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Document 62022CJ0148

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 28. November 2023.
    OP gegen Commune d'Ans.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2000/78/EG – Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Verbot von Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung – Staatlicher Sektor – Arbeitsordnung einer öffentlichen Verwaltung, die das sichtbare Tragen weltanschaulicher oder religiöser Zeichen am Arbeitsplatz verbietet – Islamisches Kopftuch – Erfordernis der Neutralität im Umgang mit dem Publikum, den Vorgesetzten und den Kollegen.
    Rechtssache C-148/22.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:924

    Rechtssache C‑148/22

    OP

    gegen

    Commune d‘Ans

    (Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal du travail de Liège)

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 28. November 2023

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2000/78/EG – Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Verbot von Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung – Staatlicher Sektor – Arbeitsordnung einer öffentlichen Verwaltung, die das sichtbare Tragen weltanschaulicher oder religiöser Zeichen am Arbeitsplatz verbietet – Islamisches Kopftuch – Erfordernis der Neutralität im Umgang mit dem Publikum, den Vorgesetzten und den Kollegen“

    1. Sozialpolitik – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Richtlinie 2000/78 – Geltungsbereich – Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen – Begriff – Interne Regel einer Gemeindeverwaltung, die deren Personal das sichtbare Tragen weltanschaulicher Zeichen am Arbeitsplatz verbietet – Einbeziehung

      (Richtlinie 2000/78 des Rates, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c)

      (vgl. Rn. 23)

    2. Sozialpolitik – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Richtlinie 2000/78 – Verbot der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung – Interne Regel einer Gemeindeverwaltung, die deren Personal allgemein und undifferenziert das sichtbare Tragen weltanschaulicher Zeichen am Arbeitsplatz verbietet – Keine unmittelbare Diskriminierung – Mögliche mittelbare Diskriminierung – Rechtfertigung mit der Verfolgung eines rechtmäßigen Ziels – Wille des Arbeitgebers, eine Politik der exklusiven Neutralität am Arbeitsplatz zu verfolgen – Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Überprüfung durch das nationale Gericht

      (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 10 und 21; Richtlinie 2000/78 des Rates, Art. 2 Abs. 2)

      (vgl. Rn. 25, 27-30, 32-41 und Tenor)

    Zusammenfassung

    OP bekleidet seit dem 11. Oktober 2016 die Stelle einer „Büroleiterin“ in der Gemeinde Ans (Belgien). Im Rahmen dieser Tätigkeit kommt sie grundsätzlich nicht in Kontakt mit Personen, die die öffentlichen Dienstleistungen in Anspruch nehmen.

    Am 8. Februar 2021 beantragte sie, am Arbeitsplatz das islamische Kopftuch tragen zu dürfen. Dieser Antrag wurde von ihrem Arbeitgeber vorläufig abgelehnt.

    In der Folge änderte der Gemeinderat die Arbeitsordnung der Gemeinde Ans und führte eine Verpflichtung zur „exklusiven Neutralität“ am Arbeitsplatz ein, die dahin verstanden wird, dass es allen Gemeindebediensteten verboten ist, am Arbeitsplatz irgendein sichtbares Zeichen zu tragen, das ihre u. a. religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen erkennen lässt, und zwar unabhängig davon, ob sie Publikumskontakt haben oder nicht.

    Da OP der Ansicht war, wegen ihrer Religion diskriminiert worden zu sein, erhob sie beim Tribunal du travail de Liège (Arbeitsgericht Lüttich, Belgien) eine Unterlassungsklage.

    Dieses Gericht hält das Verbot des Tragens des islamischen Kopftuchs, das der Arbeitgeber OP gegenüber mit der Anwendung der Arbeitsordnung ausgesprochen hat, für eine Ungleichbehandlung, die eine Diskriminierung im Sinne der Richtlinie 2000/78 ( 1 ) begründet. Aufgrund seiner Zweifel an der Vereinbarkeit der fraglichen Bestimmung der Arbeitsordnung mit dieser Richtlinie hat es dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt.

