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Document 61999TJ0070

    Leitsätze des Urteils

    Schlüsselwörter
    Leitsätze

    Schlüsselwörter

    1. Nichtigkeitsklage - Natürliche oder juristische Personen - Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen - Verordnung über den Widerruf der Zulassung für die Vermarktung bestimmter Zusatzstoffe in der Tierernährung, darunter Zink-Bacitracin, in der Gemeinschaft - Zulässigkeit

    (EG-Vertrag, Artikel 173 Absatz 4 [nach Änderung jetzt Artikel 230 Absatz 4 EG]; Verordnung Nr. 2821/98 des Rates)

    2. Handlungen der Organe - Wahl der Rechtsgrundlage - Kriterien - Beitrittsakte

    3. Gemeinschaftsrecht - Grundsätze - Rechtssicherheit - Gemeinschaftsregelung - Gebot der Klarheit und Vorhersehbarkeit - Ausdrückliche Angabe der Rechtsgrundlage - Grenze

    4. Landwirtschaft - Gemeinsame Agrarpolitik - Durchführung - Berücksichtigung der Erfordernisse im Bereich des Gesundheitsschutzes - Anwendung des Vorsorgegrundsatzes

    (EG-Vertrag, Artikel 130r Absätze 1 und 2 [nach Änderung jetzt Artikel 174 Absätze 1 und 2 EG] sowie 129 Absatz 1 Unterabsatz 3 [nach Änderung jetzt Artikel 152 EG])

    5. Landwirtschaft - Gemeinsame Agrarpolitik - Ermessen der Gemeinschaftsorgane - Befugnis zum Erlass von Mitteilungen - Gerichtliche Nachprüfung - Grenzen

    6. Landwirtschaft - Gemeinsame Agrarpolitik - Verwendung von Zink-Bacitracin als Zusatzstoff in der Tierernährung - Bestehen wissenschaftlicher Ungewissheiten bezüglich der Existenz oder des Umfangs von Risiken für die menschliche Gesundheit - Anwendung des Vorsorgegrundsatzes - Umfang - Grenzen

    (EG-Vertrag, Artikel 130r Absätze 1 und 2 [nach Änderung jetzt Artikel 174 Absätze 1 und 2 EG])

    7. Landwirtschaft - Gemeinsame Agrarpolitik - Wissenschaftliche Risikobewertung - Erfordernis eines hohen Gesundheitsschutzniveaus - Reichweite

    (EG-Vertrag, Artikel 129 Absatz 1 Unterabsatz 1 [nach Änderung jetzt Artikel 152 EG])

    8. Landwirtschaft - Gemeinsame Agrarpolitik - Ermessen der Gemeinschaftsorgane - Umfang - Gerichtliche Nachprüfung - Grenzen

    9. Landwirtschaft - Gemeinsame Agrarpolitik - Anwendung des Vorsorgegrundsatzes - Umfang - Grenzen - Beachtung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung in Verwaltungsverfahren gewährten Garantien

    10. Landwirtschaft - Gemeinsame Agrarpolitik - Befugnisse der Gemeinschaftsorgane - Möglichkeit, die Zulassung eines Zusatzstoffs in der Tierernährung zu widerrufen, ohne zuvor ein wissenschaftliches Gutachten der zuständigen wissenschaftlichen Ausschüsse einzuholen - Ausnahmecharakter

    11. Nichtigkeitsklage - Angefochtene Handlung - Beurteilung der Rechtmäßigkeit anhand der bei Vornahme der Handlung verfügbaren Informationen

    (EG-Vertrag, Artikel 173 [nach Änderung jetzt Artikel 230 EG])

    12. Landwirtschaft - Gemeinsame Agrarpolitik - Verwendung von Zink-Bacitracin als Wachstumsförderer in der Tierernährung - Risiko für die menschliche Gesundheit - Ermessen der Gemeinschaftsorgane - Keine offensichtlichen Beurteilungsfehler

    (Verordnung Nr. 2821/98 des Rates; Richtlinie 70/524 des Rates, Artikel 3a Buchstabe e)

    13. Gemeinschaftsrecht - Grundsätze - Verhältnismäßigkeit - Handlungen der Organe - Beurteilungskriterien - Ermessen des Gemeinschaftsgesetzgebers im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik - Gerichtliche Nachprüfung - Grenzen

    (EG-Vertrag, Artikel 40 und 43 [nach Änderung jetzt Artikel 34 EG und 37 EG])

    Leitsätze

    1. Eine Person ist von einer Verordnung individuell betroffen, wenn diese angesichts der besonderen Bestimmungen des Einzelfalls ein spezifisches Recht berührt, auf das sich die Person berufen konnte.

