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Document 62022CJ0655
Judgment of the Court (Ninth Chamber) of 14 December 2023.#I GmbH & Co. KG v Hauptzollamt HZA.#Request for a preliminary ruling from the Bundesfinanzhof.#Case C-655/22.
Urteil des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 14. Dezember 2023.
I GmbH & Co. KG gegen Hauptzollamt HZA.
Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Landwirtschaft – Gemeinsame Marktorganisation – Zuckersektor – Produktionsabgaben – Verordnung (EU) Nr. 1360/2013 – Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben – Ausschluss- und Verjährungsfristen – Bestandskraft von Festsetzungsbescheiden – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Grundsatz der Rechtssicherheit.
Rechtssache C-655/22.
Urteil des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 14. Dezember 2023.
I GmbH & Co. KG gegen Hauptzollamt HZA.
Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Landwirtschaft – Gemeinsame Marktorganisation – Zuckersektor – Produktionsabgaben – Verordnung (EU) Nr. 1360/2013 – Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben – Ausschluss- und Verjährungsfristen – Bestandskraft von Festsetzungsbescheiden – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Grundsatz der Rechtssicherheit.
Rechtssache C-655/22.
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:993
*A9* Bundesfinanzhof, beschluss vom 01/06/2022 (VII R 48/20)
*P1* Bundesfinanzhof, VII. Senat, Urteil vom 09/07/2024 (ECLI:DE:BFH:2024:U.090724.VIIR35.23.0)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)
14. Dezember 2023 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Landwirtschaft – Gemeinsame Marktorganisation – Zuckersektor – Produktionsabgaben – Verordnung (EU) Nr. 1360/2013 – Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben – Ausschluss- und Verjährungsfristen – Bestandskraft von Festsetzungsbescheiden – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Grundsatz der Rechtssicherheit“
In der Rechtssache C‑655/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 1. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Oktober 2022, in dem Verfahren
I GmbH & Co. KG
gegen
Hauptzollamt HZA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin O. Spineanu‑Matei sowie des Richters J.‑C. Bonichot und der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin),
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– |
der I GmbH & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwalt D. Ehle, |
– |
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. C. Becker und B. Hofstötter als Bevollmächtigte, |
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 1360/2013 des Rates vom 2. Dezember 2013 zur Festsetzung der Produktionsabgaben im Zuckersektor für die Wirtschaftsjahre 2001/2002, 2002/2003, 2003/2004, 2004/2005 und 2005/2006, des Koeffizienten für die Berechnung der Ergänzungsabgabe für die Wirtschaftsjahre 2001/2002 und 2004/2005 und der Beträge, die die Zuckerhersteller den Zuckerrübenverkäufern für die Differenz zwischen dem Höchstbetrag der Abgaben und dem Betrag dieser für die Wirtschaftsjahre 2002/2003, 2003/2004 und 2005/2006 zu erhebenden Abgaben zu zahlen haben (ABl. 2013, L 343, S. 2). |
2 |
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der I GmbH & Co. KG und dem Hauptzollamt HZA (Deutschland) (im Folgenden: Hauptzollamt) wegen Erstattung zu Unrecht gezahlter Produktionsabgaben im Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 2001/2002. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 1150/2000
3 |
Art. 2 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1150/2000 des Rates vom 22. Mai 2000 zur Durchführung des Beschlusses 2007/436/EG, Euratom über das System der Eigenmittel der Gemeinschaften (ABl. 2000, L 130, S. 1) in der durch die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 105/2009 des Rates vom 26. Januar 2009 (ABl. 2009, L 36, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1150/2000) sah vor: „(1) Für diese Verordnung gilt ein Anspruch der Gemeinschaften auf die Eigenmittel im Sinn von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a des Beschlusses 2007/436/EG, Euratom [des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 2007, L 163, S. 17)] als festgestellt, sobald die Bedingungen der Zollvorschriften für die buchmäßige Erfassung des Betrags der Abgabe und dessen Mitteilung an den Abgabenschuldner erfüllt sind. (2) Der Zeitpunkt der Feststellung im Sinn von Absatz 1 ist der Zeitpunkt der buchmäßigen Erfassung im Sinne der Zollvorschriften. Bei den im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Zucker vorgesehenen Abgaben und sonstigen Beträgen ist als Zeitpunkt der Feststellung im Sinne von Absatz 1 der Zeitpunkt der in der Zuckerregelung vorgesehenen Mitteilung zugrunde zu legen. Ist diese Mitteilung nicht ausdrücklich vorgesehen, so ist der Zeitpunkt maßgebend, zu dem die Mitgliedstaaten die von den Abgabenschuldnern gegebenenfalls als Anzahlung oder Restzahlung geschuldeten Beträge feststellen. … (4) Absatz 1 findet Anwendung, wenn die Mitteilung berichtigt werden muss.“ |
