STELLUNGNAHME
|
Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss
|
Europäische Strategie für Pflege und Betreuung
|
_____________
|
Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen:
Die Europäische Strategie für Pflege und Betreuung
[COM(2022) 440 final]
|
|
SOC/741
|
|
Berichterstatterin: Kinga JOÓ
|
Ko-Berichterstatterin: Zoe TZOTZE-LANARA
|
Befassung
|
Europäische Kommission, 27/10/2022
|
Rechtsgrundlage
|
Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union
|
Zuständige Fachgruppe
|
Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft
|
Annahme in der Fachgruppe
|
11/01/2023
|
Verabschiedung im Plenum
|
24/01/2023
|
Plenartagung Nr.
|
575
|
Ergebnis der Abstimmung
(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)
|
169/0/4
|
1.Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die in der Europäischen Strategie für Pflege und Betreuung (im Folgenden kurz: „die Strategie“) unterbreiteten Vorschläge für Maßnahmen auf EU- und nationaler Ebene zur Stärkung der Pflege- und Betreuungsinfrastruktur in Europa auf der Grundlage eines gesamtgesellschaftlichen Ansatzes. Zudem begrüßt er die in den damit einhergehenden Vorschlägen des Rates erhobene Forderung nach hochwertigeren Dienstleistungen während des gesamten Lebens.
1.2Der EWSA bekräftigt seinen Vorschlag zur Einführung einer europäischen Pflege- und Betreuungsgarantie, um für alle in der EU lebenden Menschen ihr gesamtes Leben lang Zugang zu einer erschwinglichen und hochwertigen Gesundheitsversorgung, Pflege und Betreuung zu gewährleisten. Mit der erfolgreichen Nutzung eines solchen Instruments könnten die Defizite in der Pflege und Betreuung angegangen und angemessene Arbeitsbedingungen für Pflege- und Betreuungskräfte, auch informelle, gefördert werden.
1.3Der EWSA betont, wie wichtig es ist, Familien in ihrer grundlegenden Rolle zu unterstützen. Dazu gehört, über sozialpolitische Maßnahmen hinaus sowie in Gemeinschaften zu investieren. Entsprechend gestärkte Familien in all ihrer Unterschiedlichkeit dienen als Sicherheitsnetz und sind wesentliche Faktoren für ein nachhaltiges, solidarisches Pflege- und Betreuungssystem. Es kann nicht genug betont werden, wie wichtig es ist, der Erschwinglichkeit und Kontinuität von Pflege- und Betreuungsdiensten im Fall außergewöhnlicher Belastungen Vorrang einzuräumen.
1.4Der EWSA spielt eine entscheidende Rolle bei der Sensibilisierung, denn er sammelt und verbreitet Schlüsselinformationen zu bewährten Verfahren in Bezug auf Instrumente und Infrastruktur unter den Sozialpartnern und zivilgesellschaftlichen Organisationen und sorgt für einen Austausch bezüglich neuer Formen von Pflege- und Betreuungsdiensten. Er fordert die Zuweisung spezifischer Finanzmittel, damit der Bedarf von Pflege- und Betreuungsbedürftigen sowie Pflege- bzw. Betreuungskräften erfasst werden kann.
1.5Die Gleichstellung der Geschlechter sollte bei der Umsetzung der Strategie weiterhin im Mittelpunkt stehen, unter anderem sollten Maßnahmen zur Bekämpfung schädlicher Geschlechterstereotype ergriffen werden, die den formellen und informellen Pflege- und Betreuungssektor gefährden. Der EWSA bekräftigt, dass mehr Anreize für Männer geschaffen werden sollten, einen Pflege- oder Betreuungsberuf zu ergreifen, und es für eine gerechtere Aufgabenteilung zwischen Frauen und Männern bei der Pflege und Betreuung von Angehörigen zu sorgen gilt.
1.6Der EWSA betont, wie wichtig es ist, während des gesamten Lebens für ein gesundes und aktives Altern vorzusorgen und gleichzeitig der Diskriminierung aus Altersgründen und anderen Formen der Diskriminierung, dem Missbrauch sowie der Misshandlung und Stereotypisierung älterer Menschen vorzubeugen und diese davor zu schützen. Zudem plädiert er für eine europäische Strategie für ältere Menschen.
