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Document 62021CC0554

    Schlussanträge des Generalanwalts P. Pikamäe vom 26. Oktober 2023.
    Financijska agencija gegen Hann-Invest d.o.o. u. a.
    Vorabentscheidungsersuchen des Visoki trgovački sud.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Richterliche Unabhängigkeit – Zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht – Faires Verfahren – Stelle für die Registrierung von Gerichtsentscheidungen – Nationale Regelung, nach der bei den zweitinstanzlichen Gerichten ein Evidenzrichter vorgesehen ist, der in der Praxis über die Befugnis verfügt, die Verkündung eines Urteils auszusetzen, den Spruchkörpern Weisungen zu erteilen und die Einberufung einer Abteilungssitzung zu beantragen – Nationale Regelung, nach der in den Sitzungen einer Abteilung oder aller Richter eines Gerichts ,Rechtsauffassungen‘ festgelegt werden können, die auch für Rechtssachen, über die bereits beraten wurde, verbindlich sind.
    Verbundene Rechtssachen C-554/21, C-622/21 und C-727/21.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:816

     SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    PRIIT PIKAMÄE

    vom 26. Oktober 2023 ( 1 )

    Verbundene Rechtssachen C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21

    Financijska agencija

    gegen

    HANN‑INVEST d.o.o. (C‑554/21)

    und

    Financijska agencija

    gegen

    MINERAL-SEKULINE d.o.o. (C‑622/21)

    und

    UDRUGA KHL MEDVEŠČAK ZAGREB (C‑727/21)

    (Vorabentscheidungsersuchen des Visoki trgovački sud Republike Hrvatske [Hohes Handelsgericht der Republik Kroatien])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Rechtsstaatlichkeit – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Zulässigkeit – Auslegung, die für den Erlass des Urteils durch das vorlegende Gericht erforderlich ist – Interner Mechanismus, der die Kohärenz der Rechtsprechung eines zweitinstanzlichen Gerichts gewährleisten soll – Grundsatz der Rechtssicherheit – Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit – Erfordernisse eines Zugangs zu einem durch Gesetz errichteten Gericht und eines fairen Verfahrens“

    1.

    Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Rechtsprechung Quelle des Rechts ist, wird die Verantwortung des Richters in ihrem ganzen Umfang und ihrer ganzen Komplexität deutlich, da sich dieser im Zentrum widersprüchlicher Anweisungen befindet: Von ihm wird erwartet, dass er Rechtssicherheit gewährleistet, aber auch innovativ ist, um das Recht an die zu regelnden gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Im Schrifttum ist im Übrigen zu Recht die Frage gestellt worden: „Wie viel Unsicherheit verträgt ein Rechtssystem?“ ( 2 ).

    2.

    Vorbehaltlich einer positiven Antwort auf die Frage nach der Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen geben die vorliegenden Rechtssachen dem Gerichtshof Gelegenheit, die oben genannten Erfordernisse anlässlich der Beurteilung der Vereinbarkeit eines internen Verfahrensmechanismus, der die Kohärenz der Rechtsprechung eines Gerichts sicherstellen soll, gegeneinander auszubalanzieren – eine Beurteilung, bei der die unerlässliche richterliche Unabhängigkeit zu berücksichtigen ist.

    I. Rechtlicher Rahmen

    A.   Unionsrecht

    3.

    Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache ist Art. 19 Abs. 1 EUV relevant.

    B.   Kroatisches Recht

    4.

    Art. 37 des Zakon o sudovima (Gerichtsorganisationsgesetz) (Narodne novine, Nrn. 28/13, 33/15, 82/15, 82/16, 67/18, 126/19, 130/20) sieht vor:

    „1.   Gerichte mit mehreren Kammern oder Spruchkörpern, auch mit Einzelrichtern, die über Fragen aus einem oder mehreren verwandten Rechtsgebieten entscheiden, richten Abteilungen ein, in denen die Richter, die über diese Fragen entscheiden, zusammengefasst sind.

    2.   Die Abteilung wird eingerichtet durch den jährlichen Geschäftsverteilungsplan, in dem der Abteilungsvorsitzende bestimmt wird, der die Arbeit der Abteilung leitet. …“

    5.

    Art. 38 dieses Gesetzes bestimmt:

    „1.   In den Sitzungen einer Abteilung werden Fragen erörtert, die für die Arbeit der Abteilung von Interesse sind, d. h. insbesondere die Organisation der internen Tätigkeit, umstrittene Rechtsfragen, die Vereinheitlichung der Rechtsprechung und Fragen, die für die Anwendung der Vorschriften in den einzelnen Rechtsgebieten relevant sind, sowie die Begleitung der Arbeit und Ausbildung der der Abteilung zugewiesenen Richter, Richteramtsanwärter mit abgelegter Anwalts- und Richteramtsprüfung und Referendare.

    2.   In den Sitzungen der Abteilungen eines Županijski sud [(Gespanschaftsgericht)], des Visoki trgovački sud Republike Hrvatske [(Hohes Handelsgericht der Republik Kroatien)], des Visoki upravni sud Republike Hrvatske [(Hohes Verwaltungsgericht der Republik Kroatien)], des Visoki kazneni sud Republike Hrvatske [(Hohes Strafgericht der Republik Kroatien)] und des Visoki prekršajni sud Republike Hrvatske [(Hohes Gericht für Verwaltungsstrafsachen der Republik Kroatien)] werden auch Fragen erörtert, die für die untergeordneten Gerichte im Zuständigkeitsbereich dieser Gerichte von gemeinsamem Interesse sind.

    3.   In den Sitzungen einer Abteilung des Vrhovni sud Republike Hrvatske [(Oberster Gerichtshof der Republik Kroatien)] werden Fragen erörtert, die für einige oder alle Gerichte im Hoheitsgebiet der Republik Kroatien von gemeinsamem Interesse sind; außerdem werden Entwürfe für Vorschriften, die ein bestimmtes Rechtsgebiet betreffen, geprüft und Stellungnahmen dazu abgegeben.“

    6.

    Art. 39 des besagten Gesetzes lautet:

    „1.   Der Abteilungsvorsitzende bzw. der Gerichtspräsident beruft bei Bedarf, mindestens jedoch einmal pro Quartal, eine Abteilungssitzung ein und leitet deren Arbeit. Nimmt der Gerichtspräsident an der Arbeit der Abteilungssitzung teil, leitet er diese und beteiligt sich am Entscheidungsprozess.

    2.   Eine Sitzung aller Richter des Gerichts muss einberufen werden, wenn eine Abteilung des Gerichts oder ein Viertel aller Richter dies verlangen.

    3.   In den Sitzungen der Richter des Gerichts bzw. einer Abteilung werden Entscheidungen mit der Mehrheit der Stimmen der Richter bzw. Abteilungsrichter getroffen.

    4.   Über die Arbeit der Sitzung wird ein Protokoll angefertigt.

    5.   Der Gerichtspräsident bzw. der Abteilungsvorsitzende kann darüber hinaus ausgewiesene Wissenschaftler und Fachleute auf einem bestimmten Rechtsgebiet zur Sitzung aller Richter bzw. einer Abteilung einladen.“

    7.

    Art. 40 des Gerichtsorganisationsgesetzes bestimmt:

    „1.   Die Sitzung einer Abteilung oder der Richter wird auch dann einberufen, wenn festgestellt wird, dass zu Fragen in Bezug auf die Anwendung des Gesetzes Auffassungsunterschiede zwischen einzelnen Abteilungen, Spruchkörpern oder Richtern bestehen oder wenn innerhalb einer Abteilung ein Spruchkörper oder Richter von der früher anerkannten Rechtsauffassung abweicht.

    2.   Die Rechtsauffassung, zu der man in der Sitzung aller Richter bzw. einer Abteilung des Vrhovni sud Republike Hrvatske [(Oberster Gerichtshof der Republik Kroatien)], des Visoki trgovački sud Republike Hrvatske [(Hohes Handelsgericht der Republik Kroatien)], des Visoki upravni sud Republike Hrvatske [(Hohes Verwaltungsgericht der Republik Kroatien)], des Visoki kazneni sud Republike Hrvatske [(Hohes Strafgericht der Republik Kroatien)], des Visoki prekršajni sud Republike Hrvatske [(Hohes Gericht für Verwaltungsstrafsachen der Republik Kroatien)] und in der Sitzung einer Abteilung eines Županijski sud [(Gespanschaftsgericht)] gelangt, ist für alle zweitinstanzlichen Spruchkörper oder Einzelrichter dieser Abteilung bzw. dieses Gerichts verbindlich.

    3.   Der Vorsitzende einer Abteilung kann gegebenenfalls Professoren der rechtswissenschaftlichen Fakultät, ausgewiesene Wissenschaftler oder Fachleute auf einem bestimmten Rechtsgebiet zur Abteilungssitzung einladen.“

    8.

    In Art. 41 dieses Gesetzes heißt es:

    „(1)   Der Gerichtspräsident bestimmt im jährlichen Geschäftsverteilungsplan einen oder mehrere Richter, die die Rechtsprechung verfolgen und analysieren sollen …“

    9.

    Art. 177 Abs. 3 des Sudski poslovnik (Geschäftsordnung der Gerichte) (Narodne novine, Nrn. 37/14, 49/14, 8/15, 35/15, 123/15, 45/16, 29/17, 33/17, 34/17, 57/17, 101/18, 119/18, 81/19, 128/19, 39/20 und 47/20) sieht vor:

    „Bei einem zweitinstanzlichen Gericht gilt die Rechtssache zu dem Zeitpunkt als abgeschlossen, zu dem die Entscheidung durch den nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständigen Richter ausgefertigt wird, nachdem die Rechtssache aus der Evidenzstelle zurückgelangt ist. Die Evidenzstelle ist verpflichtet, die Akte nach deren Erhalt so schnell wie möglich dem nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständigen Richter wieder vorzulegen. Die Gerichtskanzlei hat die Entscheidung innerhalb von weiteren acht Tagen zu versenden.“

    II. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    10.

    Beim Visoki trgovački sud Republike Hrvatske (Hohes Handelsgericht der Republik Kroatien), dem vorlegenden Gericht in den Ausgangsrechtssachen, sind drei Rechtsmittel anhängig. In den Rechtssachen C‑554/21 und C‑622/21 richten sich die Rechtsmittel gegen Beschlüsse, mit denen der Antrag der Financijska agencija (Finanzagentur) auf Erstattung der Kosten im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit im Rahmen von Insolvenzverfahren abgelehnt wurde. In der Rechtssache C‑727/21 betrifft das Rechtsmittel einen Beschluss, mit dem der Antrag der Klägerin des Ausgangsverfahrens auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens abgelehnt wurde.

    11.

    In diesen drei Rechtssachen prüfte das vorlegende Gericht, das in Spruchkörpern mit drei Richtern tagte, die Rechtsmittel und wies sie mit einstimmigen Beschlüssen seiner Mitglieder zurück, womit es die erstinstanzlichen Entscheidungen bestätigte. Die Beschlüsse wurden unterzeichnet und anschließend gemäß Art. 177 Abs. 3 der Geschäftsordnung der Gerichte an die Evidenzstelle weitergeleitet.

    12.

    Nach dieser Bestimmung gilt die richterliche Arbeit in einer in zweiter Instanz entschiedenen Rechtssache, wie das vorlegende Gericht dargelegt hat, erst dann als abgeschlossen, wenn die Rechtssache von der Evidenzstelle eingetragen und anschließend an den Spruchkörper zwecks Versendung der Entscheidung an die Parteien zurückgeschickt wird. Erst am Ausfertigungstag wird die Rechtssache als abgeschlossen angesehen. Die gerichtliche Entscheidung gilt daher trotz der Tatsache, dass sie von einem Spruchkörper angenommen wurde, nur dann als endgültig ergangen, wenn sie von einem Richter der Evidenzstelle (im Folgenden: Evidenzrichter), den der Präsident des betreffenden Gerichts als Organ der Justizverwaltung im Rahmen des jährlichen Geschäftsverteilungsplans bestimmt, bestätigt wird. Dieses Verfahren als Voraussetzung für den Erlass einer gerichtlichen Entscheidung ist gesetzlich nicht vorgesehen, sondern entspricht einer Praxis der zweitinstanzlichen Gerichte, die auf der Geschäftsordnung der Gerichte beruht.

