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Document 62023CC0400
Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 11. Juli 2024.
Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 11. Juli 2024.
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:613
Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
JEAN RICHARD DE LA TOUR
vom 11. Juli 2024(1)
Rechtssache C‑400/23
Strafverfahren
gegen
VB,
Beteiligte:
Sofiyska gradska prokuratura
(Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski gradski sad [Stadtgericht Sofia, Bulgarien])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung – Art. 8 Abs. 2 – Verfahren, das zu einer Verurteilung oder zu einem Freispruch in Abwesenheit führt – Modalitäten der Prüfung der Voraussetzungen für die Anerkennung des Rechts auf eine neue Verhandlung – Anspruch der Strafverfolgungsbehörde und der Verteidigung auf rechtliches Gehör – Art. 8 Abs. 4 – Form und Reichweite der Rechtsbehelfe, die nach einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung zur Verfügung stehen – Unterrichtung der in Abwesenheit verurteilten Person über ihre Verfahrensrechte – Modalitäten – Art. 9 – Recht auf eine neue Verhandlung – Nationale Regelung, nach der die Anerkennung des Rechts auf eine neue Verhandlung davon abhängt, dass zuvor die Wiederaufnahme des Strafverfahrens bei einer Justizbehörde beantragt wird, vor der die in Abwesenheit verurteilte Person persönlich erscheinen muss – Vereinbarkeit – Richtlinie 2012/13/EU – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Art. 6 – Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“
I. Einleitung
1. Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen, bei dem es sich um die zweite Vorlage im Rahmen des Ausgangsverfahrens handelt, bittet der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) um Klärung, wie gemäß Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren(2) in Bezug auf eine Person, die in Abwesenheit verurteilt wurde, die Voraussetzungen für die Anerkennung des Rechts auf eine neue Verhandlung zu beurteilen sind und wie diese Person über ihre Verfahrensrechte zu unterrichten ist.
2. In seinem Urteil vom 8. Juni 2023, VB (Information der in Abwesenheit verurteilten Person)(3), hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 – wonach der Mitgliedstaat sicherstellt, dass die beschuldigte Person, wenn sie über die in ihrer Abwesenheit ergangene Entscheidung insbesondere anlässlich ihrer Festnahme unterrichtet wird, auch über die Möglichkeit, diese Entscheidung anzufechten, und über ihr Recht, eine neue Verhandlung zu verlangen, informiert wird – ein nationales Gericht nicht dazu verpflichtet, solche Informationen in diese Entscheidung aufzunehmen. Hierzu hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Wahl der Modalitäten, wie diese Informationen dem Betroffenen zu erteilen sind, den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, solange sie dem Betroffenen zu dem Zeitpunkt zur Kenntnis gebracht werden, zu dem er über die fragliche Entscheidung unterrichtet wird(4).
3. In der vorliegenden Rechtssache möchte das vorlegende Gericht diese Grundsätze mit dem nationalen Verfahrensrecht in Einklang bringen. Es weist nämlich darauf hin, dass nach bulgarischem Recht die Gerichtsbehörde, die in der Sache über die Anklage urteile und in Abwesenheit entscheide, nicht beurteilen dürfe, ob der Beschuldigte nach den Voraussetzungen der Richtlinie 2016/343 ein Recht auf eine neue Verhandlung habe. Eine solche Beurteilung falle in die ausschließliche Zuständigkeit des Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien), bei dem der Betroffene zuvor die Wiederaufnahme des Strafverfahrens beantragen müsse und das nur entscheide, wenn der Betroffene persönlich erscheine.
4. Das vorlegende Gericht legt dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor, um klären zu lassen, inwieweit solche Modalitäten den Vorgaben von Art. 8 Abs. 4 und von Art. 9 der Richtlinie 2016/343 genügen. Dabei wird der Gerichtshof u. a. auch die Bestimmungen der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren(5) berücksichtigen müssen, die ebenfalls Regelungen zum Schutz der Rechte von Verdächtigen und Beschuldigten im Rahmen von Strafverfahren gegen den Betroffenen enthält.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
1. Richtlinie 2012/13
5. In der Richtlinie 2012/13 ist das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren verankert.
6. In Art. 3 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie wird das Recht auf Rechtsbelehrung wie folgt definiert:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen:
…
c) das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6.“
7. Art. 6 („Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“) der Richtlinie sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden.
…
(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.
…“
2. Richtlinie 2016/343
8. Die Richtlinie 2016/343 enthält gemäß ihrem Art. 1 gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und für das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung.
9. In Art. 8 („Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung“) Abs. 1 bis 4 dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.
(2) Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern
a) der Verdächtige oder die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder
b) der Verdächtige oder die beschuldigte Person, nachdem er bzw. sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde.
(3) Eine Entscheidung, die im Einklang mit Absatz 2 getroffen wurde, kann gegen die betreffende Person vollstreckt werden.
(4) Wenn Mitgliedstaaten die Möglichkeit vorsehen, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu führen, es jedoch nicht möglich ist, die in Absatz 2 dieses Artikels genannten Voraussetzungen zu erfüllen, weil der Verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden kann, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass gleichwohl eine Entscheidung ergehen und vollstreckt werden kann. In einem solchen Fall stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie über die Entscheidung unterrichtet werden, insbesondere wenn sie festgenommen werden, auch über die Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten, sowie über das Recht, gemäß Artikel 9 eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen, unterrichtet werden.“
10. Art. 9 („Recht auf eine neue Verhandlung“) der Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie bei der sie betreffenden Verhandlung nicht anwesend waren und die in Artikel 8 Absatz 2 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt wurden, das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs haben, die bzw. der eine neue Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht und zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung führen kann. In diesem Zusammenhang stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht haben, anwesend zu sein, im Einklang mit den Verfahren des nationalen Rechts effektiv mitzuwirken und ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“
B. Bulgarisches Recht
11. Art. 15 Abs. 2 und 3 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) (im Folgenden NPK) sieht vor:
„(2) Die Angeklagten und die übrigen am Strafverfahren beteiligten Personen verfügen über alle verfahrensrechtlichen Mittel, die sie zur Wahrung ihrer Rechte und berechtigten Interessen benötigen.
(3) Der Richter, der Staatsanwalt und die Ermittlungsorgane belehren die in Absatz 2 genannten Personen über ihre Verfahrensrechte und stellen sicher, dass sie diese ausüben können.“
12. Art. 423 Abs. 1 bis 4 NPK bestimmt:
„(1) Innerhalb von sechs Monaten nach Kenntnisnahme von dem rechtskräftigen Strafurteil … kann die in Abwesenheit verurteilte Person unter Berufung auf ihre Abwesenheit vom Strafverfahren die Wiederaufnahme des Strafverfahrens beantragen. Dem Antrag wird stattgegeben, es sei denn, die verurteilte Person hat nach der Mitteilung der Anklagepunkte im Rahmen des Vorermittlungsverfahrens die Flucht ergriffen, weswegen das Verfahren nach Art. 247b Abs. 1 nicht durchgeführt werden kann, oder ist nach Durchführung dieses Verfahrens ohne triftigen Grund nicht zur Verhandlung erschienen.
(2) Der Antrag hat keine die Vollstreckung des Strafurteils aufschiebende Wirkung, es sei denn, das Gericht bestimmt etwas anderes.
(3) Das Verfahren zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens wird eingestellt, wenn die in Abwesenheit verurteilte Person ohne triftigen Grund nicht zur Verhandlung erscheint.
(4) Ist eine in Abwesenheit verurteilte Person in Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils in Haft und nimmt das Gericht das Strafverfahren wieder auf, so befindet es in seiner Entscheidung über die freiheitsentziehende Maßnahme.“
13. In Art. 424 Abs. 1 und 2 NPK heißt es:
„(1) Der Antrag auf Wiederaufnahme eines Strafverfahrens nach Art. 422 Abs. 1 Nr. 5 wird vom zuständigen Apelativen sad [(Berufungsgericht, Bulgarien)] geprüft, wenn die in Art. 419 genannte Handlung von einem Rayonen sad [(Rayongericht, Bulgarien)] oder von einem Okrazhen sad [(Regionalgericht, Bulgarien)] als Berufungsinstanz vorgenommen wurde, außer bei neuen Verurteilungen.
