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Document 62023CJ0196

    Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 11. Juli 2024.
    CL u. a. gegen DB und Fondo de Garantía Salarial (FOGASA).
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 98/59/EG – Massenentlassungen – Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und Art. 2 – Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter – Anwendungsbereich – Beendigungen von Arbeitsverträgen aufgrund des Eintritts des Arbeitgebers in den Ruhestand – Art. 27 und 30 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
    Rechtssache C-196/23.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:596

    Rechtssache C‑196/23

    C. L. u. a.

    gegen

    DB in ihrer Eigenschaft als Alleinerbin von FC

    (Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Superior de Justicia de Cataluña)

    Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 11. Juli 2024

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 98/59/EG – Massenentlassungen – Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und Art. 2 – Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter – Anwendungsbereich – Beendigungen von Arbeitsverträgen aufgrund des Eintritts des Arbeitgebers in den Ruhestand – Art. 27 und 30 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“

    1. Sozialpolitik – Rechtsangleichung – Massenentlassungen – Richtlinie 98/59 – Pflichten zur Information und Konsultation der Arbeitnehmer – Beendigung von Arbeitsverträgen aufgrund des Eintritts des Arbeitgebers in den Ruhestand – Nationale Regelung, die solche Beendigungen nicht als Massenentlassung einstuft – Unzulässigkeit

      (Richtlinie 98/59 des Rates, zweiter Erwägungsgrund und Art. 1 Abs. 1 und 2)

      (vgl. Rn. 24-26, 28-39, Tenor 1)

    2. Sozialpolitik – Rechtsangleichung – Massenentlassungen – Richtlinie 98/59 – Pflicht zur Information und Konsultation der Arbeitnehmer – Beendigung von Arbeitsverträgen aufgrund des Eintritts des Arbeitgebers in den Ruhestand – Nationale Regelung, die solche Beendigungen nicht als Massenentlassung einstuft – Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung – Grenzen – Mit dem Unionsrecht unvereinbare nationale Regelung – Rechtsstreit zwischen Privaten – Pflicht des nationalen Gerichts, die fragliche Regelung unangewendet zu lassen – Fehlen

      (Richtlinie 98/59 des Rates, Art. 1 Abs. 1 und 2)

      (vgl. Rn. 41-43, 46, 47, 57, Tenor 2)

    3. Grundrechte – Charta der Grundrechte – Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen – Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung – Möglichkeit der Geltendmachung in einem Rechtsstreit zwischen Privaten, um die Anwendung einer mit der Richtlinie 98/59 nicht vereinbaren nationalen Bestimmung auszuschließen – Ausschluss

      (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 27 und 30; Richtlinie 98/59 des Rates, Art. 1 Abs. 1 und 2)

      (vgl. Rn. 49-56)

    Zusammenfassung

    Der mit einem Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Superior de Justicia de Cataluña (Obergericht Katalonien, Spanien) befasste Gerichtshof entwickelt seine Rechtsprechung zu Massenentlassungen weiter und stellt klar, dass die Bestimmungen der Richtlinie 98/59 ( 1 ) für einen Arbeitgeber, der in den Ruhestand tritt, gelten. Dieser muss daher den Pflichten zur Information und Konsultation der Arbeitnehmer nachkommen, die bezwecken, Beendigungen von Arbeitsverträgen zu vermeiden, ihre Zahl zu verringern oder jedenfalls ihre Folgen zu mildern.

    Im vorliegenden Fall waren die Klägerinnen in einem der Betriebe des Unternehmens von FC beschäftigt. Am 17. Juni 2020 teilte ihnen dieser mit, dass ihre Arbeitsverträge aufgrund seines Eintritts in den Ruhestand mit Wirkung vom 17. Juli 2020 beendet würden. Der Eintritt in den Ruhestand führte zur Beendigung der laufenden 54 Arbeitsverträge, darunter die acht Verträge der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens.

    Diese erhoben daraufhin eine Klage gegen FC, um ihre Entlassung anzufechten, die sie für rechtswidrig halten. Nachdem die Klage abgewiesen worden war, legten sie ein Rechtsmittel beim Tribunal Superior de Justicia de Cataluña (Obergericht Katalonien, Spanien) ein, das u. a. darüber zu befinden hat, ob die Beendigungen der Arbeitsverträge der Klägerinnen im Ausgangsverfahren als nichtige Entlassungen anzusehen sind, weil es kein Verfahren zur Konsultation der Arbeitnehmervertreter gemäß dem nationalen Arbeitnehmerstatut ( 2 ) gegeben hat, obwohl diese Beendigungen durch den Eintritt von FC in den Ruhestand verursacht wurden.

    Das Gericht wirft die Frage auf, ob es mit der Richtlinie 98/59 vereinbar ist, dass in diesem Statut für Fälle, in denen aufgrund des Eintritts eines Arbeitgebers in den Ruhestand Arbeitsverträge einer Zahl von Arbeitnehmern beendet werden, die die in Art. 1 dieser Richtlinie vorgesehene übersteigt, kein Konsultationsverfahren vorgesehen ist, und ob sich, wenn dies nicht der Fall ist, die betroffenen Arbeitnehmer gegenüber ihrem Arbeitgeber, einer natürlichen Person, auf die Richtlinie berufen können, obwohl diese nicht ordnungsgemäß in innerstaatliches Recht umgesetzt wurde.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    Erstens weist der Gerichtshof im Zusammenhang mit der Frage, ob das in der Richtlinie 98/59 vorgesehene Konsultations- und Informationsverfahren anzuwenden ist, wenn die in Rede stehende Beendigung von Arbeitsverträgen durch den Eintritt eines Arbeitgebers in den Ruhestand verursacht wird, zunächst darauf hin, dass der Begriff „Entlassung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie insbesondere nicht verlangt, dass die Gründe, auf denen die Beendigung des Arbeitsvertrags beruht, dem Willen des Arbeitgebers entsprechen, und dass die Anwendung der Richtlinie auf eine Beendigung des Arbeitsvertrags nicht allein deshalb ausgeschlossen ist, weil diese von Umständen abhängt, die außerhalb des Willens des Arbeitgebers liegen.