    13.

    Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Evidenzrichter die in den drei Ausgangsverfahren ergangenen Beschlüsse nicht eingetragen und sie zusammen mit einem Begründungsschreiben zurückgeschickt habe. In den Rechtssachen C‑554/21 und C‑622/21 verweist dieses Schreiben auf die Feststellung eines Widerspruchs zu anderen Entscheidungen in ähnlichen Rechtsstreitigkeiten, während es in der Rechtssache C‑727/21 zum Ausdruck bringt, dass der Evidenzrichter mit der von der Kammer im Ausgangsverfahren gewählten Rechtsauslegung nicht einverstanden ist, ohne auf einen Widerspruch in der Rechtsprechung Bezug zu nehmen.

    14.

    Im Anschluss an diese Eintragungsablehnungen beschloss das vorlegende Gericht in den Rechtssachen C‑554/21 und C‑622/21, dem Gerichtshof Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, da es Zweifel an der Vereinbarkeit von Art. 177 Abs. 3 der Geschäftsordnung der Gerichte mit dem Unionsrecht hatte. In der Rechtssache C‑727/21 leitete der Evidenzrichter die Rechtssache, nachdem das vorlegende Gericht an seinem ursprünglichen Beschluss festgehalten und ihm diesen erneut mitgeteilt hatte, an die Abteilung für Handels- und sonstige Streitsachen des vorlegenden Gerichts weiter, damit die streitige Rechtsfrage in einer Sitzung der Abteilung erörtert werden konnte. Auf ihrer Sitzung nahm diese Abteilung eine „Rechtsauffassung“ an, in der sie sich für die vom Evidenzrichter bevorzugte Lösung entschied. In der Folge wurde die Rechtssache erneut an die Kammer verwiesen, damit diese gemäß Art. 40 Abs. 2 des Gerichtsorganisationsgesetzes im Einklang mit der Rechtsauffassung entscheide – eine Situation, die zur Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑727/21 führte.

    15.

    In Anbetracht des Ablaufs der Ausgangsverfahren ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass der Evidenzrichter, von dem die Parteien keine Kenntnis hätten, der in den für Rechtsmittel geltenden Verfahrensvorschriften nicht vorgesehen sei und der, ohne ein übergeordnetes Gericht zu sein, eine zuständige Kammer dazu bringen könne, ihre Entscheidung abzuändern, durch sein Handeln möglicherweise das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit missachte. Dass es eine solche Form der Eintragung von Gerichtsentscheidungen gebe, sei bisher durch die Notwendigkeit einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung gerechtfertigt gewesen. Die Art und Weise, in der die Evidenzstelle nach Erlass einer gerichtlichen Entscheidung vorgehe, verstoße jedoch gegen das Grundrecht der Unabhängigkeit der Justiz, da diese Stelle selbst die Entscheidungen auswähle, die vom Gericht an die Parteien versandt würden.

    16.

    Zudem stellt das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑727/21 in Bezug auf die Sitzung einer Gerichtsabteilung klar, dass es sich hierbei um ein Organ handle, das in der Zivilprozessordnung nicht vorgesehen sei, und dass nur die Evidenzrichter und die Abteilungsvorsitzenden über die Tagesordnungspunkte einer solchen Sitzung entschieden. Die Parteien der verschiedenen Verfahren wüssten nicht, welche Rolle diese Sitzung spiele, und könnten nicht daran teilnehmen. Die Entscheidung eines Spruchkörpers könne nur infolge von Rechtsmitteln überprüft und abgeändert werden, die von den Parteien im Rahmen eines ihnen bekannten gesetzlichen Verfahrens vor dem zuständigen Gericht eingelegt worden seien, und nicht infolge der Meinung eines Richters, der diesem Spruchkörper nicht angehöre, oder einer Generalversammlung von Richtern.

    17.

    Unter diesen Umständen hat der Visoki trgovački sud Republike Hrvatske (Hohes Handelsgericht der Republik Kroatien) in allen drei verbundenen Rechtssachen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Ist davon auszugehen, dass die Vorschrift im Sinne von Art. 177 Abs. 3 Satz 1 zweiter Satzteil und Satz 2 der Geschäftsordnung der Gerichte mit dem Wortlaut: „Bei einem zweitinstanzlichen Gericht gilt die Rechtssache zu dem Zeitpunkt als abgeschlossen, zu dem die Entscheidung durch den nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständigen Richter ausgefertigt wird, nachdem die Rechtssache aus der Evidenzstelle zurückgelangt ist[; d]ie Evidenzstelle ist verpflichtet, die Akte nach deren Erhalt so schnell wie möglich dem nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständigen Richter wieder vorzulegen[; d]ie Gerichtskanzlei hat die Entscheidung innerhalb von weiteren acht Tagen zu versenden“ im Einklang mit Art. 19 Abs. 1 EUV und mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) steht?

    18.

    Außerdem hat der Visoki trgovački sud Republike Hrvatske (Hohes Handelsgericht der Republik Kroatien) in der Rechtssache C‑727/21 beschlossen, dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Steht die Bestimmung von Art. 40 Abs. 2 des Gerichtsorganisationsgesetzes („Die Rechtsauffassung, zu der man in der Sitzung aller Richter bzw. einer Abteilung des Vrhovni sud Republike Hrvatske [Oberster Gerichtshof der Republik Kroatien], des Visoki trgovački sud Republike Hrvatske [Hohes Handelsgericht der Republik Kroatien], des Visoki upravni sud Republike Hrvatske [Hohes Verwaltungsgericht der Republik Kroatien], des Visoki kazneni sud Republike Hrvatske [Hohes Strafgericht der Republik Kroatien], des Visoki prekršajni sud Republike Hrvatske [Hohes Gericht für Verwaltungsstrafsachen der Republik Kroatien] und in der Sitzung einer Abteilung eines Županijski sud [Gespanschaftsgericht] gelangt, ist für alle zweitinstanzlichen Spruchkörper oder Einzelrichter dieser Abteilung bzw. dieses Gerichts verbindlich“) mit Art. 19 Abs. 1 EUV und mit Art. 47 der Charta in Einklang?

    III. Verfahren vor dem Gerichtshof

    19.

    Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 14. März 2022 sind die Rechtssachen C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

    20.

    Die kroatische Regierung und die Europäische Kommission haben in den Rechtssachen C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21 schriftliche Erklärungen eingereicht. In der Rechtssache C‑554/21 sind schriftliche Erklärungen der Klägerin des Ausgangsverfahrens eingegangen. In der Sitzung vom 5. Juni 2023 haben die kroatische Regierung und die Kommission mündlich verhandelt.

    IV. Würdigung

    21.

    Wie aus den Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass es den Gerichtshof um eine Auslegung von Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta ersuchen müsse, da es Zweifel daran hat, dass Art. 177 Abs. 3 der Geschäftsordnung der Gerichte und Art. 40 Abs. 2 des Gerichtsorganisationsgesetzes, die den Entscheidungsprozess in den kroatischen zweitinstanzlichen Gerichten regeln, mit diesen Bestimmungen des Unionsrechts vereinbar sind.

    22.

    Auch wenn keine der Parteien zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit dieser Ersuchen Stellung genommen hat, ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung Sache des Gerichtshofs selbst ist, die Umstände, unter denen er von dem innerstaatlichen Gericht angerufen wurde, zu untersuchen, um seine eigene Zuständigkeit oder die Zulässigkeit des ihm vorgelegten Ersuchens zu überprüfen ( 3 ).

    A.   Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

    23.

    Hervorzuheben ist, dass der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV das Unionsrecht nur in den Grenzen der ihm übertragenen Zuständigkeiten prüfen kann ( 4 ).

    24.

    Als Erstes ist in Bezug auf die Anwendung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung die erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen, damit den Einzelnen die Wahrung ihres Anspruchs auf einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet wird. Die Mitgliedstaaten müssen daher ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorsehen, mit dem in diesen Bereichen eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleistet ist. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich in Bezug auf den Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, dass diese Bestimmung die „vom Unionsrecht erfassten Bereiche“ betrifft, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen ( 5 ).

    25.

    Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist u. a. auf jede nationale Einrichtung anwendbar, die als Gericht über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hat. Dies trifft auf das vorlegende Gericht zu, das nämlich in seiner Eigenschaft als kroatisches ordentliches Gericht zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts berufen sein kann und als „Gericht“ im Sinne dieses Rechts Bestandteil des kroatischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ ( 6 ) im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist, so dass dieses Gericht den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden muss. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass zwar die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ergeben ( 7 ).

    26.

    Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Gerichtshof in den vorliegenden Rechtssachen für die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zuständig ist.

    27.

    Als Zweites ist der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden. Wie sich aus einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, ist dieser, wenn eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst wird, nicht zuständig, um über sie zu entscheiden, und können die möglicherweise angeführten Bestimmungen der Charta als solche keine neue Zuständigkeit begründen ( 8 ).

    28.

    Im vorliegenden Fall ist insbesondere in Bezug auf Art. 47 der Charta, auf den sich die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen beziehen, festzustellen, dass die beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten im Wesentlichen die Erstattung der Kosten, die einer öffentlichen Einrichtung infolge ihrer Beteiligung an Insolvenzverfahren entstanden sind, und die Begründetheit einer erstinstanzlichen Entscheidung betreffen, mit der der Antrag eines in Zagreb (Kroatien) ansässigen Vereins auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens abgelehnt worden ist. Was gerade den Bereich der Insolvenzverfahren angeht, so hat der Unionsgesetzgeber in diesem Bereich unstreitig verschiedene Rechtsakte erlassen ( 9 ). Das vorlegende Gericht erwähnt jedoch keine Vorschrift des Unionsrechts in diesem Bereich, die auf die fraglichen Rechtsstreitigkeiten anwendbar wäre, und bringt nicht einmal einen Anhaltspunkt dafür vor, dass die Ausgangsrechtssachen, die in den Vorlagebeschlüssen lakonisch erwähnt werden, unter das Unionsrecht fallen. Es sei darauf hingewiesen, dass die Anerkennung des in Art. 47 der Charta niedergelegten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf in einem bestimmten Einzelfall voraussetzt, dass sich die Person, die es geltend macht, auf durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten beruft. Aus den Vorlagebeschlüssen geht jedoch nicht hervor, dass sich die Klägerinnen der Ausgangsverfahren auf ein Recht berufen hätten, das ihnen aufgrund einer Bestimmung des Unionsrechts zusteht ( 10 ).

    29.

    Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, besteht kein Grund für die Annahme, dass die Ausgangsverfahren die Auslegung oder Anwendung einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen, die auf nationaler Ebene umgesetzt wird. Folglich ist der Gerichtshof in den vorliegenden Rechtssachen nicht für die Auslegung von Art. 47 der Charta zuständig.

    B.   Zur Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen

    30.

    Dieser Frage kommt angesichts des sehr weiten Anwendungsbereichs von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in der Auslegung durch den Gerichtshof und dessen damit verbundener Zuständigkeit meines Erachtens besondere Bedeutung zu ( 11 ). Seit dem Erlass des Urteils Associação Sindical dos Juízes Portugueses ( 12 ) hat der Gerichtshof zahlreiche Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung dieser Bestimmung in sehr unterschiedlichen Rechtssachen erhalten, von denen einige schwere Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit und insbesondere die richterliche Unabhängigkeit offenbaren und andere die Frage der Nichtbeförderung eines Richters, seiner Einstufung in die Gehaltsskala, der Regeln für die Zuweisung von Rechtssachen innerhalb eines Gerichts, der Eigenschaft des Unterzeichners einer Klageerwiderung oder des Zeitpunkts der Verkündung eines Urteils ohne offensichtlichen Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits betreffen ( 13 ). Eine gewisse Strenge bei der Beurteilung der Zulässigkeit erscheint in diesem Zusammenhang als die einzig mögliche Grenze für die Prüfung von Vorabentscheidungsersuchen, die dem Geist und dem Zweck dieses Rechtswegs zuwiderlaufen, nämlich dass der Gerichtshof und das nationale Gericht unter Wahrung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten gemeinsam eine Lösung für den bei Letzterem anhängigen Rechtsstreit erarbeiten.