    Die Verordnung Nr. 2821/98 über den Widerruf der Zulassung für die Vermarktung bestimmter Zusatzstoffe in der Tierernährung, darunter Zink-Bacitracin, in der Gemeinschaft berührt, indem sie das Verfahren, das auf Antrag eines Wirtschaftsteilnehmers zur erneuten Zulassung von Zink-Bacitracin als Zusatzstoff in der Tierernährung eingeleitet worden war und in dem dieser Wirtschaftsteilnehmer über Verfahrensgarantien verfügte, beendet oder zumindest ausgesetzt hat, den Wirtschaftsteilnehmer aufgrund einer besonderen, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebenden Rechts- und Sachlage. Dieser Umstand ist auch geeignet, ihn im Sinne von Artikel 173 Absatz 4 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 230 Absatz 4 EG) zu individualisieren.

    ( vgl. Randnrn. 90-92, 96 )

    2. Im Rahmen des Zuständigkeitssystems der Gemeinschaft muss sich die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen. Zu diesen Umständen gehören insbesondere das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts.

    Eine Vorschrift einer Beitrittsakte kann als Rechtsgrundlage für den Erlass von Rechtsetzungsakten dienen.

    ( vgl. Randnrn. 106-107 )

    3. Der Grundsatz der Rechtssicherheit, der ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ist, verlangt, dass die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften klar sein müssen und dass ihre Anwendung für alle Betroffenen vorhersehbar sein muss. Diese Gebot verlangt, dass jede Maßnahme, die rechtliche Wirkungen erzeugen soll, ihre Bindungswirkung einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts entnimmt, die ausdrücklich als Rechtsgrundlage bezeichnet sein muss und die Rechtsform vorschreibt, in der die Maßnahme zu erlassen ist. Die fehlende Bezugnahme auf eine einzelne Vertragsbestimmung stellt jedoch möglicherweise keinen wesentlichen Mangel dar, wenn die Rechtsgrundlage eines Rechtsakts anhand anderer Anhaltspunkte in diesem Rechtsakt bestimmt werden kann. Eine ausdrückliche Bezugnahme ist indessen unerlässlich, wenn die Betroffenen und der Gerichtshof ansonsten über die genaue Rechtsgrundlage im Unklaren gelassen würden.

    ( vgl. Randnr. 112 )

    4. Gemäß Artikel 130r Absatz 2 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 174 Absatz 2 EG) ist der Vorsorgegrundsatz einer der Grundsätze, auf denen die Umweltpolitik der Gemeinschaft beruht. Dieser Grundsatz gilt auch, wenn die Gemeinschaftsorgane im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik Maßnahmen zum Schutz der menschlichen Gesundheit treffen. Aus Artikel 130r Absätze 1 und 2 des Vertrages geht nämlich hervor, dass der Schutz der menschlichen Gesundheit zu den umweltschutzpolitischen Zielen der Gemeinschaft gehört, dass diese Politik, die auf ein hohes Schutzniveau abzielt, u. a. auf dem Vorsorgegrundsatz beruht und dass die Erfordernisse dieser Politik bei der Festlegung und Durchführung anderer Gemeinschaftspolitiken einbezogen werden müssen. Außerdem sind nach Artikel 129 Absatz 1 Unterabsatz 3 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 152 EG) und nach ständiger Rechtsprechung die Erfordernisse im Bereich des Gesundheitsschutzes Bestandteil der übrigen Politiken der Gemeinschaft und müssen daher bei der Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik durch die Gemeinschaftsorgane berücksichtigt werden.

    ( vgl. Randnr. 135 )

    5. Die Gemeinschaftsorgane können sich bei der Ausübung ihres Ermessens durch nicht in Artikel 189 EG-Vertrag (jetzt Artikel 249 EG) vorgesehene Maßnahmen, insbesondere durch Mitteilungen, selbst binden, sofern diese Maßnahmen Regeln enthalten, denen sich die von diesen Organen zu verfolgende Politik entnehmen lässt, und nicht von Normen des Vertrages abweichen. Unter solchen Umständen prüft der Gemeinschaftsrichter anhand des Grundsatzes der Gleichbehandlung, ob die angefochtene Maßnahme im Einklang mit der Politik steht, die sich die Organe selbst durch den Erlass und die Veröffentlichung dieser Mitteilungen vorgegeben hatten.