(2) Abgesehen von den in Abs. 1 genannten Fällen wird der Antrag auf Wiederaufnahme eines Strafverfahrens vom Varhoven kasatsionen sad [(Oberstes Kassationsgericht)] geprüft.“
14. Art. 425 Abs. 2 NPK lautet:
„In den Fällen von Art. 423 Abs. 1 wird das Verfahren wiederaufgenommen und die Sache in das Stadium zurückversetzt, in dem das Verfahren in Abwesenheit begonnen hat.“
III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen(6)
15. Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen von Strafverfahren, die gegen VB wegen Vorgängen eingeleitet wurden, bei denen es sich möglicherweise um mit Freiheitsstrafen bedrohte Straftaten handelt. Diese Strafverfahren wurden von Beginn an in Abwesenheit von VB durchgeführt. VB konnte nicht offiziell über die ihm zur Last gelegten Anklagepunkte unterrichtet werden. Außerdem war es nicht möglich, ihn über die Anklageerhebung oder gar Tag und Ort der mündlichen Verhandlung sowie die Folgen seines Nichterscheinens zu unterrichten. Die zuständigen nationalen Behörden konnten VB nämlich nicht auffinden, da er während des Ermittlungsverfahrens vor dem Polizeieinsatz zur Festnahme der Verdächtigen die Flucht ergriffen hatte. VB wurde u. a. mit Europäischem Haftbefehl für „gesucht“ erklärt, konnte jedoch nicht aufgefunden werden.
16. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Strafverfahren sind noch anhängig, und die Beweiserhebung ist nahezu abgeschlossen. Das mit diesen Strafverfahren befasste nationale Gericht – vormals der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien), der das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache eingereicht hat, in der das Urteil VB I ergangen ist, und derzeit der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) – fragt sich zum einen, welche Maßnahmen es wird ergreifen müssen, um sicherzustellen, dass VB, falls er in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird, bei seiner Festnahme über die gegen ihn ergangene Entscheidung sowie über seine Verfahrensrechte gemäß den Vorgaben von Art. 8 Abs. 4 und von Art. 9 der Richtlinie 2016/343, wie vom Gerichtshof im Urteil VB I ausgelegt, unterrichtet wird.
17. Zum anderen möchte dieses Gericht wissen, ob die bulgarischen Rechtsvorschriften, die einen Mechanismus vorsehen, nach dem die in Abwesenheit verurteilte Person erst nach der mündlichen Verhandlung über den Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens, zu der sie persönlich erscheinen muss, über ihr Recht auf eine neue Verhandlung unterrichtet wird, den Anforderungen der Richtlinie 2016/343 und insbesondere dem in deren Art. 8 Abs. 4 vorgesehenen Recht genügen, über ihr Recht, eine neue Verhandlung zu verlangen, unterrichtet zu werden.
18. Unter diesen Umständen hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. a) Ist Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen, dass eine Person, die, ohne dass ein Fall von Art. 8 Abs. 2 vorliegt, in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, über die Entscheidung, mit der sie verurteilt wurde, unterrichtet werden muss, wenn sie zur Vollstreckung dieser Strafe festgenommen wird?
b) Welchen Inhalt hat das Erfordernis „über die Entscheidung unterrichtet werden“ nach Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 und verlangt es die Aushändigung einer Kopie dieser Entscheidung?
c) Falls die Fragen 1 a) und 1 b) verneint werden: Steht Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 dem entgegen, dass ein nationales Gericht entscheidet, die Aushändigung einer Kopie dieser Entscheidung sicherzustellen?
2. a) Ist eine nationale Regelung, die – für den Fall, dass in Abwesenheit des Angeklagten eine strafrechtliche Anklage geprüft wird und eine gerichtliche Entscheidung ergeht, mit der eine Verurteilung ausgesprochen wird, ohne dass die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie vorliegen – keinerlei Modalitäten für die Unterrichtung der in Abwesenheit verurteilten Person über ihr Recht auf eine neue Verhandlung unter ihrer Teilnahme vorsieht, und wenn, insbesondere, eine solche Unterrichtung nicht erfolgt, wenn die in Abwesenheit verurteilte Person festgenommen wird, mit Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 vereinbar?
b) Ist der Umstand von Bedeutung, dass die nationale Regelung (Art. 423 NPK) bestimmt, dass die in Abwesenheit verurteilte Person über ihr Recht auf eine neue Verhandlung unterrichtet wird, aber erst, nachdem diese Person einen Antrag auf Aufhebung dieser Verurteilung und auf Durchführung einer neuen Verhandlung unter ihrer Teilnahme gestellt hat, indem die Unterrichtung an sie in Form einer gerichtlichen Entscheidung in Beantwortung dieses Antrags erfolgt?
c) Verneinendenfalls: Werden die Anforderungen von Art. 8 Abs. 4 Satz 2 und Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 eingehalten, wenn das Gericht, das in Abwesenheit des Angeklagten eine strafrechtliche Anklage prüft und eine Entscheidung erlässt, mit der eine Verurteilung ausgesprochen wird, ohne dass ein Fall von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie vorliegt, in seiner Entscheidung auf das Recht dieser Person auf eine neue Verhandlung oder einen anderen Rechtsbehelf hinweist und die Personen, die die Festnahme der verurteilten Person durchführen, verpflichtet, ihr eine Kopie dieser Entscheidung auszuhändigen?
d) Bejahendenfalls: Steht Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 dem entgegen, dass ein Gericht, das eine Entscheidung erlässt, mit der ein Angeklagter in Abwesenheit verurteilt wird, ohne dass ein Fall von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie vorliegt, in seiner Entscheidung auf das Recht dieser Person auf eine neue Verhandlung oder einen anderen Rechtsbehelf nach Art. 9 der Richtlinie hinweist und die Personen, die die Festnahme der verurteilten Person durchführen, verpflichtet, ihr eine Kopie dieser Entscheidung auszuhändigen?
3. Welches ist der erste und welches der letzte mögliche Zeitpunkt, zu dem das Gericht entscheiden sollte, ob das in Abwesenheit des Angeklagten geführte Strafverfahren die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 nicht erfüllt, und Maßnahmen ergreifen muss, um die Unterrichtung nach Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie sicherzustellen?
4. Sind bei der in Nr. 3 genannten Entscheidung die Standpunkte der Strafverfolgungsbehörde und des Verteidigers des abwesenden Angeklagten zu berücksichtigen?
5. a) Bezieht sich der Ausdruck „die Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten“, in Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 auf das Recht, ein Rechtsmittel im Instanzenzug einzulegen, oder bezieht er sich auf die Anfechtung einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung?
b) Welchen Inhalt sollte die Unterrichtung haben, die gemäß Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 an eine Person, die in Abwesenheit verurteilt wurde, ohne dass die Voraussetzungen von Abs. 2 vorlagen, über „das Recht, gemäß Artikel 9 eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen“, zu erfolgen hat: betreffend das Recht, einen solchen Rechtsbehelf zu erlangen, wenn sie ihre Verurteilung in Abwesenheit anficht, oder betreffend das Recht, einen solchen Antrag zu stellen, wobei dessen Begründetheit zu einem späteren Zeitpunkt zu beurteilen ist?
6. Was ist der Inhalt des Ausdrucks „Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs[,] … der eine neue Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht und zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung führen kann“, in Art. 9 Satz 1 der Richtlinie 2016/343?
7. Ist eine nationale Rechtsvorschrift (Art. 423 Abs. 3 NPK), die das persönliche Erscheinen der in Abwesenheit verurteilten Person als zwingende Voraussetzung dafür verlangt, dass deren Antrag auf eine neue Verhandlung geprüft wird und ihm stattgegeben werden kann, mit Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 vereinbar?
8. Sind Art. 8 Abs. 4 Satz 2 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 auf freigesprochene Personen anwendbar?
19. Schriftliche Erklärungen hat nur die Europäische Kommission eingereicht.
IV. Würdigung
20. Bevor ich mich der Prüfung dieser Fragen zuwende, möchte ich daran erinnern, dass die Richtlinie 2016/343 wie auch die Richtlinie 2012/13 auf der Grundlage von Art. 82 Abs. 2 AEUV erlassen wurde. Aus diesem Artikel ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen Mindestvorschriften festlegen kann, die insbesondere die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren betreffen. Die Richtlinie 2016/343 zielt also laut ihrem neunten Erwägungsgrund und ihrem Art. 1 darauf ab, das Grundrecht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren zu stärken, damit durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften u. a. für das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege erhöht wird(7). Diese sogenannten „Mindestvorschriften“ betreffen eigentlich Verfahrensgrundsätze, von denen die Mitgliedstaaten nicht abweichen dürfen und die von wesentlicher Bedeutung sind, um die Verteidigungsrechte und die Achtung des Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere für Personen, gegen die eine Entscheidung in Abwesenheit ergangen ist, zu gewährleisten.
21. Zwar muss der Unionsgesetzgeber nach Art. 82 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 AEUV die Rechtsordnungen und ‑traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigen, so dass er keine einheitliche Verfahrensordnung vorschreiben kann, doch müssen die nationalen Verfahrensordnungen nicht nur diese Grundsätze achten, da sie sonst die Ausübung des Rechts der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung beeinträchtigen könnten, sondern auch der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, mit denen diese Person in Abwesenheit verurteilt wird, Rechnung tragen(8).
