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Document 61960CC0019

    Schlussanträge des Generalanwalts Roemer vom 9. November 1961.
    Société Fives Lille Cail und andere gegen Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl.
    Verbundene Rechtssachen 19-60, 21-60, 2-61 und 3-61.

    Englische Sonderausgabe 1961 00613

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:1961:22

    Schlußanträge des Generalanwalts

    HERRN KARL ROEMER

    9. November 1961

    GLIEDERUNG

    Seite
     

    A — Sachverhalt und Klageanträge

     

    B — Rechtliche Beurteilung

     

    I — Zur Zulässigkeit der Klagen

     

    II — Zur Hauptsache

     

    A — Die Karenzklagen und die Anfechtungsklagen

     

    1. Der Frachtausgleich nach dem System des Schrottausgleichs

     

    2. Langjährige Praxis des Gemeinsamen Büros

     

    3. Die Zusicherungen des Gemeinsamen Büros und die späteren Schrottabrechnungen

     

    a) Die Zusicherungen des Gemeinsamen Büros

     

    aa) Nachweis der Zusicherungen

     

    bb) Rechtmäßigkeit der Zusicherungen

     

    b) Die einzelnen Klageanträge

     

    aa) Rechtssachen 19/60 und 21/60

     

    bb) Rechtssachen 2/61 und 3/61

     

    B — Die Schadensersatzklagen

     

    I — Der Amtsfehler

     

    1. Zum Vorwurf der unterlassenen Aufklärung

     

    2. Zum Vorwurf der mangelhaften Arbeitsweise der Brüsseler Organe

     

    II — Schadensnachweis

     

    C — Zusammenfassung

    Herr Präsident, meine Herren Richter!

    Meine Schlußanträge betreffen vier Verfahren, die von französischen Montanunternehmen gegen die Hohe Behörde anhängig gemacht worden sind. Sie haben zum Gegenstand die Ausgleichseinrichtung zur Verbilligung von Einfuhrschrott und Schrott ähnlichen Charakters, die dem Gerichtshof aus einer Reihe abgeschlossener Prozesse bekannt ist. Heute steht vor allem die Rechtsfrage zur Debatte, ob diese Ausgleichseinrichtung einen Frachtausgleich im Einzelfall gestattet zugunsten von Werken, die Schiffsschrott aus entfernt gelegenen Abwrackplätzen der Gemeinschaft bezogen, die aber Einfuhrschrott auf kürzerem Wege über Seehäfen hätten beziehen können. Wenn auch die einzelnen Klagen in verschiedener Form eingereicht wurden — Karenzklagen, Anfechtungsklagen —, so erlaubt doch ihr einheitliches, eben angedeutetes Ziel, zu dem hilfsweise Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden, eine gemeinsame Behandlung.

    A — Sachverhalt und Klageanträge

    Die Verfahren gehen zurück auf Lieferverträge über Abwrackschrott, die das Gemeinsame Büro der Schrottverbraucher im Namen und für Rechnung der durch das französische Regionalbüro bezeichneten klagenden Unternehmen abgeschlossen hat. Die Verträge mit ihren Änderungen und Ergänzungen und die darauf basierende Benennung der Empfängerwerke durch das Regionalbüro verteilen sich auf einen Zeitraum zwischen dem 19. September 1958 und dem 27. Oktober 1958. Eine weitere Vertragsergänzung von untergeordneter Bedeutung hat Anfang Februar 1959 stattgefunden. In allen Verträgen war vereinbart: „Livraison: FOR gare de chemins de fer la plus proche du chantier de départ.“ Nach den Angaben der Klägerinnen haben diese ihre Zustimmung zur Benennung als Schrottempfänger von der Zusicherung abhängig gemacht, daß ihnen der Unterschied zwischen den Frachtkosten ab Bahnhof Abwrackplatz und Bahnhof des für sie nächsten Einfuhrhafens beim Schrottausgleich erstattet würde. In jedem einzelnen Fall sei eine derartige Erklärung des Gemeinsamen Büros in Brüssel über das französische Regionalbüro in Paris abgegeben worden. Die Schrottlieferungen erfolgten — wiederum nach den Ausführungen der Klägerinnen — in der Zeit von Oktober 1958 bis Februar 1959.

    Für die Ausgleichsabrechnungen ist zu unterscheiden: In den Rechtssachen 19/60 und 21/60 (Société Fives Lille Cail und Union Sidérurgique du Nord de la France) hat die Hohe Behörde am 15. März 1960 vorläufige Abrechnungen mitgeteilt, in denen der Frachtausgleich nicht berücksichtigt ist.

    In den Rechtssachen 2/61 und 3/61 (Société des Forges et Ateliers du Creusot und Société Marrel Frères) dagegen hat die Hohe Behörde zunächst den Unterschied der Frachtkosten zugunsten der Klägerinnen in die vorläufigen Abrechnungen einbezogen. So ist in den Abrechnungen vom 10. August 1959, abgeändert am 10. Dezember 1959, bzw. in den Abrechnungen vom 14. August 1959, abgeändert am 10. Dezember 1959, ausdrücklich vermerkt: „Frais remboursables, parité Brest — Marseille.“ In den Abrechnungen vom 14. März 1960, welche die früheren Abrechnungen ausdrücklich annullieren und ersetzen, fehlt der Frachtausgleich.

    Entsprechend gestaltete sich das weitere Verfahren: Die beiden zuerst genannten Klägerinnen wandten sich mit Schreiben vom 30. Juli 1960 und 11. August 1960 an die Hohe Behörde und verlangten die Erstattung des Frachtunterschieds in Höhe von NF 5764,16 und NF 14912,71. Als sie ohne Antwort blieben, erhoben sie am 26. Oktober 1960 und am 5. November 1960 ihre Karenzklagen. An die beiden anderen Unternehmen richtete die Hohe Behörde am 9. Juni 1960 Schreiben, in denen um Rückerstattung des gewährten Frachtausgleichs in Höhe von NF 20800,- bzw. NF 4760,- ersucht wurde. Auf die negative Antwort der Unternehmen ergingen am 14. Dezember 1960 vollstreckbare Entscheidungen im Sinne von Artikel 92 des Montanvertrages. Sie bilden den Gegenstand der Anfechtungsklagen vom 16. Januar 1961.

    Die Klageanträge brauche ich hier nicht zu wiederholen. Ihr Inhalt ist mit dem geschilderten Verfahrensablauf deutlich gemacht. Desgleichen kann ich auf eine Darstellung der Klagebegründung an dieser Stelle verzichten. Es wurde schließlich schon darauf hingewiesen, daß in allen vier Fällen hilfsweise Schadensersatzansprüche in Höhe der genannten Summen geltend gemacht werden mit der Begründung, die Hohe Behörde habe einen Amtsfehler begangen.

    B — Rechtliche Beurteilung

    I — ZUR ZULÄSSIGKEIT DER KLAGEN

    Einwendungen zur Zulässigkeit erhebt die Hohe Behörde nur in den Karenzverfahren 19/60 und 21/60.

    1.

    Sie bezweifelt, daß die Voraussetzungen von Artikel 35 des Vertrages gegeben sind. Insbesondere stellt sie die Frage, ob ein ausdrückliches Gesuch auf Erlaß einer Entscheidung vorliege und nach welcher Bestimmung des Vertrages die Hohe Behörde zum Erlaß der verlangten Entscheidung verpflichtet sei.

    Was den zweiten Teil des Einwands angeht, so scheint er die Begründetheit der Klagen zu betreffen und nicht die Zulässigkeit. Sollte die Hohe Behörde mit dieser Bemerkung aber die Art der Klagebegründung rügen wollen, so wäre festzustellen, daß die Benennung eines bestimmten Vertragsartikels bei der Erhebung der Karenzklage nicht verlangt werden kann.

    Auch im übrigen greifen die Bedenken der Hohen Behörde nicht durch. Die Befassungsschreiben machen klar, daß die Klägerinnen die Auszahlung gewisser Beträge im Rahmen des Schrottausgleichs verlangen. Es kann also nicht gesagt werden, daß es ihrem Antrag an Bestimmtheit fehlt. Sie stützen sich nicht auf privatrechtliche Forderungen, sondern erheben Ansprüche, die in einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung wurzeln und deren Befriedigung rechtlich den Erlaß von Verwaltungsakten erforderlich macht. Die Voraussetzungen für die Erhebung einer Karenzklage liegen insoweit vor.

    2.

    Die Hohe Behörde rügt des weiteren, die Klägerinnen hätten ihr Klagevorbringen so unbestimmt und vage formuliert, daß eine Begründung für den Vorwurf der Vertragsverletzung nicht zu erkennen sei.