1.7Der EWSA fordert, alle Ressourcen zu mobilisieren, damit der wachsende und vielfältige Bedarf an Pflege und Betreuung gedeckt werden kann: Es gilt, für Pflegeinfrastruktur und Pflegekräfte angemessene Mittel zur Verfügung zu stellen, um Wachstum und Beschäftigung zu erhöhen. Das gesamte Spektrum der Anbieter von Pflege- und Betreuungsdiensten muss im Rahmen solider Qualitätssicherungsrahmen mobilisiert werden. Die Mitgliedstaaten müssen die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze fördern und dafür sorgen, dass Arbeitsplätze in der Sozialfürsorge attraktiv, angemessen bezahlt und wertgeschätzt werden sowie gute Karriereaussichten bieten.
1.8Der EWSA spricht sich für die Schaffung einer besseren Datengrundlage zur Nutzung des Angebots an frühkindlicher Betreuung, Bildung und Erziehung (FBBE) aus, um die Vergleichbarkeit und die Verfügbarkeit umfassenderer Informationen für die Gestaltung und Umsetzung von Reformen zu gewährleisten.
1.9Der EWSA fordert die EU-Institutionen auf, der Zusammenarbeit durch die Einsetzung einer hochrangigen Expertengruppe für Langzeitpflege, in der alle Akteure und ihre Organisationen vertreten sind, offiziellen Charakter zu verleihen und gemeinsam die Betreuungs- und Pflegedienste von morgen zu schaffen.
Zudem sollten Pflege- und Betreuungsbedürftige, Pflege- und Betreuungskräfte sowie ihre Organisationen substanziell in den gesamten Politikzyklus eingebunden werden.
1.10Der EWSA betont, dass die Mobilität von Pflege- und Betreuungskräften und die Arbeitsmigration aus Nicht-EU-Ländern in Verbindung mit Instrumenten zur Abstimmung von Angebot und Nachfrage sowie zur Anerkennung von Qualifikationen berücksichtigt werden müssen. Außerdem stellt er fest, dass den zahlreichen Arbeitnehmern ohne gültige Papiere, die bereits in Europa Pflege- und Betreuungsleistungen erbringen, in der Strategie nicht ausreichend Rechnung getragen wird.
1.11Der EWSA fordert eine Halbzeitbewertung der Empfehlungen auf der Grundlage der Überwachung der Barcelona-Ziele und der allgemeinen Ziele für die Reformen im Bereich der Langzeitpflege entsprechend dem Finanzierungszyklus der EU.
2.Ziele und Gegenstand der Stellungnahme
2.1Der EWSA begrüßt die in der Strategie unterbreiteten Vorschläge für Maßnahmen auf EU- und nationaler Ebene zur Stärkung der Pflege- und Betreuungsinfrastruktur in Europa, mit denen sowohl Pflege- und Betreuungsbedürftige (von der Geburt bis ins hohe Alter) als auch (formelle und informelle) Pflege- und Betreuungspersonen unterstützt werden. Zudem begrüßt er den analytischen Ansatz der Mitteilung zur Ermittlung von Schwachstellen, Engpässen und Problembereichen, die sich auf die Bereitstellung integrierter hochwertiger Betreuung und Pflege auswirken.
2.2Diese Strategie steht im Einklang mit dem Aktionsplan der Europäischen Kommission zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte aus dem Jahr 2021 und bietet den Mitgliedstaaten nützliche Leitlinien für eine zugängliche, angemessene und hochwertige Pflege und Betreuung, um den wachsenden und vielfältigen Bedarf zu decken. Sie beinhaltet ehrgeizige Ziele für die frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung (FBBE) sowie solide Steuerungsinstrumenten für die Überwachung von Maßnahmen im Bereich der Langzeitpflege. Sie baut auf den bestehenden EU-Rahmen
auf und zielt daher bereichsübergreifend auf die Behebung von Pflege- und Betreuungsdefiziten sowie die Förderung der Rechte von Pflege- und Betreuungspersonen und -bedürftigen ab.
2.3Es liegen zahlreiche Studien und Stellungnahmen vor, die Orientierungshilfen für die Umsetzung sowie Einblicke und Daten zu verschiedenen Aspekten von Pflege und Betreuung wie Geschlechtergleichstellung
,
, Kosten informeller Pflege und Betreuung
,
, Langzeitpflegesysteme in Europa
, Arbeitskräfte und Beschäftigungsbedingungen
,
bieten.
