Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62006CJ0347

    Leitsätze des Urteils

    Schlüsselwörter
    Leitsätze

    Schlüsselwörter

    1. Vorabentscheidungsverfahren – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Grenzen

    (Art. 234 EG)

    2. Vorabentscheidungsverfahren – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Grenzen – Zuständigkeit des nationalen Gerichts

    (Art. 234 EG)

    3. Rechtsangleichung – Angleichungsmaßnahmen – Gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt – Richtlinie 2003/55

    (Richtlinie 2003/55 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 23 Abs. 1)

    4. Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungsverkehr – Ohne Ausschreibungsverfahren erteilte öffentliche Dienstleistungskonzession

    (Art. 43 EG, 49 EG und 86 Abs. 1 EG)

    Leitsätze

    1. Der Gerichtshof ist in einem nach Art. 234 EG eingeleiteten Verfahren nicht zur Entscheidung über die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem Gemeinschaftsrecht befugt. Er kann aber aus der Fassung der Fragen des vorlegenden Gerichts unter Berücksichtigung des von diesem mitgeteilten Sachverhalts das herausschälen, was die Auslegung des Gemeinschaftsrechts betrifft, um diesem Gericht die Bewältigung des ihm vorliegenden rechtlichen Problems zu ermöglichen.

    Im Übrigen ist es nicht Sache des Gerichtshofs, über die Auslegung oder Anwendbarkeit nationaler Vorschriften zu befinden oder den Sachverhalt festzustellen, der für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erheblich ist. Der Gerichtshof hat vielmehr im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Gerichten der Gemeinschaft und denen der Mitgliedstaaten in Bezug auf den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage einfügt, von den Feststellungen des vorlegenden Gerichts auszugehen.

    (vgl. Randnrn. 25, 28)

    2. Im Rahmen der durch Art. 234 EG geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist es allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen die vorgelegten Fragen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, ist der Gerichtshof daher grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden.

    (vgl. Randnr. 27)

    3. Die Richtlinie 2003/55 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30 steht einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegen, die den Übergangszeitraum, an dessen Ende eine ohne Ausschreibungsverfahren erteilte Konzession für die Erdgasverteilung vorzeitig zu beenden ist, unter den in dieser Regelung festgelegten Voraussetzungen verlängert. Unter diesen Umständen ist weiter davon auszugehen, dass auch Art. 10 EG und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer solchen Regelung nicht entgegenstehen.

    Art. 23 Abs. 1 dieser Richtlinie legt nämlich den Zeitplan für die Öffnung der Erdgasversorgung fest und sieht u. a. vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass ab dem 1. Juli 2007 alle Kunden zugelassene Kunden sind, d. h. solche Kunden, die das Recht haben, sich an den Versorger ihrer Wahl zu wenden. Diese Bestimmung betrifft die Versorgung mit Erdgas, nicht aber dessen Verteilung. Daher lässt sich aus ihr keine den Mitgliedstaaten obliegende Verpflichtung ableiten, die ohne jedes Ausschreibungsverfahren durch Zuschlag zustande gekommenen Verteilungsverträge zu kündigen. Außerdem enthält die Richtlinie 2003/55 keine Bestimmungen zu den bestehenden Konzessionen für die Erdgasverteilung.

    (vgl. Randnrn. 38-41, Tenor 1)

    4. Die Art. 43 EG, 49 EG und 86 Abs. 1 EG stehen einer Regelung eines Mitgliedstaats, mit der die gemeinsamen Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt dadurch durchgeführt werden sollen, dass ohne Ausschreibungsverfahren erteilte Konzessionen für die Erdgasverteilung am Ende eines Übergangszeitraums vorzeitig zu beenden sind, nicht entgegen, wenn sie die Dauer dieses Übergangszeitraums unter bestimmten Voraussetzungen verlängert, sofern diese Verlängerung als erforderlich angesehen werden kann, damit die Vertragsparteien ihre Vertragsbeziehungen unter Bedingungen beenden können, die sowohl im Hinblick auf die Erfordernisse der öffentlichen Dienstleistung als auch in wirtschaftlicher Hinsicht annehmbar sind.

    Ungeachtet dessen, dass eine solche öffentliche Dienstleistungskonzession nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinien betreffend die verschiedenen Kategorien des öffentlichen Auftragswesens fällt, müssen die öffentlichen Stellen gleichwohl, wenn sie eine solche Konzession erteilen wollen, die Grundregeln des EG-Vertrags im Allgemeinen und das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Besonderen beachten. Soweit an einer solchen Konzession ein bestimmtes grenzüberschreitendes Interesse besteht, liegt in ihrer ohne jede Transparenz erfolgenden Vergabe an ein Unternehmen, das in dem Mitgliedstaat niedergelassen ist, dem der öffentliche Auftraggeber angehört, eine Ungleichbehandlung zum Nachteil der in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Unternehmen, die an dieser Konzession interessiert sein könnten. Eine solche Ungleichbehandlung, die durch den Ausschluss aller in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Unternehmen hauptsächlich diese benachteiligt, stellt, sofern sie nicht durch objektive Umstände gerechtfertigt ist, eine nach den Art. 43 EG und 49 EG verbotene mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar. Im Übrigen steht Art. 86 Abs. 1 EG dem entgegen, dass die Mitgliedstaaten in Bezug auf öffentliche Unternehmen und auf Unternehmen, denen sie besondere oder ausschließliche Rechte gewähren, eine den Art. 43 EG und 49 EG widersprechende innerstaatliche Regelung beibehalten.

    Eine solche Ungleichbehandlung kann allerdings durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sein, den Grundsatz der Rechtssicherheit zu beachten, der Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung ist und den jede mit der Anwendung des Gemeinschaftsrechts betraute innerstaatliche Stelle zu beachten hat. Da nach der Richtlinie 2003/55 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30 nicht vorgesehen ist, bestehende Konzessionen für die Gasverteilung in Frage zu stellen, da es im vorliegenden Fall um eine alte Konzession geht, die ihre Wirkungen über mehrere Jahrzehnte entfalten soll, und da sie zu einer Zeit erteilt wurde, zu der der Gerichtshof noch nicht entschieden hatte, dass für die Verträge, an denen ein gewisses grenzüberschreitendes Interesse besteht die dem primären Gemeinschaftsrecht zu entnehmende Transparenzpflicht gelten kann, erlaubt der Grundsatz der Rechtssicherheit, der insbesondere gebietet, dass Rechtsvorschriften klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen voraussehbar sein müssen, es nicht nur, sondern verpflichtet sogar dazu, die Kündigung einer solchen Konzession mit einem Übergangszeitraum zu verbinden, der es den Vertragsparteien gestattet, ihre Vertragsbeziehungen unter Bedingungen zu beenden, die sowohl im Hinblick auf die Erfordernisse der öffentlichen Dienstleistung als auch in wirtschaftlicher Hinsicht annehmbar sind. Die Beurteilung der Frage, ob insbesondere die durch eine Regelung des innerstaatlichen Rechts bewirkte Verlängerung der Dauer des Übergangszeitraums als für die Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit erforderlich angesehen werden kann, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

    (vgl. Randnrn. 57-61, 64-65, 67-73, Tenor 2)

    Top