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Document 62002TJ0044(01)

Leitsätze des Urteils

Schlüsselwörter
Leitsätze

Schlüsselwörter

1. Verfahren – Einspruch

(Verfahrensordnung des Gerichts, Artikel 48 § 2 und 122 § 4)

2. Wettbewerb – Kartelle – Vereinbarungen zwischen Unternehmen – Begriff

(Artikel 81 Absatz 1 EG)

3. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird

(Artikel 81 Absatz 1 EG)

4. Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Grundrechte – Unschuldsvermutung

5. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Gerichtliche Nachprüfung

6. Wettbewerb – Kartelle – Nachweis

7. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Mitteilung der Beschwerdepunkte – Notwendiger Inhalt

8. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte

Leitsätze

1. Das in Artikel 122 § 4 der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehene Einspruchsverfahren soll es dem Gericht ermöglichen, die Sache auf kontradiktorischer Grundlage erneut zu prüfen, ohne an das Ergebnis des Versäumnisurteils gebunden zu sein. Soweit die Verfahrensordnung nichts Gegenteiliges bestimmt, kann die Einspruchsführerin grundsätzlich frei vortragen, ohne auf die Widerlegung der Entscheidungsgründe des Versäumnisurteils beschränkt zu sein.

In Anbetracht des Zwecks des Einspruchsverfahrens kann das in Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehene Verbot des Vorbringens neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens nicht dahin ausgelegt werden, dass es der Einspruchsführerin verboten wäre, Verteidigungsmittel geltend zu machen, die sie im Stadium der Klagebeantwortung bereits hätte vortragen können. Eine solche Auslegung des genannten Artikels hätte keinen Sinn, denn sie könnte, falls der Einspruch begründet wäre, in eine prozessuale Sackgasse führen: Obwohl das Gericht feststellen würde, dass es ihm nicht möglich wäre, die im Versäumnisurteil getroffene Entscheidung, dass einer der Klagegründe begründet ist, zu bestätigen, wäre es nicht in der Lage, über die anderen Klagegründe unter Einhaltung des kontradiktorischen Verfahrens zu befinden.

(vgl. Randnrn. 43-44)

2. Für das Vorliegen einer Vereinbarung im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG ist es erforderlich und ausreichend, dass die betreffenden Unternehmen ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck gebracht haben, sich auf dem Markt in einer bestimmten Weise zu verhalten. Hinsichtlich der Ausdrucksform dieses gemeinsamen Willens genügt es, dass eine Abmachung Ausdruck des Willens der Vertragsparteien ist, sich auf dem Markt im Einklang mit ihr zu verhalten. Der Begriff der Vereinbarung im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG setzt folglich das Vorliegen einer Willensübereinstimmung zwischen mindestens zwei Parteien voraus, deren Ausdrucksform unerheblich ist, sofern sie den Willen der Parteien getreu wiedergibt.

(vgl. Randnrn. 53-55)

3. Für den Nachweis eines Verstoßes gegen Artikel 81 Absatz 1 EG hat die Kommission die von ihr festgestellten Zuwiderhandlungen zu beweisen und die Beweise beizubringen, durch die das Vorliegen der eine Zuwiderhandlung darstellenden Tatsachen rechtlich hinreichend belegt wird.

(vgl. Randnr. 59)

4. Die Unschuldsvermutung, die sich insbesondere aus Artikel 6 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, gehört zu den Grundrechten, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes, die im Übrigen durch die Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte und durch Artikel 6 Absatz 2 EU erneut bekräftigt wird, allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellen.

Angesichts der Art der betreffenden Zuwiderhandlungen sowie von Art und Schwere der ihretwegen verhängten Sanktionen gilt die Unschuldsvermutung in Verfahren wegen Verletzung der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln, die zur Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können. Im Rahmen einer Klage auf Nichtigerklärung einer Entscheidung zur Verhängung einer Geldbuße ist sie zu beachten. Hat das Gericht Zweifel, so muss dies dem Unternehmen zugutekommen, an das sich die Entscheidung richtet, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird. Das Gericht kann daher nicht davon ausgehen, dass die Kommission das Vorliegen der betreffenden Zuwiderhandlung rechtlich hinreichend nachgewiesen hat, wenn bei ihm noch Zweifel in dieser Hinsicht bestehen.