2.4Das Europäische Parlament betont, dass der Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von öffentlicher Fürsorge große Bedeutung zukommt und alle das Recht auf eine echte Wahl mit Blick auf die für sie und ihre Familien geeigneten Dienste (z. B. Pflege und Betreuung in der Familie bzw. in der lokalen Gemeinschaft, patientenorientierte Pflege und Betreuung oder personalisierte Pflege und Betreuung) haben sollten.
3.Allgemeine Bemerkungen
3.1Der EWSA bewertet positiv, dass in der Strategie die Verantwortung der Gesamtgesellschaft und nicht nur der betreffenden Familien für Pflege und Betreuung anerkannt wird, und begrüßt beide Vorschläge für Empfehlungen des Rates, in denen eine bessere Qualität der Dienstleistungen während des gesamten Lebens gefordert wird. Mit der Strategie wird ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel bei der Wertschätzung und Erbringung von Pflege- und Betreuungsdiensten in der EU mit dem Ziel unterstützt, kulturelle und nationalen Unterschiede zu überwinden.
3.2Die europäische Pflege- und Betreuungsdebatte soll auf ein nachhaltiges und menschenrechtsbasiertes Pflege- und Betreuungsmodell ausgerichtet werden, mit dem die Gleichstellung der Geschlechter in der formellen und informellen Pflege und Betreuung gefördert sowie die Menschenwürde, ein unabhängiges Leben und die Inklusion in die Gemeinschaft garantiert werden. Während der COVID-19-Pandemie wurden Widerstandsfähigkeit und Angemessenheit der Betreuungs- und Pflegesysteme durch die Verschärfung struktureller Probleme wie Unterfinanzierung und personelle Unterbesetzung in der gesamten EU auf die Probe gestellt.
3.3Eine wirksame Strategie erfordert einen transformativen und ehrgeizigen Ansatz, bei dem die Grundrechte und -bedürfnisse der Pflege- und Betreuungsbedürftigen und der Pflege- und Betreuungskräfte im Mittelpunkt stehen, unter anderem durch ihre umfassende und substanzielle Beteiligung an Konsultationen und Entscheidungen.
3.4Der EWSA betont, dass Vorbeugung, Befähigung und Rehabilitation integraler Bestandteil der Umsetzung der Strategie sein sollten. Die Maßnahmen sollten sich zunehmend auf frühzeitiges Eingreifen, gesundes und aktives Altern, Vorbeugung und die Förderung der Autonomie konzentrieren, die den Bedarf an Langzeitpflege verringern und die Inklusion in die Gesellschaft sowie die aktive Bürgerschaft erhöhen können. Zu diesem Zweck sollte insbesondere eine umfassende europäische Strategie für ältere Menschen konzipiert werden.
3.5Unter Hinweis auf die Erfahrungen mit den Sparmaßnahmen während der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen betont der EWSA, dass der Erschwinglichkeit und Kontinuität von Betreuungs- und Pflegediensten Vorrang eingeräumt werden muss, um den derzeitigen außergewöhnlichen Belastungen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, der Energiekrise und den aktuell drastisch steigenden Lebenshaltungskosten zu begegnen.
3.6Die durchgängige Berücksichtigung der Gleichstellung der Geschlechter in der Strategie ist zu begrüßen. In der formellen und informellen Pflege und Betreuung sind vor allem Frauen tätig. In der EU geben 29 % der Frauen als Hauptgrund dafür, dass sie nicht auf dem Arbeitsmarkt tätig sind oder in Teilzeit arbeiten, Pflege- und Betreuungspflichten an. Bei den Männern liegt dieser Prozentsatz bei nur 6 %.
Die Kosten für diese unausgewogene Verteilung der Betreuungs- und Pflegeaufgaben werden auf jährlich 242 Milliarden Euro geschätzt.
Die Empfehlungen sind nützliche Leitlinien für die Mitgliedstaaten, um Geschlechterstereotype, das geschlechtsspezifische Lohn- und Rentengefälle sowie geschlechtsspezifische Lücken bei Betreuungs- und Pflegeaufgaben zu bekämpfen.