Verordnung Nr. 1360/2013
4 |
In den Erwägungsgründen 10 bis 12 und 23 der Verordnung Nr. 1360/2013 heißt es:
…
|
5 |
Art. 1 Abs. 1 dieser Verordnung lautet: „Die Produktionsabgaben im Zuckersektor für die Wirtschaftsjahre 2001/2002, 2002/2003, 2003/2004, 2004/2005 und 2005/2006 sind unter Nummer 1 des Anhangs festgesetzt.“ |
6 |
In Art. 2 der Verordnung heißt es: „Der in Artikel 2 Absatz 2 Unterabsatz 2 der [Verordnung Nr. 1150/2000] genannte Zeitpunkt der Feststellung der Abgaben gemäß der vorliegenden Verordnung ist spätestens der 30. September 2014, außer wenn die Mitgliedstaaten diese Frist aufgrund der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften über die Rückforderung gezahlter, jedoch nicht geschuldeter Beträge an die Wirtschaftsteilnehmer nicht einhalten können.“ |
7 |
Art. 3 Abs. 2 bis 4 der Verordnung Nr. 1360/2013 legt die Zeitpunkte fest, ab denen die in Nr. 1 des Anhangs dieser Verordnung festgesetzten Produktionsabgaben für die Wirtschaftsjahre 2001/2002 bis 2005/2006 gelten. Gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung tritt diese am Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft. Das Inkrafttreten erfolgte damit am 20. Dezember 2013. |
Verordnung (EU) 2018/264
8 |
Art. 2 Abs. 2 der Verordnung (EU) 2018/264 des Rates vom 19. Februar 2018 zur Festsetzung der Produktionsabgaben sowie des Berechnungskoeffizienten für die Ergänzungsabgabe im Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 1999/2000 und zur Festsetzung der Produktionsabgaben im Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 2000/2001 (ABl. 2018, L 51, S. 1) bestimmt: „Der Unterschied zwischen den durch die Verordnungen (EG) Nr. 2267/2000 [der Kommission vom 12. Oktober 2000 zur Festsetzung der Produktionsabgaben sowie des Berechnungskoeffizienten für die Ergänzungsabgabe im Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 1999/2000 (ABl. 2000, L 259, S. 29)] und (EG) Nr. 1993/2001 [der Kommission vom 11. Oktober 2001 zur Festsetzung der Produktionsabgaben im Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 2000/2001 (ABl. 2001, L 271, S. 15)] festgesetzten Abgaben und den in Artikel 1 der vorliegenden Verordnung vorgesehenen Abgaben wird den Wirtschaftsteilnehmern, die für die Wirtschaftsjahre 1999/2000 und 2000/2001 Abgaben gezahlt haben, auf deren hinreichend begründeten Antrag erstattet.“ |
Deutsches Recht
9 |
§ 12 Abs. 1 Satz 1 des Marktorganisationsgesetzes in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmte: „Auf Abgaben zu Marktordnungszwecken, die nach Regelungen im Sinne des § 1 Abs. 2 hinsichtlich Marktordnungswaren erhoben werden, sind die Vorschriften der Abgabenordnung … entsprechend anzuwenden, sofern nicht durch dieses Gesetz oder durch Rechtsverordnung auf Grund dieses Gesetzes eine von diesen Vorschriften abweichende Regelung getroffen ist.“ |
10 |
§ 169 Abs. 1 und 2 der Abgabenordnung in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sah vor: „(1) Eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung sind nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. … (2) Die Festsetzungsfrist beträgt:
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11 |
§ 170 Abs. 1 der Abgabenordnung lautete: „Die Festsetzungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist oder eine bedingt entstandene Steuer unbedingt geworden ist.“ |
12 |
In § 171 Abs. 3 der Abgabenordnung hieß es: „Wird vor Ablauf der Festsetzungsfrist außerhalb eines Einspruchs- oder Klageverfahrens ein Antrag auf Steuerfestsetzung oder auf Aufhebung oder Änderung einer Steuerfestsetzung oder ihrer Berichtigung nach § 129 gestellt, so läuft die Festsetzungsfrist insoweit nicht ab, bevor über den Antrag unanfechtbar entschieden worden ist.“ |
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
13 |