    In der Tat steht fest, daß die Klägerinnen außer der Schilderung des Sachverhalts in den Klageschriften keine eingehenden rechtlichen Ausführungen gebracht haben. Sie weisen hin auf eine angeblich bestehende langjährige Praxis im Schrottausgleich, derzufolge bei Abwrackschrott Frachtkostenteile immer in Rechnung gestellt worden seien zugunsten von Empfängerwerken, die in größerer Entfernung von den Abwrackwerften als von den Importhäfen liegen. Sie machen geltend, die Hohe Behörde könne nicht unangemessen lange Zeit nach Abgabe der Zusicherungen durch das Gemeinsame Büro einen Widerruf aussprechen. Die Zusicherungen seien der Hohen Behörde zuzurechnen, da diese stets eine Kontrolle über das Büro ausgeübt habe.

    Wenn auch die Dürftigkeit dieser Ausführungen gewisse Bedenken nicht ganz ausschließt, so kann doch nicht festgestellt werden, daß eine Klagebegründung völlig fehlt. Stillschweigend beziehen sich die Klägerinnen auf allgemeine Rechtsprinzipien, die für jede Verwaltung, also auch für die Hohe Behörde gelten sollen. In der Replik wird diese Deutung bestätigt und werden gleichzeitig weitere Erläuterungen hierzu gegeben. Auch insofern dürfte die Zulässigkeit der Klagen nicht zu verneinen sein.

    Da andere Mängel im Bereiche der. Zulässigkeit nicht zu erkennen sind, steht einer Prüfung der Hauptsache nichts im Wege.

    II — ZUR HAUPTSACHE

    A — Die Karenzklagen und die Anfechtungsklagen

    Im Mittelpunkt des Rechtsstreites steht die Frage, ob der von den Klägerinnen begehrte Frachtausgleich — man könnte von einem speziellen Frachtausgleich sprechen — rechtmäßig ist.

    1. Der Frachtausgleich nach dem System des Schrottausgleichs

    Die Grundentscheidungen zur Einführung und Gestaltung des Schrottausgleichs (Nrn. 22/54, 14/55, 2/57 und 16/58) enthalten keine ausdrücklichen Vorschriften darüber. Es wird also zu prüfen sein, ob ihr Sinn und Zweck, gesehen im Lichte der Vertragsgrundsätze, den speziellen Frachtausgleich rechtfertigt.

    Im Verfahren wurde darauf hingewiesen, daß die Hohe Behörde im Jahre 1956, also vor der organisatorischen Umgestaltung der Ausgleichseinrichtung, mangels Einstimmigkeit der Brüsseler Organe in einer Einzelentscheidung den Ausgleichspreis für einige Monate selbst festgesetzt hat (Entscheidung Nr. 34/56, Amtsblatt der EGKS, 1956, S. 382). Damals wurde verfügt:

    Artikel 1

    Für die Monate Juli, August, September und Oktober 1956 ist der Ausgleichspreis frei Eisenbahnwagen oder Lastkahn ohne Abgaben

    im Ankunftshafen bei Schrott, der auf dem Seewege aus dritten Ländern eingeführt wird,

    am Grenzübergangsort äußere Landgrenze der Gemeinschaft bei Schrott, der auf dem Landwege aus dritten Ländern eingeführt wird,

    Im Schrottbetrieb des Verkäufers bei gleichgestelltem Schrott (Abwrackschrott oder sonstiger teurer Schrott), der in dem Gebiet der Gemeinschaft anfällt,

    gleich dem gewogenen Mittel der Einstandspreise, umgerechnet auf die Basissorte Nr. 11, ab Schrottbetrieb des Verkäufers, verladen auf Eisenbahnwagen oder Lastkahn, ohne Abgaben, die in der Gemeinschaft in den betreffenden Monaten für nicht dem Ausgleich unterliegenden, innerhalb der Gemeinschaft anfallenden Schrott ermittelt werden.

    Wenn in dieser Entscheidung auch nicht ausdrücklich so wie in der Entscheidung Nr. 18/60 ein Verbot des speziellen Frachtausgleichs ausgesprochen wird, so stellt sie doch fest, welche Elemente für die Festsetzung des Ausgleichspreises und damit für die Ausgleichsvergütung maßgeblich sein sollen. Eindeutig ist abgestellt auf den Schrottbetrieb des Verkäufers, und zwar sowohl für die Ermittlung des durchschnittlichen Inlandspreises, also des Ausgleichspreises, wie auch für die Anwendung dieses Preises auf die Bezieher von Abwrackschrott. In einer rechtlichen Würdigung kann daraus nur der Schluß gezogen werden, daß andere Elemente, insbesondere die individuellen Frachtkosten, nicht in den Ausgleich einbezogen werden können. Entsprechend sind Entscheidungen abgefaßt, in denen die Hohe Behörde nach dem Erlaß der grundsätzlichen Entscheidungen Nr. 13/58 und Nr. 16/58 den Ausgleichspreis in Ausübung ihrer regulären Befugnisse festgesetzt hat, etwa die Entscheidung Nr. 19/58. Es besteht nur die unerhebliche Differenz, daß hier der Durchschnittsinlandspreis auf Grund der Einstandspreise frei Empfängerwerke ermittelt wird, was zum Abzug einer Pauschale von 4,50 EZU-Rechnungseinheiten führt. Der Effekt dieser Berechnungsmethode ist die pauschale Eliminierung von Transportkosten einerseits (2,50 EZU-Rechnungseinheiten) und der Umschlagskosten im Seehafen andererseits (2,00 EZU-Rechnungseinheiten). Es finden sich aber keine Elemente eines weitergehenden, vor allem nicht die eines speziellen Frachtausgleichs.

    Diese Ausgestaltung entspricht vollständig dem Sinn und Zweck der Ausgleichseinrichtung, die verhindern sollte, daß die Schrottknappheit in der Gemeinschaft entweder zu einer künstlichen Verzerrung der Produktionsbedingungen führte, weil nur einem Teil der Produzenten eine Versorgung mit billigem Inlandschrott gelingen konnte, oder aber daß eine Anhebung der Schrottpreise in der Gemeinschaft auf das Weltmarktniveau stattfand. Das Ziel des Preisausgleichs bestand also lediglich darin, für alle Schrottarten auf dem Gemeinsamen Markt vergleichbare Ausgangsbedingungen zu schaffen, was nur die Berücksichtigung der Transportkosten bis zur Ankunft im Gemeinsamen Markt und der Umschlagskosten erlaubte.

    Die teilweise oder völlige Anrechnung der individuellen Frachtkosten hätte zu einer essentiellen Veränderung des Ausgleichssystems geführt, weil auf diese Weise die Standortnachteile der Empfängerwerke ausgeglichen worden wären, die auf der Entfernung von den Versorgungsquellen beruhen. Die Behauptung, der spezielle Frachtausgleich zugunsten der Käufer von Abwrackschrott sei unerläßlich gewesen im Interesse der Ausgleichseinrichtung, weil andernfalls anstelle des Abwrackschrotts teurer Einfuhrschrott gekauft worden wäre, der die Ausgleichseinrichtung schwerer belastet hätte, kann nicht als überzeugend angesehen werden. Die Brüsseler Kasse, später die Hohe Behörde, konnte festlegen, welche Schrottmengen zum Ausgleich zugelassen werden sollten; sie hatte damit ein Lenkungsinstrument in der Hand. Insbesondere konnte sie, um die Ausgleichsabgabe möglichst niedrig zu halten, dem Abwrackschrott im Ausgleich eine Vorrangstellung einräumen. Sie war nur gehalten, in nicht diskriminierender Weise auf die Verteilung des Abwrackschrotts bedacht zu sein. Daß ein vollständiger Absatz des Abwrackschrotts nur mit Hilfe des speziellen Frachtausgleichs möglich gewesen wäre, kann demnach nicht anerkannt werden.