22. In diesem Kontext sind die Fragen des vorlegenden Gerichts an den Gerichtshof zu sehen. Ausweislich der Vorlageentscheidung will das Gericht nämlich, soweit eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit erforderlich erscheinen könnte, sicherstellen, dass die Entscheidung, mit der es VB nach einem in dessen Abwesenheit durchgeführten Verfahren verurteilen wird, dessen Verfahrensgarantien achten wird, so dass diese Entscheidung von den Justizbehörden der anderen Mitgliedstaaten im Rahmen der Vollstreckung eines etwaigen Europäischen Haftbefehls anerkannt werden kann(9).
23. Hierzu stellt dieses Gericht eine Reihe von Vorlagefragen zu den Anwendungsmodalitäten von Art. 8 Abs. 4 und von Art. 9 der Richtlinie 2016/343, wobei ich dem Gerichtshof vorschlage, diese Fragen für ihre Prüfung in einzelne Gruppen einzuteilen.
A. Prüfung der Voraussetzungen für die Anerkennung eines Rechts auf eine neue Verhandlung (dritte, vierte, siebte und achte Vorlagefrage)
24. Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof um Klärung, unter welchen Bedingungen es feststellen kann, dass die Bestimmungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 nicht eingehalten wurden und dass die Voraussetzungen der Bestimmungen über die Anerkennung eines Rechts auf eine neue Verhandlung gemäß Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 dieser Richtlinie erfüllt sind. Während das vorlegende Gericht mit seiner achten Frage wissen möchte, ob diese Prüfung auch erfolgen muss, wenn die beschuldigte Person freigesprochen wurde, ist seine dritte Frage darauf gerichtet, „welches der erste und welches der letzte mögliche Zeitpunkt“ ist, zu dem die Prüfung vorzunehmen ist; seine vierte Frage geht dahin, ob bei der Prüfung die Stellungnahmen sowohl der Strafverfolgungsbehörde als auch des Strafverteidigers zu berücksichtigen sind.
25. Vor einer Erörterung all dieser Fragen ist zunächst auf die Bedeutung und Tragweite der nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 erforderlichen Beurteilung hinzuweisen.
26. Die Art. 8 und 9 der Richtlinie 2016/343 begründen ein Regelwerk, das dem Verdächtigen und der beschuldigten Person im Strafverfahren das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung garantiert(10). Während Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie den Mitgliedstaat verpflichtet, die Einhaltung des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung sicherzustellen, enthält ihr Art. 8 Abs. 2 und 4 zwei Regelungen, die es dem Mitgliedstaat ermöglichen, nach einem in Abwesenheit des Beschuldigten durchgeführten Verfahren in der Sache über die Anklage zu entscheiden und zugleich die wirksame Wahrung des Rechts des Beschuldigten auf eine Verhandlung zu gewährleisten.
27. Die Regelung in Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 35 bis 37 betrifft die Situation, in der ein Mitgliedstaat vorsehen kann, dass eine Verhandlung, die zu einer „Entscheidung über die Schuld oder Unschuld“ der beschuldigten Person führen kann, durchgeführt und die betreffende Entscheidung vollstreckt werden kann, ohne dass ein Recht auf eine neue Verhandlung gewährt würde, weil diese Person freiwillig und unmissverständlich darauf verzichtet hat, zu ihrer Verhandlung zu erscheinen oder sich unter den in Abs. 2 dieses Artikels genannten Bedingungen zu verteidigen. Jeder Verzicht auf das Recht, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen, bedeutet daher, dass die Entscheidung, die nach der in Abwesenheit geführten Verhandlung ergeht, vollstreckt werden kann und die beschuldigte Person diese Entscheidung nicht anfechten und kein neues Urteil beantragen kann.
28. Die Regelung in Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 hingegen setzt voraus, dass die in Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen nicht erfüllt werden konnten, weil die beschuldigte Person trotz aller Bemühungen der zuständigen Behörden nicht aufzufinden war. Sie erlaubt es dem Mitgliedstaat, vorzusehen, dass eine Verhandlung in Abwesenheit dieser Person geführt und eine „Entscheidung“ gegen sie erlassen werden kann, sofern sie über die Möglichkeit, diese Entscheidung anzufechten, sowie über das Recht, gemäß Art. 9 der Richtlinie eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen, gebührend unterrichtet wird(11).
29. Im Licht dieser Erwägungen sind die Fragen des vorlegenden Gerichts zu beantworten.
1. Personen, denen das Recht auf eine neue Verhandlung zusteht
30. Mit seiner achten Frage bittet das vorlegende Gericht den Gerichtshof, zu klären, ob die Bestimmungen über das Recht auf Unterrichtung und das Recht auf eine neue Verhandlung in Art. 8 Abs. 4 bzw. Art. 9 der Richtlinie 2016/343 auch für den Fall gelten, dass die beschuldigte Person durch eine in Abwesenheit ergangene Entscheidung freigesprochen wurde.
31. In der Tat weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass im Gegensatz zu Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343, der regelt, unter welchen Voraussetzungen „eine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld des Verdächtigen oder der beschuldigten Person“(12) im Anschluss an eine in dessen bzw. deren Abwesenheit geführte Verhandlung vollstreckt werden kann, weder deren Art. 8 Abs. 4, der die Umstände regelt, unter denen „gleichwohl eine Entscheidung ergehen und vollstreckt werden kann“(13), noch deren Art. 9, der die Bedingungen festlegt, unter denen die Aufhebung „der ursprünglichen Entscheidung“(14) aufgrund einer neuen Verhandlung möglich ist, eine solche Klarstellung enthält.
32. Zunächst dürfte diese Frage eine ziemlich theoretische Fallgestaltung betreffen: Eine in Abwesenheit freigesprochene Person würde gegen ihren Freispruch vorgehen und ein neues Verfahren verlangen, wobei sie Gefahr liefe, diesmal verurteilt zu werden.
33. Sodann steht es in Anbetracht des Zusammenhangs, den der Unionsgesetzgeber zwischen Art. 8 Abs. 2, Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 herstellt, außer Zweifel, dass diese Bestimmungen eine Einheit bilden und als eine solche zu betrachten und zu verstehen sind. So geht aus den Vorarbeiten zu dieser Richtlinie hervor, dass der Unionsgesetzgeber den Anwendungsbereich der Bestimmungen über die Durchführung einer Verhandlung in Abwesenheit und insbesondere der damit verbundenen Verfahrensgarantien so gestalten wollte, dass er für jede Verhandlung in Strafsachen gelten sollte, „in der die Schuld des Beschuldigten geprüft werden soll (unabhängig davon, ob es zu einer Verurteilung oder einem Freispruch kommt)“(15).
34. Schließlich würden offensichtlich Sinn und Zweck des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung verkannt und die Fairness des Verfahrens, für das dieses Recht von wesentlicher Bedeutung ist, verletzt, wenn einer Person, gegen die in Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, grundsätzlich das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren mit der Begründung verwehrt würde, dass sie freigesprochen wurde(16). Obwohl ein Freispruch für sie von Vorteil wäre, könnte sie nämlich den Eindruck gewinnen, sie sei der Möglichkeit beraubt worden, vom Richter „gehört“ und mit Zeugen und/oder Opfern konfrontiert zu werden, was ein Wesensmerkmal eines Strafprozesses ist(17).
35. Infolgedessen sind Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 meines Erachtens dahin auszulegen, dass sie auf eine Person Anwendung finden, in deren Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, mit der sie freigesprochen wurde.
2. Verfahrensmodalitäten für die Prüfung, ob ein Recht auf eine neue Verhandlung anzuerkennen ist
36. Nach ständiger Rechtsprechung nimmt die Richtlinie 2016/343 keine abschließende Harmonisierung des Strafverfahrens vor(18). Der Unionsgesetzgeber legt zwar fest, unter welchen materiell-rechtlichen Voraussetzungen ein Mitgliedstaat sicherstellen muss, dass eine Person, gegen die in Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, ein Recht auf eine neue Verhandlung gemäß Art. 9 dieser Richtlinie hat, regelt jedoch nicht die Verfahrensmodalitäten, wie diese Voraussetzungen zu prüfen sind, und insbesondere nicht den Rahmen und die Frist, innerhalb deren dies geschehen muss.
37. Nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie ist es daher Sache der Mitgliedstaaten, nach den Besonderheiten ihrer jeweiligen Rechtsordnung die Voraussetzungen und Verfahrensmodalitäten für diese Prüfung festzulegen, wobei diese Modalitäten jedoch, wenn sie dem Unionsrecht unterliegende Sachverhalte regeln, nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz)(19).
38. Außerdem sind die Mitgliedstaaten, wie sich aus dem 47. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 ergibt, verpflichtet, die Wahrung der sowohl in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(20) als auch in der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(21) anerkannten Grundrechte und allgemeinen Grundsätze zu gewährleisten.