I unterlag als Zuckerhersteller für die Wirtschaftsjahre 2001/2002 bis 2005/2006 dem System der Produktionsabgaben im Zuckersektor gemäß der Verordnung Nr. 1260/2001. |
14 |
Die Höhe dieser Abgaben wurde in Anwendung von jährlich von der Europäischen Kommission erlassenen Verordnungen festgelegt. So wurde die Abgabenhöhe für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 in Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1837/2002 der Kommission vom 15. Oktober 2002 zur Festsetzung der Produktionsabgaben sowie des Koeffizienten der Ergänzungsabgabe im Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 (ABl. L 2002, L 278, S. 13) bestimmt. |
15 |
Mit gemäß dieser Verordnung erlassenem Bescheid vom 25. November 2002 setzte das Hauptzollamt die von I zu zahlenden Produktionsabgaben für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 fest (im Folgenden: Bescheid vom 25. November 2002). |
16 |
Mit Urteil vom 8. Mai 2008, Zuckerfabrik Jülich u. a. (C‑5/06 und C‑23/06 bis C‑36/06, EU:C:2008:260), sowie mit Beschlüssen vom 6. Oktober 2008, Raffinerie Tirlemontoise (C‑200/06, EU:C:2008:541), und vom 6. Oktober 2008, SAFBA (C‑175/07 bis C‑184/07, EU:C:2008:543), wurden die Verordnungen der Kommission betreffend die Wirtschaftsjahre 2002/2003 bis 2004/2005 vom Gerichtshof für ungültig erklärt. |
17 |
Mit Bescheid vom 27. Januar 2010 lehnte das Hauptzollamt einen von I gestellten Antrag auf Änderung des Bescheids vom 25. November 2002 ab. |
18 |
Mit Urteil vom 27. September 2012, Zuckerfabrik Jülich u. a. (C‑113/10, C‑147/10 und C‑234/10, EU:C:2012:591), wurde die Verordnung Nr. 1193/2009, mit der die Verordnungen der Kommission betreffend die Wirtschaftsjahre 2002/2003 bis 2004/2005 geändert worden waren, ihrerseits vom Gerichtshof für ungültig erklärt. Im Anschluss an die Verkündung dieses Urteils setzte der Rat der Europäischen Union mit Erlass der Verordnung Nr. 1360/2013 die Produktionsabgaben im Zuckersektor für die Wirtschaftsjahre 2001/2002 bis 2005/2006 neu und niedriger fest. |
19 |
Am 18. Dezember 2014 stellte I auf der Grundlage der Verordnung Nr. 1360/2013 beim Hauptzollamt erneut einen Antrag auf Änderung der Abgaben und auf Erstattung der zu viel gezahlten Abgaben zuzüglich Zinsen. |
20 |
Mit Bescheid vom 28. Januar 2016, der im Einspruchsverfahren bestätigt wurde, lehnte das Hauptzollamt diesen neuen Antrag unter Hinweis darauf ab, dass der Bescheid vom 25. November 2002 bestandskräftig sei. |
21 |
Das Finanzgericht (Deutschland) wies die von I gegen den Bescheid vom 28. Januar 2016 erhobene Klage mit der Begründung ab, dass die rückwirkende Festsetzung niedrigerer Abgaben durch die Verordnung Nr. 1360/2013 keine Auswirkungen auf den bestandskräftigen Bescheid vom 25. November 2002 habe, da sich die Änderung dieses Bescheids allein nach innerstaatlichem Recht richte. |
22 |
I legte beim Bundesfinanzhof (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Revision gegen dieses Urteil ein. Zur Stützung ihres Rechtsmittels macht sie geltend, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland (C‑360/18, EU:C:2019:1124), einen unionsrechtlichen Anspruch auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben bestätigt habe. Erst ab Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1360/2013 hätten diese Abgaben richtig bestimmt werden können und sei sie daher in der Lage gewesen, ihr Recht auf Erstattung auszuüben. Der Erstattungsanspruch dürfe also nicht von einer Aufhebung oder Änderung des Bescheids vom 25. November 2002 abhängig gemacht werden. I zieht hieraus den Schluss, dass der Grundsatz der Effektivität es dem Hauptzollamt nicht erlaube, sich auf nationale Verjährungsfristen und auf die Bestandskraft dieses Bescheids zu berufen. |
23 |
Das vorlegende Gericht hat Zweifel bei der Auslegung des Art. 2 der Verordnung Nr. 1360/2013 und hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit und dem Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland (C‑360/18, EU:C:2019:1124). |
24 |
Insoweit ist es zunächst der Auffassung, dass das Unionsrecht nicht die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für Änderungen der aufgrund der Verordnung Nr. 1873/2002 erlassenen Abgabenbescheide und für die Beantragung von Erstattungen regele. Diese Voraussetzungen seien somit im nationalem Recht gemäß den darin vorgesehenen Verfahrensvorschriften geregelt. |
25 |