3.7Der EWSA betont die Bedeutung der familiären und informellen Pflege und Betreuung als Bestandteil nachhaltiger Betreuungs- und Pflegesysteme und fordert eine rasche Erfassung des diesbezüglichen Bedarfs und der praktischen Modalitäten. Die entsprechenden Betreuungs- und Pflegepersonen müssen bei der Gewährleistung von Kontinuität als Partner anerkannt werden und umfassende Unterstützung erhalten. So sollten ihnen z. B. Schulungsmöglichkeiten mit Programmen zur Validierung von Kompetenzen angeboten, durch Bereitstellung von Ressourcen, Dienstleistungen und Zeitregelungen (im Zusammenhang mit der Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben) ihre Teilhabe am Arbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben gewährleistet sowie gleichzeitig ihr Zugang zu sozialen Rechten, Kurzzeitpflege und Diensten im Bereich der psychischen Gesundheit sichergestellt werden.
3.8Der EWSA begrüßt, dass der bessere Schutz der Rechte von Pflege- und Betreuungskräften im Mittelpunkt steht. Er fordert die Mitgliedstaaten auf, Lücken bei der Durchsetzung des EU‑Arbeitsrechts zu schließen, das IAO-Übereinkommen Nr. 189 mit Normen für menschenwürdige Arbeitsbedingungen für Hausangestellte zu ratifizieren und Schritte zu unternehmen, um die Situation von im Haushalt lebenden Pflegekräften
, einschließlich Wanderarbeitnehmern und mobiler Arbeitskräfte, zu regeln. Der EWSA stellt jedoch fest, dass den zahlreichen Arbeitnehmern ohne gültige Papiere, die bereits in Europa Pflege- und Betreuungsleistungen erbringen, in der Strategie nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Der Schwerpunkt sollte aber auf allen in der EU lebenden Pflege- und Betreuungskräften liegen, unabhängig von ihrem Migrations- und Aufenthaltsstatus.
3.9Der EWSA begrüßt das Engagement für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Pflege- und Betreuungssektor durch Weiterbildungs- und Umschulungsangebote, die Validierung von Kompetenzen, Lohnerhöhungen, die Förderung von Sozial- und Arbeitnehmerrechten, die Berücksichtigung physischer und psychosozialer Gesundheitsrisiken sowie die Bekämpfung der Risiken von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz. Er ruft die Mitgliedstaaten dazu auf, das IAO-Übereinkommen Nr. 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zu ratifizieren. Sozialpartner und Regierungen müssen zusammenarbeiten, um prekärer Beschäftigung in der Pflege und Betreuung ein Ende zu setzen und solide rechtliche, finanzielle und tarifvertragliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Der Mangel an qualifiziertem Personal in fast allen Mitgliedstaaten gefährdet die Gesundheits-, Pflege- und Betreuungsstandards, insbesondere angesichts des demografischen Wandels, der Mobilität der Arbeitnehmer und der Bevölkerungsalterung.
4.Besondere Bemerkungen
4.1Der EWSA bekräftigt, dass dringend eine spezielle europäische Pflege- und Betreuungsgarantie
als wesentliches Element für die erfolgreiche Umsetzung der Strategie auf der Grundlage von politischen, praxisbezogenen und Finanzierungsinstrumenten ausgearbeitet werden muss, um sicherzustellen, dass die Maßnahmen der Strategie vollständig in den jeweiligen nationalen Rechts-, Politik-, Finanzierungs- und Dienstleistungsrahmen integriert werden. Die Festlegung von Standards und ihre Überwachung ist von entscheidender Bedeutung, um Verbesserungen in dieser Branche zu gewährleisten.
4.2Die europäische Strategie für Pflege und Betreuung sollte durch einen strukturierten europäischen Umsetzungsplan und Finanzierungsprogramme ergänzt werden. Die öffentlichen Investitionen in Betreuung und Pflege sind in vielen Mitgliedstaaten unzureichend. Die Struktur- und Investitionsfonds der EU (ESF+, EFRE) sowie die Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) und das Instrument für technische Unterstützung müssen genutzt werden, um die Mitgliedstaaten in spezifischen pflege- und betreuungsbezogenen Bereichen zu unterstützen (von der Politikgestaltung bis zur Bereitstellung von Dienstleistungen und Überwachung der Auswirkungen), insbesondere durch eine sozial verantwortliche Vergabe öffentlicher Aufträge.