    ( vgl. Randnr. 140 )

    6. Wenn wissenschaftliche Ungewissheiten bezüglich der Existenz oder des Umfangs von Risiken für die menschliche Gesundheit bestehen, können die Gemeinschaftsorgane nach dem Vorsorgegrundsatz Schutzmaßnahmen treffen, ohne abwarten zu müssen, bis das tatsächliche Vorliegen und die Schwere dieser Risiken in vollem Umfang nachgewiesen sind.

    Daraus folgt zunächst, dass die Gemeinschaftsorgane nach dem Vorsorgegrundsatz des Artikels 130r Absatz 2 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 174 Absatz 2 EG) eine vorbeugende Maßnahme bezüglich der Verwendung von Zink-Bacitracin als Zusatzstoff in der Tierernährung treffen konnten, auch wenn das tatsächliche Vorliegen und die Schwere der mit dieser Verwendung verbundenen Risiken für die menschliche Gesundheit aufgrund der bestehenden wissenschaftlichen Ungewissheit noch nicht in vollem Umfang nachgewiesen waren. Erst recht folgt daraus, dass die Gemeinschaftsorgane, um vorbeugend handeln zu können, nicht verpflichtet waren, abzuwarten, bis die nachteiligen Wirkungen der Verwendung dieses Produktes als Wachstumsförderer eintreten. Somit kann in einem Fall der Anwendung des Vorsorgegrundsatzes, der definitionsgemäß bei wissenschaftlicher Ungewissheit gegeben ist, von einer Risikobewertung nicht verlangt werden, dass sie den Gemeinschaftsorganen zwingende Beweise für das tatsächliche Vorliegen des Risikos und die Schwere der potenziellen nachteiligen Wirkungen im Fall der Verwirklichung dieses Risikos liefert.

    Eine vorbeugende Maßnahme darf jedoch nicht mit einer rein hypothetischen Betrachtung des Risikos begründet werden, die auf wissenschaftlich noch nicht verifizierte bloße Vermutungen gestützt ist. Vielmehr ergibt sich aus dem Vorsorgegrundsatz in seiner Auslegung durch den Gemeinschaftsrichter, dass eine vorbeugende Maßnahme nur dann getroffen werden kann, wenn das Risiko, ohne dass seine Existenz und sein Umfang durch zwingende wissenschaftliche Daten in vollem Umfang nachgewiesen worden sind, auf der Grundlage der zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Maßnahme verfügbaren wissenschaftlichen Daten gleichwohl hinreichend dokumentiert erscheint.

    Der Erlass auch nur vorbeugender Maßnahmen auf der Grundlage einer rein hypothetischen Betrachtung des Risikos wäre im Bereich der Zusatzstoffe in der Tierernährung ganz besonders unangemessen. In einem solchen Bereich kann es nämlich kein Nullrisiko" geben, da wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden kann, dass die Beigabe von Antibiotika in Tierfutter nicht mit dem geringsten - gegenwärtigen oder künftigen - Risiko verbunden ist. Zudem wäre eine solche Betrachtungsweise erst recht unangemessen in einer Situation, in der die rechtliche Regelung bereits als eine der möglichen Ausformungen des Vorsorgegrundsatzes ein Verfahren der vorherigen Zulassung der betreffenden Produkte vorsieht.

    Der Vorsorgegrundsatz kann also nur in Fällen eines Risikos insbesondere für die menschliche Gesundheit angewandt werden, das, ohne auf wissenschaftlich nicht verifizierte bloße Hypothesen gestützt zu werden, noch nicht in vollem Umfang nachgewiesen werden konnte.

    In einem solchen Zusammenhang stellt der Begriff Risiko" somit eine Funktion der Wahrscheinlichkeit nachteiliger Wirkungen für das von der Rechtsordnung geschützte Gut aufgrund der Verwendung eines Produktes oder Verfahrens dar.

    Bei der Risikobewertung geht es folglich darum, den Grad der Wahrscheinlichkeit der nachteiligen Wirkungen eines bestimmten Produktes oder Verfahrens für die menschliche Gesundheit und die Schwere dieser potenziellen Wirkungen zu bewerten.

