Rechtssache C-372/97
Italienische Republik
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
«Staatliche Beihilfen – Güterkraftverkehr – Auswirkung auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten und Wettbewerbsverzerrung – Voraussetzungen für eine Ausnahme vom Verbot des Artikels 92 Absatz 1 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 87 Absatz 1
EG) – Bestehende oder neue Beihilfen – Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes – Begründung»
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Schlussanträge des Generalanwalts S. Alber vom 15. Mai 2003 |
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Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 29. April 2004 |
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Leitsätze des Urteils
- 1.
- Staatliche Beihilfen – Entscheidung der Kommission, mit der die Unvereinbarkeit einer nicht gemeldeten Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt
wird – Begründungspflicht – Umfang
(EG Vertrag, Artikel 93 Absatz 3 und 190 [jetzt Artikel 88 Absatz 3 EG und 253 EG])
- 2.
- Staatliche Beihilfen – Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Beurteilungskriterien – Beihilfen, die einen geringen individuellen Umfang haben, aber auf einem Sektor gewährt werden, der durch lebhaften Wettbewerb
und durch eine hohe Anzahl kleiner Unternehmen gekennzeichnet ist
(EG Vertrag, Artikel 92 [nach Änderung jetzt Artikel 87 EG])
- 3.
- Staatliche Beihilfen – Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten – Verkehrssektor – Begünstigte, die nur auf örtlicher Ebene tätig sind – Unbeachtlich
(EG‑Vertrag, Artikel 92 Absatz 1 [nach Änderung jetzt Artikel 87 Absatz 1 EG])
- 4.
- Staatliche Beihilfen – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Staatliche Maßnahmen zur Annäherung der Wettbewerbsbedingungen eines bestimmten Wirtschaftssektors an die in anderen Mitgliedstaaten
(EG‑Vertrag, Artikel 92 Absatz 1 [nach Änderung jetzt Artikel 87 Absatz 1 EG])
- 5.
- Handlungen der Organe – Begründungspflicht – Umfang – Entscheidung der Kommission, mit der die Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt wird – Erforderliche Angaben
(EG‑Vertrag, Artikel 92 Absatz 1 [nach Änderung jetzt Artikel 87 Absatz 1 EG] und Artikel 190 [jetzt Artikel 253 EG])
- 6.
- Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Mitwirkungspflicht des Mitgliedstaats, der eine Ausnahme beantragt
(EG‑Vertrag, Artikel 92 Absatz 2 [nach Änderung jetzt Artikel 87 Absatz 2 EG])
- 7.
- Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Ermessen der Kommission – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen
(EG‑Vertrag, Artikel 92 Absatz 3 [nach Änderung jetzt Artikel 87 Absatz 3 EG])
- 8.
- Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Kein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Ermessen der Kommission
(EG‑Vertrag, Artikel 93 Absatz 2 Unterabsatz 1 [jetzt Artikel 88 Absatz 2 Unterabsatz 1 EG])
- 9.
- Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Vertrauensschutz – Zulässigkeit beim Begünstigten – Ausschluss bei dem Mitgliedstaat, der eine Beihilfe unter Verletzung der Verfahrensbestimmungen des Artikels 93 EG-Vertrag
(jetzt Artikel 88 EG) gewährt hat
(EG‑Vertrag, Artikel 92 [nach Änderung jetzt Artikel 87 EG] und Artikel 93 [jetzt Artikel 88 EG])
- 1.
- Hat ein Mitgliedstaat eine Beihilfe gewährt, ohne dass sie in der Planungsphase bei der Kommission angemeldet wurde, so muss
die Entscheidung, mit der die Unvereinbarkeit dieser Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt wird, nicht mit darzulegenden
tatsächlichen Auswirkungen der Beihilfe auf den Wettbewerb oder den Handel zwischen Mitgliedstaaten begründet werden. Andernfalls
würden dadurch diejenigen Mitgliedstaaten, die Beihilfen unter Verstoß gegen die Mitteilungspflicht gemäß Artikel 93 Absatz
3 EG-Vertrag (jetzt Artikel 88 Absatz 3 EG) zahlen, zu Lasten derjenigen begünstigt, die die Beihilfen in der Planungsphase
anmelden.
(vgl. Randnr. 45)
- 2.
- Verstärkt eine von einem Mitgliedstaat gewährte finanzielle Beihilfe die Stellung eines Unternehmens gegenüber derjenigen
anderer Wettbewerber im innergemeinschaftlichen Handel, so muss der innergemeinschaftliche Handel als von der Beihilfe beeinflusst
angesehen werden.
Der verhältnismäßig geringe Umfang einer Beihilfe oder die verhältnismäßig geringe Größe des begünstigten Unternehmens schließt
nicht von vornherein die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten aus.
Eine verhältnismäßig geringe Beihilfe kann den Wettbewerb und den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen, wenn auf
dem Sektor, in dem die begünstigten Unternehmen tätig sind, ein lebhafter Wettbewerb herrscht. Außerdem kann eine Beihilfe,
die auf individueller Ebene bescheiden sein mag, die aber potenziell allen Unternehmen eines Sektors oder einem sehr großen
Teil von ihnen offen steht, Auswirkungen auf den Wettbewerb und den Handel zwischen Mitgliedstaaten haben, wenn der Sektor
durch eine hohe Anzahl kleiner Unternehmen gekennzeichnet ist.
(vgl. Randnrn. 52-54, 57, 114)
- 3.