    31.

    In Anbetracht der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, die insbesondere im Urteil Miasto Łowicz konsolidiert zum Ausdruck kommt, ist hervorzuheben, dass das durch Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen, und die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen liegt, sondern darin, dass dessen Antwort für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist. Aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt sich bereits, dass die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein muss, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen. Der Gerichtshof hat daher wiederholt darauf hingewiesen, dass sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV folgt, dass das Vorabentscheidungsverfahren insbesondere voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren berücksichtigt werden kann. Die Aufgabe des Gerichtshofs besteht im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens darin, das vorlegende Gericht bei der Entscheidung des konkret bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu unterstützen. In einem solchen Verfahren muss daher ein Bezug zwischen dem fraglichen Rechtsstreit und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, bestehen, so dass diese Auslegung einem objektiven Erfordernis für die Entscheidung entspricht, die das nationale Gericht zu treffen hat ( 14 ).

    32.

    Wie aus dem Urteil Miasto Łowicz hervorgeht, kann dieser Bezug unmittelbar oder mittelbar sein, je nachdem, welche der drei dort genannten Zulässigkeitshypothesen zutrifft. Er ist unmittelbar, wenn das nationale Gericht das Unionsrecht, um dessen Auslegung ersucht wird, anwenden muss, um daraus die im Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung in der Sache herzuleiten (erste Hypothese). Er ist mittelbar, wenn die Vorabentscheidung geeignet ist, dem vorlegenden Gericht eine Auslegung von Verfahrensvorschriften des Unionsrechts, die dieses zum Erlass seines Urteils anwenden muss (zweite Hypothese), oder eine Auslegung des Unionsrechts an die Hand zu geben, die es ihm ermöglicht, über Verfahrensfragen des nationalen Rechts zu entscheiden, bevor es in dem bei ihm anhängigen Verfahren in der Sache entscheiden kann (im Folgenden: dritte Hypothese) ( 15 ).

    33.

    Wie bereits oben bemerkt worden ist, weisen die Ausgangsverfahren einen gewissen sachlichen Zusammenhang mit dem für Insolvenzverfahren geltenden Unionsrecht, für das das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht um Auslegung irgendeiner Bestimmung ersucht, auf, wobei dieser Zusammenhang offensichtlich nicht ausreicht, um das Kriterium der Erforderlichkeit zu erfüllen. Den Vorabentscheidungsersuchen lässt sich auch nicht entnehmen, dass das vorlegende Gericht Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, auf den sich die Vorabentscheidungsfragen beziehen, anwenden müsste, um daraus die in diesen Verfahren betreffend die Kostenlast bzw. die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu treffende Entscheidung in der Sache herzuleiten.

    34.

    Vielmehr will das vorlegende Gericht mit den Vorabentscheidungsfragen an den Gerichtshof und der von diesem erbetenen Auslegung des Unionsrechts offenbar nicht über die Begründetheit der bei ihm anhängigen Verfahren Klarheit erlangen, sondern über eine im weiten Sinne verstandene ( 16 ) verfahrensrechtliche Frage des nationalen Rechts, über die es in limine litis zu befinden hat, da sie sich auf seine Befugnis bezieht, über die Rechtsstreitigkeiten völlig unabhängig im Rahmen eines internen Mechanismus zur Gewährleistung der Kohärenz seiner Rechtsprechung, an dem andere gerichtliche Instanzen beteiligt sind, zu entscheiden. Das vorlegende Gericht hat hinreichend dargelegt, welche Gründe es im vorliegenden Fall veranlasst haben, Fragen zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und insbesondere zu dem Zusammenhang zu stellen, den es zwischen dieser Vertragsbestimmung und den nationalen Bestimmungen herstellt, die ihm zufolge geeignet sind, Einfluss auf das gerichtliche Verfahren auszuüben, an dessen Ende es seine Urteile erlässt. Das vorlegende Gericht vertritt die Auffassung, dass es – je nachdem, wie sich der Gerichtshof zur Konformität des oben erwähnten Mechanismus äußert – gegebenenfalls von den Rechtsauffassungen abweichen könne, die von der betreffenden Abteilung der Richter im Zusammenhang mit den Ausgangsverfahren angenommen worden sind.

    35.

    Die vorstehenden Erwägungen ändern jedoch nichts am Gegenstand dieser Verfahren und an der zuvor getroffenen Feststellung, wonach aus den Vorabentscheidungsersuchen nicht hervorgeht, dass sie sich auf Fragen beziehen, die unter das Unionsrecht fallen. Die Tatsache, dass die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV durch den Gerichtshof unter Berücksichtigung der Natur der in den Vorabentscheidungsersuchen aufgeworfenen Verfahrensproblematik die Art und Weise beeinflussen kann, in der das vorlegende Gericht die Ausgangsverfahren entscheiden wird, bedeutet nicht, dass sie für die Sachentscheidung in Verfahren mit Bezug zum Unionsrecht erforderlich ist.

    36.

    Muss der Gerichtshof daher auf die Fragen des vorlegenden Gerichts antworten, die tatsächlich erforderlich sind, um es diesem zu ermöglichen, in limine litis eine nationale Verfahrensproblematik zu lösen, die sich negativ auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV auswirken könnte, bevor es in der Sache über Verfahren ohne Bezug zum Unionsrecht entscheidet? Diese Frage ist nach meinem Dafürhalten schwierig zu beantworten.

    37.

    Als Erstes sei daran erinnert, dass der Gerichtshof im Urteil Miasto Łowicz nacheinander die Zulässigkeit der vorgelegten Vorabentscheidungsfragen anhand dreier unterschiedlicher und eigenständiger Sachverhalte, die das Kriterium der Erforderlichkeit erfüllten, geprüft hat und zu dem Schluss gekommen ist, dass sie unzulässig sind, wobei er für die dritte Hypothese den Unterschied zu den Rechtssachen hervorgehoben hat, die dem Urteil A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) ( 17 ) zugrunde liegen, in denen die Auslegung im Rahmen der Vorabentscheidung, um die der Gerichtshof ersucht wurde, geeignet war, die Frage der Bestimmung des für die Sachentscheidung von Rechtsstreitigkeiten, „die das Unionsrecht betrafen“, zuständigen Gerichts zu beeinflussen ( 18 ).

    38.

    Als Zweites bedeutet die Tatsache, dass im Urteil Miasto Łowicz neben der üblicheren Hypothese eines unmittelbaren Sachbezugs des Ausgangsrechtsstreits zum Unionsrecht die dritte Zulässigkeitshypothese erwähnt wird, nicht, dass diese Hypothese, um ihr Bedeutung zu verleihen, notwendigerweise so verstanden werden muss, dass sie auf eine Rechtssache anzuwenden ist, in der ein solcher Bezug nicht besteht. Vielmehr muss die Vielfalt der Vorabentscheidungsersuchen berücksichtigt und im Hinblick auf jede einzelne Vorlagefrage argumentiert werden. Vorlageentscheidungen können, wie im vorliegenden Fall, Vorabentscheidungsfragen enthalten, die sich lediglich auf ein nationales Verfahrensproblem beziehen, oder unterschiedlich geartete Vorlagefragen mischen, von denen einige einen unmittelbaren Sachbezug zum Ausgangsrechtsstreit aufweisen und andere eine nationale Verfahrensproblematik betreffen, wobei Erstere im Gegensatz zu Letzteren für zulässig erklärt werden können ( 19 ).

    39.

    Als Drittes kann die Begründung für die Zuständigkeit des Gerichtshofs im Hinblick auf den Wortlaut von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, der allgemein auf „die vom Unionsrecht erfassten Bereiche“ abstellt, unabhängig von der Situation, in der die Mitgliedstaaten dieses Recht umsetzen, nicht die Begründung für die Zulässigkeit von Vorabentscheidungsersuchen sein, da sonst zwei unterschiedliche Rechtsbegriffe miteinander vermischt würden und das letztgenannte Erfordernis jeglichen Nutzen verlöre.

    40.

    Es trifft zu, dass die richterliche Unabhängigkeit rechtlich unteilbar ist und es, wie Generalanwalt Bobek hervorgehoben hat ( 20 ), im Wesentlichen keine „‚richterliche Unabhängigkeit im Anwendungsbereich des Unionsrechts‘ im Gegensatz zur ‚richterlichen Unabhängigkeit in rein nationalen Rechtssachen‘“ gibt. So zutreffend diese Feststellung auch sein mag, sie erlaubt es nicht, die Etappe der Zulässigkeit der vorgelegten Vorabentscheidungsfragen zu überspringen und somit den Gerichtshof von der Frage zu befreien, ob das Unionsrecht in dem vom vorlegenden Gericht zu entscheidenden Ausgangsrechtsstreit tatsächlich Anwendung findet ( 21 ).

    41.

    Die Tatsache, dass das vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Problem aufgrund des systemischen Charakters der fraglichen Vorschriften für das nationale Justizsystem eine gewisse Schwere zu haben scheint, ist nicht Gegenstand der Zulässigkeitsprüfung, sondern der Prüfung der Begründetheit, d. h. der Frage, ob diese Vorschriften mit den Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vereinbar sind. Eine gewisse Zurückhaltung dabei, dem vorlegenden Gericht keine Antwort zu geben und somit eine Regelung und eine Praxis nicht zu prüfen, die potenziell die Unabhängigkeit der kroatischen Richter beeinträchtigen und durch die Schaffung des Mechanismus zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung möglicherweise auch für viele andere nationale Rechtssysteme von Interesse sind, kann nicht die – im vorliegenden Fall unterschwellige – Begründung einer Zulässigkeitsentscheidung darstellen ( 22 ).

    42.

    Falls es der Gerichtshof zulässt, dass er nach einer Bestimmung des Unionsrechts gefragt wird, um über eine nationale Verfahrensfrage so entscheiden zu können, dass sich die Ausgangsverfahren im Einklang mit dem Unionsrecht durchführen lassen, wäre daher davon auszugehen, dass dies nur im Hinblick auf eine Entscheidung des vorlegenden Gerichts über die Begründetheit eines das Unionsrecht betreffenden Ausgangsrechtsstreits geschehen darf. Allerdings zeichnet sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs aus der Zeit nach Erlass des Urteils Miasto Łowicz in Bezug auf den letztgenannten Punkt zugegebenermaßen nicht durch Homogenität aus, da einige Entscheidungen über die Unzulässigkeit bzw. Zulässigkeit der vorgelegten Vorabentscheidungsfragen auf ihrer Linie liegen ( 23 ), während sich andere davon zu entfernen scheinen und dabei zudem scheinbar widersprüchliche Lösungen wählen ( 24 ).

    43.

    In einem kürzlich ergangenen Urteil hat der Gerichtshof allgemein darauf hingewiesen, dass Vorlagefragen, die es einem vorlegenden Gericht ermöglichen sollen, vorab über verfahrensrechtliche Schwierigkeiten zu entscheiden, etwa im Zusammenhang mit seiner eigenen Zuständigkeit für die Entscheidung einer bei ihm anhängigen Rechtssache oder aber mit der Frage, ob einer gerichtlichen Entscheidung, die der Fortsetzung der Prüfung einer solchen Rechtssache durch dieses Gericht möglicherweise entgegensteht, Rechtswirkungen zuerkannt werden müssen oder nicht, nach Art. 267 AEUV zulässig sind ( 25 ). Dieser Ansatz scheint die Verfahrensproblematik als solche in dem Sinne zu verselbständigen, dass sie für sich genommen das Kriterium der Erforderlichkeit nach Art. 267 AEUV erfüllen würde. Der Gerichtshof hat jedoch eindeutig und ausschließlich auf zwei Sonderfälle abgestellt, die sich von der Situation des vorlegenden Gerichts unterscheiden, dessen Vorabentscheidungsersuchen weder Fragen zu seiner sachlichen Zuständigkeit für die Entscheidung der Ausgangsverfahren enthalten noch auf Gerichtsentscheidungen verweisen, die der weiteren Prüfung dieser Verfahren entgegenstehen.