    In der mündlichen Verhandlung wurde überdies zu Recht betont, daß der Montanvertrag in mehreren Artikeln, hauptsächlich in Artikel 2, mit aller Deutlichkeit eine künstliche Veränderung der Produktionsbedingungen, zu denen der Standort gehört, ablehnt. In den Verfahren über die Eisenbahnausnahmetarife hat der Gerichtshof mit Nachdruck diese Grundeinstellung des Vertrages unterstrichen. Selbst aber wenn man entgegen dieser Erkenntnis den speziellen Frachtausgleich nach dem Vertrage für zulässig halten könnte, müßte doch verlangt werden, daß er zum Gegenstand einer eigenen ausführlichen Regelung der Hohen Behörde gemacht wird. Diese hätte alle Fälle zu erfassen und dürfte sich nicht in diskriminierender Weise beschränken auf den Frachtausgleich zugunsten der Empfänger von Abwrackschrott in Teilgebieten des Marktes. Es läßt sich nämlich denken, daß auch die Käufer von nicht ausgleichsfähigem Inlandschrott oder von Importschrott in einer Reihe von Fällen Frachtnachteile in Kauf nehmen mußten, die ihnen bei Bezug von Schrott anderer Herkunft erspart geblieben wären. Es ist nicht anzunehmen, daß eine Frachtausgleichsregelung stillschweigend eingeführt werden kann mit einer Einrichtung, die wesentlich andere Ziele verfolgt und für die der Grundsatz gilt, die Belastung der beteiligten Unternehmen möglichst niedrig zu halten. — Schließlich ist noch zu bemerken, daß die Einbeziehung der Frachtkosten in den Schrottausgleich durch eine extensive Interpretation der Befugnisse der Hohen Behörde auch deshalb ausgeschlossen erscheint, weil nach Artikel 53 des Montanvertrages der Ministerrat seine einstimmige Zustimmung zur Schaffung von Ausgleichseinrichtungen geben muß. Wird diese Zustimmung gewährt für die Verfolgung eines bestimmten wirtschaftspolitischen Zieles, so ist nicht selbstverständlich, daß sie sich ohne weiteres bezieht auf die Berücksichtigung ähnlicher Anliegen, die zu dem genehmigten Ziel in keinem essentiellen Zusammenhang stehen.

    Wenn in der Verhandlung auch versucht wurde nachzuweisen, daß die durch den streitigen Frachtausgleich verursachten zusätzlichen Kosten sich in einem sehr bescheidenen Rahmen bewegen, so muß doch festgehalten werden, daß nicht nur die allgemeinen Schrottentscheidungen, sondern auch das System des Vertrages eine Rechtfertigung für diesen Frachtausgleich nicht erkennen lassen.

    2. Langjährige Praxis des Gemeinsamen Büros

    Lediglich weil die Klägerinnen für die Begründung ihrer Rechtsansicht dem Umstand eine besondere Bedeutung beimessen, daß die Brüsseler Organe in langjähriger, seit 1954 geübter Praxis den speziellen Frachtausgleich anerkannt und den Schrottverbrauchern der Gemeinschaft in allen gleichartigen Fällen zugestanden haben, sei dieser Frage eine Prüfung gewidmet. Die Hohe Behörde bestreitet zunächst, daß eine solche Praxis bestanden habe, und des weiteren, daß sie ihr bekannt geworden sei. Was die Existenz der Praxis angeht, so wurde sie offenbar von der „Union des Consommateurs de Ferraille de France“, der zentralen Schrotteinkaufs- und Verteilungsstelle der französischen Stahlindustrie (Ministerialerlaß vom 13. März 1953, Amtsblatt der EGKS vom 9. Juni 1953, S. 140), angewandt. In weit geringerem Maße wurden italienischen und holländischen Schrottverbrauchern Frachtvergütungen zugebilligt (von 1954 bis 1958 für Frankreich $ 349021,84; während eines nicht bekannten Zeitraums für die Niederlande $ 13000 und für Italien $ 160000). Es muß als erwiesen gelten, daß innerhalb der Ausgleichseinrichtung das Gemeinsame Büro an diesem Verfahren beteiligt war. Andererseits kann als feststehend angesehen werden, daß die Verwaltungsräte des Büros und der Kasse, gebildet aus Vertretern der nationalen Schrottverbraucher, mit der Frage des Frachtausgleichs nicht befaßt wurden. Diese Folgerung ergibt sich zwingend aus den von den Parteien vorgelegten Protokollauszügen über Sitzungen des Kollegiums der Liquidateure der Kasse, das den Verwaltungsräten entsprechend zusammengesetzt ist (Protokolle vom 9. März 1960 und vom 10. Oktober 1960). In diesen Beratungen wurde die hier streitige Frage behandelt und die Anerkennung der Rechtmäßigkeit der speziellen Frachtvergütungen abgelehnt mit den Stimmen des holländischen und des italienischen Vertreters. Die Aufsichts- und die Kontrollrechte der Hohen Behörde bestanden aber darin, daß ihr Vertreter an den Sitzungen der Verwaltungsräte der Brüsseler Organe teilnahm und deren Beschlußfassung beeinflußte. Demnach ist die — von den Klägerinnen übrigens nicht bestrittene — Behauptung, daß die Hohe Behörde vor den Beratungen im März und Oktober 1960 mit dem Problem des Frachtausgleichs nie befaßt worden sei, als erwiesen anzusehen. In der Tat hat die Hohe Behörde eine Entscheidung in dieser Frage vor den heute zur Debatte stehenden Einzelfällen und vor den allgemeinen Entscheidungen Nr. 18/60 bis 20/60 nicht getroffen.

    Infolgedessen kann festgestellt werden: Sieht man eine mehrjährige Praxis des französischen Regionalbüros und des Brüsseler Büros als gegeben an, und erachtet man diese Gesellschaften als Hilfsorgane der Hohen Behörde, so kann doch durch ihr Verhalten nicht die allgemein gültige Regelung einer Rechtsfrage bewirkt werden, zu deren Entscheidung nur die Hohe Behörde unter Mitwirkung des Ministerrates berufen ist.

    Auch in dieser Überlegung der Klägerinnen kann daher kein Argument gefunden werden zur Rechtfertigung ihres Anspruchs auf Frachtausgleich.

    3. Die Zusicherungen des Gemeinsamen Büros und die späteren Schrottabrechnungen

    Nachdem geklärt ist, wie die Zulässigkeit des Frachtausgleichs vor dem Hintergrund des Vertrages und der allgemeinen Schrottentscheidungen zu beurteilen ist, müssen die einzelnen den Klägerinnen gegenüber ergangenen Akte untersucht werden, die Anlaß gegeben haben zu den vorliegenden Verfahren.

    a) Die Zusicherungen des Gemeinsamen Büros

    In allen Fällen soll den Klägerinnen vor deren Eintritt in die Kaufverträge vom Gemeinsamen Büro zugesichert worden sein, daß die Frachtmehrkosten vergütet würden.

    aa) Nachweis der Zusicherungen

    Die Hohe Behörde hat im schriftlichen Verfahren die Existenz der Zusicherungen in Zweifel gezogen (vgl. Klagebeantwortung, S. 7 und S. 12). Die Klägerinnen haben mit den Klagen Abschriften von Briefen vorgelegt, die den Nachweis für die Richtigkeit ihrer Behauptungen erbringen sollen. Es handelt sich im einzelnen um folgende Schreiben:

    (i)

    Rechtssache 19/60

    Brief der „Union des Consommateurs de Ferraille de France“ (d. h. des französischen Regionalbüros) an die Klägerin vom 9. Oktober 1958, in dem darum gebeten wird, „de compléter le modèle de commande … ainsi qu'il suit: ajouter: ‚le prix de 18480 francs pourra être amené à fr. 19950 FOR parité ferroviaire Dunkerque. — C'est ce dernier prix que nous vous demandons de nous facturer pour la péréquation et vous aurez à joindre à la facture un avoir de fr. 1470 par tonne correspondant à la différence entre ces deux prix’.“

    (ii)

    Rechtssache 21/60

    Brief der „Union des Consommateurs de Ferraille de France“ an das Gemeinsame Büro der Schrottverbraucher vom 24. Oktober 1958, in dem es heißt:

    „… Nous vous prions donc de bien vouloir faire connaître au fournisseur qu'il aura à majorer ses factures de l'équivalent en monnaie de règlement de $ 3,50 par tonne et à créditer, par avoir séparé, l'usine destinataire du même montant …“

    Brief des Gemeinsamen Büros an das französische Regionalbüro vom 27. Oktober 1958, in dem es heißt:

    „… Nous prions le vendeur, auquel nous adressons copie de la présente, de bien vouloir majorer ses factures à l'usine destinataire de fr. 1470 la tonne et d'en créditer, par avoir séparé, l'usine destinataire du même montant.“

    (iii)

    Rechtssache 2/61

    Brief des französischen Regionalbüros an das Gemeinsame Büro vom 10. Oktober 1958. Darin heißt es:

    „… Nous vous serions reconnaissants de bien vouloir nous indiquer, comme vous l'avez déjà fait antérieurement pour des ferrailles du Havre, attribuées à une usine du Nord, la parité de transport par rapport à Marseille dont il y a lieu de tenir compte dans la commande au fournisseur.“

    Brief des Gemeinsamen Büros an einen Schrottlieferanten vom 15. Oktober 1958, in dem es heißt:

    „En conséquence, nous désirons que le paragraphe ‚Prix’ de contrat soit modifié comme suit: …

    Au cas où l'UCFF demanderait l'expédition vers une usine de Centre-Sud, le prix à facturer serait de frf. 19530,— la tonne métrique base catégorie II FOR, équivalent de la parité Marseille.“