39. Anhand dieser Kriterien und insbesondere im Hinblick auf den Effektivitätsgrundsatz sowie das Recht auf ein faires Verfahren ist zu beurteilen, ob ein Mitgliedstaat Verfahren vorgesehen hat, die es ermöglichen, das Recht auf eine neue Verhandlung anzuerkennen, nachdem die Gerichtsbehörde in der Sache über die Anklage befunden und eine Entscheidung in Abwesenheit erlassen hat(22).
40. Der „erste Zeitpunkt“, zu dem ein Mitgliedstaat Verfahren für diese Prüfung vorsehen kann, lässt sich meines Erachtens leicht ermitteln, da er mit der Eröffnung der Verhandlung zusammenfällt. Denn erst wenn die Gerichtsbehörde feststellt, dass die beschuldigte Person in der Verhandlung weder anwesend ist noch vertreten wird, kann sie beurteilen, inwieweit diese Person unmissverständlich darauf verzichtet hat, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen, und das Strafverfahren in Abwesenheit durchführen.
41. Dagegen entspricht der „letzte Zeitpunkt“ aus meiner Sicht generell dem Zeitpunkt, zu dem die zuständigen Behörden beabsichtigen, die in Abwesenheit ergangene Entscheidung zu vollstrecken, obwohl die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 nicht vorliegen. Die rechtliche Regelung in Art. 8 Abs. 4 dieser Richtlinie besteht nämlich nicht darin, vorzusehen, dass eine Person in ihrer Abwesenheit verurteilt werden kann, sondern klarzustellen, welche Konsequenzen die Vollstreckung einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung hat, wenn die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie nicht erfüllt sind. Im Strafverfahren setzt die Vollstreckung eines Strafurteils voraus, dass das Urteil vollstreckbar und rechtskräftig ist. Hat die Gerichtsbehörde in der Sache über die Anklage befunden und eine Entscheidung in Abwesenheit erlassen, obwohl die beschuldigte Person nicht nachweislich darauf verzichtet hatte, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen, ist die Vollstreckung dieser Entscheidung nur möglich, wenn diese Person weder die nach nationalem Recht vorgesehenen Rechtsbehelfe einlegt noch eine neue Verhandlung verlangt. Unter diesen Umständen spricht nach meiner Ansicht nichts dagegen, dass ein Mitgliedstaat ein Verfahren vorsieht, in dem die zuständigen Behörden die Voraussetzungen für die Anerkennung des Rechts auf eine neue Verhandlung in einem späteren Stadium des Strafverfahrens – nachdem die Gerichtsbehörde eine Entscheidung in Abwesenheit erlassen hat – prüfen, sofern die Vollstreckung des Urteils bis zum Abschluss dieser Prüfung ausgesetzt wird.
42. Da das vorlegende Gericht den Gerichtshof aber nach dem „letzten möglichen Zeitpunkt“ fragt, zu dem es als Gericht, das in der Sache über die Anklage entscheidet, prüfen kann, ob die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 vorliegen, um die beschuldigte Person gegebenenfalls über die mögliche Anfechtung der von ihm erlassenen Entscheidung und über ihr Recht auf eine neue Verhandlung zu unterrichten, ist dieser „letzte Zeitpunkt“ derjenige, zu dem dieses Gericht die Entscheidung erlässt, mit der es über die Schuld oder Unschuld dieser Person befindet, da dieses Gericht anschließend nicht mehr mit der Sache befasst sein wird.
43. Es ist nun zu klären, inwieweit das Gericht bei der Prüfung der Voraussetzungen nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 die Stellungnahmen der Strafverfolgungsbehörde und des Strafverteidigers berücksichtigen muss.
44. Ich erinnere daran, dass diese Prüfung eine wesentliche Phase des Strafverfahrens darstellt, da von ihrem Ausgang abhängt, ob die in Abwesenheit ergangene Entscheidung vollstreckt wird oder ob eine neue Verhandlung stattfindet. Die Prüfung muss daher im Einklang mit den Verfahrensgarantien erfolgen, die den Betroffenen die Achtung der Verteidigungsrechte gemäß Art. 47 der Charta garantieren.
45. Der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens, der Bestandteil der Verteidigungsrechte ist, besagt nach ständiger Rechtsprechung insbesondere, dass die Verfahrensbeteiligten das Recht haben müssen, von allen Schriftstücken oder Erklärungen, die dem Gericht vorgelegt werden, um seine Entscheidung zu beeinflussen, Kenntnis zu erhalten und dazu Stellung zu nehmen(23). Was den Grundsatz der Waffengleichheit betrifft, der ein Ausfluss des Begriffs des fairen Verfahrens als solchem ist, so umfasst er die Verpflichtung, jeder Partei eine angemessene Möglichkeit zu bieten, ihre Sache unter Bedingungen zu vertreten, die sie gegenüber ihrem Gegner nicht klar benachteiligen(24).
46. Im Rahmen eines Verfahrens, in dem festgestellt werden soll, ob die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 erfüllt waren, muss die beschuldigte Person gehört werden und, gegebenenfalls durch ihren Anwalt, wirksam alle Gründe dafür vorbringen können, dass ihr Recht auf eine neue Verhandlung anerkannt wird, zumal ihre Vertretung durch einen Anwalt grundsätzlich geeignet ist, darzutun, dass sie ihr Recht auf Verteidigung wahrnehmen will(25).
47. Angesichts der Art der von der zuständigen Behörde durchgeführten Prüfung muss die beschuldigte Person die Möglichkeit haben, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidenden Fakten kontradiktorisch zu erörtern. Insbesondere muss sie dazu gehört werden, ob sie die Art und den Grund der gegen sie erhobenen Anklage kannte und inwieweit sie diese persönlich entgegengenommen hatte oder ob sie ordnungsgemäß geladen worden war. Die zuständige Behörde muss somit durch diese Prüfung auf der Grundlage präziser, objektiver und relevanter Fakten feststellen, ob ein Verzicht vorliegt. In diesem Zusammenhang erscheinen die Stellungnahmen sowohl der Strafverfolgungsbehörde als auch der Verteidigung bedeutsam und können die Prüfung der Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 entscheidend beeinflussen.
48. Infolgedessen ist Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 meines Erachtens dahin auszulegen, dass der Mitgliedstaat Verfahren zur Prüfung der in Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung genannten Voraussetzungen für die Anerkennung eines Rechts auf eine neue Verhandlung vorsehen kann, nachdem die Gerichtsbehörde gegen die beschuldigte Person in deren Abwesenheit eine Entscheidung erlassen hat, sofern die Vollstreckung dieser Entscheidung bis zum Abschluss dieser Prüfung ausgesetzt wird und die zuständige Behörde hierzu sowohl die Strafverfolgungsbehörde als auch die Verteidigung anhört.
49. Aber auch hier stellt das vorlegende Gericht offenbar auf den Zeitpunkt ab, zu dem es in Abwesenheit zu entscheiden hat, und möchte geklärt wissen, ob es bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 vorliegen, die Stellungnahme der Strafverfolgungsbehörde und des mit der Wahrnehmung der Interessen des Beschuldigten betrauten Rechtsanwalts einholen muss. Nach meinem Dafürhalten gelten insoweit die Grundsätze, die ich in der vorhergehenden Nummer dieser Schlussanträge dargelegt habe.
3. Verfahrensmodalitäten gemäß Art. 423 NPK für die Anerkennung des Rechts auf eine neue Verhandlung
50. Mit seiner siebten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen vom Gerichtshof wissen, ob Art. 8 Abs. 4 Satz 2 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Verfahrensregelung entgegenstehen, wonach eine Person, die in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, obwohl sie nicht nachweislich darauf verzichtet hatte, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen, verpflichtet ist, einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens beim Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) zu stellen und persönlich vor diesem Gericht zu erscheinen, um das Recht auf eine neue Verhandlung in Anspruch nehmen zu können.
51. Eine Verfahrensregelung wie die hier fragliche halte ich nicht nur aus den in Nr. 41 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Gründen, sondern auch wegen Art. 82 Abs. 2 AEUV, wonach die aufgrund dieser Bestimmung erlassenen Vorschriften die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und ‑traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigen müssen, an sich nicht für kritikwürdig.
52. Allerdings muss diese Verfahrensregelung im Stadium ihrer Anwendung die Voraussetzungen für die Anerkennung des Rechts auf eine neue Verhandlung gemäß Art. 8 Abs. 2 und 4 sowie Art. 9 der Richtlinie 2016/343 in der Auslegung durch den Gerichtshof erfüllen und aufgrund ihrer Wesensmerkmale der Person, die in Abwesenheit verurteilt wurde, obwohl sie nicht nachweislich auf ihr Erscheinen vor Gericht oder auf ihre Verteidigung verzichtet hatte, die volle Wahrnehmung ihrer Verteidigungsrechte ermöglichen, was im Folgenden zu prüfen ist(26).
53. Vorbehaltlich der Überprüfungen durch das vorlegende Gericht scheint mir diese Regelung aufgrund ihrer Merkmale, wie sie aus der Vorlageentscheidung hervorgehen, jedoch nicht geeignet zu sein, die Achtung der Verfahrensrechte dieser Person zu gewährleisten.