    44.

    Schließlich halte ich es für notwendig, auf die zweite im Urteil Miasto Łowicz angesprochene Hypothese einzugehen. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof zwar bereits Vorabentscheidungsfragen nach der Auslegung von Verfahrensvorschriften des Unionsrechts, die das betreffende vorlegende Gericht zum Erlass seines Urteils anwenden müsste, für zulässig erachtet; die im Rahmen der vorliegenden verbundenen Rechtssachen gestellten Fragen haben meines Erachtens aber eine andere Tragweite, es sei denn, man müsste Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in die oben genannte Normenkategorie einordnen. Die Prüfung der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zeigt, dass sie sich auf abgeleitete Rechtsakte bezieht, die besondere Verfahrensregeln festlegen, wobei sich der Gerichtshof bei der von ihm hinsichtlich der Zulässigkeit gewählten Lösung an diesen Sonderfällen orientiert ( 26 ).

    45.

    Der Gerichtshof hat insoweit eine Vorlagefrage nach der Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 ( 27 ) für zulässig erklärt, obwohl er zuvor festgestellt hatte, dass sie sich nicht unmittelbar auf den Ausgang des Ausgangsrechtsstreits betreffend die Zuerkennung von Schadensersatz wegen eines Vertrags über ein Wettbewerbsverbot auswirkte ( 28 ). Die Übertragung einer solchen Entscheidung auf die vorliegenden Rechtssachen würde in Verbindung mit der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV durch den Gerichtshof hinsichtlich der Bejahung seiner Zuständigkeit zu einer extensiven, um nicht zu sagen grenzenlosen Anwendung dieser Bestimmung in einem Bereich – der Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten – führen, von dem angenommen wird, dass er in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.

    46.

    In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ist davon auszugehen, dass die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen keine Auslegung des Unionsrechts betreffen, die für die Entscheidung der Ausgangsverfahren objektiv erforderlich ist, sondern allgemeinen Charakter haben, was die Schlussfolgerung rechtfertigt, dass sie unzulässig sind.

    47.

    Im Interesse einer vollständigen Wahrnehmung der dem Generalanwalt übertragenen Aufgabe, den Gerichtshof zu unterstützen, werde ich diese Fragen gleichwohl auch in der Sache prüfen.

    C.   Zur Beantwortung der Vorlagefragen

    48.

    Aus den Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass das vorlegende Gericht Zweifel an der Konformität der nationalen Regelung und Praxis hat, die die Beteiligung des Evidenzrichters und der Abteilung der Richter am gerichtlichen Entscheidungsprozess in zweiter Instanz vorsehen und zu denen das vorlegende Gericht den Gerichtshof gesondert und spezifisch befragt. Da diese Beteiligungen zu ein und demselben Mechanismus gehören, der die Kohärenz der Rechtsprechung eines Gerichts gewährleisten soll, ist dessen Vereinbarkeit mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu prüfen, indem die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen gemeinsam untersucht werden ( 29 ).

    49.

    Die Beurteilung der Konformität dieses Mechanismus setzt voraus, dass im Zusammenhang mit der Vermeidung von Rechtsprechungsdivergenzen zunächst die Bedeutung des Grundsatzes der Rechtssicherheit hervorgehoben wird.

    1. Zum Erfordernis der Rechtssicherheit

    50.

    Der Grundsatz der Rechtssicherheit, bei dem es sich um einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts handelt, soll die Vorhersehbarkeit der aus dem Unionsrecht resultierenden Tatbestände und Rechtsbeziehungen gewährleisten ( 30 ). Er gebietet u. a., dass Rechtsvorschriften klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind, damit sie es den Betroffenen ermöglichen, den Umfang der ihnen durch die betreffende Vorschrift auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und diese ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können ( 31 ).

    51.

    Die Kohärenz der Rechtsprechung zur Auslegung des Unionsrechts als Quelle der Vorhersehbarkeit und damit der Rechtssicherheit ist natürlich ein Hauptanliegen des Gerichtshofs, auch in seiner internen Arbeitsweise, da sie seinem ursprünglichen Auftrag entspricht. Nach ständiger Rechtsprechung soll der durch Art. 267 AEUV festgelegte Vorabentscheidungsmechanismus sicherstellen, dass das Unionsrecht unter allen Umständen in allen Mitgliedstaaten die gleiche Wirkung hat, und damit unterschiedliche Auslegungen des von den einzelstaatlichen Gerichten anzuwendenden Unionsrechts verhindern und die Anwendung dieses Rechts gewährleisten. Zu diesem Zweck gibt dieser Artikel dem einzelstaatlichen Richter die Möglichkeit, die Schwierigkeiten auszuräumen, die sich aus dem Erfordernis ergeben könnten, dem Unionsrecht im Rahmen der Gerichtssysteme der Mitgliedstaaten zu voller Geltung zu verhelfen ( 32 ).

    52.

    Darüber hinaus ist der Gerichtshof der Ansicht, dass ein vertikaler Mechanismus zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung durch Eingreifen der obersten Gerichte der Mitgliedstaaten als solcher nicht gegen das Unionsrecht verstößt, auch wenn deren Entscheidungen für die untergeordneten Gerichte verbindlich sind. Eine Unvereinbarkeit wäre nur dann festzustellen, wenn das nationale Recht die Unabhängigkeit der obersten Gerichte nicht gewährleisten würde oder wenn dieser Mechanismus ein nationales Gericht daran hindern könnte, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen ( 33 ).

    53.

    Wie der EGMR im Rahmen seiner Überwachung der Einhaltung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu Recht feststellt, ist die Möglichkeit von Rechtsprechungsdivergenzen zwischen nationalen Gerichten oder innerhalb eines Gerichts gleichwohl jedem Rechtssystem inhärent. Auch wenn ein solcher Sachverhalt an sich nicht gegen die EMRK verstößt, stellt der EGMR klar, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit, der in allen Artikeln der EMRK implizit enthalten sei, insbesondere darauf abziele, eine gewisse Stabilität der Rechtssituationen zu gewährleisten und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz zu fördern. Jede anhaltende Rechtsprechungsdivergenz drohe zu einem Zustand der Rechtsunsicherheit zu führen, der das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Rechtssystem beeinträchtigen könne, obwohl dieses Vertrauen eine der grundlegenden Komponenten des Rechtsstaats sei. Unter diesen Umständen hat der EGMR entschieden, dass die Vertragsstaaten verpflichtet seien, ihr Rechtssystem so zu organisieren, dass abweichende Urteile vermieden würden, und überprüft die Einführung von Mechanismen, die eine einheitliche Praxis der Gerichte und eine einheitliche Rechtsprechung gewährleisten können ( 34 ).

    54.

    Interessant ist die Beobachtung, dass einerseits der in den vorliegenden Rechtssachen angesprochene Mechanismus zur Gewährleistung der Kohärenz der Rechtsprechung die kroatischen zweitinstanzlichen Gerichte betrifft, während die Beseitigung etwaiger Widersprüche oder Unsicherheiten, die sich aus Urteilen mit abweichenden Auslegungen ergeben, grundsätzlich Aufgabe eines obersten Gerichts ist ( 35 ). Das schließt meines Erachtens jedoch keineswegs die notwendige Berücksichtigung einer harmonisierten Rechtsprechung in Bezug auf die zweitinstanzlichen Gerichte aus, zumal wenn man den außerordentlichen Charakter der möglichen Rechtsbehelfe gegen die Entscheidungen dieser Gerichte bedenkt ( 36 ). Die Vorhersehbarkeit des Rechts und die sich daraus ergebende Rechtssicherheit müssen das Anliegen aller gerichtlichen Instanzen sein, unabhängig von ihrem Rang im Justizsystem, damit die Gleichheit aller Rechtsuchenden vor dem Gesetz in einem bestimmten Gebiet gewährleistet ist. Andererseits zielt der fragliche Mechanismus auf horizontale Kohärenz ab, da jedes zweitinstanzliche Gericht auf diesem Wege die Einheitlichkeit seiner eigenen Rechtsprechung sicherstellen soll – eine Situation, der der EGMR besondere Bedeutung beimisst ( 37 ).

    55.

    Die notwendige Einführung von Mechanismen zur Sicherstellung der Kohärenz der Rechtsprechung darf jedoch nicht unter Missachtung des Rechts auf Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und durch Gesetz errichteten Gericht erfolgen.

    2. Zur Wahrung des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz

    56.

    Es ist darauf hinzuweisen, dass die Union aus Staaten besteht, die die in Art. 2 EUV genannten Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen. Aus Art. 2 EUV geht insbesondere hervor, dass sich die Union auf Werte wie die Rechtsstaatlichkeit gründet, die allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft, die sich u. a. durch Gerechtigkeit auszeichnet, gemeinsam sind. Das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere ihren Gerichten beruht auf der grundlegenden Prämisse, dass die Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilen, auf die sich, wie es in diesem Artikel heißt, die Union gründet. Außerdem ist die Achtung der in Art. 2 EUV verankerten Werte durch einen Mitgliedstaat eine Voraussetzung für den Genuss aller Rechte, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben. Ein Mitgliedstaat darf daher seine Rechtsvorschriften nicht dergestalt ändern, dass der Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit vermindert wird, eines Wertes, der namentlich durch Art. 19 EUV konkretisiert wird. Die Mitgliedstaaten müssen somit dafür Sorge tragen, dass sie jeden nach Maßgabe dieses Wertes eintretenden Rückschritt in ihren Rechtsvorschriften über die Organisation der Justiz vermeiden, indem sie davon absehen, Regeln zu erlassen, die die richterliche Unabhängigkeit untergraben würden ( 38 ).

    57.

    Nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist es Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet. Der Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 EMRK und nun auch in Art. 47 der Charta verankert ( 39 ).

    58.

    Da Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz insbesondere im Sinne von Art. 47 der Charta gewährleistet ist, ist letztere Bestimmung bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ebenso wie die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK gebührend zu berücksichtigen ( 40 ). Um sicherzustellen, dass Einrichtungen, die zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können, in der Lage sind, einen solchen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtungen gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört ( 41 ).

    59.

    Auch wenn die Frage der Unabhängigkeit des angerufenen Spruchkörpers in den vorliegenden Rechtssachen wesentlich ist, muss auch die Frage im Zusammenhang mit der Achtung der Verteidigungsrechte und der Gewährleistung des Zugangs zu einem zuvor durch Gesetz errichteten Gericht berücksichtigt werden.

    a) Zum Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte

    60.

    Die Anforderung der Unabhängigkeit der Gerichte, die dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt ( 42 ).

    61.

    Nach ständiger Rechtsprechung umfasst das Erfordernis der Unabhängigkeit zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht. Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen ( 43 ).

    62.

    Insoweit sind die betreffenden Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die für den Status der Richter und die Ausübung ihres Richteramts geltenden Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, auszuschließen und damit auszuschließen, dass diese Richter den Eindruck vermitteln, nicht unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss ( 44 ).

    63.

