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Document 62010CJ0072

Leitsätze des Urteils

Verbundene Rechtssachen C-72/10 und C-77/10

Strafverfahren

gegen

Marcello Costa und Ugo Cifone

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione [Italien])

„Niederlassungsfreiheit — Freier Dienstleistungsverkehr — Glücksspiele — Annahme von Sportwetten — Erfordernis einer Konzession — Folgen einer Verletzung des Unionsrechts bei der Vergabe von Konzessionen — Vergabe von 16 300 zusätzlichen Konzessionen — Grundsatz der Gleichbehandlung und Transparenzgebot — Grundsatz der Rechtssicherheit — Schutz für Inhaber von früher erteilten Konzessionen — Nationale Regelung — Verbindliche Mindestabstände zwischen Wettannahmestellen — Zulässigkeit — Grenzüberschreitende Tätigkeiten, die mit den konzessionierten vergleichbar sind — Verbot durch eine nationale Regelung — Zulässigkeit“

Leitsätze des Urteils

  1. Freier Dienstleistungsverkehr – Niederlassungsfreiheit – Beschränkungen – Glücksspiele – Nationale Rechtsvorschriften, die ein strafbewehrtes Verbot des Sammelns von Wetten ohne Konzession oder Genehmigung enthalten – Verweigerung der Konzession oder Genehmigung unter Verstoß gegen das Unionsrecht

    (Art. 43 EG und 49 EG)

  2. Freier Dienstleistungsverkehr – Niederlassungsfreiheit – Beschränkungen – Glücksspiele – Nationale Rechtsvorschriften, die ein strafbewehrtes Verbot des Sammelns von Wetten ohne Konzession oder Genehmigung enthalten – Unionsrechtswidriger Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers von einer Ausschreibung zur Vergabe einer solchen Konzession

    (Art. 43 EG und 49 EG)

  3. Freier Dienstleistungsverkehr – Niederlassungsfreiheit – Glücksspiele – Nationale Rechtsvorschriften, die ein strafbewehrtes Verbot des Sammelns von Wetten ohne Konzession oder Genehmigung enthalten – Voraussetzungen für den Entzug von nach einer Ausschreibung vergebenen Konzessionen

    (Art. 43 EG und 49 EG)

  1.  Die Art. 43 EG und 49 EG sowie die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Effektivität sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat, der unionsrechtswidrig eine Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern von der Vergabe von Konzessionen für die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ausgeschlossen hat und diesen Verstoß durch Ausschreibung einer großen Zahl von neuen Konzessionen beheben will, verbieten, die von den bestehenden Betreibern erworbenen Geschäftspositionen u. a. durch das Vorschreiben von Mindestabständen zwischen den Einrichtungen der neuen Konzessionäre und denen der bestehenden Betreiber zu schützen.

    Eine Regelung über Mindestabstände zwischen Annahmestellen lässt sich nur dann rechtfertigen, wenn – was zu prüfen Sache des nationalen Gerichts ist – ihr wirkliches Ziel nicht im Schutz der Geschäftspositionen der bestehenden Betreiber besteht, sondern vielmehr darin, die Nachfrage nach Glücksspielen in kontrollierte Bahnen zu lenken. Ferner hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob die Verpflichtung zur Einhaltung von Mindestabständen, die der Einrichtung zusätzlicher Annahmestellen in vom Publikum stark frequentierten Zonen entgegensteht, zur Erreichung des angegebenen Ziels wirklich geeignet ist und tatsächlich zur Folge hat, dass sich die neuen Betreiber an weniger frequentierten Orten niederlassen und damit das nationale Hoheitsgebiet abdecken.

    (vgl. Randnrn. 65-66, Tenor 1)

  2.  Die Art. 43 EG und 49 EG sind dahin auszulegen, dass sie Sanktionen wegen Sammelns von Wetten ohne Konzession oder polizeiliche Genehmigung gegen Personen, die an einen Wirtschaftsteilnehmer gebunden sind, der von einer Ausschreibung unionsrechtswidrig ausgeschlossen worden war, auch nach der Neuausschreibung zur Behebung dieses Unionsrechtsverstoßes entgegenstehen, soweit diese Ausschreibung und die daraus folgende Vergabe neuer Konzessionen den rechtswidrigen Ausschluss des Wirtschaftsteilnehmers von der früheren Ausschreibung nicht wirksam behoben haben.