Gemäß dem anwendbaren nationalen Recht habe I aber keinen Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht gezahlten Abgaben. Der Bescheid vom 25. November 2002 sei nämlich bestandskräftig geworden und könne nicht mehr nachträglich geändert werden, da die Festsetzungsfrist für die Produktionsabgaben im Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 im Februar 2010, vor Erlass der Verordnung Nr. 1360/2013, abgelaufen sei. Da im deutschen Recht eine Erstattung von Produktionsabgaben ohne eine Änderung der bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung, mit der diese Abgaben festgesetzt worden seien, nicht vorgesehen sei, sei die Erstattung dieser zu Unrecht gezahlten Abgaben nur möglich, wenn sich unmittelbar aus dem Unionsrecht ein Erstattungsanspruch ergebe. |
26 |
Ein solcher Anspruch ergebe sich nicht automatisch aus der Verordnung Nr. 1360/2013, da sich nicht eindeutig erkennen lasse, in welchen Fällen und unter welchen verfahrensrechtlichen Voraussetzungen die in dieser Verordnung vorgesehene rückwirkende Korrektur durchzuführen wäre. Dass eine rückwirkende Korrektur nicht automatisch einen Erstattungsanspruch beinhalte, lasse sich auch im Umkehrschluss aus Art. 2 Abs. 2 der Verordnung 2018/264 für die Wirtschaftsjahre 1999/2000 und 2000/2001 schließen, in dem der Gesetzgeber der Europäischen Union einen solchen Anspruch ausdrücklich geregelt habe, was entbehrlich gewesen wäre, wenn sich der Anspruch bereits aus der Änderung der Abgaben ergäbe. |
27 |
Das vorlegende Gericht ist jedoch der Auffassung, dass sich ein Anspruch auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben aus dem Erfordernis ergebe, die praktische Wirksamkeit der Verordnung Nr. 1360/2013 sicherzustellen, wie sie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland (C‑360/18, EU:C:2019:1124), ausgelegt habe, indem erreicht werden solle, dass die Zuckerhersteller nur mit der richtigen Abgabenhöhe belastet würden. Zwar richteten sich das Verfahren und die Modalitäten der Erstattung, wozu auch die Verjährungs- oder Ausschlussfristen gehörten, nach nationalem Recht, doch müssten die Mitgliedstaaten die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachten, so dass es den Zuckerherstellern nicht praktisch unmöglich sein dürfe, einen Erstattungsantrag zu stellen. Im vorliegenden Fall dürften der Eintritt der Festsetzungsverjährung und die sich daraus ergebende Bestandskraft der Abgabenbescheide somit der Geltendmachung des Erstattungsanspruchs durch die Klägerin des Ausgangsverfahrens nicht entgegenstehen. |
28 |
Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit dieses Ergebnisses mit dem allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit in seiner Auslegung durch den Gerichtshof in seinen Urteilen vom 13. Januar 2004, Kühne & Heitz (C‑453/00, EU:C:2004:17), und vom 20. Dezember 2017, Incyte (C‑492/16, EU:C:2017:995). Nach dieser Rechtsprechung verlange das Unionsrecht grundsätzlich nicht, dass eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückgenommen werden müsse, da diese Bestandskraft, die nach Ablauf angemessener Klagefristen oder Erschöpfung des Rechtswegs eingetreten sei, zur Rechtssicherheit beitrage. Außerdem sei eine Verwaltungsbehörde nach dieser Rechtsprechung nur dann verpflichtet, eine Entscheidung über die Festsetzung von Abgaben zu überprüfen, um einer Entscheidung des Gerichtshofs Rechnung zu tragen, wenn – u. a. – diese Änderung nach nationalem Recht noch möglich sei. |
29 |
Das Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland (C‑360/18, EU:C:2019:1124), stehe jedoch im Widerspruch zu dieser Rechtsprechung, weil darin ein Erstattungsanspruch bejaht worden sei, obwohl die nationale Verwaltungsentscheidung bestandskräftig geworden sei und die Verjährungsfrist für die Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Abgaben bereits abgelaufen gewesen sei. Dies gelte umso mehr, als im vorliegenden Fall die Änderung der Abgaben durch die Verordnung Nr. 1360/2013 rund elf Jahre nach dem betreffenden Wirtschaftsjahr erfolgt sei. |
30 |
Schließlich stelle sich noch die Frage, ob sich die Klägerin des Ausgangsverfahrens rechtzeitig wegen der Erstattung der zu Unrecht erhobenen Abgaben an das Hauptzollamt gewandt habe und ob die in Art. 2 der Verordnung Nr. 1360/2013 genannte Frist, d. h. der 30. September 2014, für die Zuckerhersteller gelte. Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, diese Frist gelte nach Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 für die Mitgliedstaaten und solle sicherstellen, dass die Eigenmittel der Union der Kommission vor diesem Zeitpunkt zur Verfügung gestellt würden. Wenn es sich bei dieser Frist nicht um eine Frist für die Einreichung eines Antrags auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben handele, sei jedoch zweifelhaft innerhalb welcher Frist ein solcher Antrag zu stellen sei. |