4.3Die Bewertung der Fortschritte und der Auswirkungen auf Pflege- und Betreuungsbedürftige und Pflege- und Betreuungskräfte ist von grundlegender Bedeutung. Spezifische technische Leitlinien für die Konzipierung von Überwachungs- und Bewertungsrahmen könnten den nationalen Ministerien gezielte Hilfestellung für die Entwicklung nachhaltiger Pflege- und Betreuungsmodelle, für die Messung der Auswirkungen und für Indikatoren bieten. Die Überwachung durch die Europäische Kommission sollte Berichte sowohl über die politischen Maßnahmen als auch über die Finanzierung sowie eine Aufforderung zur Halbzeitbewertung der Empfehlungen umfassen. Die länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters müssen gezielter sein, um die Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen, prioritär Betreuung und Pflege angemessen zu finanzieren und dies als produktive, nachhaltige Investition statt als wirtschaftliche Belastung zu sehen.
4.4Nach der Annahme der beiden Empfehlungen des Rates sollten Maßnahmen und Leitlinien rasch in den jeweiligen nationalen Politik- und Rechtsrahmen integriert werden. Der EWSA betont, wie wichtig es ist, dass die nationalen Koordinatoren für Langzeitpflege für Kohärenz sorgen und Pflege und Betreuung durchgängig auch in anderen Bereichen, Ministerien und Verwaltungsebenen, die über die Sozial- und Gesundheitspolitik hinausgehen (Wohnungswesen, Verkehr, Energie, Wirtschaft usw.), berücksichtigt werden.
4.5Unerwünschte Risikoselektion, Kommerzialisierung sowie das Streben nach Einkünften und Gewinn auf Kosten von Pflege, Betreuung und Gesundheit können Ungleichheiten beim Zugang zur entsprechenden Versorgung verschärfen. Es sind angemessene Kontrollmaßnahmen erforderlich, um schädliche Praktiken zu unterbinden und starke Garantien für hochwertige Dienstleistungen und eine ordnungsgemäße Verwendung der Mittel zu gewährleisten. Für Langzeitpflege sowie FBBE auf der Ebene der Mitgliedstaaten sind starke Sozialschutzsysteme und hochwertige öffentliche Dienste erforderlich, die auf Solidarität, sozialen Investitionen und der Tätigkeit sozialwirtschaftlicher Akteure (z. B. Organisationen auf Gegenseitigkeit) basieren, um verschiedene Finanzierungs- und Kostenteilungssysteme für die gemeindenahe und die häusliche Pflege und Betreuung durch entsprechend fachlich qualifizierte Pflege- und Betreuungskräfte bereitzustellen.
Zur Finanzierung dieser Maßnahmen sollten Alternativen zu Sozialbeiträgen in Betracht gezogen werden.
Auch die freiwillige Unterstützung durch gemeinnützige Organisationen, die sowohl dem Pflege- und Betreuungs- als auch dem Gesundheitssystem zugutekommt, ist zu prüfen, allerdings nicht als Kostensenkungsmaßnahme.
4.6Mit Blick auf die nationalen Zuständigkeiten und die Subsidiarität sollte die Europäische Kommission sicherstellen, dass die von den Mitgliedstaaten entwickelten hochwertigen Betreuungs- und Pflegedienste inklusiv sind. Mit der Strategie muss gewährleistet werden, dass alle Pflege- und Betreuungsbedürftigen uneingeschränkten und gleichberechtigten Zugang zu den Dienstleistungen haben, insbesondere durch starke und verbindliche Qualitätsrahmen. Besondere Aufmerksamkeit sollte oftmals marginalisierten Gruppen, wie z. B. Roma und Migranten, sowie den Auswirkungen sich überschneidender und struktureller Diskriminierungen gewidmet werden. Dafür muss auch in entlegenen und dünn besiedelten Gebieten für eine leicht zugängliche Pflege- und Betreuungsinfrastruktur gesorgt werden.