    Brief des französischen Regionalbüros an das Gemeinsame Büro vom 20. Oktober 1958, in dem es heißt:

    „… Nous avons pu en définitive obtenir l'accord des Forges du Creusot, d'une part, pour 1000 t et des Ets Marrel, d'autre part, pour 500 t sur l'attribution de ce contrat. Nous vous prions donc de bien vouloir faire aviser la Société de Démolitions Navales et Terrestres qu'elle aura à majorer le prix du contrat de l'équivalent de $ 2,50 par tonne et à créditer les usines attributaires du même montant à la tonne.“

    Brief des Gemeinsamen Büros an einen Schrottlieferanten vom 21. Oktober 1958, in dem es heißt:

    „… Nous vous prions de noter que vous devrez augmenter le montant de vos factures à ces dernières de frf. 1050,— la tonne, en créditant aux usines dont question le même montant à la tonne …“

    (iv)

    Rechtssache 3/61

    Brief des französischen Regionalbüros an das Gemeinsame Büro vom 20. Oktober 1958, in dem es heißt:

    „… Nous avons pu en définitive obtenir l'accord des Forges du Creusot, d'une part, pour 1000 t et des Ets Marrel, d'autre part, pour 500 t sur l'attribution de ce contrat. Nous vous prions donc de bien vouloir faire aviser la Société de Démolitions Navales et Terrestres qu'elle aura à majorer le prix du contrat de l'équivalent de $ 2,50 par tonne et à créditer les usines attributaires du même montant à la tonne.“

    Brief des Gemeinsamen Büros an einen Schrottlieferanten vom 21. Oktober 1958, in dem es heißt:

    „… Nous vous prions de noter que vous devrez augmenter le montant de vos factures à ces dernières de frf. 1050,— la tonne, en créditant aux usines dont question le même montant à la tonne …“

    Diese Briefe, deren Absender zum Teil erst in der mündlichen Verhandlung ermittelt werden konnten, sind nicht als Nachweis dafür geeignet, daß das Gemeinsame Büro den Klägerinnen vor deren Eintritt in die Kaufverträge Zusicherungen gemacht hat. Aus ihnen geht lediglich hervor, daß in den Fällen der Klagen 21/60, 2/61 und 3/61 auf die Initiative des französischen Regionalbüros vom Gemeinsamen Büro die Einbeziehung des Frachtausgleichs in den Preisausgleich veranlaßt worden ist.

    Dieser Umstand kann aber zunächst als Indiz für die Richtigkeit der klägerischen Behauptungen gewertet werden. Für die rechtliche Untersuchung mag daher unterstellt werden, daß das Gemeinsame Büro den Klägerinnen die Berücksichtigung der Frachtkosten zugesichert hat.

    bb) Rechtmäßigkeit der Zusicherungen

    Nach den vorhergehenden Feststellungen zur Zulässigkeit des Frachtausgleichs müssen diese Zusicherungen als inhaltlich vertragswidrig angesehen werden.

    Für die Entscheidung des Rechtsstreits ist aber auch ihre formelle Ordnungsmäßigkeit von Bedeutung. So bestreitet die Hohe Behörde die Legalität der Zusicherungen ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt der Zuständigkeit. Der Inhalt der vorgelegten Briefe wurde nicht vom Verwaltungsrat des Gemeinsamen Büros beschlossen und beruht auch nicht auf einer Entscheidung des Verwaltungsrates. Sie wurden vielmehr von der Direktion der Importabteilung abgefaßt und gezeichnet, die — so führt die Hohe Behörde aus — nach den Statuten des Büros zu verantwortlichen Entscheidungen nicht befugt ist. Es kann aber dahingestellt bleiben, wie im Innern des Gemeinsamen Büros die Zuständigkeiten verteilt waren, da sich die Frage der Kompetenz in einer einfacheren Form stellt.

    Nach den allgemeinen Grundentscheidungen zum Schrottausgleich (Nrn. 22/54, 14/55, 2/57) ist die Kasse das maßgebliche Exekutivorgan für hoheitliche Verfügungen (Festsetzung des Beitragssatzes, der Abrechnungsperioden, Einziehung der Beiträge, Festsetzung des Betrages, der den Unternehmen für die in den Preisausgleich übernommenen Schrottmengen vergütet wird). Das Gemeinsame Büro hat nur ein Vorschlagsrecht in gewissen Fällen sowie das Recht, Einkaufsverhandlungen zu führen oder selbst Kaufverträge abzuschließen. Demnach konnte kein Vertreter des Gemeinsamen Büros aus eigenem Recht verbindliche Zusagen machen, die den Preisausgleich betrafen.

    Bedeutsamer aber noch ist der folgende Umstand: Sowohl der Abschluß der Kaufverträge wie auch die Zusicherungen erfolgten nach den Angaben der Klägerinnen nicht vor September 1958. Zu dieser Zeit hatte die Hohe Behörde in Ausführung der Urteile 9/56 und 10/56 (Meroni gegen Hohe Behörde) die rechtliche Organisation des Schrottausgleichs umgestaltet und die im Urteil gerügte Übertragung von Befugnissen zurückgenommen. Nach der Entscheidung Nr. 13/58 vom 24. Juli 1958 (veröffentlicht im Amtsblatt vom 30. Juli 1958, S. 269 ff.) „nimmt die Hohe Behörde die Zuständigkeiten wahr, welche durch diese Entscheidungen auf die Ausgleichskasse und das Gemeinsame Büro übertragen worden waren; die Hohe Behörde kann die Ausgleichskasse oder jede geeignete Organisation mit der ausführenden Tätigkeit beauftragen“. Entsprechend bestimmt die Entscheidung der Hohen Behörde vom 24. Juli 1958 (Nr. 16/58, veröffentlicht am gleichen Ort) in Artikel 1:

    „1.   Es wird eine finanzielle Einrichtung für den Preisausgleich des aus dritten Ländern eingeführten Schrotts sowie zur Durchführung von Schrotteinsparungen geschaffen.

    2.   Die Verwaltung dieser Einrichtung wird von der Hohen Behörde wahrgenommen. Die Hohe Behörde erlaßt alle Entscheidungen, die zur Anwendung dieser Entscheidung erforderlich sind; sie kann ausführende Tätigkeiten auf eine geeignete Organisation übertragen.

    Artikel 11

    Die Hohe Behörde bestimmt:

    a)

    ob und in welchem Maße — unter Berücksichtigung der Marktlage — die Mengen

    des aus dritten Ländern eingeführten Schrotts,

    des Schrotts ähnlichen Charakters im Sinne des Artikels 10 Buchstabe c,

    in den Ausgleich aufgenommen werden;

    b)

    falls sie es für notwendig erachtet, den Höchstpreis für die unter a bezeichneten Mengen;

    c)

    den Ausgleichspreis; …

    Das durch die notarielle Urkunde vom 24. April 1953 eingerichtete Gemeinsame Büro der Schrottverbraucher oder jede andere von der Hohen Behörde anerkannte Organisation ist berechtigt, der Hohen Behörde zu all diesen Punkten Vorschläge zu unterbreiten.

    Artikel 12

    1.   Um Ausgleichszahlungen erhalten zu können, muß den in Artikel 2 aufgeführten Unternehmen vor dem Kauf eine Bestätigung darüber erteilt worden sein, daß die Mengen, deren Kauf beabsichtigt ist, nach den von der Hohen Behörde festgesetzten Bedingungen für den Ausgleich berücksichtigt werden.

    2.   …“

    Vergleichen wir die Entwicklung der Verteilung der Verantwortlichkeiten und der rechtlichen Befugnisse im Rahmen der Ausgleichseinrichtung, so wie sie sich in den einzelnen zitierten Entscheidungen niedergeschlagen hat, so müssen wir feststellen, daß die verwaltungsrechtlichen Kompetenzen der Kasse mehrfach geändert und daß sie ihr in der Entscheidung Nr. 13/58 entzogen wurden. Was das Büro angeht, so ist seine Tätigkeit nicht mehr als eine auxiliare und beratende, die die Vorbereitung kommerzieller Dispositionen bedeutet. Es ist bemerkenswert, daß es zu den Entscheidungen, die die Hohe Behörde sich vorbehalten hat, nur Vorschläge machen kann, die auch von anderen Organisationen entgegengenommen werden können und die der Regelung in Artikel 46 des Montanvertrages entsprechen. Hoheitliche Befugnisse, Befugnisse zu öffentlichrechtlichen Entscheidungen, wie sie die Hohe Behörde als Trägerin der Einrichtung seit dem 24. Juli 1958 und insbesondere im Stadium der Abwicklung der Einrichtung (vgl. die Entscheidungen Nr. 18/60 bis 21/60) allgemein und in Einzelfällen trifft, sind bei dem Gemeinsamen Büro nicht erkennbar. Gemessen an den damals geltenden Grundentscheidungen muß aber die Zulassung und Ablehnung des besonderen Frachtausgleichs dem Bereiche des hoheitlichen Ermessens zugeordnet werden.