    ( vgl. Randnrn. 152-161 )

    7. Im Rahmen der Risikobewertung müssen die Gemeinschaftsorgane den Risikograd - d. h. die kritische Schwelle für die Wahrscheinlichkeit nachteiliger Wirkungen für die menschliche Gesundheit und für die Schwere dieser potenziellen Wirkungen - bestimmen, der ihnen für die Gesellschaft nicht mehr hinnehmbar erscheint und der, wird er überschritten, im Interesse des Schutzes der menschlichen Gesundheit trotz bestehender wissenschaftlicher Ungewissheit vorbeugende Maßnahmen erforderlich macht.

    Zwar ist den Gemeinschaftsorganen eine rein hypothetische Betrachtung des Risikos und eine Ausrichtung ihrer Entscheidungen auf ein Nullrisiko" untersagt, doch müssen sie ihre Verpflichtung aus Artikel 129 Absatz 1 Unterabsatz 1 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 152 EG) beachten, ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen, das, um mit dieser Vorschrift vereinbar zu sein, nicht unbedingt das in technischer Hinsicht höchstmögliche sein muss.

    Die Bestimmung des für nicht hinnehmbar gehaltenen Risikograds hängt von der Beurteilung der besonderen Umstände des Einzelfalls durch die zuständige öffentliche Stelle ab. Insoweit kann die betreffende Stelle insbesondere die Schwere der Auswirkung, die der Eintritt dieses Risikos auf die menschliche Gesundheit hat, einschließlich des Umfangs der möglichen nachteiligen Wirkungen, die Dauer, die Reversibilität oder die möglichen Spätfolgen dieser Schäden sowie die mehr oder weniger konkrete Wahrnehmung des Risikos nach dem Stand der vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigen.

    Im Bereich der Zusatzstoffe in der Tierernährung haben die Gemeinschaftsorgane komplexe technische und wissenschaftliche Bewertungen vorzunehmen. Unter diesen Umständen ist die Vornahme einer wissenschaftlichen Risikobewertung eine Vorbedingung für den Erlass jeder vorbeugenden Maßnahme.

    Die wissenschaftliche Risikobewertung wird gemeinhin sowohl auf internationaler Ebene als auch auf Gemeinschaftsebene als wissenschaftliches Verfahren definiert, das darin besteht, eine Gefahr zu ermitteln und zu beschreiben, die Exposition zu bewerten und das Risiko zu bezeichnen.

    Die zuständige öffentliche Stelle muss die wissenschaftliche Risikobewertung unter Beachtung der anwendbaren Vorschriften wissenschaftlichen Experten übertragen, die ihr nach Abschluss dieses wissenschaftlichen Verfahrens wissenschaftliche Gutachten vorlegen.

    Die Gutachten wissenschaftlicher Experten sind in allen Phasen der Konzeption und Durchführung neuer Rechtsvorschriften wie auch der Pflege der bestehenden Rechtsvorschriften von höchster Bedeutung. Die in Artikel 129 Absatz 1 Unterabsatz 1 des Vertrages vorgesehene Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane, ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen, bedeutet nämlich, dass die Gemeinschaftsorgane gewährleisten müssen, dass ihre Entscheidungen unter voller Berücksichtigung der besten verfügbaren wissenschaftlichen Daten getroffen und auf die neuesten internationalen Forschungsergebnisse gestützt werden.

    Somit müssen die wissenschaftlichen Gutachten über Fragen der Verbrauchergesundheit, um ihre Funktionen erfuellen zu können, im Interesse der Verbraucher und der Wirtschaft auf den Grundsätzen der höchsten Fachkompetenz, der Unabhängigkeit und der Transparenz beruhen.

    Im Rahmen der Anwendung des Vorsorgegrundsatzes kann sich die Vornahme einer vollständigen wissenschaftlichen Risikobewertung wegen der Unzulänglichkeit der verfügbaren wissenschaftlichen Daten als unmöglich erweisen. Die Durchführung einer solchen vollständigen wissenschaftlichen Bewertung erfordert nämlich unter Umständen eine sehr gründliche und langwierige wissenschaftliche Untersuchung. Soll dem Vorsorgegrundsatz nicht seine praktische Wirksamkeit genommen werden, kann aber die Unmöglichkeit, eine vollständige wissenschaftliche Risikobewertung vorzunehmen, die zuständige öffentliche Stelle nicht daran hindern, vorbeugende Maßnahmen - erforderlichenfalls auch sehr kurzfristig - zu treffen, wenn derartige Maßnahmen angesichts des Grades des Risikos für die menschliche Gesundheit, den die betreffende Stelle als für die Gesellschaft nicht hinnehmbar festgelegt hat, unerlässlich erscheinen.