    Auch wenn die oben in Erinnerung gerufene Rechtsprechung des Gerichtshofs vor allem darauf abzielt, die Unabhängigkeit der Gerichte von der Legislative und der Exekutive gemäß dem Grundsatz der Gewaltenteilung, der für das Funktionieren eines Rechtsstaats kennzeichnend ist, zu wahren, ist sie, insbesondere unter Berücksichtigung der Allgemeinheit der verwendeten Formulierungen, in einem anderen Kontext, der als rein innerstaatlich bezeichnet werden kann, voll anwendbar. Im vorliegenden Fall betreffen die in den Vorlageentscheidungen im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geäußerten Zweifel im Wesentlichen nationale Bestimmungen und eine nationale Praxis in Bezug auf einen Mechanismus, der die Kohärenz der Rechtsprechung gewährleisten soll und dabei die Beteiligung zweier Organe vorsieht, die demselben Gericht wie die Richter angehören, die diese Entscheidungen erlassen haben. Im Rahmen eines Rechtsstreits, der auf die Entscheidung des Präsidenten eines Gerichts zurückgeht, einen Richter ohne dessen Zustimmung von der Abteilung des Gerichts, in der er bis dahin tätig war, in eine andere Abteilung dieses Gerichts zu versetzen, hat der Gerichtshof insoweit festgestellt, dass das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit, das sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta ergibt, verlangt, dass die für nicht einvernehmliche Versetzungen von Richtern geltende Regelung ebenso wie Disziplinarvorschriften insbesondere die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass diese Unabhängigkeit durch unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen von außen beeinträchtigt wird ( 45 ).

    64.

    Der vorstehende Ansatz wird durch die ausdrückliche Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK bestätigt, wonach die Unabhängigkeit der Justiz erfordere, dass Richter keinen unzulässigen Einflüssen ausgesetzt seien – nicht nur von außerhalb des Justizsystems, sondern auch aus dem Justizsystem heraus. Diese interne Unabhängigkeit der Richter verlange, dass die Richter keinen Weisungen oder Druck von anderen Richtern oder von Personen, die innerhalb des Gerichts administrative Verantwortung trügen, etwa der Gerichtspräsident oder der Vorsitzende einer Gerichtsabteilung, ausgesetzt seien. Ohne ausreichende Garantien zum Schutz der Unabhängigkeit der Richter innerhalb des Justizsystems, insbesondere gegenüber ihren Vorgesetzten innerhalb ihres Gerichts, seien Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts angebracht ( 46 ).

    65.

    Kann im vorliegenden Fall davon ausgegangen werden, dass die Beteiligung des Evidenzrichters und der Abteilung der Richter – zweier Rechtsprechungsorgane auf derselben Ebene wie der ursprünglich befasste Spruchkörper – geeignet ist, das Erfordernis der Unabhängigkeit der Mitglieder dieses Spruchkörpers zu beeinträchtigen? Die Frage ist meines Erachtens zu verneinen ( 47 ).

    66.

    Als Erstes sollten die einschlägigen Bestimmungen der nationalen Regelung betreffend die Arbeitsweise der „Abteilung“, die nach Art. 37 des Gerichtsorganisationsgesetzes aus Richtern der verschiedenen Kammern oder Spruchkörper des betreffenden Gerichts samt Einzelrichtern besteht, die über Fragen aus einem oder mehreren verwandten Rechtsgebieten entscheiden, wörtlich ausgelegt werden. Gemäß Art. 38 dieses Gesetzes werden in einer Abteilungssitzung „Fragen“ erörtert, die für die Abteilung von Interesse sind, darunter „umstrittene Rechtsfragen“ und die „Vereinheitlichung der Rechtsprechung“. Diese Erörterungen führen zur Annahme einer „Rechtsauffassung“ im Sinne von Art. 40 Abs. 2 des genannten Gesetzes – ein Ausdruck, der insofern bedeutsam ist, als er im Gegensatz zum Begriff der Lösung oder Entscheidung in einer bestimmten Rechtssache steht.

    67.

    Als Zweites bestätigen die Erklärungen der kroatischen Regierung und die Prüfung der dem Gerichtshof vorgelegten Akten diese exegetische Analyse hinsichtlich der Arbeitsweise eines kollegialen Rechtsprechungsorgans, das die Richter des angerufenen Spruchkörpers einschließt und allgemein die Auslegung der fraglichen Normen und der diesbezüglichen Rechtsprechung erörtert, wobei am Ende durch ein Mehrheitsvotum eine gemeinsame Auffassung der Richter hinsichtlich der zugrunde zu legenden Auslegung angenommen wird. So hat am 26. Oktober 2021 auf Veranlassung der Vorsitzenden der Abteilung für Handelsstreitigkeiten unstreitig per Videokonferenz eine Sitzung dieser Abteilung stattgefunden, an der 28 Richter teilgenommen haben, darunter die drei Richter des befassten Spruchkörpers und der Evidenzrichter. Die Sitzung bezog sich insbesondere auf die beiden Rechtsfragen, die in der Tagesordnung abstrakt aufgeführt waren und zu einem Schriftwechsel zwischen dem Evidenzrichter und dem befassten Spruchkörper geführt hatten. Das Sitzungsprotokoll enthält eingangs den Hinweis, dass die Anwesenheit von 28 der 31 Richter des Hohen Handelsgerichts ausreiche, um gültige Entscheidungen zu treffen, „d. h. Rechtsauffassungen“ anzunehmen, und führt die verschiedenen Beiträge der Richter, von denen einer dem befassten Spruchkörper angehört, sowie den Inhalt der Rechtsauffassung zu jeder der angesprochenen Fragen auf. Diese zeichnet sich durch ihre Abstraktheit und das Fehlen jeglicher Bezugnahme auf die dem ursprünglichen Spruchkörper vorgelegten Ausgangsrechtssachen aus. Aus den Erklärungen der kroatischen Regierung geht ferner hervor, dass die Abteilung der Richter nicht über die Akten dieser Rechtssachen mit den Schriftsätzen der Parteien verfügt und den Mitgliedern nur die ersten Beratungen des befassten Spruchkörpers mit Elementen der Rechtsprechung übermittelt werden.

    68.

    Als Drittes ist es Sache der angerufenen Kammer, die allgemein gehaltene Auslegung der geltenden Rechtsnormen zu berücksichtigen, um unter Berücksichtigung des Sachverhalts und der in den Akten enthaltenen Beweismittel die in den vorgelegten Rechtssachen angemessene rechtliche Lösung zu wählen ( 48 ). Diese Unterscheidung zwischen Auslegung und Anwendung einer Rechtsnorm ist aus anderen nationalen Rechtssystemen bekannt und entspricht dem Wesen jedes Vorabentscheidungsmechanismus, so natürlich auch dem in Art. 267 AEUV erwähnten. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der letztgenannte Mechanismus durch die Einführung eines Dialogs von Gericht zu Gericht zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten auf die Gewährleistung der Kohärenz und der Einheitlichkeit bei der Auslegung des Unionsrechts abzielt ( 49 ). Die dem Gerichtshof durch Art. 267 AEUV übertragene Aufgabe besteht darin, jedem Gericht der Union Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es zur Entscheidung tatsächlicher bei ihm anhängiger Rechtsstreitigkeiten benötigt ( 50 ). Diese Bestimmung gibt dem Gerichtshof nicht die Befugnis, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Unionsorgane zu äußern. Folglich ist es nicht Sache des Gerichtshofs, sondern der nationalen Gerichte, das Unionsrecht im Licht der vom Gerichtshof gegebenen Hinweise anzuwenden ( 51 ).

    69.

    Die oben entwickelte Analyse ist grundlegend für die Beurteilung von Art. 40 Abs. 2 des Gerichtsorganisationsgesetzes, wonach die in der Sitzung einer Abteilung angenommene Rechtsauffassung für alle zweitinstanzlichen Kammern oder Richter dieser Abteilung verbindlich ist. Geht man von der Unterscheidung zwischen Auslegung und Anwendung einer Rechtsnorm aus, genügt die Tatsache, dass der befasste Spruchkörper, der Teil eines Kollegialorgans ist, das die Annahme der Rechtsauffassung erörtert und mehrheitlich beschlossen hat, verpflichtet ist, diese Rechtsauffassung wie ein Urteil eines obersten Gerichts umzusetzen, das nur nach Recht und Gesetz entscheidet, dem Ziel der Rechtssicherheit, ohne gegen das Erfordernis der Unabhängigkeit des Gerichts zu verstoßen ( 52 ). Einen Mechanismus zur Gewährleistung der Kohärenz der Rechtsprechung unter dem Vorbehalt der Unverbindlichkeit der Rechtsauffassung zuzulassen, wie die Kommission vorschlägt, liefe darauf hinaus, ihm einen bloßen Anreizcharakter und damit einen völlig zufälligen Nutzen zu verleihen.

    70.

    Als Viertes sollte die Rolle des Evidenzrichters im beanstandeten Mechanismus umschrieben werden. Zwar hat der Evidenzrichter den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge die Befugnis, den Entscheidungsprozess zu blockieren und zu verhindern, dass die Beratungen des angerufenen Spruchkörpers formell zu einem den Parteien zuzustellenden Justizakt werden, doch kann er keinesfalls seine Beurteilung an die Stelle derjenigen dieses Spruchkörpers setzen. Er kann die Akte lediglich mit Anmerkungen zur aufgeworfenen Rechtsfrage zur erneuten Prüfung an besagten Spruchkörper zurückverweisen und bei anhaltenden Meinungsverschiedenheiten mit der befassten Kammer dem Gerichtspräsidenten oder dem mit der Leitung der Arbeiten der Abteilung betrauten Abteilungsvorsitzenden, die allein befugt sind, diesen erweiterten Spruchkörper anzurufen, „wenn festgestellt wird, dass zu Fragen in Bezug auf die Anwendung des Gesetzes Auffassungsunterschiede zwischen einzelnen Abteilungen, Spruchkörpern oder Richtern bestehen oder wenn innerhalb einer Abteilung ein Spruchkörper oder Richter von der früher anerkannten Rechtsauffassung abweicht“ ( 53 ), einen Hinweis geben. Die Beurteilung der Gründe obliegt daher allein den beiden genannten Organen, die für die Befassung der Abteilung zuständig sind ( 54 ), welche eine Rechtsauffassung annehmen wird, die gegebenenfalls dem Ansatz des Evidenzrichters zuwiderläuft und für diesen als Richter der betreffenden Abteilung verbindlich sein wird ( 55 ). Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Evidenzrichter im Beratungsprozess, der mit der Annahme einer Rechtsauffassung, die hinsichtlich der Auslegung der Rechtsnorm verbindlich ist, und der anschließenden Entscheidung des angerufenen Spruchkörpers endet, das „letzte Wort“ hat.

    71.

    Somit zeichnet sich ein interner Verfahrensmechanismus ab, der aus verschiedenen nationalen Rechtsordnungen bekannt ist und die Beteiligung eines erweiterten Spruchkörpers ohne Übertragung der betreffenden Rechtssache vorsieht, wobei dieser Spruchkörper nicht anstelle der ursprünglich befassten Kammer über den Rechtsstreit entscheidet, sondern lediglich über eine Rechtsfrage befindet und die Rechtssache an den ursprünglichen Spruchkörper zurückverweist, damit sich dieser unter Berücksichtigung der Antwort des erweiterten Spruchkörpers zum Rechtsstreit äußert. Je nach Rechtssystem ist dessen Auffassung beratender Natur oder hat, wie im vorliegenden Fall, verbindliche Wirkung ( 56 ), die auf den ursprünglichen Spruchkörper beschränkt ist oder sich auf weitere Spruchkörper erstreckt.

    72.

    Auch wenn die Befassung des erweiterten Spruchkörpers in verschiedenen nationalen Rechtsordnungen im Rahmen einer Befugnis oder Verpflichtung für den Fall der ursprünglich angerufenen Kammer vorbehalten ist, dass diese beabsichtigt, von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen, oder für Fälle, in denen eine Divergenz in der Rechtsprechung festgestellt wird oder die Gefahr einer solchen Divergenz besteht, kann die Rechtssache einem dritten Rechtsprechungsorgan zugewiesen werden, wie etwa dem Präsidenten des betreffenden Gerichts oder dem Vorsitzenden der betreffenden Abteilung, der vom Evidenzrichter dann lediglich einen Hinweis erhält.

    b) Zum Erfordernis der Achtung der Verteidigungsrechte

    73.