    Somit entfällt jede Zuständigkeit des Gemeinsamen Büros zur Abgabe verbindlicher Erklärungen über die maßgeblichen Elemente des Preisausgleichs. Es ist allgemein anerkannt, daß Akten, die unter offensichtlicher Verletzung von Zuständigkeitsvorschriften ergehen, nicht nur die Rechtmäßigkeit abzusprechen ist, sondern daß sie als absolut nichtig, d. h. als Nicht-Akte, zu qualifizieren sind. Ich verweise

    für das französische Recht auf Waline „Droit administratif“, 7. Auflage, S. 386: „L'acte portant uniquement la signature d'une personne manifestement incompétente; acte signé d'un subalterne sans pouvoir de décision et non pourvu d'une délégation régulière“,

    für das deutsche Recht auf Forsthoff, „Lehrbuch des Verwaltungsrechts“, 6. Auflage, S. 201 und S. 207: „Die Offensichtlichkeit der Zuständigkeitsverfehlung berechtigt dazu, den Vertrauensschutz zu versagen. Sie macht den Verwaltungsakt nichtig. Die Nichtigkeit erfaßt damit alle Fälle grober Verletzung der sachlichen Zuständigkeit und entspricht sohin auch dem staatlichen Interesse“,

    für das niederländische Recht auf Stellinga „Grondtrekken van het Nederlands Administratief recht“, S. 205; van der Pot „Nederlands Bestuursrecht“, S. 206; Vegting „Administratiefrecht“, S. 251, S. 258; Kranenburg, Beel, Donner u. a. „Nederlands Bestuursrecht“ 1953 I, S. 234; Prof. A. M. Donner über „Administratiefrechtelijke Nulliteiten“ in der Zeitschrift „Bestuurswetenschappen“, November 1946, S. 18.

    Dieser Fall eines absolut nichtigen Aktes scheint mir hier vorzuliegen, weil das Gemeinsame Büro zu keiner Zeit hoheitliche Befugnisse im Schrottausgleich innegehabt hat. Seine Zusicherungen stellen demnach keine Verwaltungsakte dar, sondern geschäftliche Praktiken, die sich den Anschein von Verwaltungsakten gegeben haben.

    Die in der mündlichen Verhandlung von den Klägerinnen vorgetragene These, gutgläubige Dritte müßten bei Rechtsgeschäften eines Vertreters ohne Vertretungsmacht geschützt werden, so daß ihnen gegenüber der Mangel der Vertretungsmacht sich nicht auswirkt, kann nicht durchgreifen. Die Argumentation der Klägerinnen stützt sich ausschließlich auf das Zivilrecht, dessen Regeln im öffentlichen Recht nur unter Vorbehalt Anwendung finden. Ihre Ansprüche in diesem Annullierungsverfahren können aber nur beurteilt werden anhand des öffentlichen Rechts der Gemeinschaft, das sich aus dem Vertrage und aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen der nationalen Rechtsordnungen ergibt, wie sie vom Gerichtshof zu dem Recht der Gemeinschaft entwickelt werden ( 1 )).

    Da aber gesagt werden kann, daß das öffentliche nationale Recht den Begriff einer Rechtscheinsvollmacht für unbefugt handelnde Organe nicht kennt, braucht hier nicht untersucht zu werden, inwieweit die organisatorisch bedeutsamen Entscheidungen Nrn. 13/58 und 16/58 von den Klägerinnen und von der Leitung des französischen Regionalbüros gekannt und beachtet werden mußten und inwieweit die Kenntnis oder das Kennenmüssen die Berufung auf den guten Glauben ausschließt.

    b) Die einzelnen Klageanträge

    Im Lichte dieser Beurteilung sind die entscheidenden Elemente der einzelnen Verfahren zu betrachten.

    aa) Rechtssachen 19/60 und 21/60

    In den Rechtssachen 19/60 und 21/60 folgten auf die angeblichen Zusicherungen des Gemeinsamen Büros für den Frachtausgleich am 15. März 1960 die Schrottabrechnungen der Hohen Behörde, in denen ein Frachtkostenersatz nicht vorgesehen ist.

    Da die Zusicherungen des Gemeinsamen Büros verwaltungsrechtlich als nicht existente Akte anzusehen sind, stellt sich nicht die von den Klägerinnen aufgeworfene Frage nach der Zulässigkeit des Widerrufs rechtsbegründender Verwaltungsakte. Es ist vielmehr so, daß für die Entscheidung der Karenzklagen über die Zusicherungen ohne weiteres hinweggegangen werden kann.

    Andere Rechtsgrundlagen für die Ansprüche der Klägerinnen sind nicht zu erkennen. Insbesondere hat sich gezeigt, daß die Schrottabrechnungen der Hohen Behörde vom 15. März 1960 mit den Grundsatzentscheidungen und mit dem Vertrag im Einklang stehen. Demnach sind die Ansprüche der Klägerinnen unbegründet, was zur Abweisung ihrer Klagen führen muß.

    bb) Rechtssachen 2/61 und 3/61

    Hier ist die Lage insofern anders, als die Hohe Behörde selbst in jedem der Fälle zweimal in vorläufigen Abrechnungen den Frachtausgleich berücksichtigt hat (10. August 1959 und 10. Dezember 1959 sowie 14. August 1959 und 10. Dezember 1959) und erst in den letzten Abrechnungen von März 1960 ebenso wie in den Rechtssachen 19/60 und 21/60 den Frachtkostenersatz unterlassen hat. Die Klägerinnen sprechen angesichts dieses Verhaltens von einer Bestätigung der Zusagen des Gemeinsamen Büros durch die Hohe Behörde, die nach Ablauf einer angemessenen Frist nicht widerrufen werden könne.

    Die Anwendung der Prinzipien zum Widerruf von Verwaltungsakten hängt in erster Linie davon ab, ob man die Schrottabrechnungen der Hohen Behörde als rechtsbegründende Verwaltungsakte ansieht.

    Dagegen spricht ihre äußere Form, aber auch ihr Inhalt. Es handelt sich um formlose Mitteilungen an das französische Regionalbüro zur Änderung der laufenden Konten, die anscheinend gleichzeitig auch an die Unternehmen gerichtet wurden. Unterzeichnet sind sie von einem Direktor der Hohen Behörde. Sie enthalten den ausdrücklichen Hinweis, daß sie nur eine vorläufige Abrechnung bezwecken, und erinnern in ihrem Inhalt an Kontokorrentbescheide von Handelsunternehmen.

    Ganz sicher erscheint mir, daß die Annahme einer ausdrücklichen Bestätigung der Zusicherungen durch die Hohe Behörde ausgeschlossen sein muß, und zwar vor allem im Hinblick auf die Entscheidungen der Hohen Behörde über die Festsetzung des Ausgleichspreises Nr. 19/58 vom 22. Oktober 1958(Amtsblatt S. 473) sowie Nr. 15/59 vom 18. Februar 1959(Amtsblatt S. 209), die vor der „Bestätigung“ ergangen sind und in denen für den Schrott ähnlichen Charakters auf die Erfassungsstellen als maßgeblichen Ort für die Preisberechnung abgehoben wird. Daß die Hohe Behörde in den Schrottabrechnungen bewußt eine diskriminierende Regelung zugunsten der Klägerinnen einführen wollte, kann nicht vermutet werden.

    Die Berücksichtigung des Frachtausgleichs wird vielmehr auf einen Irrtum zurückzuführen sein, der sich erklärt aus der Vielzahl von Abrechnungen, welche die Hohe Behörde ab August 1958 selbst durchzuführen hatte. Sieht man die Abrechnungen nicht als Verwaltungsakte an, die einer Entscheidung der Hohen Behörde gleichgeachtet werden müssen — und diese Qualifizierung erscheint mir richtig —, dann entfällt für sie auch die Notwendigkeit eines an bestimmte Voraussetzungen gebundenen Widerrufs. Hält man dagegen die ersten Schrottabrechnungen für rechtsbegründende Verwaltungsakte der Hohen Behörde, dann ist evident, daß diese Akte mit Rechtsfehlern behaftet sind, die ihren Widerruf grundsätzlich rechtfertigen. Die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu dieser Frage ist ganz eindeutig, etwa im Urteil 7/56 (Algera u. a. gegen Gemeinsame Versammlung der EGKS), in dem der Widerruf innerhalb einer angemessenen Frist für zulässig erklärt wird, sowie im Urteil 15/60 ( 2 )), wo es heißt:

    „Ein Widerruf wegen Rechtswidrigkeit kann zwar in bestimmten Fällen mit Rücksicht auf wohlerworbene Rechte nicht ex tunc erfolgen, stets jedoch ex nunc.

