach den von Ihnen in der Rechtssache 70/63 aufgestellten Grundsätzen mit Rückwirkung auf den 1. Januar 1962 beantragten. Die — je nach Lage des Falles ausdrückliche oder stillschweigende — Zurückweisung dieser Beschwerden führte zur Erhebung der Klagen 60, 51, 53, 54 und 57/64, die fast den gleichen Wortlaut haben.

Sie haben nun, ohne in die Verhandlung zur Hauptsache einzutreten, über die Zulässigkeit der Klagen zu entscheiden, die von den Beklagten nach Artikel 91 der Verfahrensordnung bestritten wird. Ich werde mich also mit meinen Bemerkungen auf diesen Punkt beschränken: im Ergebnis werde ich Ihnen vorschlagen, der vom Generalsekretariat der Räte erhobenen Einrede stattzugeben.

Die Kläger rechneten so sehr mit dieser Unzulässigkeitseinrede, daß sie den wesentlichsten Teil ihrer Darlegungen dem Nachweis der Zulässigkeit der Klagen widmen. Hierbei geht es um drei Fragen.

1.

Zunächst enthält Artikel 90 des Statuts für den Beschwerdeweg zur Anstellungsbehörde, den er den Beamten eröffnet, keinerlei Fristbestimmungen. Andererseits gilt nach Artikel 91 die Beschwerde als abgelehnt, wenn sie nicht beschieden wird; gegen diese stillschweigende Ablehnung kann dann Klage erhoben werden,

Im vorliegenden Fall haben die Betroffenen zu verschiedenen Zeitpunkten, deren frühester der 22. Juli 1964 war, Beschwerden gegen ihre Einstufung bei der Anstellungsbehörde eingereicht. Die Klagen sind innerhalb der in Artikel 91 vorgesehenen Frist erhoben worden, nachdem die Beschwerden ausdrücklich oder stillschweigend zurückgewiesen worden waren. Sie wären somit zulässig.

Wie aber die Kläger selbst angeben, richteten sich ihre Beschwerden aus dem Jahre 1964 gegen die am 28. März 1963 erfolgte Einstufung, die seinerzeit weder mit der Verwaltungsbeschwerde noch im Klagewege angefochten worden war. Die Beklagten betonen zu Recht, daß die Einhaltung der in Artikel 91 vorgesehenen Frist für die Zulässigkeit der Klage nicht ausreiche. Die auf die Beschwerden ergangenen stillschweigenden oder ausdrücklichen Entscheidungen haben die früheren Verfügungen nur bestätigt, auch wenn sie nach erneuter Prüfung der Sachlage ergangen sind. Es ist nicht zulässig, auf dem Umweg über die Artikel 90 und 91 Entscheidungen in Frage zu stellen, gegen die die Klagefrist seit langem abgelaufen ist: Die Verfügungen vom 28. März 1963 hätten also innerhalb der hierfür vorgesehenen Frist angefochten werden müssen.

2.

Das zweite Argument wird zwar in der Klageschrift nur hilfsweise vorgebracht, in der mündlichen Verhandlung wurde aber erklärt, daß die Zulässigkeit hauptsächlich hierauf gestützt werde: Ihr Urteil 70/63 stelle eine neue Tatsache dar, welche die Beklagten dazu zwinge, ihren Standpunkt zur Auslegung der einschlägigen Artikel, des Statuts zu überprüfen. Die Weigerung der Beklagten, den nach Erlaß des genannten Urteils eingereichten Beschwerden stattzugeben, stelle eine neue anfechtbare Verfügung dar. Die Kläger stützen sich für ihre Auflassung auf das Urteil 42 und 49/59 (SNUPAT, RsprGH VII 111).

Es stellt sich also die Frage, welche Bedeutung dem Urteil zukommt, das Sie auf die Klage des Herrn Collotti erlassen haben. Eröffnet es anderen Beamten, die behaupten, sich rechtlich oder tatsächlich in der gleichen Lage zu befinden wie dieser Kläger, die Möglichkeit, das Verfahren wieder in Gang zu setzen und neue Beschwerden einzureichen, eröffnet es ihnen neue Klagefristen zur Anfechtung der früher an sie gerichteten Verfügungen?