    In ihren Erklärungen hat die Kommission hervorgehoben, dass die Abteilungssitzungen nicht öffentlich zugänglich und die Parteien nicht in der Lage seien, dort ihre Argumente vorzutragen. In der mündlichen Verhandlung ist festgestellt worden, dass die Sitzungsprotokolle nicht verbreitet würden und an den Sitzungen Richter teilnähmen, die weder die Schriftsätze der Parteien gelesen noch diese angehört hätten – alles Faktoren, die die Frage nach der Fairness des Verfahrens aufwerfen. Dasselbe gilt für die Beteiligung des Evidenzrichters.

    74.

    Es ist darauf hinzuweisen, dass der in Art. 47 der Charta bekräftigte tragende Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes und der Begriff „faires Verfahren“ in Art. 6 EMRK aus verschiedenen Elementen bestehen, zu denen u. a. die Achtung der Verteidigungsrechte und das Recht gehören, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich auch, dass der Anspruch darauf, in jedem Verfahren gehört zu werden, untrennbar zur Achtung der in den Art. 47 und 48 der Charta verbürgten Verteidigungsrechte gehört und jeder Person garantiert, dass sie in diesem Verfahren sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vortragen kann ( 57 ).

    75.

    Im vorliegenden Fall ist zu betonen, dass gemäß Art. 334 der kroatischen Zivilprozessordnung „ein Gericht an sein Urteil gebunden ist, sobald dieses veröffentlicht worden ist, und, wenn das Urteil nicht veröffentlicht worden ist, sobald es ausgefertigt worden ist. Das Urteil wird für die Parteien erst an dem Tag wirksam, an dem es ihnen zugestellt worden ist“. In Art. 177 Abs. 3 der Geschäftsordnung der Gerichte heißt es: „Bei einem zweitinstanzlichen Gericht gilt die Rechtssache zu dem Zeitpunkt als abgeschlossen, zu dem die Entscheidung durch den nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständigen Richter ausgefertigt wird, nachdem die Rechtssache aus der Evidenzstelle zurückgelangt ist.“

    76.

    Aus den vorerwähnten Bestimmungen ergibt sich, dass der fragliche Verfahrensmechanismus in die Beratungsphase des Verfahrens vor dem befassten Spruchkörper gehört, da nach den Erörterungen in diesem Spruchkörper formell keine gerichtliche Entscheidung ergeht, und zwar unabhängig von der mehrheitlichen oder einstimmigen Zustimmung der Richter, die den Spruchkörper bilden, zu einer ersten Beratung. Diese Beratungsphase folgt auf ein Verfahren, in dem die Parteien ihre Ansprüche und Argumente kontradiktorisch darlegen konnten, und soll es den Richtern lediglich ermöglichen, Überlegungen und Analysen hinsichtlich des vorgelegten Rechtsstreits und dessen Entscheidung im Einklang mit den geltenden Rechtsnormen anzustellen.

    77.

    Im vorliegenden Fall umfasst diese Beratung kollegiale Überlegungen der Richter der betreffenden Abteilung, wobei die Akten der von der angerufenen Kammer geprüften Rechtssache nicht zur Verfügung stehen, und bezieht sich ausschließlich auf die abstrakte Auslegung der betreffenden Rechtsvorschrift(en), die im vorherigen kontradiktorischen Verfahren erörtert worden sind. In diesem Rahmen kann es grundsätzlich keine Rechtsauffassungen geben, die auf der Grundlage von Gesichtspunkten angenommen werden, zu denen sich die Parteien nicht äußern konnten. Falls die abteilungsinternen Erörterungen schließlich zu der Schlussfolgerung führen, dass der Rechtsstreit nach einer Rechtsnorm entschieden werden muss, die von den Parteien während des kontradiktorischen Verfahrens weder angeführt noch erörtert worden ist, würde die Umsetzung einer solchen Rechtsauffassung die Wiedereröffnung der Verhandlung zwecks Einhaltung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens, der zu den Verteidigungsrechten gehört, mit sich bringen. Das bedeutet nicht, dass sich die Erörterung zwischen Richtern innerhalb der Abteilung nicht auf eine von den Parteien nicht angeführte Rechtsprechung beziehen oder nicht die Form einer Argumentation in Analogie zu einer anderen Bestimmung als derjenigen annehmen kann, um die es in der von der befassten Kammer behandelten Rechtssache geht. Diese Auseinandersetzung mit der reinen Rechtsfrage ist ihrem Wesen nach aber die Arbeit des Richters.

    78.

    Geht man von der Unterscheidung zwischen Auslegung und Anwendung einer Rechtsnorm aus, kann unter den oben beschriebenen Umständen keine Missachtung des Erfordernisses eines fairen Verfahrens festgestellt werden.

    c) Zum Zugang zu einem durch Gesetz errichteten Gericht

    79.

    Gestützt auf eine ständige Rechtsprechung des EGMR hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass die Einfügung des Ausdrucks „auf Gesetz beruhend“ in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK verhindern soll, dass die Organisation des Justizsystems in das Ermessen der Exekutive gestellt wird, und dafür sorgen soll, dass dieser Bereich durch ein Gesetz geregelt wird, das von der gesetzgebenden Gewalt im Einklang mit den Vorschriften über die Ausübung ihrer Zuständigkeit erlassen wurde. Dieser Ausdruck spiegelt insbesondere das Rechtsstaatsprinzip wider und umfasst nicht nur die Rechtsgrundlage für die Existenz des Gerichts, sondern auch die Zusammensetzung des Spruchkörpers in jeder Rechtssache sowie alle weiteren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung die Teilnahme eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die Rechtssache vorschriftswidrig macht, was insbesondere Vorschriften über die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Mitglieder des betreffenden Gerichts einschließt ( 58 ).

    80.

    Der EGMR hat insoweit die Auffassung vertreten, dass das in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierte Recht auf ein „auf Gesetz beruhendes Gericht“ zwar ein eigenständiges Recht ist, aber dennoch sehr eng mit den Garantien der „Unabhängigkeit“ und „Unparteilichkeit“ im Sinne dieser Bestimmung verbunden ist. So hat er insbesondere entschieden, dass mit den institutionellen Erfordernissen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zwar jeweils ein konkretes Ziel verfolgt wird, das sie zu besonderen Garantien für ein faires Verfahren macht, ihnen aber gemeinsam ist, dass sie auf die Wahrung der grundlegenden Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung abzielen; jedem dieser Erfordernisse liegt die Notwendigkeit zugrunde, das Vertrauen, das die Justiz beim Einzelnen wecken muss, und die Unabhängigkeit der Justiz gegenüber den anderen Staatsgewalten zu wahren ( 59 ).

    81.

    In der vorliegenden Rechtssache beziehen sich die in den Vorlageentscheidungen genannten Bestimmungen der nationalen Regelung nicht auf die Existenz und die Zuständigkeiten des Visoki trgovački sud Republike Hrvatske (Hohes Handelsgericht der Republik Kroatien), die auf einer allseits bekannten gesetzlichen Grundlage beruhen, sondern auf dessen Entscheidungsprozess nach Abschluss des schriftlichen und gegebenenfalls mündlichen kontradiktorischen Verfahrens, das zum Erlass des endgültigen gerichtlichen Rechtsakts führt, mit dem der von den Parteien vorgelegte Rechtsstreit entschieden wird, und insbesondere auf die Voraussetzungen, unter denen die Abteilung der Richter und der Evidenzrichter an diesem Prozess beteiligt sind. In Anbetracht seiner grundlegenden Bedeutung für das ordnungsgemäße Funktionieren und die Legitimität der Justiz in einem demokratischen Rechtsstaat ist er zwangsläufig eng mit dem Begriff des auf Gesetz beruhenden Gerichts im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK verbunden ( 60 ).

    82.

    Darüber hinaus ist zu beachten, dass die durch die Vorabentscheidungsersuchen aufgeworfene Problematik nicht in der Nichteinhaltung interner Regeln, die es ermöglichen, bei den Rechtsuchenden jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit des angerufenen Spruchkörpers für äußere Faktoren auszuräumen ( 61 ), sondern in der Existenz von Bestimmungen für die Beratungsphase des Verfahrens besteht, die einen solchen Zweifel hervorrufen können.

    83.

    Ich weise insoweit darauf hin, dass sämtliche Vorschriften über die Arbeitsweise der Abteilung der Richter ihren Ursprung im Gerichtsorganisationsgesetz haben. Die Beteiligung dieser Abteilung an den Beratungen des befassten Spruchkörpers beruht daher auf einer unbestreitbaren Rechtsgrundlage, die den Grad an Vorhersehbarkeit und Gewissheit bietet, der erforderlich ist, um dem betreffenden Erfordernis zu genügen ( 62 ). Wie zuvor festgestellt worden ist, sind die Modalitäten der Beteiligung außerdem nicht so beschaffen, dass sie bei den Rechtsuchenden berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit der Mitglieder des befassten Spruchkörpers aufkommen lassen könnten.

    84.

    Auch die Existenz des Evidenzrichters ist im Gerichtsorganisationsgesetz vorgesehen, wobei die Bezeichnung der Funktion (Evidenzstelle des Rechtsprechungsverzeichnisses) die Definition ihres Zwecks enthält, nämlich die Auswertung und Analyse der Rechtsprechung. Dass Rechtssachen an diese Stelle weitergeleitet werden, bevor die Entscheidungen ausgefertigt werden, ergibt sich eindeutig aus Art. 177 Abs. 3 der Geschäftsordnung der Gerichte – einer Verordnung zur Durchführung des Gerichtsorganisationsgesetzes, die vom Justizminister aufgrund der ihm durch Art. 76 dieses Gesetzes übertragenen Befugnis erlassen worden ist ( 63 ). Eine genaue inhaltliche Beschreibung des Evidenzrichteramts, insbesondere in Bezug auf die Befugnis, die Eintragung eines Beschlusses eines Spruchkörpers auszusetzen, ist weder im Gesetz noch in der Verordnung enthalten. Diese Befugnis entspreche, so die kroatische Regierung, einer Gerichtspraxis bzw. finde in einem gerichtsinternen Rechtsakt eine textliche Grundlage.

    85.

    Es sei jedoch daran zu erinnert, dass die Rolle des Evidenzrichters darin besteht, die Rechtsprechung wie in einem Frühwarnsystem auszuwerten und ähnliche Rechtssachen aufzuspüren, um deren einheitliche Behandlung zu gewährleisten; sofern es keine ähnlichen Rechtssachen gibt, besteht seine letzte Handlung – ein einfacher Akt der Rechtspflege – darin, den Vorsitzenden der Abteilung der Richter zu informieren, damit dieser eine Sitzung einberuft und nach einer Erörterung und Mehrheitsentscheidung eine verbindliche Rechtsauffassung annimmt. Während der Zeit, die für diese Annahme erforderlich ist, wird der Entscheidungsprozess logischerweise ausgesetzt.

    86.

    Außerdem ist das Evidenzrichteramt im Zusammenhang mit den Gründen für die Einberufung einer Sitzung der Abteilung der Richter zu sehen, die nach Art. 40 Abs. 1 des Gerichtsorganisationsgesetzes darin bestehen, dass zwischen einzelnen Abteilungen, Spruchkörpern oder Richtern Auffassungsunterschiede zu Fragen in Bezug auf die Anwendung des Gesetzes bestehen oder innerhalb einer Abteilung ein Spruchkörper oder Richter von der früher anerkannten Rechtsauffassung abweicht. Die Beteiligung des Evidenzrichters trägt zur Kohärenz und zur Wirksamkeit eines Mechanismus bei, der geeignet ist, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung des betreffenden Gerichts zu gewährleisten.

    87.

    Unter diesen Umständen ist die spezifische Beteiligung des Evidenzrichters am Entscheidungsprozess in Bezug auf den Inhalt des den Rechtsstreit beendenden gerichtlichen Rechtsakts in ihrer Tragweite in keiner Weise mit derjenigen der Abteilung der Richter vergleichbar und scheint sich im Gegensatz zu Letzterer dem im Ausdruck „durch Gesetz errichtet“ enthaltenen Erfordernis zu entziehen ( 64 ).