- Die Anwendungsvoraussetzung von Artikel 92 Absatz 1 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 87 Absatz 1 EG), wonach die Beihilfe
geeignet sein muss, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, hängt nicht vom örtlichen oder regionalen Charakter
der erbrachten Verkehrsdienste oder von der Größe des betreffenden Tätigkeitsgebiets ab.
(vgl. Randnr. 60)
- 4.
- Dass ein Mitgliedstaat versucht, die Wettbewerbsbedingungen eines bestimmten Wirtschaftssektors denen in anderen Mitgliedstaaten
durch einseitige Maßnahmen anzunähern, kann diesen Maßnahmen nicht den Charakter staatlicher Beihilfen nehmen.
(vgl. Randnr. 67)
- 5.
- Die nach Artikel 190 EG-Vertrag (jetzt Artikel 253 EG) vorgeschriebene Begründung muss der Natur des betreffenden Rechtsakts
angepasst sein und die Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck
bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine
Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem
Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere
durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen
nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines
Rechtsakts den Erfordernissen des Artikels 190 EG-Vertrag genügt, nicht nur anhand ihres Wortlauts zu beurteilen ist, sondern
auch anhand ihres Kontextes sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet.
Zwar kann sich in bestimmten Fällen bereits aus den Umständen, unter denen die Beihilfe gewährt worden ist, ergeben, dass
diese den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt und den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht; jedoch hat
die Kommission diese Umstände in der Begründung ihrer Entscheidung zumindest anzugeben.
(vgl. Randnrn. 69-71)
- 6.
- Ein Mitgliedstaat, der die Ermächtigung zur Gewährung von Beihilfen in Abweichung von den Regeln des Vertrages beantragt,
ist zur Zusammenarbeit mit der Kommission verpflichtet und hat aufgrund dessen insbesondere alle Angaben zu machen, die diesem
Organ die Prüfung erlauben, ob die Voraussetzungen für die beantragte Ausnahmeermächtigung vorliegen.
(vgl. Randnr. 81)
- 7.
- Die Kommission verfügt bei der Anwendung des Artikels 92 Absatz 3 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 87 Absatz 3 EG)
über ein weites Ermessen, das sie nach Maßgabe komplexer wirtschaftlicher und sozialer Wertungen ausübt, die auf die Gemeinschaft
als Ganzes zu beziehen sind. Bei der Prüfung der Auswirkung einer Beihilfe auf den Wettbewerb und den innergemeinschaftlichen
Handelsverkehr hat die Kommission die positiven Auswirkungen der Beihilfe gegen ihre negativen Auswirkungen auf die Handelsbedingungen
und die Aufrechterhaltung eines unverfälschten Wettbewerbs abzuwägen. Die gerichtliche Nachprüfung der Ausübung dieses Ermessens
ist auf die Überprüfung der Beachtung der Verfahrens- und Begründungsvorschriften sowie auf die Kontrolle der inhaltlichen
Richtigkeit der festgestellten Tatsachen und des Fehlens von Rechtsfehlern, von offensichtlichen Fehlern bei der Bewertung
der Tatsachen und von Ermessensmissbrauch beschränkt.
(vgl. Randnrn. 82-83)
- 8.
- Die Aufhebung einer rechtswidrigen Beihilfe durch Rückforderung ist die logische Folge der Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit.
Daher kann die Rückforderung einer zu Unrecht gewährten staatlichen Beihilfe zwecks Wiederherstellung der früheren Lage grundsätzlich
nicht als eine Maßnahme betrachtet werden, die außer Verhältnis zu den Zielen der Vertragsbestimmungen über staatliche Beihilfen
stünde.
Durch die Rückzahlung der Beihilfe verliert der Empfänger den Vorteil, den er auf dem Markt gegenüber seinen Mitbewerbern
besessen hat, und die Lage vor der Zahlung der Beihilfe wird wiederhergestellt. Aus dieser Funktion der Rückzahlung folgt
auch, dass die Kommission, falls keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen, in der Regel ihr Ermessen nicht fehlerhaft ausübt,
wenn sie den Mitgliedstaat auffordert, die als rechtswidrige Beihilfen gewährten Beträge zurückzufordern, denn sie stellt
damit nur die frühere Lage wieder her.
(vgl. Randnrn. 103-104)
- 9.
- Es ist nicht auszuschließen, dass der Empfänger einer rechtswidrigen Beihilfe sich ausnahmsweise auf Umstände berufen kann,
aufgrund deren sein Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit der Beihilfe geschützt ist, so dass er sie nicht zurückzuerstatten
braucht.
Ein Mitgliedstaat, dessen Behörden eine Beihilfe unter Verletzung der Verfahrensbestimmungen des Artikels 93 EG-Vertrag (jetzt
Artikel 88 EG) gewährt haben, kann sich hingegen nicht unter Berufung auf das geschützte Vertrauen der Begünstigten der Verpflichtung
entziehen, die erforderlichen Maßnahmen zur Durchführung einer Entscheidung der Kommission zu ergreifen, die die Rückforderung
der Beihilfe anordnet. Andernfalls wären Artikel 92 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 87 EG) und Artikel 93 EG-Vertrag
insoweit wirkungslos, als die nationalen Behörden sich auf ihr eigenes rechtswidriges Verhalten stützen könnten, um Entscheidungen
der Kommission nach diesen Vertragsbestimmungen ihrer Wirkung zu berauben.
(vgl. Randnrn. 111-112)