4.7Investitionen in die digitale Infrastruktur können eine effiziente Planung und Bereitstellung von Betreuungs- und Pflegediensten sowie die Speicherung, den Austausch und die Weitergabe von Informationen durch verschiedene Anbieter von Gesundheits- und Sozialdiensten erleichtern und so eine wirksame Überwachung von Qualität und gleichberechtigtem Zugang ermöglichen. Vielfältige Möglichkeiten wie u. a. assistive Technologien, Vorsorge, Robotik, Telegesundheitsdienste können, wenn sie vollständig inklusiv und uneingeschränkt zugänglich sind, einen positiven Beitrag in Bezug auf die Reichweite, Kontinuität, Koordinierung und Qualität von Pflege- und Betreuungsdiensten leisten.
4.8In der vorgeschlagenen Empfehlung zur Langzeitpflege wird darauf hingewiesen, dass die Systeme auch den Unterstützungsbedarf von Menschen mit Behinderungen berücksichtigen müssen, wobei ausdrücklich auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verwiesen wird. Die Kommission sollte sicherstellen, dass die im Rahmen der Strategie mobilisierten EU-Mittel dem Ziel der Deinstitutionalisierung dienen und durch die Entwicklung gemeindenaher Dienste mit gut ausgebildeten Arbeitskräften die Inklusion fördern.
Der EWSA bekräftigt, dass Kinder und Eltern mit Behinderungen unterstützt werden müssen
, und begrüßt, dass ihnen in der Empfehlung zur FBBE besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.
5.Umsetzung der Empfehlung zur FBBE
5.1Der EWSA unterstützt die Überarbeitung der Barcelona-Ziele, um die Verfügbarkeit zugänglicher, erschwinglicher, inklusiver und hochwertiger Kinderbetreuung zu verbessern. Die Mitgliedstaaten, die die Ziele erreicht oder übertroffen haben, sollten sich stärker auf die Bereitstellung von Qualitätsstandards und die Entwicklung unterschiedlicher, altersangepasster Formen der FBBE konzentrieren. Ziele zur Erhöhung der Verfügbarkeit von FBBE müssen mit Qualitätssicherungsrahmen und guten Arbeitsbedingungen einhergehen. Die Mitgliedstaaten sollten entsprechend den nationalen Präferenzen und Unterschieden Indikatoren zur Überwachung des Zugangs zu Pflege- und Betreuungsmodellen erarbeiten, die gleichzeitig die Ziele, die Qualität und weitere Standards der überarbeiteten Zielvorgaben erfüllen.
5.2Der EWSA begrüßt die Forderung, dafür zu sorgen, dass alle Kinder einen Rechtsanspruch auf Zugang zu hochwertigen Dienstleistungen haben. Auch die Verknüpfung der Strategie mit der Europäischen Garantie für Kinder, deren Mehrgenerationen-Ansatz sie aufgreift, bewertet er positiv, da dieser für die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und das Wohlergehen der Familie von entscheidender Bedeutung ist. Der kostenlose Zugang bedürftiger Familien zu FBBE muss durch eine Reihe von Maßnahmen ergänzt werden, die kostenlose Mahlzeiten, kostenlose Hygieneprodukte (z. B. Windeln) sowie die Unterstützung der körperlichen und geistigen Entwicklung (feinmotorische Fähigkeiten, Logopädie usw.) umfassen.
5.3Der EWSA begrüßt die Verweise auf EU-Gleichstellungsrahmen und auf schutzbedürftige Kinder und spricht sich für die Schaffung inklusiver Systeme aus, die allen Familienformen Rechnung tragen. Die zu ergreifenden Maßnahmen sollten aufsuchende Sozialarbeit und Schulungen für das Personal zu den Rechten der Nutzer von Dienstleistungen sowie zu Inklusion und Voreingenommenheit umfassen. Der EWSA begrüßt insbesondere die Vorschläge für einen angemessenen Betreuungsschlüssel, die kontinuierliche Weiterbildung des Personals und die Aufnahme von Zeitvorgaben für die Betreuung in die Indikatoren, was besonders für Kinder mit Behinderungen relevant ist, die oft nur teilweise Zugang zu FBBE haben.