31 |
Vor diesem Hintergrund hat der Bundesfinanzhof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
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Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
32 |
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 der Verordnung Nr. 1360/2013 dahin auszulegen ist, dass die Frist für die Einreichung eines auf diese Verordnung gestützten Antrags auf Erstattung von zu Unrecht als Produktionsabgaben im Zuckersektor gezahlten Beträgen spätestens zum Zeitpunkt der Feststellung dieser Abgaben, nämlich am 30. September 2014, endet. |
33 |
Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst festzustellen, dass die Verordnung Nr. 1360/2013, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 10 und 11 ergibt, vom Rat erlassen wurde, um dem Urteil vom 27. September 2012, Zuckerfabrik Jülich u. a. (C‑113/10, C‑147/10 und C‑234/10, EU:C:2012:591), nachzukommen. In diesem Urteil hat der Gerichtshof u. a. festgestellt, dass die von der Kommission zur Festsetzung der Produktionsabgaben im Zuckersektor für die Wirtschaftsjahre 2002/2003 bis 2005/2006 verwendete Methode unrichtig war und die betreffenden Zuckerhersteller daher Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht als Produktionsabgaben gezahlten Beträge zuzüglich Zinsen hatten. Im zwölften Erwägungsgrund dieser Verordnung heißt es, dass auch die Produktionsabgaben und der Koeffizient für die Ergänzungsabgabe für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 entsprechend berichtigt werden sollten, da dieselbe Methode, die der Gerichtshof für ungültig erklärt hat, zur Berechnung der Abgaben für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 verwendet wurde. Diese Verordnung hat somit zum Ziel, die Produktionsabgaben für die Wirtschaftsjahre 2001/2002 bis 2005/2006 nach der vom Gerichtshof in diesem Urteil anerkannten Methode rückwirkend zu korrigieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland, C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 35 und 36). |
34 |
Daraus folgt zum einen, dass die Verordnung Nr. 1360/2013 die aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof hergeleiteten Ansprüche der Zuckerhersteller auf Erstattung der Beträge umsetzt, die sie zu Unrecht als Produktionsabgaben im Zuckersektor für die Wirtschaftsjahre 2001/2002 bis 2005/2006 gezahlt haben. Um die praktische Wirksamkeit dieser Verordnung zu gewährleisten, müssen diese Zuckerhersteller daher eine solche Erstattung tatsächlich erhalten können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland, C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 37 und 38). |
35 |
Zum anderen kann dieser Erstattungsanspruch erst ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1360/2013, d. h. dem 20. Dezember 2013, geltend gemacht werden. Erst ab diesem Zeitpunkt konnten die zuständigen nationalen Behörden nämlich nach der rückwirkenden Festsetzung der neuen Produktionsabgaben im Zuckersektor den genauen Betrag der von jedem der betroffenen Erzeuger zu Unrecht gezahlten Abgaben ermitteln. Ab diesem Zeitpunkt waren auch die Zuckerhersteller erst in der Lage, von diesem Betrag Kenntnis zu nehmen und mithin rechtswirksam Anträge auf Erstattung der zu Unrecht gezahlten Abgaben zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland, C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 40 und 41). |
36 |
Was die Voraussetzungen und die Frist für die Geltendmachung dieses Erstattungsanspruchs betrifft, ist zunächst festzustellen, dass in Nr. 1 des Anhangs der Verordnung Nr. 1360/2013, wie in deren Art. 1 Abs. 1 vorgesehen, die neuen Produktionsabgaben im Zuckersektor für jedes der Wirtschaftsjahre von 2001/2002 bis 2005/2006 in Euro je Tonne des Erzeugnisses festgesetzt werden. Sodann legt Art. 2 der Verordnung Nr. 1360/2013 den Zeitpunkt, zu dem die Mitgliedstaaten diese neuen Abgaben dem Eigenmittelkonto der Union gutzuschreiben haben, grundsätzlich fest. Art. 3 dieser Verordnung schließlich legt rückwirkend die Zeitpunkte fest, ab denen diese neuen Abgaben gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland, C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 42 bis 44). |