    Dies ist der Fall, wenn gegen einen Wirtschaftsteilnehmer im Zeitpunkt der Ausschreibung, mit der die Mängel der ersten Ausschreibung behoben werden sollen, Strafverfahren – die, wie sich später herausstellte, einer rechtlichen Grundlage entbehrten – anhängig waren, die seine Teilnahme an der zweiten Ausschreibung in der Praxis ausschlossen, weil ihm seine Konzession wegen dieser Strafverfahren sofort wieder entzogen worden wäre. Denn auch wenn es unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein kann, gegen einen Betreiber von Glücksspielen, der aufgrund beweiskräftiger Indizien unter Verdacht steht, in kriminelle Aktivitäten verwickelt zu sein, Vorkehrungen zu treffen, kann ein Ausschluss vom Markt durch Entzug der Konzession grundsätzlich nur dann als dem Ziel der Bekämpfung der Kriminalität angemessen betrachtet werden, wenn er auf einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer hinreichend schweren Straftat beruht. Im Übrigen könnte eine nationale Rechtsvorschrift, die einen Ausschluss von Wirtschaftsteilnehmern – sei es auch nur vorübergehend – vom Markt zulässt, nur dann als angemessen betrachtet werden, wenn ein wirksames gerichtliches Verfahren und, falls sich der Ausschluss später als ungerechtfertigt erweisen sollte, Ersatz für den entstandenen Schaden vorgesehen sind.

    (vgl. Randnrn. 81, 84, 91 und Tenor 2)

  3.  Aus den Art. 43 EG und 49 EG, dem Grundsatz der Gleichbehandlung, dem Transparenzgebot und dem Grundsatz der Rechtssicherheit folgt, dass die Bedingungen und Modalitäten eines Vergabeverfahrens betreffend Glücksspiele, die sich nicht auf Pferderennen beziehen, und insbesondere Bestimmungen, die den Entzug von nach einer solchen Ausschreibung vergebenen Konzessionen vorsehen, klar, genau und eindeutig formuliert sein müssen; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

    (vgl. Randnrn. 89, 92, Tenor 3)

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Verbundene Rechtssachen C-72/10 und C-77/10

Strafverfahren

gegen

Marcello Costa und Ugo Cifone

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione [Italien])

„Niederlassungsfreiheit — Freier Dienstleistungsverkehr — Glücksspiele — Annahme von Sportwetten — Erfordernis einer Konzession — Folgen einer Verletzung des Unionsrechts bei der Vergabe von Konzessionen — Vergabe von 16 300 zusätzlichen Konzessionen — Grundsatz der Gleichbehandlung und Transparenzgebot — Grundsatz der Rechtssicherheit — Schutz für Inhaber von früher erteilten Konzessionen — Nationale Regelung — Verbindliche Mindestabstände zwischen Wettannahmestellen — Zulässigkeit — Grenzüberschreitende Tätigkeiten, die mit den konzessionierten vergleichbar sind — Verbot durch eine nationale Regelung — Zulässigkeit“

Leitsätze des Urteils

  1. Freier Dienstleistungsverkehr — Niederlassungsfreiheit — Beschränkungen — Glücksspiele — Nationale Rechtsvorschriften, die ein strafbewehrtes Verbot des Sammelns von Wetten ohne Konzession oder Genehmigung enthalten — Verweigerung der Konzession oder Genehmigung unter Verstoß gegen das Unionsrecht

    (Art. 43 EG und 49 EG)

  2. Freier Dienstleistungsverkehr — Niederlassungsfreiheit — Beschränkungen — Glücksspiele — Nationale Rechtsvorschriften, die ein strafbewehrtes Verbot des Sammelns von Wetten ohne Konzession oder Genehmigung enthalten — Unionsrechtswidriger Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers von einer Ausschreibung zur Vergabe einer solchen Konzession

    (Art. 43 EG und 49 EG)

  3. Freier Dienstleistungsverkehr — Niederlassungsfreiheit — Glücksspiele — Nationale Rechtsvorschriften, die ein strafbewehrtes Verbot des Sammelns von Wetten ohne Konzession oder Genehmigung enthalten — Voraussetzungen für den Entzug von nach einer Ausschreibung vergebenen Konzessionen

    (Art. 43 EG und 49 EG)

  1.  Die Art. 43 EG und 49 EG sowie die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Effektivität sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat, der unionsrechtswidrig eine Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern von der Vergabe von Konzessionen für die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ausgeschlossen hat und diesen Verstoß durch Ausschreibung einer großen Zahl von neuen Konzessionen beheben will, verbieten, die von den bestehenden Betreibern erworbenen Geschäftspositionen u. a. durch das Vorschreiben von Mindestabständen zwischen den Einrichtungen der neuen Konzessionäre und denen der bestehenden Betreiber zu schützen.