5.4Modelle für bewährte Verfahren in der FBBE müssen im Mittelpunkt der Maßnahmen zur Umsetzung der Empfehlung des Rates stehen. Diese sollten durch Strategien und Finanzierungsrahmen auf subnationaler Ebene mit spezifischen Mitteln zur Erfassung des Bedarfs von Pflege- und Betreuungsbedürftigen und Pflege- und Betreuungskräften sowie durch die Erprobung neuer Formen von Betreuungsdiensten flankiert werden. Die Rechte des Kindes sollten weiterhin im Mittelpunkt stehen. Kinder benötigen in den ersten Lebensjahren ein gesundes, entwicklungsförderndes Umfeld, unabhängig davon, ob sie in der Familie oder durch Fachkräfte betreut werden; daher müssen unter Berücksichtigung der Entwicklungsbedürfnisse von Kindern unterschiedlicher Altersgruppen unterschiedliche Betreuungsmodelle (Tageszentren, Kindertagesstätten, Tagesmütter oder -väter, Familienassistenz, Spielgruppen, außerschulische Betreuung) zur Verfügung stehen.
6.Umsetzung der Empfehlung zur Langzeitpflege
6.1Der EWSA fordert solide Umsetzungspläne, die das gesamte Spektrum der Langzeitpflege abdecken. Die Europäische Kommission sollte der Zusammenarbeit offiziellen Charakter verleihen, indem sie eine hochrangige Expertengruppe für Langzeitpflege einsetzt, in der Sozialpartner, Organisationen der Zivilgesellschaft, nationale Koordinatoren, Langzeitpflegebedürftige, insbesondere ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen, sowie andere einschlägige Experten und Praktiker vertreten sind. Um über die Arbeit der Gruppe zu informieren, könnte eine öffentliche Online-Plattform eingerichtet werden, über die sich Daten und Forschungsergebnisse sammeln und der Austausch bewährter Verfahren fördern ließen.
6.2Der EWSA hat in mehreren Stellungnahmen zum Langzeitpflegeangebot in der EU
die Notwendigkeit betont, in eine hochwertige, nachhaltige und zugängliche Pflege und Betreuung für alle zu investieren. Der EWSA betont, dass ein möglichst hohes Maß an Komplementarität und Synergien zwischen allen (kommerziellen oder gemeinnützigen) Erbringern von Pflege-, Betreuungs- und Gesundheitsleistungen des öffentlichen und privaten Sektors angestrebt werden muss, damit eine Versorgung für alle gewährleistet ist. Dabei sollten bewährte Verfahren aus den Mitgliedstaaten berücksichtigt werden.
6.3Der EWSA begrüßt, dass im Vorschlag zur Langzeitpflege die Bedeutung der Akteure der Sozialwirtschaft als Dienstleister anerkannt wird. Er fordert die Kommission auf, weitere Möglichkeiten zur Schaffung strukturierter Kommunikationskanäle zwischen den Akteuren der Sozialwirtschaft und den EU-Organen in der Langzeitpflegepolitik auszuloten.
6.4Der EWSA weist darauf hin, wie wichtig die verschiedenen Initiativen im Rahmen des grünen und des digitalen Wandels sind, um das Potenzial der Technologien für die Schaffung, Neukonzipierung und Renovierung von Wohnraum auf inklusivere und nachhaltigere Weise voll auszuschöpfen.
6.5Bewährte Langzeitpflegemodelle können stärker strukturierte und effizientere häusliche Hilfe sowie neue Wohnalternativen, wie geschütztes, begleitetes oder gemeinschaftliches Wohnen, Wohngemeinschaften oder andere Alternativen umfassen, je nach den Bedürfnissen und Präferenzen der Pflege- und Betreuungsbedürftigen und entsprechend gesetzlich genehmigter Qualitätsrahmen. Es sollten auch andere Arten von Pflege- und Betreuungsmodellen in Betracht gezogen werden, um das gesamte Spektrum der Pflege und Betreuung im Rahmen eines integrierten Ansatzes abzudecken, wie z. B. Unterstützung im Bereich der psychischen Gesundheit, Familienzentren, Unterstützungsgruppen für Eltern oder Unterstützung für die kurzfristige Unterbringung. Dabei sollte der Übergang von einem Modell zum anderen erleichtert werden, indem Intensität oder Art der benötigten Dienstleistungen variiert werden können, ohne dass es zu Unterbrechungen bei Pflege und Betreuung kommt.
Brüssel, den 24. Januar 2023
Christa SCHWENG
Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
_____________