    Außerdem kann selbst in Fällen, in denen die endgültige Einstellung der Tätigkeit des Unternehmens nicht vom Willen des Arbeitgebers abhängt und sich herausstellt, dass die vollständige Anwendung der Richtlinie 98/59 nicht möglich ist, die Anwendung der Richtlinie nicht insgesamt ausgeschlossen werden. Nach Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie sollen die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter nicht nur Massenentlassungen beschränken oder vermeiden, sondern sich u. a. auch auf die Möglichkeit erstrecken, die Folgen solcher Entlassungen durch soziale Begleitmaßnahmen, die insbesondere Hilfen für eine anderweitige Verwendung oder Umschulung der entlassenen Arbeitnehmer zum Ziel haben, zu mildern. Diese Konsultationen bleiben daher relevant, wenn die beabsichtigten Beendigungen der Arbeitsverträge mit dem Eintritt des Arbeitgebers in den Ruhestand zusammenhängen.

    In diesem Zusammenhang führt der Gerichtshof weiter aus, dass die Besonderheiten, die den Fall kennzeichnen, dass der Arbeitgeber, eine natürliche Person, verstorben ist ( 3 ) – es also weder eine Entscheidung gibt, die Arbeitsverträge zu kündigen, noch die Absicht besteht, eine solche Kündigung vorzunehmen, noch der betreffende Arbeitgeber die Möglichkeit hat, die in der Richtlinie 98/59 vorgesehenen Handlungen der Konsultation und Information vorzunehmen –, nicht gegeben sind, wenn die Beendigung der Arbeitsverträge darauf zurückzuführen ist, dass ein solcher Arbeitgeber in den Ruhestand tritt. In diesem letzteren Fall ist der Arbeitgeber, der solche Beendigungen von Arbeitsverträgen im Hinblick auf seinen Eintritt in den Ruhestand beabsichtigt, nämlich grundsätzlich in der Lage, Konsultationen durchzuführen, um insbesondere die Beendigungen zu vermeiden, ihre Zahl zu verringern oder jedenfalls ihre Folgen abzumildern.

    Die Beendigung der Arbeitsverträge einer Zahl von Arbeitnehmern, die die in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 98/59 vorgesehene übersteigt, aufgrund des Eintritts des Arbeitgebers in den Ruhestand fällt folglich unter den Begriff „Massenentlassung“ im Sinne der Richtlinie und muss zu der in Art. 2 der Richtlinie vorgesehenen Konsultation und Information führen.

    Zweitens verneint der Gerichtshof die Frage, ob ein mit einem Rechtsstreit zwischen Privaten befasstes nationales Gericht eine solche nationale Regelung aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit den genannten Bestimmungen der Richtlinie 98/59 unangewendet lassen muss.

    Insoweit weist er darauf hin, dass eine Richtlinie – auch wenn sie nicht oder unrichtig umgesetzt wurde – nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist.

    Dasselbe gilt für die vom vorlegenden Gericht genannten Art. 27 ( 4 ) und 30 ( 5 ) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). Denn aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen geht klar hervor, dass sie, damit sie ihre volle Wirksamkeit entfalten, durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden müssen. Regelungen wie die in Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der Richtlinie 98/59 enthaltenen – die an die Mitgliedstaaten gerichtet sind und die Fälle, in denen bei der Massenentlassung von Arbeitnehmern ein Verfahren zur Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter durchzuführen ist, sowie die materiellen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen festlegen, denen diese Information und Konsultation genügen muss – lassen sich jedoch nicht als unmittelbar anwendbare Rechtsnormen aus dem Wortlaut der Art. 27 und 30 der Charta herleiten. Außerdem kann, da diese Artikel der Charta für sich allein nicht ausreichen, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das dieser als solches geltend machen kann, bei einer Zusammenschau mit den betreffenden Artikeln der Richtlinie 98/59 nichts anderes gelten.

    Daher können die Art. 27 und 30 der Charta als solche oder in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der Richtlinie 98/59 in einem Rechtsstreit zwischen Privaten wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht geltend gemacht werden, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass nationale Bestimmungen, die mit diesen Bestimmungen der Richtlinie unvereinbar sind, unangewendet zu lassen sind.


    ( 1 ) Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. 1998, L 225, S. 16).

    ( 2 ) Art. 51 des Estatuto de los Trabajadores (Arbeitnehmerstatut) in der Fassung des Real Decreto legislativo 2/2015, por el que se aprueba el texto refundido de la Ley del Estatuto de los Trabajadores (Königliches gesetzesvertretendes Dekret 2/2015 zur Billigung der Neufassung des Gesetzes über das Arbeitnehmerstatut) vom 23. Oktober 2015 (BOE Nr. 255 vom 24. Oktober 2015, S. 100224) (im Folgenden: Arbeitnehmerstatut).

    ( 3 ) Dieser Fall lag dem Urteil vom 10. Dezember 2009, Rodríguez Mayor u. a. (C‑323/08, EU:C:2009:770), zugrunde, das ebenfalls Bestimmungen des Arbeitnehmerstatuts betraf.

    ( 4 ) Nach diesem Artikel („Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen“) muss für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf verschiedenen Ebenen eine Unterrichtung und Anhörung in den Fällen und unter den Voraussetzungen gewährleistet sein, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind.

    ( 5 ) Nach diesem Artikel („Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung“) hat jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung.

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