    Die zuständige öffentliche Stelle muss die ihr obliegenden Verpflichtungen gegeneinander abwägen und sich entscheiden, ob sie abwarten soll, bis Ergebnisse einer eingehenderen wissenschaftlichen Untersuchung vorliegen, oder ob sie auf der Grundlage der vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse handeln soll. Soweit es um Maßnahmen zum Schutz der menschlichen Gesundheit geht, hängt diese Abwägung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls vom Risikograd ab, den die betreffende Stelle als für die Gesellschaft nicht hinnehmbar festgelegt hat.

    Dabei muss die von wissenschaftlichen Experten vorgenommene wissenschaftliche Risikobewertung der zuständigen öffentlichen Stelle eine so zuverlässige und fundierte Information vermitteln, dass diese Stelle die volle Tragweite der aufgeworfenen wissenschaftlichen Frage erfassen und ihre Politik in Kenntnis der Sachlage bestimmen kann. Wenn sie keine willkürlichen Maßnahmen erlassen will, die auf keinen Fall durch den Vorsorgegrundsatz gerechtfertigt werden können, hat die zuständige öffentliche Stelle daher darauf zu achten, dass die von ihr getroffenen Maßnahmen, auch wenn es sich um vorbeugende Maßnahmen handelt, auf eine wissenschaftliche Risikobewertung gestützt sind, die unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls so erschöpfend wie möglich ist. Trotz der bestehenden wissenschaftlichen Ungewissheit muss diese wissenschaftliche Bewertung es der zuständigen öffentlichen Stelle erlauben, auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen Daten und der neuesten internationalen Forschungsergebnisse zu beurteilen, ob der Risikograd, den sie für die Gesellschaft für hinnehmbar hält, überschritten ist. Auf dieser Grundlage hat die betreffende Stelle zu entscheiden, ob der Erlass vorbeugender Maßnahmen geboten ist, und gegebenenfalls zu bestimmen, welche Maßnahmen ihr angemessen und erforderlich erscheinen, um eine Verwirklichung des Risikos zu verhindern.

    ( vgl. Randnrn. 164-176 )

    8. Die Gemeinschaftsorgane verfügen im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik über ein weites Ermessen hinsichtlich der Definition der verfolgten Ziele und der Wahl des für ihr Vorgehen geeigneten Instrumentariums. In diesem Zusammenhang beschränkt sich die Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit durch den Gemeinschaftsrichter auf die Prüfung der Frage, ob die Gemeinschaftsorgane bei der Ausübung eines solchen Ermessens einen offensichtlichen Fehler oder einen Ermessensmissbrauch begangen oder die Grenzen ihres Ermessens offensichtlich überschritten haben.

    Die Gemeinschaftsorgane verfügen insbesondere bei der Bestimmung des für die Gesellschaft für nicht hinnehmbar gehaltenen Risikograds über ein weites Ermessen.

    Wenn eine Gemeinschaftsbehörde im Rahmen ihrer Aufgabe komplexe Prüfungen vorzunehmen hat, bezieht sich das Ermessen, über das sie insoweit verfügt, in bestimmtem Umfang auch auf die Feststellung der ihrem Vorgehen zugrunde liegenden tatsächlichen Umstände.

    Daraus ergibt sich, dass die gerichtliche Prüfung der Frage, ob die Gemeinschaftsorgane diese Aufgabe erfuellt haben, beschränkt ist. In einem solchen Zusammenhang kann der Gemeinschaftsrichter nicht die Beurteilung der tatsächlichen Umstände durch die Gemeinschaftsorgane, denen allein der Vertrag diese Aufgabe übertragen hat, durch seine eigene Beurteilung ersetzen. Er hat sich vielmehr darauf zu beschränken, zu prüfen, ob die Gemeinschaftsorgane bei der Ausübung ihres Ermessens einen offensichtlichen Fehler oder einen Ermessensmissbrauch begangen oder die Grenzen ihres Ermessens offensichtlich überschritten haben.

    ( vgl. Randnrn. 177-180 )

    9. Der Vorsorgegrundsatz erlaubt es den Gemeinschaftsorganen, im Interesse der menschlichen Gesundheit, aber auf der Grundlage noch lückenhafter wissenschaftlicher Erkenntnisse Schutzmaßnahmen zu erlassen, die - sogar erheblich - in geschützte Rechtspositionen eingreifen können, und räumt den Organen insoweit ein weites Ermessen ein.