    Die zuletzt zitierte Bemerkung macht deutlich, daß ein rückwirkender Widerruf nur in bestimmten Fällen, also nicht stets, ausgeschlossen ist. Auch das Urteil SNUPAT gegen Hohe Behörde (Rechtssachen 42/59 und 49/59) liegt auf dieser Linie. Es ging in diesem Verfahren um die Frage, ob Freistellungen vom Schrottausgleich, die bestimmten Unternehmen im Dezember 1957 gewährt worden waren und die sich als rechtswidrig erwiesen hatten, widerrufen werden können. Der Gerichtshof hat dazu festgestellt, daß eine Abwägung der öffentlichen Interessen gegen die auf dem Spiele stehenden privaten Interessen entscheidend sei. Wenn er u. a. erklärt: „Im übrigen lassen die Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten den rückwirkenden Widerruf stets dann zu, wenn der betreffende Verwaltungsakt auf falschen oder unvollständigen Angaben der Beteiligten beruhte“, so sollte damit der rückwirkende Widerruf m. E. nicht auf Fälle der erwähnten Art beschränkt werden. Vielmehr ist auch diese Frage im Rahmen der Interessenabwägung zu beantworten.

    Im vorliegenden Falle wären hierbei folgende Umstände zu berücksichtigen:

    Zwischen den ersten Schrottabrechnungen, die den Frachtausgleich berücksichtigen, und den Schrottabrechnungen vom 15. März 1960 liegt ein Zeitraum von etwa acht Monaten;

    die fehlerhaften Abrechnungen haben — anders als die Zusicherungen des Gemeinsamen Büros — nicht Anlaß gegeben zu geschäftlichen Dispositionen der Klägerinnen;

    alle Schrottabrechnungen hatten bisher nur vorläufigen Charakter;

    die nachträglichen Änderungen in den Abrechnungen betreffen Summen, die für die klagenden Unternehmen von ganz untergeordneter Bedeutung sind;

    nach der Übernahme der Ausgleichseinrichtung in die alleinige Kompetenz der Hohen Behörde war eine Fülle von Beschlüssen, Anordnungen und das Rechnungswerk der Brüsseler Organe zu überprüfen, was sich naturgemäß über einen längeren Zeitraum erstreckte;

    die Hohe Behörde handelt nicht im eigenen, fiskalischen Interesse, sondern im gemeinsamen Interesse der Gesamtheit der Schrottverbraucher.

    Würdigt man diese Gesichtspunkte insgesamt, so kann die Zulässigkeit des Widerrufs der ersten Schrottabrechnungen — seine Notwendigkeit unterstellt — auch nach Ablauf von acht Monaten nicht verneint werden.

    In jedem Falle war demnach die Hohe Behörde berechtigt, ihre früheren Irrtümer zu korrigieren und die Rückzahlung der Frachtausgleichsvergütungen anzuordnen.

    Da andere Mängel der Rückzahlungsbescheide nicht zu erkennen sind, müssen auch die gegen sie erhobenen Anfechtungsklagen als unbegründet abgewiesen werden.

    B — Die Schadensersatzklagen

    Für den Fall, daß sie mit ihren Hauptanträgen nicht durchkommen, haben die Klägerinnen Schadensersatzklagen eingereicht. Sie werden in den Klageschriften begründet mit der Behauptung, bei rechtzeitiger Mitteilung der „geänderten Auffassung zum Frachtausgleich“ durch die Hohe Behörde hätten die Klägerinnen keine Kaufverträge über Abwrackschrott, sondern solche über Importschrott, zu liefern im nächsten Seehafen, abgeschlossen und dadurch Frachtkosten gespart.

    In der Replik taucht, wenn auch nur in Form einer Andeutung, das zusätzliche Argument auf, die Hohe Behörde habe das fehlerhafte Arbeiten ihrer Hilfsorgane, die den Klägerinnen Zusicherungen gemacht haben, sei es ipso iure, sei es wegen unzulänglicher Kontrolle, zu vertreten. In der mündlichen Verhandlung wurde vor allem das zuletzt genannte Argument weiter ausgebaut.

    Es wird also zu prüfen sein, ob mit diesen Ausführungen die Voraussetzungen dargelegt sind, die nach Artikel 40 des Vertrages für die Zuerkennung eines Ersatzanspruches erfüllt sein müssen.

    I — Der Amts fehler

    Vor Eintritt in die Untersuchung ist darauf hinzuweisen, daß nur das Verhalten der Hohen Behörde vor Abschluß der Kaufverträge für die Begründung der Ersatzansprüche in Betracht kommt. Alle Argumente, die sich beziehen auf den Zeitraum, der vergangen ist bis zum Widerruf der angeblichen Zusicherungen durch die Hohe Behörde, können beiseite gelassen werden, weil sie ohne Bedeutung sind für die Entstehung des Schadens.

    Des weiteren ist hervorzuheben, daß nur die Verursachung eines Schadens durch den Abschluß der Kaufverträge ab September 1958 zu beurteilen ist. Schrottbezüge vor diesem Zeitpunkt und ihre Abrechnungen haben in der gegenwärtigen Untersuchung keinen Platz.

    Nach dieser Präzisierung ist zunächst zu prüfen, ob ein Amtsfehler der Hohen Behörde gegeben ist.

    1. Zum Vorwurf der unterlassenen Aufklärung

    Dieser Vorwurf ist zu sehen im Zusammenhang mit der Behauptung, in jahrelanger Praxis der Brüsseler Organe sei stets ein Frachtausgleich zugelassen worden. Für die rechtliche Untersuchung läßt er sich in folgender Weise formulieren: Durch das Verhalten der Hilfsorgane sei eine — möglicherweise unzulässige — Regelung eingeführt worden, auf deren Fortbestand sich die Klägerinnen bei ihren geschäftlichen Dispositionen so lange verlassen durften, bis die Hohe Behörde in unzweideutiger Weise durch die Entscheidung Nr. 18/60 die Rechtswidrigkeit der Regelung klargestellt und damit den Irrtum der Klägerinnen beseitigt hat.

    Es wird also darauf ankommen, ob die Hohe Behörde vor diesem Zeitpunkt nichts oder nicht genug getan hat, um das Vertrauen der Klägerinnen in die Rechtmäßigkeit der durch die Brüsseler Organe begründeten Praxis zu erschüttern oder zu beseitigen.

    Wir haben gesehen, daß zum ersten Male in der Entscheidung Nr. 34/56 der Standpunkt der Hohen Behörde zu den maßgeblichen Elementen des Preisausgleichs zum Ausdruck gekommen ist. Es hat sich gezeigt, daß bei einer vernünftigen Auslegung der Entscheidung nicht zweifelhaft sein konnte, welche Transportkosten und sonstigen Nebenkosten allein in den Preisausgleich einbezogen werden konnten. Schon diese Entscheidung, die im Amtsblatt veröffentlicht und damit den Klägerinnen zugänglich gemacht worden ist, war geeignet, deren Vertrauen in die Zulässigkeit des speziellen Frachtausgleichs schwer zu erschüttern und als relevante Basis für geschäftliche Dispositionen zu eliminieren.

    Bedeutsamer aber noch ist die spätere rechtliche Entwicklung, die eingeleitet wurde durch die sog. Meroni-Urteile (9/56 und 10/56). Sie enthalten die Feststellung:

    „Mehrere der Vorschläge, die das zuständige Büro nach dem oben zitierten Artikel 5 der Kasse vorzulegen hat, und zwar insbesondere die Festsetzung des ‚Höchsteinfuhrpreises’, des ‚Ausgleichspreises’, des ‚Schlüssels für die Errechnung der Ersparnisse an Schrott’ und der ‚Höhe der Prämie, die für diese Ersparnisse gewährt wird’, sind im Ergebnis keine bloßen Rechenoperationen, die sich auf objektive, von der Hohen Behörde festgesetzte Tatbestandsmerkmale stützen würden. Sie setzen vielmehr einen weiten Bewertungsspielraum voraus und gehören daher als solche in den Bereich der Ermessensentscheidungen, die das Ziel verfolgen, die vielfältigen Erfordernisse einer komplexen Wirtschaftspolitik miteinander in Einklang zu bringen.“

    Mit Rücksicht auf diese Erkenntnis wurde die damals geltende Ordnung des Schrottausgleichs für unzulässig erklärt. Die Folge war, daß die Hohe Behörde die allgemeinen Entscheidungen Nrn. 13/58 und 16/58 erließ, die eine umwälzende Neugestaltung der Ausgleichseinrichtung bewirkten und damit im Ausgleichssystem die wichtigste Zäsur seit dem Erlaß der Entscheidung Nr. 22/54 darstellen. Mit einem Federstrich wurden die Brüsseler Organe aller Ausgleichsbefugnisse entkleidet; die Hohe Behörde behielt sich lediglich vor, ihnen zu einem späteren Zeitpunkt rein ausführende Tätigkeiten zu übertragen. Auch diese Entscheidungen wurden — ebenso wie das Meroni-Urteil — im Amtsblatt veröffentlicht. Den beteiligten Kreisen waren also die Umstände der Organisationsänderung im Schrottausgleich wohl bekannt, wurde doch gerade durch das Meroni-Verfahren das allgemeine Interesse in besonderem Maße angesprochen.

