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Document C2004/118/30

    Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 29. April 2004 in den verbundenen Rechtssachen C-482/01 und C-493/01 (Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Stuttgart [Deutschland]): Georgios Orfanopoulos u. a. gegen Land Baden-Württemberg und Raffaele Oliveri gegen Land Baden-Württemberg (Freizügigkeit — Öffentliche Ordnung — Richtlinie 64/221/EWG — Ausweisung wegen Verstößen gegen das Strafgesetz — Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer und der persönlichen Verhältnisse — Grundrechte — Schutz des Familienlebens — Berücksichtigung von Umständen, die nach der letzten verwaltungsbehördlichen Entscheidung und der Prüfung der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung durch ein Verwaltungsgericht eingetreten sind — Recht des Betroffenen, bei einer zur Stellungnahme berufenen Stelle Zweckmäßigkeitserwägungen geltend zu machen)

    ABl. C 118 vom 30.4.2004, p. 17–17 (ES, DA, DE, EL, EN, FR, IT, NL, PT, FI, SV)

    30.4.2004   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 118/17


    URTEIL DES GERICHTSHOFES

    (Fünfte Kammer)

    vom 29. April 2004

    in den verbundenen Rechtssachen C-482/01 und C-493/01 (Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Stuttgart [Deutschland]): Georgios Orfanopoulos u. a. gegen Land Baden-Württemberg und Raffaele Oliveri gegen Land Baden-Württemberg (1)

    (Freizügigkeit - Öffentliche Ordnung - Richtlinie 64/221/EWG - Ausweisung wegen Verstößen gegen das Strafgesetz - Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer und der persönlichen Verhältnisse - Grundrechte - Schutz des Familienlebens - Berücksichtigung von Umständen, die nach der letzten verwaltungsbehördlichen Entscheidung und der Prüfung der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung durch ein Verwaltungsgericht eingetreten sind - Recht des Betroffenen, bei einer zur Stellungnahme berufenen Stelle Zweckmäßigkeitserwägungen geltend zu machen)

    (2004/C 118/30)

    Verfahrenssprache: Deutsch

    In den verbundenen Rechtssachen C-482/01 und C-493/01 betreffend dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Verwaltungsgericht Stuttgart (Deutschland) in den bei diesem anhängigen Rechtsstreitigkeiten Georgios Orfanopoulos, Natascha Orfanopoulos, Melina Orfanopoulos, Sofia Orfanopoulos gegen Land Baden-Württemberg (C-482/01) und Raffaele Oliveri gegen Land Baden-Württemberg (C-493/01) vorgelegte Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 39 Absatz 3 EG und 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, Nr. 56, S. 850) (C-482/01), sowie der Artikel 39 EG und 3 dieser Richtlinie (C-493/01), hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Richters A. Rosas (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter A. La Pergola und S. von Bahr – Generalanwältin: C. Stix-Hackl; Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin – am 29. April 2004 ein Urteil mit folgendem Tenor erlassen:

    1.

    Das vorlegende Gericht hat festzustellen, auf welche gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats wie Herr Oliveri neben Artikel 18 Absatz 1 EG unter den im Rechtsstreit in der Rechtssache C 493/01 gegebenen Umständen gegebenenfalls stützen kann. Dieses Gericht hat insoweit insbesondere zu prüfen, ob der Betroffene – als Arbeitnehmer oder als andere Person, die aufgrund der zur Durchführung des Artikels 39 EG erlassenen Vorschriften des abgeleiteten Rechts die Freizügigkeit in Anspruch nehmen kann – vom Anwendungsbereich des Artikels 39 EG erfasst wird oder ob er sich auf andere gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen stützen kann wie die Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht oder Artikel 49 EG, der u. a. für Dienstleistungsempfänger gilt.

    2.

    Artikel 3 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, steht einer nationalen Regelung entgegen, die den innerstaatlichen Behörden vorschreibt, Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten auszuweisen, die wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, sofern die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

    3.

    Artikel 3 der Richtlinie 64/221 steht einer innerstaatlichen Praxis entgegen, wonach die innerstaatlichen Gerichte nicht verpflichtet sind, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats verfügten Ausweisung einen Sachvortrag zu berücksichtigen, der nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt ist und der den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegewärtigen Gefährdung mit sich bringen kann, die das Verhalten des Betroffenen für die öffentliche Ordnung darstellen würde. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn ein längerer Zeitraum zwischen dem Erlass der Entscheidung über die Ausweisung und der Beurteilung dieser Entscheidung durch das zuständige Gericht liegt.

    4.

    Die Artikel 39 EG und 3 der Richtlinie 64/221 stehen innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder einer innerstaatlichen Praxis entgegen, wonach die Ausweisung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der wegen bestimmter Delikte zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden ist, trotz der Berücksichtigung familiärer Umstände auf der Grundlage der Vermutung verfügt wird, dass dieser auszuweisen ist, ohne dass sein persönliches Verhalten oder die Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung darstellt, gebührend berücksichtigt würden.

    5.

    Artikel 39 EG und die Richtlinie 64/221 stehen der Ausweisung eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der wegen bestimmter Delikte zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden ist und der einerseits eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt und sich andererseits seit vielen Jahren im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat und sich gegenüber dieser Ausweisung auf Umstände familiärer Art berufen kann, nicht entgegen, sofern die von den innerstaatlichen Behörden im Einzelfall vorgenommene Beurteilung der Frage, wo der angemessene Ausgleich zwischen den betroffenen berechtigten Interessen liegt, unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere unter Wahrung der Grundrechte wie desjenigen auf Schutz des Familienlebens erfolgt.

    6.

    Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 steht einer Bestimmung eines Mitgliedstaats entgegen, die gegen eine von einer Verwaltungsbehörde getroffene Entscheidung über die Ausweisung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats ein Widerspruchsverfahren und eine Klage, in denen auch eine Prüfung der Zweckmäßigkeit stattfindet, nicht mehr vorsieht, wenn eine von dieser Verwaltungsbehörde unabhängige Stelle nicht besteht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob Gerichte wie die Verwaltungsgerichte die Zweckmäßigkeit von Ausweisungsmaßnahmen überprüfen können.


    (1)  ABl. C 56 vom 2.3.2002.


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