    3. Zwischenergebnis

    88.

    Aus den vorstehenden Gründen ist Art. 19 Abs. 1 EUV meiner Ansicht nach dahin auszulegen, dass er einem Mechanismus zur Gewährleistung der Kohärenz der Rechtsprechung eines Gerichts wie dem in den Ausgangsrechtssachen in Rede stehenden nicht entgegensteht. Diese Schlussfolgerung erscheint mir auch im Hinblick auf zwei Anmerkungen begründet.

    89.

    Erstens ist hervorzuheben, dass weder Art. 2 noch Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV noch irgendeine andere Bestimmung des Unionsrechts den Mitgliedstaaten ein konkretes verfassungsrechtliches Modell, das die Beziehungen und das Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Staatsgewalten, namentlich in Bezug auf die Festlegung und Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten, regeln würde, oder ein institutionelles Modell zur Organisation der Justiz vorgeben ( 65 ). Dessen Festlegung, einschließlich des Ablaufs der Beratungsphase eines Verfahrens, fällt in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, die bei der Umsetzung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit über einen gewissen Gestaltungsspielraum verfügen ( 66 ), insbesondere im Hinblick darauf, die Erfordernisse der Rechtssicherheit, die für die zweitinstanzlichen Gerichte gelten, und der Unabhängigkeit dieser Gerichte miteinander in Einklang zu bringen. Wie Generalanwalt Bobek hervorgehoben hat, ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestrebt, die Mindestanforderungen zu bestimmen, denen nationale Systeme entsprechen müssen ( 67 ).

    90.

    Der EGMR hat seinerseits klargestellt, dass die Organisation des Justizsystems in Ländern mit kodifiziertem Recht nicht dem Ermessen der Justizbehörden überlassen werden kann, was jedoch nicht ausschließt, dass ihnen eine gewisse Befugnis zur Auslegung der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften eingeräumt wird. Im Übrigen ist die Übertragung von Befugnissen in Fragen betreffend die Gerichtsorganisation hinnehmbar, soweit diese Möglichkeit im Rahmen des innerstaatlichen Rechts des fraglichen Staates, einschließlich der einschlägigen Bestimmungen seiner Verfassung, besteht ( 68 ).

    91.

    Zweitens geht aus der Rechtsprechung des EGMR zwar hervor, dass die Erfordernisse der Rechtssicherheit und des Schutzes des berechtigten Vertrauens der Rechtsuchenden kein erworbenes Recht auf eine ständige Rechtsprechung verankern. Eine Weiterentwicklung der Rechtsprechung steht nicht per se im Widerspruch zu einer geordneten Rechtspflege, da die Aufgabe eines dynamischen und evolutiven Ansatzes jede Reform oder Verbesserung behindern könnte ( 69 ). Im vorliegenden Fall scheint mir der fragliche Mechanismus aber einen vergleichsweise angemessenen Ausgleich zwischen diesen Erfordernissen und der notwendigen Anpassungsfähigkeit des Rechts an gesellschaftliche Entwicklungen durch Fortschritte in der Rechtsprechung herzustellen. Es sei daran erinnert, dass die in der Sitzung der Richter der zweitinstanzlichen Gerichte angenommenen Rechtsauffassungen für die erstinstanzlichen Gerichte nicht verbindlich sind, dem Ansatz des Evidenzrichters widersprechen können und das oberste Gericht keinesfalls daran hindern, seine Regulierungsfunktion bei der Anwendung des nationalen Rechts wahrzunehmen, indem es die Entscheidung des angerufenen zweitinstanzlichen Gerichts gegebenenfalls aufhebt und eine Umkehr der Rechtsprechung herbeiführt.

    V. Ergebnis

    92.

    Für den Fall, dass der Gerichtshof die Vorabentscheidungsersuchen des Visoki trgovački sud Republike Hrvatske (Hohes Handelsgericht der Republik Kroatien) für zulässig erachtet, schlage ich dem Gerichtshof vor, diesem Gericht wie folgt zu antworten:

    Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung und Praxis nicht entgegensteht, die in der Beratungsphase eines zweitinstanzlichen Gerichtsverfahrens betreffend einen Rechtsstreit, der Gegenstand eines Beschlusses des angerufenen Spruchkörpers gewesen ist,

    die Befassung eines erweiterten Spruchkörpers durch den Gerichtspräsidenten oder den Vorsitzenden einer Fachabteilung aufgrund dieses Beschlusses und in einer Situation, in der die Kohärenz der Rechtsprechung des Gerichts gefährdet oder beeinträchtigt ist, mit dem Ziel, mit Stimmenmehrheit eine gemeinsame Auffassung zur generell-abstrakten Auslegung einer anwendbaren Rechtsnorm anzunehmen, die zuvor von den Parteien erörtert worden ist und die der ursprünglich befasste Spruchkörper bei der Entscheidung des Rechtsstreits in der Sache zu berücksichtigen hat;

    den Hinweis eines mit der Auswertung der Rechtsprechung des Gerichts betrauten Richters an den Gerichtspräsidenten oder den Vorsitzenden einer Fachabteilung auf eine Situation, in der die Kohärenz dieser Rechtsprechung gefährdet oder beeinträchtigt ist, weil der befasste Spruchkörper an seinem ursprünglichen Beschluss festhält, sowie die Aussetzung der Verkündung der Entscheidung über den Rechtsstreit durch diesen Spruchkörper und ihrer Zustellung an die Parteien bis zur Annahme der oben erwähnten Rechtsauffassung

    vorsieht.


    ( 1 ) Originalsprache: Französisch.

    ( 2 ) Huglo, J.‑G., „Le principe de sécurité juridique“, Cahier du Conseil constitutionnel, Nr. 11, Dezember 2001.

    ( 3 ) Urteil vom 22. März 2022, Prokurator Generalny u. a. (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑508/19, EU:C:2022:201, Rn. 59).

    ( 4 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 77).

    ( 5 ) Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, im Folgenden: Urteil Miasto Łowicz, EU:C:2020:234, Rn. 32 und 33).

    ( 6 ) Den Angaben der Kommission zufolge ist der Visoki trgovački sud Republike Hrvatske (Hohes Handelsgericht der Republik Kroatien) als zweitinstanzliches Gericht u. a. für Handelsstreitigkeiten sowie für Streitigkeiten aus dem Gesellschaftsrecht, dem Recht des geistigen Eigentums oder auch für Flugzeuge und Schiffe zuständig. Gemäß den Art. 21 und 24 des Gerichtsorganisationsgesetzes entscheidet das vorlegende Gericht über Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Handelsgerichte, die über Anträge auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens befinden und solche Verfahren durchführen.

    ( 7 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil Miasto Łowicz (Rn. 34 bis 36).

    ( 8 ) Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78), sowie vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 22).

    ( 9 ) Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (ABl. 2015, L 141, S. 19) sowie Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) (ABl. 2019, L 172, S. 18). Anzumerken ist, dass sich diese Verordnung auf grenzüberschreitende Insolvenzverfahren bezieht und den Schwerpunkt auf die Lösung von Gerichtsstands- und Gesetzeskonflikten in grenzüberschreitenden Insolvenzverfahren legt sowie die Anerkennung gerichtlicher Insolvenzentscheidungen in der gesamten Union gewährleistet. Sie harmonisiert nicht das materielle Insolvenzrecht der Mitgliedstaaten. Die Richtlinie 2019/1023 gilt unbeschadet des Anwendungsbereichs der Verordnung 2015/848 und soll diese ergänzen, indem sie materiell-rechtliche Mindeststandards für präventive Restrukturierungsverfahren sowie für Verfahren zur Entschuldung von Unternehmern festlegt (Erwägungsgründe 12 und 13).

    ( 10 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 34 und 35).

    ( 11 ) Unter Berücksichtigung der Integration eines immer fruchtbareren Unionsrechts in die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten und der Aufgabe des nationalen Gerichts, eines ordentlichen Gerichts der Union, die wirksame Anwendung der Normen des Unionsrechts zu gewährleisten, sehe ich ein Kriterium für die Anwendung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, das sich allein auf die Befugnis eines nationalen Gerichts bezieht, über Fragen der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden, als nahezu systematisch erfüllt an.

    ( 12 ) Urteil vom 27. Februar 2018 (C‑64/16, EU:C:2018:117).

    ( 13 ) In einigen Rechtssachen erscheint das Vorabentscheidungsersuchen nach meinem Dafürhalten nur noch als verfahrensrechtlicher Vorwand, um dem Gerichtshof allein durch die Berufung auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Unzufriedenheit/Kritik seines Urhebers an der Funktionsweise des nationalen Justizsystems zu unterbreiten.

    ( 14 ) Urteil Miasto Łowicz (Rn. 44 bis 46 und 48).

    ( 15 ) Vgl. Urteil Miasto Łowicz (Rn. 49 bis 51).

    ( 16 ) Nach meinem Dafürhalten genügt die Feststellung, dass der fragliche Mechanismus zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung den Entscheidungsprozess während der Beratungsphase im vorlegenden Gericht bestimmt, wobei es unerheblich ist, dass die beanstandeten Bestimmungen nicht Teil der kroatischen Zivilprozessordnung sind.

    ( 17 ) Urteil vom 19. November 2019, (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982).

    ( 18 ) Urteil Miasto Łowicz (Rn. 51).

    ( 19 ) Vgl. Urteil vom 23. November 2021, IS (Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses) (C‑564/19, EU:C:2021:949), in Bezug auf die erste und die zweite Vorlagefrage.

    ( 20 ) Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in den verbundenen Rechtssachen Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:403, Nr. 136).

    ( 21 ) Dies ist jedoch im Wesentlichen die Auffassung des vorlegenden Gerichts, wonach der Mechanismus zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung auf die Rechtsstaatlichkeit und die richterliche Unabhängigkeit wesentlichen Einfluss ausüben könne, insbesondere weil er in allen Rechtssachen vor allen zweitinstanzlichen Gerichten in Kroatien zur Anwendung komme, „unabhängig davon, ob im konkreten Fall europäisches Recht anzuwenden ist oder nicht“ (S. 4 des Vorlagebeschlusses in der Rechtssache C‑554/21).

    ( 22 ) Kann man im Übrigen vernünftigerweise davon ausgehen, dass dieser Mechanismus von einem zweitinstanzlichen kroatischen Gericht in einem Rechtsstreit mit Bezug zum Unionsrecht zukünftig nie in Frage gestellt werden wird? Abgesehen von diesem Fall könnte auch die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens der Kommission oder einer Kontrolle anhand der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) in Betracht gezogen werden.

    ( 23 ) Beschluss vom 6. Oktober 2020, Prokuratura Rejonowa w Słubicach (C‑623/18, EU:C:2020:800); Urteile vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 94), vom 23. November 2021, IS (Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses) (C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 58 bis 66 und 87), und vom 29. März 2022, Getin Noble Bank (C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 67, 92 und 99).

    ( 24 ) Beschluss vom 2. Juli 2020, S.A.D. Maler und Anstreicher (C‑256/19, EU:C:2020:523), in dem der Gerichtshof zwar die Argumentation aus dem Urteil Miasto Łowicz übernommen, die Nichtanwendung der dritten Zulässigkeitshypothese aber ungeachtet der vorherigen Feststellung, dass es im Ausgangsrechtsstreit an einem Bezug zum Unionsrecht fehlte, speziell begründet hat. So hat er in jener Rechtssache, in der es um die Geschäftsverteilung innerhalb des Gerichts ging, darauf verwiesen, dass der vorlegende Richter die ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft hatte und im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht über die Frage entscheiden konnte, ob ihm die Rechtssache rechtmäßig zugewiesen worden war. Vgl. darüber hinaus Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 48 und 49), in dem der Sachbezug der Ausgangsverfahren (Strafverfahren in der Urteilsphase) zum Unionsrecht nicht erläutert wird, sowie Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 113 bis 121), mit dem eine Frage nach einer prozessualen Einrede im Zusammenhang mit der Eigenschaft des Verfassers einer Klageerwiderung im Rahmen eines Ausgangsrechtsstreits, der den Erhalt im Besitz der Justizinspektion befindlicher statistischer Daten durch eine Richtervereinigung zum Gegenstand hatte, für zulässig erklärt worden ist.