    Von diesem Zeitpunkt an konnte niemand davon ausgehen, daß in der Fortführung des Ausgleichs alles beim alten bleiben werde. Mochten die Praktiken der Brüsseler Organe für die am Ausgleich Beteiligten Rückschlüsse zugelassen haben, wie sich die Brüsseler Organe in einem bestimmten Falle verhalten würden, so konnten sie doch von Juli 1958 an keine Bedeutung mehr haben für die Frage, wie die Hohe Behörde den Ausgleich handhaben würde.

    Daraus folgt: Die grundlegende Änderung des Ausgleichssystems im Jahre 1958 war als solche geeignet, allen bis dahin aus der Praxis des Ausgleichs abgeleiteten Erfahrungssätzen den Boden zu entziehen. Es stellt sich also gar nicht die Frage, ob die Hohe Behörde zum sofortigen Erlaß detaillierter Entscheidungen zu allen Einzelfragen, insbesondere zum Problem des Frachtausgleichs, verpflichtet War, um geschäftliche Dispositionen der Schrottverbraucher auf der Basis der bis dahin geltenden Regelungen zu verhindern. Sie müßte überdies verneint werden, weil die sich aus der Rücknahme der entscheidenden Befugnisse ergebende Arbeitsfülle eine alsbaldige Ordnung aller Einzelfragen unmöglich machte. Demnach kann festgestellt werden, daß die unterlassene Unterrichtung der Klägerinnen durch die Hohe Behörde vor dem Abschluß ihrer Kaufverträge den Vorwurf eines Amtsfehlers nicht begründet.

    2. Zum Vorwurf der mangelhaften Arbeitsweise der Brüsseler Organe

    Dieser Vorwurf bezieht sich auf die unzulässige Abgabe der Zusicherungen durch das Gemeinsame Büro im September 1958, nicht dagegen auf die frühere rechtswidrige Praxis der Brüsseler Organe, da diese, wie gezeigt, nach dem Erlaß der Entscheidungen Nr. 13/58 und Nr. 16/58 als Schadensursache außer Betracht bleiben kann.

    Wurde für die Anfechtungs- und Karenzklagen unterstellt, daß die Zusicherungen tatsächlich gegeben worden sind, so scheint es für die Prüfung des Amtsfehlers, wenn eine Entscheidung nicht aus anderen Gründen möglich ist, unerläßlich, im einzelnen festzustellen, ob die Zusicherungen gegenüber den Klägerinnen vor Abschluß der Kaufverträge und in bestimmter Form gemacht worden waren. Davon könnte nicht nur die Beurteilung der Schuldfrage, sondern auch die der Kausalfrage abhängen.

    In der mündlichen Verhandlung haben die Klägerinnen zur Stützung ihres Vorwurfs vor allem hingewiesen auf das Verfahren 23/59 (FERAM gegen Hohe Behörde), in dem die Hohe Behörde erklärt hat: „[sie] bestreite nicht, daß sie für Amtsfehler der Brüsseler Organe verantwortlich sei“, sowie auf das Urteil in den Verfahren 14/60 und 16/60 (Meroni u. a. gegen Hohe Behörde), in dem der Gerichtshof festgestellt hat:

    „… so ist gleichwohl noch zu prüfen, ob nicht diese Irrtümer durch eine einwandfreie Verwaltungsführung hätten vermieden werden können: Diese Irrtümer könnten nämlich deutlich machen, daß ein Amtsfehler der Hohen Behörde oder, was auf das gleiche hinauskäme, der Brüsseler Organe vorliegt.“

    Es versteht sich, daß die zuerst erwähnten Rechtsausführungen der Hohen Behörde für den Gerichtshof eine maßgebliche Richtschnur nicht abgeben. — Was aber das Urteil 14/60 angeht, so habe ich ernste Zweifel, ob die beiläufige Bemerkung des Gerichtshofes, auf der die Entscheidung des Prozesses nicht beruht, für eine Rechtsfrage von großer Bedeutung eine verbindliche Jurisprudenz begründen kann. Zumindest ließe sich sagen, daß die Ansicht des Gerichtshofes sehr weitgehend ist, wenn sie gleichsetzt das Verschulden von Bediensteten der Hohen Behörde und das Verschulden von Hilfsorganen, obwohl doch diese im allgemeinen dem Einfluß der Hohen Behörde nur in geringerem Umfang unterstehen. Diese Gleichstellung birgt die Gefahr in sich, daß die Hohe Behörde für die Ausübung der Aufsicht, Kontrolle und Revision zu einem erhöhten personellen und sachlichen Aufwand gezwungen wird oder aber daß die Hohe Behörde unter Verzicht auf die Inanspruchnahme geeigneter Organisationen oder Institute zur Übernahme von Aufgaben sich veranlaßt sieht, die ihrer Natur nach außerhalb ihrer Verwaltung als Auftragsangelegenheit erledigt werden könnten. In beiden Fällen würde dem Grundgedanken von Artikel 5 („… und greift in die Erzeugung und den Markt nur dann direkt ein, wenn es die Umstände erfordern; … Die Organe der Gemeinschaft erledigen diese Aufgaben mit einem möglichst kleinen Verwaltungsapparat in enger Zusammenarbeit mit den Beteiligten“) und Artikel 57 („… bedient sich die Hohe Behörde vorzugsweise der ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten indirekter Maßnahmen“) zuwidergehandelt. Die Möglichkeiten rationeller, wirksamer und billiger Verwaltung würden eingeschränkt und die Eingriffe in den natürlichen Ablauf der Wirtschaft verstärkt.

    Gleichgültig aber, wie man zu dieser Rechtsmeinung steht, sie kann im vorliegenden Fall ohnehin nicht durchgreifen.

    Die Zusicherungen, die den Eintritt in die vom Gemeinsamen Büro ausgehandelten Kaufverträge veranlaßt haben, sollen im September 1958 abgegeben worden sein. Eine Untersuchung der maßgeblichen Entscheidungen hat gezeigt, daß zu dieser Zeit das Gemeinsame Büro an der Wahrnehmung von Aufgaben im Schrottausgleich überhaupt nicht mehr beteiligt war. Nicht einmal bei der Kasse (dem früher mit hoheitlichen Kompetenzen ausgestatteten Organ), geschweige denn beim Büro, waren irgendwelche Befugnisse für den Schrottausgleich verblieben. Erst in der Entscheidung Nr. 29/58 vom 19. November 1958(Amtsblatt S. 519) wurden auf die Kasse gewisse untergeordnete Vollzugstätigkeiten übertragen, die sich bezogen auf die Abwicklung des Schrottausgleichs für die Zeit vor dessen Umgestaltung. Das Gemeinsame Büro ist in der Entscheidung Nr. 16/58 nur erwähnt als eine Organisation, die der Hohen Behörde Vorschläge unterbreiten, also Handlungen vornehmen kann, die jedem Unternehmen freistehen, weil sie unverbindlich sind. — Auch die zu der fraglichen Zeit maßgeblichen Statuten des Gemeinsamen Büros, die unter Mitwirkung sämtlicher Klägerinnen beschlossen worden waren, sind in dieser Hinsicht eindeutig ( 3 ). So hat es die Generalversammlung vom 31. Juli 1958 abgelehnt, den Artikel 3 Ziffer 4 der Satzung durch die Aufnahme des folgenden Satzes zu ändern:

    „De remplir les missions qui lui seront assignées par les décisions de la Haute Autorité de la Communauté européenne du charbon et de l'acier, dans le domaine de l'approvisionnement en ferraille.“

    In der Generalversammlung vom 28. August 1958 wurde beschlossen, dem Artikel 3 der Satzung ohne inhaltliche Änderung folgende Fassung zu geben:

    „La Société a pour objet:

    1o

    D'étudier toutes les questions intéressant le marché de ferraille à l'intérieur et à l'extérieur de la Communauté.

    2o

    De centraliser la documentation relative aux besoins des consommateurs de ferraille, aux ressources en provenance de la Communauté et aux possibilités d'importations en provenance des pays tiers.