Diese Frage scheint mir durch Ihr Urteil 43/64, Richard Müller, vom 17. Juni 1965 bereits geklärt. Die Rechtswirkungen eines einen Verwaltungsakt aufhebenden Urteils des Gerichtshofes, so haben Sie entschieden, erstrecken sich außer auf die Prozeßparteien nur „auf diejenigen Personen, die von dem Verwaltungsakt selbst unmittelbar betroffen werden“; ein solches Urteil kann eine „neue Tatsache“ nur für diese Personen darstellen. Wie bemerkt wurde, macht es einen Unterschied, ob man durch einen aufgehobenen Verwaltungsakt unmittelbar betroffen ist oder nur durch die Rechtsnorm, deren Verletzung zur Aufhebung des streitigen Verwaltungsakts geführt hat. Nur im ersten Fall, der auch weniger häufig eintreten wird, stellt das Urteil des Gerichtshofes eine neue Tatsache dar.

Die Kläger machen geltend, das Urteil 70/63 habe zu zahlreichen Klagen von Beamten der verschiedenen Organe geführt. Die Organe hätten sich schon nach der Veröffentlichung des Statuts über. dessen einheitliche Anwendung geeinigt und sich erneut abgesprochen, als Ihr Urteil bekannt geworden sei. Das alles ist richtig und entspricht einem grundlegenden Gebot guter Verwaltungsführung. Aber das bedeutet lediglich, daß die Auslegung von Artikel 102 Nrn. 1 und 4 des EWG-Statuts und des einzigen Artikels von Anhang X zum EGKS-Statut für alle Gemeinschaften ein gemeinsames Problem darstellt, keineswegs aber, daß die Beamten der Gemeinschaften, auf die der streitige Artikel Anwendung findet, durch den Verwaltungsakt unmittelbar betroffen wären, durch den Herr Collotti nach Ihren Feststellungen fehlerhaft eingestuft worden ist. Das genügt bereits, um zu der Feststellung zu gelangen, daß Ihr Urteil für die genannten Beamten keine neue Klagefrist eröffnen konnte.

Diese Lösung entspricht auch den Grundsätzen, die mehr oder weniger uneingeschränkt in den Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten gelten. Wie der Generalsekretär der Räte ausgeführt hat, zeitigt das Nichtigkeitsurteil im französischen Recht nur für den aufgehobenen Verwaltungsakt selbst Wirkungen, nicht aber für ähnliche Akte, die von den Betroffenen nicht fristgerecht angefochten worden sind. Wenn zum Beispiel die Überleitungsmaßnahmen eines Ministeriums aufgehoben worden sind, so verpflichtet das die Verwaltung nicht, nach den gleichen Grundsätzen in anderen Ministerien durchgeführte aber nicht rechtzeitig angefochtene Maßnahmen abzuändern. Das italienische Recht scheint zu ähnlichen Lösungen zu gelangen. Das deutsche Recht ist zwar vielleicht insoweit noch nicht endgültig festgelegt, aber es tendiert auch in diese Richtung.

Das Urteil Richard Müller scheint mir im übrigen keineswegs mit dem Urteil 42 und 49/59 (SNUPAT gegen Hohe Behörde) unvereinbar zu sein, auf das die Kläger sich berufen. Sie haben damals entschieden, die Entscheidungsgründe des voraufgegangenen Urteils, mit dem der SNUPAT die beantragte Freistellung versagt worden war, hätten die Hohe Behörde veranlassen müssen, die anderen Unternehmen in vergleichbarer Weise gewährten Freistellungen erneut zu überprüfen und zu widerrufen. Diese Rechtssachen bezogen sich aber auf eine finanzielle Ausgleichseinrichtung, die so organisiert war, daß sich eine Änderung des Beitrags eines der angeschlossenen Unternehmen automatisch auf die Konten aller anderen auswirkte. Nicht nur die Identität der Parteien, sondern auch das Wesen der Ausgleichseinrichtung rechtfertigte, so scheint mir, die damals von Ihnen gefundene Lösung; und es ist ganz offensichtlich, daß ein ähnlicher Zusammenhang auf dem Gebiet des Beamtenrechts nicht besteht.