37 |
Insbesondere ergibt sich aus Art. 2 der Verordnung Nr. 1360/2013 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000, dass der in der erstgenannten Bestimmung festgelegte Zeitpunkt, d. h. der 30. September 2014, der Zeitpunkt ist, zu dem die Mitgliedstaaten grundsätzlich die von den Abgabenpflichtigen als neue Produktionsabgaben im Zuckersektor geschuldeten Beträge feststellen und diese Beträge dem Eigenmittelkonto der Union gutschreiben mussten, und nicht der Zeitpunkt, zu dem die Zuckererzeuger ihren Antrag auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Beträge stellen mussten. Wie aus dem 23. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1360/2013 hervorgeht, lässt die in Art. 2 dieser Verordnung festgelegte Frist die im nationalen Recht vorgesehenen Fristen für die Erstattung an den betreffenden Marktteilnehmer unberührt. |
38 |
Aus den genannten Bestimmungen ergibt sich, dass die Verordnung Nr. 1360/2013 die Bestimmungen der Verordnungen der Kommission zur Festsetzung der Produktionsabgaben im Zuckersektor für die Wirtschaftsjahre 2001/2002 bis 2005/2006, darunter die der Verordnung Nr. 1837/2002, rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Geltung dieser Bestimmungen ersetzt hat, ohne jedoch die Verfahren und Modalitäten festzulegen, die die Mitgliedstaaten anzuwenden haben, um den sich aus einer solchen Änderung ergebenden Anspruch der Zuckererzeuger auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben umzusetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland, C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 45 und 53). |
39 |
Daraus folgt zum einen, dass die zuständigen nationalen Behörden nach der Verordnung Nr. 1360/2013 nicht dazu aufgerufen sind, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene nationale Steuern zu erstatten, gegebenenfalls durch Änderung unanfechtbar gewordener Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidungen, mit denen die Zahlung dieser Steuern angeordnet wird, wie dies u. a. in den Rechtssachen der Fall war, in denen die Urteile vom 6. Oktober 2015, Târşia,C‑69/14 (EU:C:2015:662, Rn. 24 bis 30), und vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17 (EU:C:2019:700, Rn. 24 bis 29), ergangen sind, sondern dazu, eine vom Unionsgesetzgeber beschlossene rückwirkende Neubewertung von Eigenmitteln der Union, die diese Behörden für die Union erhalten haben, umzusetzen. |
40 |
Zu diesem Zweck haben die genannten Behörden folglich nicht die nationalen Abgabenfestsetzungsentscheidungen und die entsprechenden Abgabenbescheide, die auf der Grundlage der in Rn. 38 des vorliegenden Urteils genannten Verordnungen der Kommission erlassen wurden, zu überprüfen, zu berichtigen oder gar für nichtig zu erklären. Vielmehr müssen sie für jeden der betroffenen Zuckererzeuger die Differenz zwischen den als Abgaben nach diesen Verordnungen zu Unrecht gezahlten Beträgen und den als Abgaben nach der Verordnung Nr. 1360/2013 geschuldeten Beträgen beziffern, um es den Erzeugern zu ermöglichen, rechtswirksam Anträge auf Erstattung dieser Differenz zu stellen, und um damit die praktische Wirksamkeit der letztgenannten Verordnung zu gewährleisten. |
41 |
Zum anderen behalten die Mitgliedstaaten – da die Verordnung Nr. 1360/2013 keine Bestimmungen über die Verfahren und Modalitäten enthält, die die Mitgliedstaaten anzuwenden haben, um den Anspruch der Zuckererzeuger auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben umzusetzen – die Möglichkeit, die in ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung vorgesehenen Verfahrensvorschriften, u. a. im Bereich der Verjährungs- und Ausschlussfristen, anzuwenden, sofern sie die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland, C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 45 und 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
42 |
Die Beachtung dieser Grundsätze erfordert, dass diese Verfahrensvorschriften nicht ungünstiger sein dürfen als bei ähnlichen Klagen, die auf Bestimmungen des nationalen Rechts gestützt sind (Äquivalenzgrundsatz), und nicht so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland, C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
43 |