    3o

    D'établir sur les données ainsi recuillies le bilan des besoins et des ressources en provenance de la Communauté et de déterminer les tonnages à importer des pays tiers et les achats de ferrailles assimilées.

    4o

    Dans le cadre des décisions éventuelles prises par la Haute Autorité dans le domaine de la ferraille, de remplir les missions qu'elle accepte et de faire toutes propositions à la Haute Autorité.

    5o

    De négocier les achats pour le compte commun, la passation et la réalisation des contrats correspondants devant être assurées par les consommateurs intéressés.

    6o

    De conclure, en cas de nécessité, des contrats directs d'achat pour le compte de consommateurs à désigner ultérieurement.

    7o

    D'exercer, en outre, toutes autres activités correspondant aux buts ci-dessus indiqués et conformes aux dispositions du Traité instituant la Comunauté européenne du charbon et de l'acier.

    8o

    De représenter auprès de la Haute Autorité les intérêts des consommateurs de ferraille et de lui soumettre toutes suggestions utiles.

    9o

    De procéder à toutes opérations financières, mobilières et immobilières nécessaires à la réalisation de son objet.“

    Darüber hinaus wurde der Beschluß gefaßt, die zu Artikel 11 vorgeschlagene Änderung:

    „Première proposition de rédaction:

    Un délégué de la Haute Autorité pourra, sur la demande, soit de la Haute Autorité, soit du Conseil de l'Office commun des Consommateurs de ferraille, assister à toutes séances du conseil où il apparaîtrait souhaitable de procéder à des échanges de vues. Deuxième proposition de rédaction:

    Sur invitation du président, un observateur de la Haute Autorité pourra assister à titre consultatif aux réunions du conseil.“

    nicht anzunehmen, vielmehr Artikel 11 zu streichen.

    War demnach das Gemeinsame Büro im September 1958 mit keiner maßgeblichen Funktion am hoheitlichen Schrottausgleich beteiligt, so konnte es auch nicht als Hilfsorgan der Hohen Behörde bei der Ausübung ihrer Amtstätigkeit gelten. Die Anmaßung hoheitlicher Befugnisse durch die Abgabe von Zusicherungen für den Frachtausgleich, die als solche nach den Entscheidungen Nr. 13/58 und Nr. 16/58 offenkundig sein mußte, stellt daher nicht einen Amtsfehler dar, für den die Hohe Behörde einzustehen hat. Ob diese Handlungen eine Ersatzpflicht des Gemeinsamen Büros als privatrechtlicher Genossenschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit auslösen, kann hier dahingestellt bleiben.

    3. Unter keinem Aspekt ist somit in den vorliegenden Verfahren ein Amtsfehler der Hohen Behörde zu erkennen.

    Wollte der Gerichtshof dieser Auffassung nicht folgen, so könnte er doch nicht umhin, ein Mitverschulden der Klägerinnen zu erwägen, die sich auch nach der Veröffentlichung der Organisationsentscheidungen vom 24. Juli 1958 in ihren geschäftlichen Dispositionen darauf verlassen haben, die Hohe Behörde würde wesentliche Ermessensentscheidungen in gleicher Weise treffen, wie sie von den Brüsseler Organen erlassen worden waren. Wenn sie in Kenntnis oder schuldhafter Unkenntnis der Rechtslage davon ausgingen, daß in den Einzelheiten der Durchführung des Schrottausgleichs keine Veränderungen eintreten würden, dann haben sie sich die Folgen dieses Verhaltens, wenigstens teilweise, selbst zuzurechnen.

    II — Schadensnachweis

    Der Vollständigkeit halber — eine rechtliche Notwendigkeit besteht nach den Ausführungen zur Frage des Amtsfehlers nicht — seien noch einige Worte zum Schadensnachweis gesagt. Die entscheidende Frage lautet hier: Hatten die Klägerinnen die Möglichkeit gehabt, Importschrott zu günstigeren Bedingungen zu beziehen und dadurch Frachtkosten zu sparen, die mit dem Einkauf von Abwrackschrott verbunden sind, und hätten sie vom Einkauf des Abwrackschrotts in jedem Falle bei Verweigerung des Frachtausgleichs abgesehen?

    Was den zweiten Teil der Frage angeht, so scheint mir gegenwärtig eine eindeutige Antwort nicht möglich, weil feststeht, daß die Wahl des einzukaufenden Schrotts nicht nur vom Preis frei Werk, sondern auch von anderen Umständen (Qualität, langjährige Geschäftsbeziehungen, Devisengenehmigungen usw.) abhing.

    Im übrigen haben die Klägerinnen zum Nachweis einer Schädigung hingewiesen auf jährliche Statistiken über Schrotteinfuhren, Schrottbedarf und Lagerhaltung und daraus den Schluß gezogen, daß sie jederzeit auf Importschrott zurückgreifen konnten. Die Hohe Behörde unterstrich demgegenüber, eine unbeschränkte Schrotteinfuhr aus den USA sei nicht möglich gewesen, weil andernfalls mit Exportrestriktionen hätte gerechnet werden müssen. — Wenn auch einzuräumen ist, daß die von den Klägerinnen gelieferten Zahlen eine gewisse Vermutung für die Richtigkeit ihrer Schadensbehauptung begründen, so ist ein sicherer Nachweis damit noch nicht gegeben. Es muß nämlich nicht nur erwiesen sein, daß die allgemeine Schrottmarktlage Importe ermöglicht hätte, sondern auch, daß die Disponibilitäten des gemeinsamen Einkaufs gerade den Klägerinnen den Bezug von Importschrott über frachtgünstig gelegene Häfen gestattet hätten. — In rechtlicher Hinsicht ist zu berücksichtigen, daß nicht jede beliebige Menge Importschrott in den Ausgleich einbezogen werden konnte. Nach den maßgeblichen Schrottentscheidungen bestimmte die Kasse (später die Hohe Behörde) die Mengen des aus dritten Ländern eingeführten Schrotts oder des Schrotts ähnlichen Charakters, für die ein Preisausgleich gewährt werden kann, und die Bedingungen, an welche die Gewährung des Preisausgleichs gebunden ist (Verwendungsprioritäten in bestimmten Gebieten der Gemeinschaft).

    Es ist bekannt, daß beim gemeinsamen Einkauf durch die Brüsseler Organe dem Abwrackschrott im Interesse der Abwrackbetriebe der Gemeinschaft, aber auch aus Qualitätsgründen eine tatsächliche und rechtliche Vorrangstellung eingeräumt worden ist. Die Zulässigkeit dieser Politik wird von den Klägerinnen nicht angezweifelt. Für die Beurteilung ihres Anspruchs wäre also auch der Nachweis erforderlich, daß ihnen aus rechtlichen Gründen (etwa im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot) der Bezug von verbilligtem Importschrott in jedem Fall hätte ermöglicht werden müssen.

    Nach den wenig substantiierten Darlegungen der Klägerinnen und mangels geeigneter Beweisangebote ist nicht erkennbar, daß dieser Nachweis in jeder Hinsicht geführt werden könnte.

    III —

    Faßt man die Erwägungen zu den Amtshaftungsklagen zusammen, so muß zwar gesagt werden, daß das Verhalten des Gemeinsamen Büros nicht frei ist von Elementen, die auf einen Fehler hindeuten. Die Abwägung aller Umstände erlaubt aber nicht, von einem Amtsfehler der Hohen Behörde zu sprechen, der diese zum Ausgleich des angeblich erlittenen Schadens verpflichtet. Sollte der Gerichtshof in dieser Frage einen anderen Standpunkt einnehmen, dann wäre m. E. für die endgültige Entscheidung der Amtshaftungsklagen eine Beweisaufnahme notwendig zur Klärung der Kausalfragen und zur Ermittlung des Schadensumfangs.

    C — Zusammenfassung

    Ich schlage dem Gerichtshof vor, den Eventualdarlegungen, die ich vorgetragen habe, nicht zu folgen, vielmehr die Klagen 19/60 und 21/60 sowie 2/61 und 3/61 mit allen ihren Anträgen als unbegründet abzuweisen und den Klägerinnen die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,


    (

    1

    )

    Vgl. Urteil in der Rechtssache

    1/55,

    RsprGH

    II d 29;

     

    7/56,

    "

    III d 118 u. 127;

     

    8/57,

    "

    IV d 257;

     

    32 u, 33/58,

    "

    V d 313;

     

    42 u. 49/59,

    "

    VII d 173;

     

    6/60,

    "

    VI d 1188.

    ( 2 ) RsprGH VII d 259.

    ( 3 ) Anlage zum „Moniteur Belge“ vom 24. August 1958, S. 2309 ff und Anlage zum „Moniteur Belge“ vom 18. September 1958, S. 2937 ff.

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