54. Ich erinnere daran, dass der Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens eine besondere Phase des Strafverfahrens darstellt, die für die in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe verurteilte Person von entscheidender Bedeutung sein kann. Die Möglichkeit, einen solchen Antrag zu stellen, ist daher von wesentlicher Bedeutung, zumal dies, wenn keine Berufung mehr möglich ist, der einzige verfügbare Rechtsbehelf für eine neue Prüfung des Sachverhalts ist(27).
55. Nach Art. 423 Abs. 2 NPK hat die Einreichung eines Antrags auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens jedoch keine aufschiebende Wirkung, „es sei denn, das Gericht bestimmt etwas anderes“. Eine solche Modalität scheint mir an sich gegen den Grundsatz zu verstoßen, dass eine in Abwesenheit ergangene Verurteilung nicht sofort vollstreckt werden darf, solange nicht geklärt ist, ob dem Betroffenen ein Recht auf eine neue Verhandlung zusteht.
56. Zudem geht aus Art. 423 Abs. 3 NPK hervor, dass die Prüfung des Antrags auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens grundsätzlich das persönliche Erscheinen der in Abwesenheit verurteilten Person voraussetzt(28). Das Verfahren wird nämlich eingestellt, wenn diese Person nicht persönlich vor dem zuständigen Richter erscheint, es sei denn, sie kann einen triftigen Grund anführen.
57. Unabhängig davon, welcher Art dieser Grund ist und inwieweit sich diese Person durch einen Anwalt vertreten lassen könnte, bedeutet ein solches Erfordernis, dass das in Art. 9 der Richtlinie 2016/343 garantierte Recht auf eine neue Verhandlung an eine Bedingung geknüpft wird, die der Unionsgesetzgeber nicht vorgesehen hat.
58. Zwar entspricht dieses Erfordernis dem legitimen Anliegen, eine missbräuchliche Behinderung der Effizienz der Verfolgung und der geordneten Rechtspflege zu vermeiden(29). Im Zusammenhang mit einem Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens kann man einem Mitgliedstaat nämlich nicht vorwerfen, dass er Situationen verhindern will, in denen dieser Antrag missbräuchlich, ohne ernsthaftes Anliegen und ohne Begründung, gestellt wird, um die Vollstreckung einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung zu behindern. Ebenso wenig kann man ihm vorwerfen, dass er Wert auf die persönliche Einlassung des Angeklagten legt, um die Gründe für dessen Nichterscheinen in der Verhandlung zu beurteilen. Wie der EGMR anerkennt, ist das persönliche Erscheinen wichtig, sowohl wegen des Rechts des Beschuldigten, gehört zu werden und „seine Version der Ereignisse“ dem Richter zu schildern(30), als auch wegen der Notwendigkeit, die Richtigkeit seiner Erklärungen zu überprüfen(31).
59. Ein solches Erfordernis kann jedoch zu einer besonders gravierenden Einschränkung des Rechts auf eine neue Verhandlung führen, wenn die beschuldigte Person zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird. In diesem Fall hat die betreffende Person offenbar keine andere Wahl, als persönlich zu erscheinen und folglich zur Vollstreckung des in Abwesenheit ergangenen Urteils ihre Haft anzutreten, wenn sie eine neue Verhandlung erhalten möchte, denn ihre Abwesenheit „ohne triftigen Grund“ nach Art. 423 Abs. 3 NPK wird dazu führen, dass das Verfahren eingestellt wird und sie somit auf ein neues Gerichtsverfahren verzichtet. Da der Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens keine aufschiebende Wirkung hat, wird diese Person grundsätzlich zur Vollstreckung der in Abwesenheit verhängten Strafe in Haft genommen werden, „es sei denn, das Gericht bestimmt etwas anderes“, auch wenn die zuständige Justizbehörde noch nicht festgestellt hat, ob sie auf ihr Erscheinen vor Gericht oder auf ihre Verteidigung verzichtet hatte. Im Übrigen wird, wie ich hinzufügen möchte, die Verurteilung für den Fall, dass dieser Antrag abgelehnt wird, unwiderruflich, da die Berufungsfrist abgelaufen ist und die Entscheidung, mit der der Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) den Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens ablehnt, selbst nicht rechtsmittelfähig ist.
60. Angesichts der Bedeutung des Antrags auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens, der sich für die in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe verurteilte Person als entscheidend erweisen kann, bin ich der Ansicht, dass das Erfordernis des persönlichen Erscheinens als zwingende Vorbedingung für die Prüfung dieses Antrags und somit für die Wiederaufnahme des Strafverfahrens es nicht rechtfertigt, dieser Person ihr Recht auf eine neue Verhandlung vorzuenthalten, wenn sie nicht persönlich erscheint. Eine solche Modalität ist in Verbindung mit den anderen Merkmalen dieses Verfahrens geeignet, zu einer übermäßigen Einschränkung der Verteidigungsrechte der in Abwesenheit verurteilten Person zu führen, zumal Art. 423 NPK, wie das vorlegende Gericht betont, den einzigen Rechtsbehelf vorsieht, der gegen eine in Abwesenheit ergangene Verurteilung zur Verfügung steht, wenn diese am 16. Tag nach Urteilsverkündung rechtskräftig geworden ist.
61. Diese Auslegung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR, die in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen ist(32). Dem EGMR zufolge hat das Recht auf eine neue Verhandlung Vorrang vor dem Interesse daran, dass die in Abwesenheit verurteilte Person vor Gericht erscheint. Die Tatsache, dass die beschuldigte Person trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht vor Gericht erscheint, weil sie verhindert ist oder aus persönlichen Gründen nicht erscheinen will, kann es nach Ansicht des EGMR selbst bei unentschuldigtem Fernbleiben nicht rechtfertigen, ihr das Recht auf eine neue Verhandlung vorzuenthalten. Der EGMR hält ferner die Vorschrift, wonach eine in Abwesenheit verurteilte Person sich nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen kann, auch für offensichtlich unverhältnismäßig, da sie dazu führt, dass das Nichterscheinen dieser Person mit einem absoluten Verteidigungsverbot geahndet wird(33).
62. Der EGMR hält ein solches Erfordernis für eine neue Verhandlung auch dann für unverhältnismäßig, wenn die nationalen Behörden außerdem die Vollstreckung der in Abwesenheit erfolgten Verurteilung betreiben(34). Durch eine solche Modalität soll letztlich, so der EGMR, die Inanspruchnahme des Rechts auf ein faires Verfahren von einer „Art Bürgschaft, der physischen Freiheit des Betroffenen“ abhängig gemacht und sollen Verfahren, die in den Bereich polizeilicher Befugnisse fallen, durch eine Verpflichtung des Angeklagten selbst ersetzen werden(35). Auch wenn das Bestreben, die Vollstreckung von Gerichtsurteilen zu gewährleisten, an sich legitim ist, verfügen die nationalen Behörden nach Ansicht des EGMR doch über andere Mittel, mit denen sie die Anwesenheit der verurteilten Person sicherstellen können(36). Daher darf laut EGMR eine auf freiem Fuß befindliche Person nicht gezwungen werden, sich zur Vollstreckung der in Abwesenheit erfolgten Verurteilung in Haft zu begeben, unabhängig von der – selbst kurzen – Dauer ihres Freiheitsentzugs, um in den Genuss des Rechts auf ein neues Verfahren unter mit Art. 6 EMRK konformen Bedingungen zu gelangen, denn eine solche Modalität verletzt den Grundsatz der Unschuldsvermutung(37).
63. Im Urteil Khalfaoui/Frankreich, in dem es um eine Bestimmung der französischen Strafprozessordnung ging, wonach die Verletzung der Pflicht zur Vorbereitung der Verhandlung mit dem Entzug der Kassationsbeschwerde geahndet wurde, hat der EGMR entschieden: „In Anbetracht der Bedeutung der abschließenden Kontrolle durch die Cour de cassation [(Kassationshof, Frankreich)] in Strafsachen und der Tragweite dieser Kontrolle für die Personen, die möglicherweise zu schweren Freiheitsstrafen verurteilt wurden, ist der [EGMR] der Ansicht, dass es sich hierbei um eine besonders schwere Sanktion im Hinblick auf das in Art. 6 [EMRK] garantierte Recht auf Zugang zu einem Gericht handelt.“(38) Er hat noch hinzugefügt: „Die Unzulässigkeit einer Kassationsbeschwerde, die ausschließlich … darauf beruht, dass sich der Beschwerdeführer nicht zur Vollstreckung der mit der Beschwerde angegriffenen Gerichtsentscheidung in Haft begeben hat, zwingt den Betroffenen dazu, den durch die angefochtene Entscheidung angeordneten Freiheitsentzug schon jetzt selbst zu vollziehen, obwohl diese Entscheidung nicht als endgültig angesehen werden kann, solange über die Beschwerde noch nicht entschieden wurde oder die Rechtsmittelfrist noch nicht abgelaufen ist.“(39) Der EGMR hat festgestellt, dass auf diese Weise „in den Wesensgehalt des Anspruchs auf einen Rechtsbehelf eingegriffen [wird], da dem Beschwerdeführer eine unverhältnismäßige Last auferlegt wird, die die angemessene Balance stört, die zwischen dem legitimen Anliegen, die Vollstreckung von Gerichtsentscheidungen zu gewährleisten, einerseits und dem Recht auf Zugang zum Kassationsgericht sowie der Wahrnehmung der Verteidigungsrechte andererseits bestehen muss“(40).