Was zum einen die Beachtung des Äquivalenzgrundsatzes betrifft, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, das eine unmittelbare Kenntnis von den Verfahrensmodalitäten besitzt, die im innerstaatlichen Recht den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, zu prüfen, ob die Verfahrensmodalitäten für die Umsetzung der mit der Verordnung Nr. 1360/2013 eingeführten Verpflichtung zur Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben nicht ungünstiger sind als diejenigen, die für entsprechende, auf das nationale Recht gestützte Anträge gelten (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Oktober 2020, Valoris, C‑677/19, EU:C:2020:825, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
44 |
Was zum anderen die Beachtung des Effektivitätsgrundsatzes betrifft, so steht die Festlegung angemessener Verjährungs- oder Ausschlussfristen nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich mit dem Erfordernis der Effektivität im Einklang, weil sie ein Anwendungsfall des grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit ist, das zugleich den Betroffenen und die Behörde schützt, selbst wenn der Ablauf solcher Fristen die Betroffenen naturgemäß ganz oder teilweise an der Geltendmachung ihrer Rechte hindern kann (Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland, C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass, da der Anspruch der Zuckererzeuger auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben erst ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1360/2013 geltend gemacht werden kann, nationale Vorschriften, wonach die Ausschluss- und Verjährungsfristen für den Erstattungsantrag vor dem Inkrafttreten dieser Verordnung ablaufen, die Geltendmachung eines solchen Erstattungsanspruchs praktisch unmöglich machen. Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass die Verordnung Nr. 1360/2013 im Licht des Effektivitätsgrundsatzes solchen nationalen Vorschriften entgegensteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland, C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 55, 56 und 58). |
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Folglich sind nationale Verfahrensvorschriften für die Erstattung zu Unrecht gezahlter Produktionsabgaben im Zuckersektor auf der Grundlage der Verordnung Nr. 1360/2013, die angemessene Ausschluss- und Verjährungsfristen vorsehen, als mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar anzusehen, sofern diese Fristen ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1360/2013 laufen. |
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Im vorliegenden Fall verweist das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen auf die Bestimmungen des deutschen Rechts, nämlich § 169 Abs. 1 und 2 sowie § 170 der Abgabenordnung, die Fristen für die Aufhebung oder Änderung von Steuern und bestimmten Abgaben vorsehen. Diese Fristen betragen je nach Fall ein Jahr bzw. vier Jahre. Das vorlegende Gericht gibt jedoch nicht an, ob eine dieser Fristen, und gegebenenfalls welche, für die Einreichung von auf die Verordnung Nr. 1360/2013 gestützten Erstattungsanträgen gelten kann. |
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Insoweit ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof beispielsweise festgestellt hat, dass eine nationale Verjährungsfrist von drei Jahren für angemessen im Sinne dieser Rechtsprechung gehalten werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland, C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung) und dass eine Frist von einem Jahr, die für die Einreichung von Anträgen oder Klagen gilt, die auf einen Verstoß gegen das Unionsrecht gestützt werden, an sich nicht unangemessen erscheint, vorausgesetzt allerdings, dass sie frühestens mit Inkrafttreten der Regelung, mit der diesem Verstoß abgeholfen werden soll, zu laufen beginnt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2020, Valoris, C‑677/19, EU:C:2020:825, Rn. 27 und 28). |
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Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 2 der Verordnung Nr. 1360/2013 dahin auszulegen ist, dass er nicht verlangt, dass die Frist für die Einreichung eines auf diese Verordnung gestützten Antrags auf Erstattung von zu Unrecht als Produktionsabgaben im Zuckersektor gezahlten Beträgen spätestens zum Zeitpunkt der Feststellung dieser Abgaben, nämlich am 30. September 2014, endet. Es obliegt den Mitgliedstaaten, in ihrem nationalen Recht unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität die anwendbare Frist festzulegen, wobei eine Frist von einem Jahr an sich nicht unangemessen erscheint, vorausgesetzt allerdings, dass sie frühestens mit Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1360/2013 zu laufen beginnt. |
