Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62016CJ0372

    Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 20. Dezember 2017.
    Soha Sahyouni gegen Raja Mamisch.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 – Verstärkte Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts – Anerkennung einer von einem geistlichen Gericht eines Drittstaats ausgesprochenen Privatscheidung – Anwendungsbereich der Verordnung.
    Rechtssache C-372/16.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    Rechtssache C‑372/16

    Soha Sahyouni

    gegen

    Raja Mamisch

    (Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts München)

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 – Verstärkte Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts – Anerkennung einer von einem geistlichen Gericht eines Drittstaats ausgesprochenen Privatscheidung – Anwendungsbereich der Verordnung“

    Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 20. Dezember 2017

    1. Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen–Zuständigkeit des Gerichtshofs–Unionsrechtliche Vorschriften, die nach dem nationalen Recht unmittelbar und unbedingt für von ihnen nicht erfasste Sachverhalte gelten–Einbeziehung

      (Art. 267 AEUV; Verordnung Nr. 1259/2010 des Rates)

    2. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen–Auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendendes Recht–Verordnung Nr. 1259/2010–Anwendungsbereich–Anerkennung einer auf einer einseitigen Willenserklärung vor einem geistlichen Gericht eines Drittstaats beruhenden Ehescheidung–Ausschluss

      (Verordnung Nr. 1259/2010 des Rates, Art. 1)

    1.  Siehe Text der Entscheidung.

      (vgl. Rn. 27-34)

    2.  Art. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 des Rates vom 20. Dezember 2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts ist dahin auszulegen, dass eine durch einseitige Erklärung eines Ehegatten vor einem geistlichen Gericht bewirkte Ehescheidung wie die im Ausgangsverfahren streitige nicht in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.

      Was als Erstes den Wortlaut von Art. 1 der Verordnung Nr. 1259/2010 betrifft, heißt es in Abs. 1 dieses Artikels lediglich, dass diese Verordnung für die Ehescheidung und die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes in Fällen gilt, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen. Dem Wortlaut dieses Artikels lässt sich demnach kein hilfreiches Kriterium für die Bestimmung des Begriffs „Ehescheidung“ im Sinne dieser Vorschrift entnehmen.

      Als Zweites ist bezüglich des Zusammenhangs, in dem Art. 1 der Verordnung Nr. 1259/2010 steht, zuallererst festzustellen, dass der Begriff „Ehescheidung“ im Sinne dieser Verordnung in keiner anderen Vorschrift der Verordnung bestimmt wird. Sodann sind, wie der Generalanwalt in Nr. 60 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Privatscheidungen zwar nicht ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1259/2010 ausgenommen, doch wird aus den in mehreren Bestimmungen dieser Verordnung – wie Art. 1 Abs. 2, Art. 5 Abs. 2 und 3, Art. 8, Art. 13 und Art. 18 Abs. 2 – enthaltenen Bezugnahmen auf das Tätigwerden eines „Gerichts“ und das Vorhandensein eines „Verfahrens“ deutlich, dass die Verordnung Nr. 1259/2010 ausschließlich solche Ehescheidungen erfasst, die entweder von einem staatlichen Gericht oder von einer öffentlichen Behörde bzw. unter deren Kontrolle ausgesprochen werden. Schließlich sollten nach dem zehnten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1259/2010 der sachliche Anwendungsbereich und die Bestimmungen dieser Verordnung mit der Verordnung Nr. 2201/2003 im Einklang stehen.

      Was als Drittes das mit der Verordnung Nr. 1259/2010 verfolgte Ziel anbelangt, ergibt sich aus dem Titel der Verordnung, dass sie unter den teilnehmenden Mitgliedstaaten eine Verstärkte Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts begründet. Wie der Generalanwalt in Nr. 65 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, waren es zur Zeit des Erlasses dieser Verordnung nur öffentliche Organe, die in den Rechtsordnungen der an der Verstärkten Zusammenarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten in diesem Bereich Entscheidungen mit rechtlicher Bedeutung erlassen konnten. Auch wenn seit dem Erlass der Verordnung Nr. 1259/2010 mehrere Mitgliedstaaten in ihrer Rechtsordnung die Möglichkeit eingeführt haben, Ehescheidungen ohne Tätigwerden einer staatlichen Behörde auszusprechen, wären, wie der Generalanwalt in Nr. 66 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, für die Einbeziehung von Privatscheidungen in den Anwendungsbereich dieser Verordnung Änderungen erforderlich, für die allein der Unionsgesetzgeber zuständig ist.

      Unter Berücksichtigung der Definition des Begriffs „Ehescheidung“ in der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt sich daher aus den mit der Verordnung Nr. 1259/2010 verfolgten Zielen, dass diese Verordnung nur Ehescheidungen erfasst, die entweder von einem staatlichen Gericht oder von einer öffentlichen Behörde bzw. unter deren Kontrolle ausgesprochen werden.

      (vgl. Rn. 37-40, 44, 45, 47-49 und Tenor)

    Top