    Eine Regelung über Mindestabstände zwischen Annahmestellen lässt sich nur dann rechtfertigen, wenn – was zu prüfen Sache des nationalen Gerichts ist – ihr wirkliches Ziel nicht im Schutz der Geschäftspositionen der bestehenden Betreiber besteht, sondern vielmehr darin, die Nachfrage nach Glücksspielen in kontrollierte Bahnen zu lenken. Ferner hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob die Verpflichtung zur Einhaltung von Mindestabständen, die der Einrichtung zusätzlicher Annahmestellen in vom Publikum stark frequentierten Zonen entgegensteht, zur Erreichung des angegebenen Ziels wirklich geeignet ist und tatsächlich zur Folge hat, dass sich die neuen Betreiber an weniger frequentierten Orten niederlassen und damit das nationale Hoheitsgebiet abdecken.

    (vgl. Randnrn. 65-66, Tenor 1)

  2.  Die Art. 43 EG und 49 EG sind dahin auszulegen, dass sie Sanktionen wegen Sammelns von Wetten ohne Konzession oder polizeiliche Genehmigung gegen Personen, die an einen Wirtschaftsteilnehmer gebunden sind, der von einer Ausschreibung unionsrechtswidrig ausgeschlossen worden war, auch nach der Neuausschreibung zur Behebung dieses Unionsrechtsverstoßes entgegenstehen, soweit diese Ausschreibung und die daraus folgende Vergabe neuer Konzessionen den rechtswidrigen Ausschluss des Wirtschaftsteilnehmers von der früheren Ausschreibung nicht wirksam behoben haben.

    Dies ist der Fall, wenn gegen einen Wirtschaftsteilnehmer im Zeitpunkt der Ausschreibung, mit der die Mängel der ersten Ausschreibung behoben werden sollen, Strafverfahren – die, wie sich später herausstellte, einer rechtlichen Grundlage entbehrten – anhängig waren, die seine Teilnahme an der zweiten Ausschreibung in der Praxis ausschlossen, weil ihm seine Konzession wegen dieser Strafverfahren sofort wieder entzogen worden wäre. Denn auch wenn es unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein kann, gegen einen Betreiber von Glücksspielen, der aufgrund beweiskräftiger Indizien unter Verdacht steht, in kriminelle Aktivitäten verwickelt zu sein, Vorkehrungen zu treffen, kann ein Ausschluss vom Markt durch Entzug der Konzession grundsätzlich nur dann als dem Ziel der Bekämpfung der Kriminalität angemessen betrachtet werden, wenn er auf einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer hinreichend schweren Straftat beruht. Im Übrigen könnte eine nationale Rechtsvorschrift, die einen Ausschluss von Wirtschaftsteilnehmern – sei es auch nur vorübergehend – vom Markt zulässt, nur dann als angemessen betrachtet werden, wenn ein wirksames gerichtliches Verfahren und, falls sich der Ausschluss später als ungerechtfertigt erweisen sollte, Ersatz für den entstandenen Schaden vorgesehen sind.

    (vgl. Randnrn. 81, 84, 91 und Tenor 2)

  3.  Aus den Art. 43 EG und 49 EG, dem Grundsatz der Gleichbehandlung, dem Transparenzgebot und dem Grundsatz der Rechtssicherheit folgt, dass die Bedingungen und Modalitäten eines Vergabeverfahrens betreffend Glücksspiele, die sich nicht auf Pferderennen beziehen, und insbesondere Bestimmungen, die den Entzug von nach einer solchen Ausschreibung vergebenen Konzessionen vorsehen, klar, genau und eindeutig formuliert sein müssen; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

    (vgl. Randnrn. 89, 92, Tenor 3)

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