Zur zweiten Frage
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Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Verordnung Nr. 1360/2013 dahin auszulegen ist, dass sie nationalen Vorschriften entgegensteht, die es den zuständigen nationalen Behörden erlauben, einen auf diese Verordnung gestützten Antrag auf Erstattung von zu Unrecht als Produktionsabgaben im Zuckersektor gezahlten Beträgen abzulehnen, indem sie sich auf die Bestandskraft der nationalen Entscheidungen berufen, mit denen die Höhe dieser Abgaben vor Erlass dieser Verordnung in Anwendung mehrerer Verordnungen der Kommission festgesetzt wurde, die rückwirkend durch diese Verordnung ersetzt wurden. |
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Zunächst ist festzustellen, dass aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, dass der von I innerhalb eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1360/2013, nämlich am 18. Dezember 2014, gestellte Erstattungsantrag von den zuständigen nationalen Behörden mit der Begründung abgelehnt wurde, dass der vom Hauptzollamt gemäß der Verordnung Nr. 1837/2002 erlassene Bescheid vom 25. November 2002 über die Festsetzung der Höhe der von I für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 geschuldeten Abgaben mit Ablauf der für einen Antrag auf Änderung dieser Entscheidung vorgesehenen Ausschluss- und Verjährungsfristen im Februar 2010 bestandskräftig geworden sei. |
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Insoweit genügt der Hinweis, dass, wie sich insbesondere aus Rn. 45 des vorliegenden Urteils ergibt, die Verordnung Nr. 1360/2013 in Verbindung mit dem Effektivitätsgrundsatz einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein auf diese Verordnung gestützter Antrag auf Erstattung von Produktionsabgaben im Zuckersektor mit der Begründung abgelehnt werden kann, dass die Bescheide, mit denen die Abgaben vor dem Erlass dieser Verordnung festgesetzt wurden, bestandskräftig geworden sind. |
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Dieses Ergebnis wird durch den vom vorlegenden Gericht angeführten Grundsatz der Rechtssicherheit in keiner Weise in Frage gestellt. |
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Zwar verlangt das Unionsrecht nach ständiger Rechtsprechung nicht, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, da die Bestandskraft einer solchen Entscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen oder nach Erschöpfung des Rechtswegs eingetreten ist, zur Rechtssicherheit beiträgt (Urteil vom 20. Dezember 2017, Incyte, C‑492/16, EU:C:2017:995, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
55 |
Wie in Rn. 40 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, verlangt die Anwendung der Verordnung Nr. 1360/2013 durch die zuständigen nationalen Behörden jedoch nicht, dass nationale Abgabenfestsetzungsentscheidungen wie der Bescheid vom 25. November 2002, die auf der Grundlage der rückwirkend durch diese Verordnung ersetzten Verordnungen der Kommission erlassen wurden, überprüft, berichtigt oder gar für nichtig erklärt werden. Die Bestandskraft solcher Abgabenentscheidungen und ‑bescheide kann die Zuckererzeuger daher nicht daran hindern, den ihnen nach dem Unionsrecht zustehenden Anspruch auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben, wie er mit dieser Verordnung umgesetzt wird, geltend zu machen. |
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Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Verordnung Nr. 1360/2013 dahin auszulegen ist, dass sie nationalen Vorschriften entgegensteht, die es den zuständigen nationalen Behörden erlauben, einen auf diese Verordnung gestützten Antrag auf Erstattung von zu Unrecht als Produktionsabgaben im Zuckersektor gezahlten Beträgen abzulehnen, indem sie sich auf die Bestandskraft der nationalen Entscheidungen berufen, mit denen die Höhe dieser Abgaben vor Erlass dieser Verordnung in Anwendung mehrerer Verordnungen der Kommission festgesetzt wurde, die rückwirkend durch diese Verordnung ersetzt wurden. |
Kosten
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Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt: |
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Spineanu-Matei Bonichot Rossi Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 14. Dezember 2023. Der Kanzler A. Calot Escobar Die Kammerpräsidentin O. Spineanu‑Matei |
( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.