    Der Gerichtshof (Große Kammer) erkennt für Recht, dass eine interne Regel einer Gemeindeverwaltung, die es deren Personal allgemein und undifferenziert verbietet, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen zu tragen, die u. a. weltanschauliche oder religiöse Überzeugungen erkennen lassen, damit gerechtfertigt werden kann, dass die Gemeindeverwaltung ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld schaffen möchte, sofern diese Regel im Hinblick auf den Kontext und unter Berücksichtigung der verschiedenen betroffenen Rechte und Belange geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    Nachdem der Gerichtshof in Anbetracht des vom vorlegenden Gericht geschilderten Sachverhalts verneint hat, dass es sich um eine unmittelbare Diskriminierung handelt, weist er darauf hin, dass eine von einem Arbeitgeber aufgestellte interne Regel wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 darstellen kann, wenn sich erweist, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die in dieser Regel enthalten ist, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden.

    Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 führt eine solche Ungleichbehandlung jedoch dann nicht zu einer mittelbaren Diskriminierung, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.

    Der Gerichtshof stellt erstens fest, dass davon ausgegangen werden kann, dass mit einer Bestimmung einer Arbeitsordnung einer öffentlichen Verwaltung wie der im vorliegenden Fall fraglichen ein rechtmäßiges Ziel im Sinne dieser Richtlinienbestimmung verfolgt wird.

    Denn bei fehlendem Konsens auf Ebene der Europäischen Union ist jedem Mitgliedstaat, gegebenenfalls einschließlich seiner unterhalb der staatlichen Ebene angesiedelten Einheiten unter Wahrung der ihnen zuerkannten Befugnisse, ein Wertungsspielraum bei der Ausgestaltung der Neutralität des öffentlichen Dienstes, die er am Arbeitsplatz fördern möchte, zuzuerkennen. Dieser Wertungsspielraum ermöglicht es den Mitgliedstaaten und den unterhalb der staatlichen Ebene angesiedelten Einheiten, im Hinblick auf die Vielfalt der von ihnen verfolgten Ansätze in Bezug auf den Platz, den sie in ihrem Inneren der Religion oder weltanschaulichen Überzeugungen im öffentlichen Sektor einräumen, ihrem jeweiligen Kontext Rechnung zu tragen. Es ist allerdings Sache der nationalen Gerichte und der Unionsgerichte, zu prüfen, ob die auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene getroffenen Maßnahmen grundsätzlich gerechtfertigt sind und ob sie verhältnismäßig sind.

    Zweitens erläutert der Gerichtshof, dass die Bestimmung der Arbeitsordnung geeignet sein muss, die ordnungsgemäße Umsetzung des vom Arbeitgeber verfolgten Ziels zu gewährleisten. Insoweit wird das vorlegende Gericht zunächst zu prüfen haben, ob die Gemeinde Ans das Ziel der „exklusiven Neutralität“ tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise gegenüber allen Arbeitnehmern verfolgt.

    Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass das rechtmäßige Ziel, durch eine solche Politik der „exklusiven Neutralität“ ein völlig neutrales Verwaltungsumfeld zu gewährleisten, nur dann wirksam verfolgt werden kann, wenn überhaupt keine sichtbaren Bekundungen u. a. weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen erlaubt sind, wenn die Arbeitnehmer mit Personen, die die öffentlichen Dienstleistungen in Anspruch nehmen, oder untereinander in Kontakt stehen. Denn das Tragen jedes noch so kleinen Zeichens beeinträchtigt die Eignung der Maßnahme zur Erreichung des angeblich verfolgten Ziels und stellt damit die Kohärenz dieser Politik selbst in Frage.

    Schließlich wird das vorlegende Gericht anhand sämtlicher Merkmale, die den Kontext des Erlasses dieser Regel kennzeichnen, eine Abwägung der betroffenen Belange vorzunehmen haben. Dabei sind zum einen die in Rede stehenden Grundrechte und Grundsätze und zum anderen der Grundsatz der Neutralität zu berücksichtigen, der den Personen, die die Dienstleistungen der öffentlichen Verwaltung in Anspruch nehmen, und den Verwaltungsbediensteten ein Umfeld ohne sichtbare Bekundungen u. a. weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen garantieren soll.


    ( 1 ) Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16).

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