64. Obwohl ich also gegen die fragliche Verfahrensregelung keine Bedenken habe, soweit der Beschuldigte hiernach bei der zuständigen Justizbehörde als Voraussetzung für eine neue Verhandlung die Wiederaufnahme des Strafverfahrens beantragen muss, meine ich doch, dass bestimmte Merkmale dieses Verfahrens und insbesondere der Umstand, dass es keine aufschiebende Wirkung hat und das persönliche Erscheinen des Beschuldigten verlangt, diesem keine wirksame Ausübung seiner Verteidigungsrechte, insbesondere des Rechts, in der ihn betreffenden Verhandlung anwesend zu sein, gewährleisten können.
65. Nach alledem sind Art. 8 Abs. 4 Satz 2 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 meines Erachtens dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehren, ein Verfahren einzuführen, nach dem die Person, gegen die in Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, obwohl sie nicht nachweislich darauf verzichtet hat, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen, bei der zuständigen Behörde einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens stellen muss, damit diese Behörde anhand der Kriterien von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie beurteilen kann, ob der betreffenden Person das Recht auf eine neue Verhandlung zusteht, vorausgesetzt, die Merkmale dieses Verfahrens können ihr das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung und auf wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleisten.
66. Dagegen sind Art. 8 Abs. 4 Satz 2 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen, dass sie einer Vorschrift entgegenstehen, wonach ein solches Verfahren keine aufschiebende Wirkung hätte und zudem das persönliche Erscheinen der in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Person verlangen würde.
B. Tragweite und Inhalt des Rechts der in Abwesenheit verurteilten Person auf Unterrichtung (erste, zweite und fünfte Vorlagefrage)
67. Mit seiner ersten, seiner zweiten und seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Kern wissen, ob Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass eine Person – in deren Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, mit der sie zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, obwohl sie im Hinblick auf die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie nicht nachweislich darauf verzichtet hatte, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen – bei ihrer Festnahme weder über diese Entscheidung noch über die Möglichkeit, sie anzufechten, noch über ihr Recht, eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen, unterrichtet wird. Gefragt wird auch danach, welche Form und welchen Inhalt diese Unterrichtung haben muss.
68. Das vorlegende Gericht stellt diese Fragen deshalb, weil nach bulgarischem Recht eine in Abwesenheit ergangene Entscheidung offenbar dem Betroffenen nicht zugestellt wird und dieser auch nicht über seine Verfahrensrechte und insbesondere über die Möglichkeit, einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens gemäß Art. 423 NPK zu stellen, unterrichtet wird.
69. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht daher wissen, inwieweit ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, Verfahren vorzusehen, damit der Betroffene bei der Vollstreckung der gegen ihn in Abwesenheit ergangenen Entscheidung oder bei seiner Festnahme von dieser Entscheidung unterrichtet wird, und ob dabei gegebenenfalls sicherzustellen ist, dass ihm eine Kopie der vollständigen Entscheidung ausgehändigt wird.
70. Außerdem bittet es den Gerichtshof mit seiner zweiten Frage um Klärung, wie ein Mitgliedstaat seine Informationspflicht im Rahmen einer Verfahrensordnung wie der vorliegenden erfüllen muss, der zufolge die zuständigen Behörden bei der Vollstreckung der in Abwesenheit ergangenen Entscheidung oder bei der Festnahme der in Abwesenheit verurteilten Person noch nicht darüber entschieden haben, ob ein Recht auf eine neue Verhandlung besteht, sondern dieses Recht erst später, nämlich nach der Prüfung eines von dieser Person einzureichenden Antrags auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens, zuerkannt wird.
1. Prüfungsrahmen für die Fragen
71. Gemäß Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 muss der Mitgliedstaat sicherstellen, dass eine Person, in deren Abwesenheit eine sie betreffende Entscheidung ergangen ist, wenn sie insbesondere bei ihrer Festnahme von der Entscheidung erfährt, auch darüber unterrichtet wird, dass sie diese anfechten kann und das Recht hat, eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen.
72. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht unzweideutig hervor, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaat zu einem bestimmten Ergebnis verpflichtet, nämlich dazu, sicherzustellen, dass die Person, gegen die in Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, über ihre Verfahrensrechte unterrichtet wird, und zwar dann, wenn sie über diese Entscheidung unterrichtet wird, spätestens jedoch bei deren Vollstreckung, insbesondere bei der Festnahme der zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Person. Dies ist eine Mindestvorschrift, die einen für die Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts dieser Person auf ein faires Verfahren wesentlichen Verfahrensgrundsatz betrifft und von welcher der Mitgliedstaat nicht abweichen darf.
73. Daher steht für mich außer Zweifel, dass Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 es verbietet, eine Person, gegen die in Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, obwohl sie nicht nachweislich darauf verzichtet hat, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen, bei der Vollstreckung dieser Entscheidung oder bei ihrer Festnahme weder über diese Entscheidung noch über die Möglichkeit, sie anzufechten, noch über ihr Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs zu unterrichten. Eine solche Situation führt nämlich dazu, dass den Verteidigungsrechten dieser Person jegliche Wirksamkeit genommen und das in Art. 9 der Richtlinie verankerte Recht auf eine neue Verhandlung ausgehöhlt wird.
74. Dagegen ist es weder Gegenstand noch Ziel von Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343, die Modalitäten dieser Unterrichtungspflicht festzulegen und insbesondere zu bestimmen, auf welche Weise die beschuldigte Person bei der Vollstreckung der in ihrer Abwesenheit ergangenen Entscheidung oder bei ihrer Festnahme über diese Entscheidung und über ihr Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs zu unterrichten ist.
75. Nach meinem Dafürhalten sind diese besonderen Modalitäten im Licht der allgemeinen Bestimmungen der Richtlinie 2012/13 über das Recht verdächtiger und beschuldigter Personen auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, auf die im achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 verwiesen wird, zu beurteilen(41). Ausweislich des 25. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2012/13 hängt diese eng mit der Richtlinie 2010/64/EU(42) zusammen, die denjenigen unter diesen Personen, die die Sprache des jeweiligen Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, ein Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen bezüglich der so übermittelten Informationen gibt.
76. Durch die Richtlinie 2012/13 sollen gemäß ihrem Art. 1 gemeinsame Mindestvorschriften über das Recht von Verdächtigen oder beschuldigten Personen auf Belehrung über ihre Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt werden(43). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs betrifft das in diesem Art. 1 genannte Recht zumindest zwei gesonderte Rechte(44).
77. Das erste ist das Recht von Verdächtigen oder beschuldigten Personen, „mindestens“ über bestimmte Verfahrensrechte belehrt zu werden, wie sie im nationalen Recht gelten. Dieses Recht ist in Art. 3 der Richtlinie 2012/13 verankert, und anhand dieser Bestimmung werde ich die Modalitäten für die Durchsetzung des in Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 vorgesehenen Rechts auf Unterrichtung über das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs prüfen.
78. Das zweite ist das in Art. 6 der Richtlinie 2012/13 verankerte Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf. Anhand dieses letzteren Artikels werde ich prüfen, unter welchen Bedingungen die in ihrer Abwesenheit verurteilte Person bei der Vollstreckung der gegen sie ergangenen Abwesenheitsentscheidung oder bei ihrer Festnahme über diese Entscheidung unterrichtet werden muss.
79. Um die Wirksamkeit des auf diese Weise vorgesehenen Rechts auf Belehrung und Unterrichtung zu gewährleisten, schreibt Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 vor, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben müssen, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten.
2. Unterrichtung über die in Abwesenheit ergangene Entscheidung, mit der eine Verurteilung ausgesprochen wurde
80. Aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 geht unzweideutig hervor, dass es weder Gegenstand noch Ziel dieses Artikels ist, zu bestimmen, nach welchen Modalitäten ein Mitgliedstaat bei der Vollstreckung einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung oder bei der Festnahme einer Person, die durch eine solche Entscheidung verurteilt wurde, sicherzustellen hat, dass die betreffende Person über diese Entscheidung unterrichtet wird. Indem der Unionsgesetzgeber von dem Mitgliedstaat verlangt, vorzusehen, dass die beschuldigte Person, wenn sie „insbesondere [zum Zeitpunkt ihrer Festnahme]“ über die in ihrer Abwesenheit gegen sie ergangene Entscheidung „unterrichtet“ wird, auch über ihre Verfahrensrechte informiert wird, wollte er dem Mitgliedstaat nicht vorschreiben, bei der Vollstreckung dieser Entscheidung oder bei der Festnahme dieser Person eine Kopie der vollständigen Entscheidung zusammen mit einer schriftlichen Erklärung der Rechte zu übermitteln.