Die Kläger haben schließlich in der mündlichen Verhandlung noch ausgeführt, Sie hätten — mehr noch als die höchsten innerstaatlichen Gerichte — die Aufgabe, zur Fortbildung des Gemeinschaftsrechts beizutragen, das noch in den Anfängen stecke. Ihre Urteile, so wurde gesagt, seien Grundsatzurteile, die Recht setzten, und daraus wurde dann gefolgert, daß solche Urteile für die Kläger und für die Organe neue Tatsachen darstellten.

Es liegt mir fern, die Bedeutung Ihrer Rolle bei der Fortbildung eines Rechts, das in vielen Punkten noch gefunden werden muß, schmälern zu wollen. Sie haben die Vorschriften auszulegen, um sie dann auf die bei Ihnen anhängigen Streitsachen anzuwenden. Haben Sie zu einem Zeitpunkt einmal eine Auslegung gegeben, so wird diese normalerweise von den Gemeinschaften angewandt werden, wenn sich ähnliche Fragen stellen wie die von Ihnen entschiedene. In diesem Sinne trifft es — obgleich Sie niemals an Ihre früheren Entscheidungen gebunden sind — durchaus zu, daß Ihre Rechtsprechung rechtschöpferisch ist, daß sie dazu beiträgt, das Recht festzulegen. Sie tut dies aber für die Zukunft. Mit anderen Worten: Sie eröffnet nicht die Möglichkeit, auf Rechtsverhältnisse, die sich durch den Ablauf der Klagefristen bereits gefestigt haben, erneut zurückzukommen.

3.

Die Kläger berufen sich schließlich noch auf die Billigkeit und die Verwaltungspraxis.

Die Auslegung der Statutsvorschriften, die zu den Verfügungen vom ,28. März 1963 geführt habe, sei seinerzeit von den beteiligten Parteien gutgläubig gegeben bzw. hingenommen worden. Ihr Urteil 70/63 habe nun klargestellt, daß diese Auslegung irrig war. Nach dem Grundsatz, daß Treu und Glauben auch im Verwaltungsrecht herrschen müßten, sei im vorliegenden Fall eine erneute Prüfung für geboten zu erachten, nach der dann erneut Klage erhoben werden könne; das scheine auch die Verwaltung selbst in den Fällen anzuerkennen, in denen sie die Beschwerden beschieden habe.

Im übrigen entspreche es der Verwaltungspraxis sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Gemeinschaft, eine zugunsten eines Beamten zu einer Frage der Auslegung seines Statuts ergangene gerichtliche Entscheidung allen denjenigen zugutekommen zu lassen, die sich in derselben Lage befinden.

Ich muß hier noch einmal auf den Grundsatz zurückkommen, daß Klagen an Fristen gebunden sind. Die Auslegung, welche die Verwaltung den geltenden Vorschriften gibt und auf die sie ihre Entscheidungen stützt, gilt nur vorbehaltlich richterlicher Entscheidung. Aber es ist Sache des diese Auslegung bestreitenden Beamten, selbst innerhalb der vorgesehenen Fristen den Richter anzurufen. Unterläßt er dies, so wird die Entscheidung unanfechtbar. Und es ist nicht einzusehen, wieso Treu und Glauben, die die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien beherrschen müssen, ausdrücklich festgelegte Verfahrensvorschriften unbeachtlich machen sollten.

Hinzuzufügen ist noch, daß die Verwaltung, anders als die Ausführungen der Kläger es nahezulegen versuchen, in ihren Beschwerdebescheiden die Frage der Zulässigkeit der im Jahre 1964 erhobenen Beschwerden ausdrücklich offengelassen hatte.

Schließlich kann das aus einer angeblichen Verwaltungspraxis hergeleitete Argument aus zwei Gründen gleichfalls nicht durchgreifen: Eine Verwaltungspraxis kann nicht den Rang einer verbindlichen Rechtsnorm haben, die vor Gericht geltend gemacht werden könnte. Die Behauptungen der Kläger zu diesem Punkt werden ferner nach meiner Kenntnis durch die Verwaltungsrechtsprechung der Mitgliedstaaten nicht bestätigt.

Ich beantrage daher,

die Klagen als unzulässig abzuweisen

und zu erkennen, daß jede Partei nach Artikel 70 der Verfahrensordnung ihre Kosten selbst zu tragen hat.


( 1 ) Aus dem Französischen übersetzt.

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