    Unter solchen Umständen kommt eine umso größere Bedeutung der Beachtung der Garantien zu, die die Gemeinschaftsrechtsordnung in Verwaltungsverfahren gewährt. Zu diesen Garantien gehört insbesondere die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen.

    Die Vornahme einer möglichst erschöpfenden wissenschaftlichen Risikobewertung auf der Grundlage wissenschaftlicher Gutachten, die auf den Grundsätzen der höchsten Fachkompetenz, der Transparenz und der Unabhängigkeit beruhen, stellt somit eine wichtige Verfahrensgarantie zur Gewährleistung der wissenschaftlichen Objektivität der Maßnahmen und zur Verhinderung des Erlasses willkürlicher Maßnahmen dar.

    ( vgl. Randnrn. 181-183 )

    10. Auch wenn die Gemeinschaftsorgane nach den anwendbaren Rechtsvorschriften die Möglichkeit haben, die Zulassung eines Zusatzstoffs zu widerrufen, ohne zuvor ein wissenschaftliches Gutachten der zuständigen wissenschaftlichen Ausschüsse einzuholen, können sie, wenn sie besonders komplexe technische und wissenschaftliche Tatsachen zu bewerten haben, nur unter außergewöhnlichen Umständen und wenn gewährleistet ist, dass angemessene Garantien wissenschaftlicher Objektivität gegeben sind, als vorbeugende Maßnahme die Zulassung eines Zusatzstoffs widerrufen, ohne dass ihnen ein Gutachten des zu diesem Zweck auf Gemeinschaftsebene eingesetzten wissenschaftlichen Ausschusses zu den relevanten wissenschaftlichen Informationen vorliegt.

    ( vgl. Randnrn. 209, 213 )

    11. Im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Artikel 173 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 230 EG) kann die Beurteilung durch die Gemeinschaftsorgane nur dann in Frage gestellt werden, wenn sie im Hinblick auf die tatsächlichen und rechtlichen Erkenntnisse, über die die Gemeinschaftsorgane zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Rechtsakts verfügten oder hätten verfügen müssen, irrig erscheint.

    ( vgl. Randnr. 248 )

    12. Die Gemeinschaftsorgane haben keine offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, als sie anhand der Tatsachen, die ihnen zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung Nr. 2821/98 über den Widerruf der Zulassung für die Vermarktung bestimmter Zusatzstoffe in der Tierernährung, darunter Zink-Bacitracin, in der Gemeinschaft vorlagen, zu dem Schluss gelangten, dass die Verwendung dieses Zusatzstoffs als Wachstumsförderer ein Risiko für die menschliche Gesundheit darstelle. Die Gemeinschaftsorgane durften vielmehr davon ausgehen, dass es die Gesundheit betreffende schwerwiegende Gründe im Sinne von Artikel 3a Buchstabe e der Richtlinie 70/524 über Zusatzstoffe in der Tierernährung gebe, aus denen Zink-Bacitracin als Antibiotikum mit doppelter Verwendung - als Zusatzstoff in der Tierernährung und als Humanarzneimittel - der ärztlichen Anwendung vorbehalten bleiben müsse.

    ( vgl. Randnr. 313 )

    13. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört, dürfen die Handlungen der Gemeinschaftsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die verursachten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.

    Der Gemeinschaftsgesetzgeber verfügt jedoch im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik über einen Ermessensspielraum, der der politischen Verantwortung entspricht, die ihm die Artikel 40 und 43 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 34 EG und 37 EG) übertragen. Folglich ist eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme nur dann rechtswidrig, wenn sie zur Erreichung des Zieles, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist.

    ( vgl. Randnrn. 324-325 )

    14. Das Recht auf Anhörung im Rahmen eines eine bestimmte Person betreffenden Verwaltungsverfahrens, das auch dann beachtet werden muss, wenn es an einer Regelung für das betreffende Verfahren fehlt, lässt sich nicht auf ein Gesetzgebungsverfahren übertragen, das zum Erlass einer Maßnahme allgemeiner Geltung führt. Dass ein Wirtschaftsteilnehmer von der angefochtenen Verordnung unmittelbar und individuell betroffen ist, ändert an dieser Feststellung nichts.

    ( vgl. Randnr. 388 )

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