81. Meines Erachtens sind solche Modalitäten anhand der Vorschriften über das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Art. 6 der Richtlinie 2012/13 sowie der Vorschriften über das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte gemäß Art. 7 dieser Richtlinie zu ermitteln.
82. Im Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci(45), hat der Gerichtshof entschieden, dass insbesondere im Hinblick auf die Art. 2, 3 und 6 der Richtlinie 2012/13 die Zustellung eines Strafbefehls, wie er im deutschen Recht vorgesehen ist, als eine Form der Unterrichtung über den Tatvorwurf anzusehen ist, so dass sie den Anforderungen dieses Art. 6 genügen muss(46). Der Strafbefehl nach deutschem Recht ist eine vorläufige Entscheidung, die auf Antrag der Staatsanwaltschaft von einem Richter wegen geringfügiger Straftaten erlassen wird, die nicht das persönliche Erscheinen des Beschuldigten erfordern. Dieser Strafbefehl, der im Rahmen eines vereinfachten Strafverfahrens ohne Verhandlung ergeht, wird mit Ablauf der Einspruchsfrist von zwei Wochen ab seiner Zustellung, gegebenenfalls an die Zustellungsbevollmächtigten des Beschuldigten, zu einem rechtskräftigen Urteil(47).
83. Aus ähnlichen Gründen wie der Gerichtshof in diesem Urteil bin ich der Ansicht, dass die Information über eine Entscheidung, die in Abwesenheit ergangen ist, obwohl die beschuldigte Person nicht nachweislich darauf verzichtet hat, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen, als eine Form der Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf anzusehen ist, so dass diese Unterrichtung den Anforderungen von Art. 6 der Richtlinie 2012/13 genügen muss.
84. Zum einen geht aus Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 hervor, dass der Unionsgesetzgeber die Anwendung dieser Richtlinie eindeutig für das gesamte Strafverfahren vorgesehen hat, und zwar vom Anfangsverdacht bis zur Urteilsverkündung, gegebenenfalls nach Erschöpfung des Rechtswegs(48).
85. Zum anderen ergeht in einem nach Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 in Abwesenheit durchgeführten Verfahren die Entscheidung, obwohl nicht bekannt ist, ob die beschuldigte Person darauf verzichtet hat, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen, so dass diese Person möglicherweise aufgrund dieser Information erstmals von dem gegen sie erhobenen Tatvorwurf erfährt. Dies wird dadurch bestätigt, dass diese Person, wenn sie die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie nicht erfüllt, eine neue Verhandlung oder Zugang zu einem gleichwertigen Rechtsbehelf erwirken und in diesem Rahmen ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen kann, bevor die Gerichtsbehörde erneut über die tatsächliche und rechtliche Begründetheit des Tatvorwurfs entscheidet.
86. Ich bin daher der Ansicht, dass das in Art. 6 der Richtlinie 2012/13 vorgesehene Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf auch das Recht einer Person, in deren Abwesenheit eine sie betreffende Entscheidung ergangen ist, obwohl sie nicht nachweislich darauf verzichtet hat, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen, umfasst, über diese Entscheidung informiert zu werden.
87. Zwar regelt die Richtlinie 2012/13, wie der Gerichtshof anerkannt hat, nicht die Modalitäten der in ihrem Art. 6 vorgesehenen Unterrichtung des Beschuldigten über den Tatvorwurf(49). Nach Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie stellt der Mitgliedstaat sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, umgehend und so detailliert unterrichtet werden, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden. Abs. 2 dieses Artikels betrifft speziell Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden. In diesem Fall stellt der Mitgliedstaat sicher, dass sie über die Gründe für ihre Festnahme oder Inhaftierung, einschließlich über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, unterrichtet werden. Schließlich stellt der Mitgliedstaat gemäß Abs. 3 dieses Artikels sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.
88. In Anbetracht des Spielraums, den der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten insoweit einräumt, ist es deren Sache, unter Berücksichtigung der Merkmale ihrer jeweiligen Verfahrensordnung die Modalitäten festzulegen, wie eine Person, gegen die in Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, von dieser Entscheidung zu unterrichten ist. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs dürfen diese Modalitäten jedoch nicht das u. a. mit Art. 6 der Richtlinie 2012/13 angestrebte Ziel beeinträchtigen, das, wie sich auch aus dem 27. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, darin besteht, dieser Person die Vorbereitung ihrer Verteidigung zu ermöglichen und ein faires Verfahren zu gewährleisten(50).
89. In dem besonderen Fall, dass die beschuldigte Person zur Vollstreckung einer Entscheidung festgenommen wird, mit der sie in Abwesenheit verurteilt wurde, obwohl sie nicht nachweislich darauf verzichtet hatte, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen, dient die Information, die diese Person bei ihrer Festnahme erhält, insbesondere dazu, sie über die Gründe für ihre Festnahme und die gegen sie erhobenen Tatvorwürfe im Sinne von Art. 6 der Richtlinie 2012/13 sowie über ihre Verfahrensrechte zu unterrichten.
90. Für diese Zielsetzung muss dem Mitgliedstaat meines Erachtens nicht zur Auflage gemacht werden, dass die zuständigen Behörden, wenn sie die in Abwesenheit ergangene Entscheidung vollstrecken oder die beschuldigte Person festnehmen, ihrer Informationspflicht dadurch nachkommen, dass sie ihr bei dieser Vollstreckung oder dieser Festnahme eine Kopie der vollständigen Entscheidung aushändigen. Ein solches Erfordernis ist nicht notwendig. Es dürfte ausreichen, lediglich über den Inhalt der Entscheidung sowie darüber zu informieren, dass sie in Abwesenheit der betreffenden Person ergangen ist.
91. Allerdings wird die in Abwesenheit verurteilte Person, wie das vorlegende Gericht betont, wegen ihres Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf vollständig über die Gründe informiert werden müssen, aus denen sie verurteilt wurde. Der Mitgliedstaat wird also vorsehen müssen, dass die zuständigen Behörden diese Person mit besonderer Sorgfalt umgehend und offiziell, etwa durch ein Zustellungs- oder Benachrichtigungsverfahren, von der Entscheidung benachrichtigen, die in ihrer Abwesenheit gegen sie ergangen ist(51). Diese Entscheidung wird nämlich erst vollstreckbar, sobald die betreffende Person davon offiziell unterrichtet wurde, nachdem die Frist für die Einlegung von Rechtsbehelfen abgelaufen ist, die grundsätzlich ab dem Abschluss dieses Verfahrens beginnt, und nachdem die Person auf ihr Recht auf eine neue Verhandlung verzichtet hat oder dieses ihr nicht zuerkannt wurde. Außerdem ergibt sich, wie das vorlegende Gericht bemerkt, aus Art. 4a Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten(52) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung(53), dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht verweigern kann, wenn aus diesem Haftbefehl u. a. hervorgeht, dass nach dessen Übergabe unverzüglich die Zustellung der in Abwesenheit ergangenen Entscheidung an den Betroffenen erfolgen wird.
92. Abschließend möchte ich hinzufügen, dass der Mitgliedstaat gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13, wenn eine Person in irgendeinem Stadium des Strafverfahrens festgenommen und inhaftiert wird, sicherstellen muss, dass ihr alle Unterlagen zu dem gegenständlichen Fall, die für eine wirksame Anfechtung der Festnahme oder Inhaftierung nach innerstaatlichem Recht wesentlich sind, zur Verfügung gestellt werden. Laut der Richtlinie 2010/64 ist aber die Entscheidung, mit der eine Verurteilung ausgesprochen wird, oder das „Urteil“ ein wesentliches Dokument, das mitgeteilt und übersetzt werden muss, damit die verurteilte Person ihre Verteidigungsrechte wahrnehmen kann und ein faires Verfahren gewährleistet ist(54).
93. Infolgedessen ist Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 meines Erachtens dahin auszulegen, dass die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats, wenn sie eine in Abwesenheit ergangene Entscheidung vollstrecken oder eine Person festnehmen, gegen die eine solche Entscheidung ergangen ist, diese Person gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2012/13 über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf, einschließlich der Gründe für ihre Verurteilung, unterrichten müssen. Um dieser Anforderung zu genügen, braucht der Mitgliedstaat nicht vorzusehen, dass der betreffenden Person bei dieser Vollstreckung oder dieser Festnahme eine Kopie der vollständigen Entscheidung auszuhändigen wäre.