    ( 25 ) Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. (Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters) (C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 46 und 47), wobei es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass die vom vorlegenden Gericht in der Sache zu entscheidenden Ausgangsverfahren das Unionsrecht betrafen.

    ( 26 ) Urteile vom 17. Februar 2011, Weryński (C‑283/09, EU:C:2011:85), vom 13. Juni 2013, Versalis/Kommission (C‑511/11 P, EU:C:2013:386), sowie vom 11. Juni 2015, Fahnenbrock u. a. (C‑226/13, C‑245/13 und C‑247/13, EU:C:2015:383).

    ( 27 ) Verordnung des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen (ABl. 2001, L 174, S. 1).

    ( 28 ) Urteil vom 17. Februar 2011, Weryński (C‑283/09, EU:C:2011:85, Rn. 38). Zu diesem Zweck ist entschieden worden, dass der Begriff „Erlass seines Urteils“ im Sinne von Art. 267 Abs. 2 AEUV so zu verstehen ist, dass er das gesamte Verfahren, das zur Entscheidung des vorlegenden Gerichts führt, umfasst, damit der Gerichtshof über die Auslegung aller Verfahrensvorschriften des Unionsrechts entscheiden kann, die das vorlegende Gericht zum Erlass seines Urteils anwenden muss, wobei es unerheblich ist, dass die Auslegung der Verordnung Nr. 1206/2001 für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erforderlich erscheint (Rn. 42 des Urteils).

    ( 29 ) Die Zweifel des vorlegenden Gerichts beziehen sich auf den Mechanismus an sich, der den Angaben dieses Gerichts zufolge „unabhängig davon [zur Anwendung kommt], ob im vorliegenden Fall europäisches Recht anzuwenden ist oder nicht“. Das vorliegende Verfahren belegt im Übrigen, dass nichts die kroatischen zweitinstanzlichen Gerichte daran zu hindern scheint, den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV zu befassen, um nach der Auslegung der anwendbaren Bestimmungen des Unionsrechts zu fragen.

    ( 30 ) Urteil vom 2. Februar 2023, Spanien u. a./Kommission (C‑649/20 P, C‑658/20 P und C‑662/20 P, EU:C:2023:60, Rn. 81).

    ( 31 ) Urteil vom 17. November 2022, Avicarvil Farms (C‑443/21, EU:C:2022:899, Rn. 46).

    ( 32 ) Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 64).

    ( 33 ) Urteile vom 7. August 2018, Banco Santander und Escobedo Cortés (C‑96/16 und C‑94/17, EU:C:2018:643), und vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 44), sowie Beschluss vom 17. Juli 2023, Jurtukała (C‑55/23, EU:C:2023:599, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 34 ) EGMR, 29. November 2016, Griechisch-katholische Kirchengemeinde Lupeni u. a./Rumänien (CE:ECHR:2016:1129JUD007694311, §§ 116 und 129). Ein Blick auf die verschiedenen nationalen Rechtssysteme innerhalb der Union zeigt, dass zahlreiche kontinentaleuropäische Rechtsordnungen in Ermangelung eines Mechanismus für Präzedenzfälle im Sinne des Common Law sehr wohl auf interne Mechanismen zur Gewährleistung der Kohärenz der Rechtsprechung innerhalb ihrer Gerichtsbarkeiten zurückgreifen.

    ( 35 ) EGMR, 29. November 2016, Griechisch-katholische Kirchengemeinde Lupeni u. a./Rumänien (CE:ECHR:2016:1129JUD007694311, § 123). In Systemen, die Mechanismen zur Gewährleistung der Kohärenz der Rechtsprechung bei der Bearbeitung einer bestimmten Rechtssache vorsehen, statten die Rechtsordnungen der Union eher die obersten Gerichte damit aus; es gibt aber einen Mechanismus zur Verweisung an einen erweiterten Spruchkörper innerhalb zweitinstanzlicher Gerichte, wie z. B. in Deutschland zugunsten der Oberverwaltungsgerichte, wenn sie in letzter Instanz über eine bestimmte Frage entscheiden, und in Finnland.

    ( 36 ) Dasselbe gilt für das Revisionsverfahren, das den von der kroatischen Regierung in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben zufolge vor dem Vrhovni sud Republike Hrvatske (Oberstes Gericht der Republik Kroatien) eingeleitet werden könnte. Die kroatische Regierung hat darüber hinaus klargestellt, dass die Rechtsauffassungen der übergeordneten Gerichte für die erstinstanzlichen Gerichte nicht bindend seien.

    ( 37 ) EGMR, 1. Juli 2010, Vusić/Kroatien (CE:ECHR:2010:0701JUD004810107), EGMR, 29. November 2016, Griechisch-katholische Kirchengemeinde Lupeni u. a./Rumänien (CE:ECHR:2016:1129JUD007694311), sowie EGMR, 23. Mai 2019, Sine Tsaggarakis A.E.E./Griechenland (CE:ECHR:2019:0523JUD001725713).

    ( 38 ) Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, im Folgenden: Urteil Kommission/Polen, EU:C:2021:596, Rn. 50 und 51).

    ( 39 ) Urteil Kommission/Polen (Rn. 52).

    ( 40 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 37).

    ( 41 ) Urteil Kommission/Polen (Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 42 ) Urteil Kommission/Polen (Rn. 58).

    ( 43 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 121 bis 123).

    ( 44 ) Urteil Kommission/Polen (Rn. 60).

    ( 45 ) Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 117).

    ( 46 ) EGMR, 22. Dezember 2009, Parlov-Tkalčić/Kroatien (CE:ECHR:2009:1222JUD002481006, §§ 86 bis 88).

    ( 47 ) Die Entscheidung hierüber ist letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, nachdem es die dafür erforderliche Würdigung vorgenommen hat. Art. 267 AEUV gibt dem Gerichtshof nämlich nicht die Befugnis, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Unionsorgane zu äußern. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof aber das Unionsrecht im Rahmen der durch diesen Artikel begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten unter Berücksichtigung der Akten auslegen, soweit dies dem innerstaatlichen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 132).

    ( 48 ) In den Rn. 42 und 43 ihrer Erklärungen verweist die kroatische Regierung auf Beschlüsse des Ustavni sud (Verfassungsgericht), in denen klargestellt wird, dass die Richter, die in der fraglichen Rechtssache autonom und unabhängig entschieden und das Recht und die Pflicht hätten, alle Aspekte der von ihnen zu entscheidenden Rechtssache zu begründen, einschließlich der Frage nach der Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit einer festgestellten verbindlichen Rechtsauffassung auf die Rechtsgrundlage für die Maßnahme, selbst über die Frage befänden, ob die Voraussetzungen für die Anwendung von Rechtsauffassungen erfüllt seien.

    ( 49 ) Urteil vom 6. März 2018, Achmea (C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 35 und 37).

    ( 50 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2015, Ferreira da Silva e Brito u. a. (C‑160/14, EU:C:2015:565, Rn. 37).

    ( 51 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria (C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 71), und vom 5. April 2016, PFE (C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 33). In einigen Rechtssachen, in denen der Grad der Genauigkeit/Technizität der fraglichen Regelung hoch ist, kann die Grenze zwischen den Begriffen der Auslegung und der Anwendung einer Rechtsnorm zugegebenermaßen fließend sein. Ich halte es jedoch nicht für möglich, die Konformität des kroatischen Mechanismus rechtlich allein anhand der faktisch bestehenden Besonderheiten einiger Rechtssachen zu beurteilen, aufgrund deren die fragliche begriffliche Unterscheidung ihre Relevanz nicht verliert.

    ( 52 ) Der Umstand, dass die Mitglieder des Spruchkörpers nicht die Möglichkeit haben, einen Punkt auf die Tagesordnung der Abteilungssitzung zu setzen, vermag nicht die Unabhängigkeit dieser Richter, wie das vorlegende Gericht angibt, vollständig aufzuheben.

    ( 53 ) Auch hier ist die Formulierung ausgesprochen symptomatisch.

    ( 54 ) Die vorstehende Feststellung scheint mir eine Reaktion auf die Tatsache zu sein, dass das vorlegende Gericht die vom Evidenzrichter in Ausübung seiner Befugnisse getroffene Auswahl der Rechtssachen in Frage stellt, indem es insbesondere darauf hinweist, dass dieser in den Akten der Rechtssache C‑727/21 nicht wirklich eine widersprüchliche Rechtsprechung festgestellt habe.

    ( 55 ) Aus den dem Gerichtshof in der Rechtssache C‑727/21 vorgelegten Akten geht hervor, dass der Evidenzrichter, der das Schreiben vom 23. Juni 2021 verfasst hat, in dem die befasste Kammer aufgefordert wird, ihre Auffassung zu überprüfen, zu den 28 anwesenden von insgesamt 31 Richtern der betreffenden Abteilung gehörte, wie das Sitzungsprotokoll zeigt.

    ( 56 ) Es sei darauf hingewiesen, dass das nationale Gericht, das von der ihm nach Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht, durch die Auslegung der fraglichen Vorschriften durch den Gerichtshof für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens gebunden ist und gegebenenfalls von der Beurteilung des höheren Gerichts abweichen muss, wenn es angesichts dieser Auslegung der Auffassung ist, dass sie nicht dem Unionsrecht entspricht (Beschluss vom 17. Juli 2023, Jurtukała, C‑55/23, EU:C:2023:599, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 57 ) Urteil Kommission/Polen (Rn. 203 und 205).

    ( 58 ) Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 59 ) Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 124 unter Anführung des Urteils des EGMR vom 1. Dezember 2020, Ástráðsson/Island, CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, §§ 231 und 233).

    ( 60 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 125 unter Anführung des Urteils des EGMR vom 1. Dezember 2020, Ástráðsson/Island, CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, §§ 227 und 232).

    ( 61 ) Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 71).

    ( 62 ) Vgl. entsprechend Urteil Kommission/Polen (Rn. 171).

    ( 63 ) Rn. 11 der Erklärungen der kroatischen Regierung.

    ( 64 ) Interessanterweise hat der Gerichtshof im Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232), die Auffassung vertreten, dass Vorschriftswidrigkeiten, die das Verfahren zur Ernennung eines Richters betreffen, keinen Verstoß gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters, der dem Erfordernis eines durch Gesetz errichteten Gerichts entspricht, darstellen, da sie nicht als Verstoß gegen die für dieses Verfahren geltenden Grundregeln angesehen werden können. Wie eine Autorin betont, hat der Gerichtshof damit die Tragweite des oben erwähnten Erfordernisses eingeschränkt (vgl. Dero-Bugny, D., „Le principe du juge légal en droit de l’Union européenne“, Journal du droit européen, S. 154, 2022).

    ( 65 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 38 und 43).

    ( 66 ) Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (C‑204/21, EU:C:2023:442).

    ( 67 ) Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in den Rechtssachen Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/19, EU:C:2020:746, Nr. 230).

    ( 68 ) EGMR, 28. April 2009, Savino u. a./Italien (CE:ECHR:2009:0428JUD001721405, § 94), angeführt im Urteil Kommission/Polen (Rn. 168).

    ( 69 ) EGMR, 18. Dezember 2008, Unédic/Frankreich (CE:ECHR:2008:1218JUD002015304, § 74), EGMR, 29. November 2016, Griechisch-katholische Kirchengemeinde Lupeni u. a./Rumänien (CE:ECHR:2016:1129JUD007694311, § 116), sowie EGMR, 20. Oktober 2011, Nejdet Sahin und Perihan Sahin (CE:ECHR:2011:1020JUD001327905, § 58).

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