Somit ist es erforderlich, dass die Kommission aussagekräftige und übereinstimmende Beweise beibringt, um das Vorliegen der Zuwiderhandlung nachzuweisen. Jedoch muss nicht jeder von der Kommission erbrachte Beweis notwendigerweise für jeden Teil der Zuwiderhandlung diesen Kriterien entsprechen. Es genügt, wenn ein von der Kommission angeführtes Bündel von Indizien im Ganzen betrachtet dem genannten Erfordernis entspricht. Das Vorliegen einer wettbewerbswidrigen Verhaltensweise oder Vereinbarung kann folglich aus einer Reihe von Koinzidenzen und Indizien abgeleitet werden, die bei einer Gesamtbetrachtung mangels einer anderen schlüssigen Erklärung den Beweis für eine Verletzung der Wettbewerbsregeln darstellen können.

(vgl. Randnrn. 60-63, 65)

5. Was den Umfang der gerichtlichen Kontrolle von Entscheidungen der Kommission über die Anwendung der Wettbewerbsregeln angeht, so besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den faktischen Gegebenheiten und Feststellungen einerseits, deren etwaige Unrichtigkeit der Richter anhand der ihm unterbreiteten Argumente und Beweise feststellen kann, und den Beurteilungen wirtschaftlicher Art andererseits. Insoweit steht es dem Gericht zwar nicht zu, die Beurteilung von Wirtschaftsfragen durch die Kommission durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen, doch hat es nicht nur die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz zu prüfen, sondern auch zu kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen.

(vgl. Randnrn. 66-67)

6. Bei der Beurteilung des Beweiswerts eines Dokuments im Rahmen der Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln ist zunächst die Wahrscheinlichkeit der darin enthaltenen Information zu prüfen; insbesondere sind die Herkunft des Dokuments, die Umstände seiner Ausarbeitung und sein Adressat für die Frage zu berücksichtigen, ob es seinem Inhalt nach vernünftig und glaubhaft erscheint.

(vgl. Randnr. 121)

7. Die Wahrung der Verteidigungsrechte erfordert, dass ein Unternehmen, an das eine Entscheidung der Kommission gerichtet wurde, mit der eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln festgestellt wird, Gelegenheit hatte, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der von der Kommission angeführten Tatsachen, Rügen und Umstände sachgerecht Stellung zu nehmen.

Die Beschwerdepunkte müssen in der Mitteilung der Beschwerdepunkte, und sei es in gedrängter Form, so klar abgefasst sein, dass die Betroffenen tatsächlich erkennen können, welches Verhalten ihnen die Kommission zur Last legt. Nur unter dieser Voraussetzung kann die Mitteilung der Beschwerdepunkte nämlich den ihr durch die Gemeinschaftsverordnungen zugewiesenen Zweck erfüllen, der darin besteht, den Unternehmen und Unternehmensvereinigungen alle erforderlichen Angaben zur Verfügung zu stellen, damit sie sich sachgerecht verteidigen können, bevor die Kommission eine endgültige Entscheidung erlässt.

Grundsätzlich sind nur Schriftstücke, die in der Mitteilung der Beschwerdepunkte angeführt oder erwähnt wurden, zulässige Beweismittel.

(vgl. Randnrn. 155-157)

8. Ein Schriftstück kann nur dann als belastendes Schriftstück angesehen werden, wenn sich die Kommission bei der Feststellung einer von einem Unternehmen begangenen Zuwiderhandlung darauf stützt. Als Beweis für eine Verletzung seiner Verteidigungsrechte genügt es nicht, dass das fragliche Unternehmen nachweist, dass es sich im Verwaltungsverfahren nicht zu einem Schriftstück hat äußern können, das in der angefochtenen Entscheidung an irgendeiner Stelle verwendet wurde. Es muss dartun, dass die Kommission dieses Schriftstück in der angefochtenen Entscheidung als zusätzliches Beweiselement für eine Zuwiderhandlung verwendet hat, an der das Unternehmen teilgenommen haben soll.

(vgl. Randnr. 158)

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