3. Unterrichtung über das Recht, eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen
94. Wie erinnerlich bittet das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage den Gerichtshof im Kern, die Modalitäten für die Beachtung des in Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 vorgesehenen Rechts auf Unterrichtung über das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs zu klären.
95. Das vorlegende Gericht möchte insbesondere die Grundsätze, die der Gerichtshof im Urteil VB I entwickelt hat, mit der bulgarischen Verfahrensordnung abgleichen. In diesem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass „[d]ie Wahl der Modalitäten, wie [die Informationen betreffend das Recht auf eine neue Verhandlung und die Möglichkeit der Anfechtung der in Abwesenheit ergangenen Entscheidung] den Betroffenen zur Verfügung zu stellen sind, … den Mitgliedstaaten überlassen [bleibt], solange sie dem Betroffenen zu dem Zeitpunkt zur Kenntnis gebracht werden, zu dem er über die fragliche Entscheidung unterrichtet wird(55). Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach der bulgarischen Verfahrensordnung von den zuständigen Behörden nach der Prüfung eines Antrags auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens, den die in Abwesenheit verurteilte Person stellen müsse, darüber befunden werde, ob ein Recht auf eine neue Verhandlung bestehe.
96. Im Urteil VB I hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 nicht die genauen Modalitäten bestimmt, wie die in Abwesenheit verurteilte Person über ihr Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs zu unterrichten ist(56). Nur im 39. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es, dass diese Information entweder in Schriftform bereitgestellt oder mündlich erteilt werden sollte, soweit im letzteren Fall die Tatsache, dass diese Information erteilt wurde, im Einklang mit dem im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren für Aufzeichnungen festgehalten wurde(57).
97. Bei der Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts sind erstens die Bestimmungen der Richtlinie 2012/13 heranzuziehen. Da nämlich das Recht auf Unterrichtung über das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs ein Verfahrensrecht darstellt, ist Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 unter Berücksichtigung der allgemeinen Bestimmungen in den Art. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13 auszulegen.
98. Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass umgehend „mindestens über [die unter den Buchst. a bis e aufgeführten] Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt [wird], um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen“(58). Diese Bestimmung enthält eine Liste, die das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts, den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung, das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf, das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen sowie das Recht auf Aussageverweigerung umfasst. Wie sich aus der Verwendung des Ausdrucks „mindestens“ ergibt, wollte der Unionsgesetzgeber die Verfahrensrechte, über die Verdächtige oder Beschuldigte unterrichtet werden müssen, nicht einschränken, zumal diese Richtlinie im Übrigen bis zum Erlass des rechtskräftigen Urteils anwendbar ist. Darüber hinaus geht aus dem 20. Erwägungsgrund der Richtlinie hervor, dass diese Mindestvorschriften „nicht die Informationen [berühren], die über andere Verfahrensrechte aufgrund der Charta, der EMRK, dem innerstaatlichen Recht und dem anwendbaren Unionsrecht … erteilt werden“.
99. Nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 müssen diese Informationen dem Verdächtigen oder Beschuldigten „umgehend“ mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache zur Kenntnis gebracht werden(59). Gemäß Art. 4 dieser Richtlinie muss der Mitgliedstaat bei der Festnahme oder Inhaftierung dieser Person sicherstellen, dass sie umgehend eine Erklärung ihrer Verfahrensrechte, wie sie im innerstaatlichen Recht ausgestaltet sind, erhält. Diese Erklärung muss schriftlich in einer einfachen und verständlichen Sprache abgefasst sein, die der Betroffene beherrscht. Sie muss eine Belehrung über die in Art. 3 der Richtlinie 2012/13 aufgeführten Verfahrensrechte, deren Liste nicht abschließend ist, und über die in Art. 4 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie aufgeführten Rechte, wie das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte, sowie grundlegende Informationen über die im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Möglichkeiten, u. a. die Rechtmäßigkeit der Festnahme anzufechten, enthalten. Für den Fall, dass die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats den Beschuldigten zur Vollstreckung einer Entscheidung festnehmen, durch die er in Abwesenheit verurteilt wurde, könnte in dieser schriftlichen Erklärung der Rechte meines Erachtens auch das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs erwähnt werden(60).
100. Was zweitens den Inhalt der zu erteilenden Informationen betrifft, so ist aus meiner Sicht zum einen auf die Besonderheiten des jeweiligen nationalen Verfahrens und zum anderen auf den mit Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 verfolgten Zweck abzustellen, nämlich die Wirksamkeit der Verteidigungsrechte des Beschuldigten und sein in Art. 9 dieser Richtlinie verankertes Recht auf eine neue Verhandlung zu gewährleisten.
101. Wie von mir bereits erwähnt, beabsichtigt der Unionsgesetzgeber nämlich nicht die Einführung einer einheitlichen Verfahrensordnung, in deren Rahmen der Mitgliedstaat verpflichtet wäre, im Stadium der in Abwesenheit erlassenen Entscheidung vorzusehen, dass eine neue Verhandlung durchgeführt werden müsste. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 sieht im Übrigen ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten die beschuldigte Person über deren Verfahrensrechte „in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht“ belehren. Dies bedeutet bei einer Verfahrensordnung wie der hier vorliegenden, dass die Erklärung der Rechte gegenüber der in Abwesenheit verurteilten Person einen Hinweis auf das Verfahren enthalten muss, das ihr nunmehr zur Verfügung steht, damit sie gemäß Art. 9 der Richtlinie 2016/343 eine neue Verhandlung verlangen kann.
102. Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht der Auffassung, Art. 15 Abs. 3 NPK biete ihm eine ausreichende Rechtsgrundlage, damit es die erforderlichen Maßnahmen ergreifen könne, um sicherzustellen, dass die beschuldigte Person gemäß Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 über ihre Verfahrensrechte belehrt werde. Unter diesen Umständen spricht meines Erachtens nichts dagegen, dass dieses Gericht in der Entscheidung, die es in Abwesenheit dieser Person erlässt, auf die Modalitäten hinweist, nach denen Letztere unter den in Art. 9 dieser Richtlinie genannten Bedingungen eine neue Verhandlung verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einlegen kann.
103. In Anbetracht dessen ist Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 meines Erachtens dahin auszulegen, dass die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats, wenn sie eine in Abwesenheit ergangene Entscheidung vollstrecken oder eine in Abwesenheit verurteilte Person festnehmen, im Rahmen der Erklärung der Rechte gemäß Art. 4 der Richtlinie 2012/13 die betreffende Person darüber informieren müssen, dass sie berechtigt sein könnte, nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen.
104. Im Rahmen einer Verfahrensordnung wie der hier in Rede stehenden, die ein Verfahren vorsieht, nach dem diese Person zwecks Anerkennung des Rechts auf eine neue Verhandlung gemäß Art. 9 der Richtlinie 2016/343 bei der zuständigen Justizbehörde zuvor einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens stellen muss, gebietet Art. 8 Abs. 4 dieser Richtlinie, dass die Erklärung der Rechte einen Hinweis auf dieses Verfahren enthält.
C. Form und Reichweite der Rechtsbehelfe, die nach einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung zur Verfügung stehen (fünfte und sechste Vorlagefrage)
105. Mit seiner fünften und seiner sechsten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen ist, dass einer Person, in deren Abwesenheit eine sie betreffende Entscheidung ergangen ist, zwei verschiedene Rechtswege offenstehen müssen, die es ihr ermöglichen, zum einen Berufung gegen diese Entscheidung einzulegen und zum anderen gemäß Art. 9 dieser Richtlinie eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen.
106. Wie erinnerlich verlangt Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343, dass eine Person, gegen die in Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, bei der Unterrichtung darüber auch über die „Möglichkeit, [diese] Entscheidung anzufechten, sowie über [ihr] Recht, … eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen, unterrichtet [wird]“, wobei Letzterer gemäß Art. 9 dieser Richtlinie „eine neue Prüfung des Sachverhalts … ermöglicht und zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung führen kann“.
107. Wie aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 und insbesondere aus der Verwendung der nebenordnenden Konjunktion „oder“ hervorgeht, müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass eine Person, gegen die in Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, ohne dass die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie erfüllt wären, die Möglichkeit hat, diese Entscheidung anzugreifen, indem sie entweder eine neue Verhandlung verlangt oder einen Rechtsbehelf einlegt.
108. Wie der Gerichtshof im Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten)(61), entschieden hat, muss diese Möglichkeit den Betroffenen in die Lage versetzen, eine neue Verhandlung oder den Zugang zu einem gleichwertigen Rechtsbehelf zu erwirken, die bzw. der zu einer neuen Prüfung des Sachverhalts in seiner Anwesenheit führt. Der Geltungsbereich dieses neuen Gerichtsverfahrens ist in Art. 9 der Richtlinie 2016/343 ausdrücklich geregelt. Der Unionsgesetzgeber erlegt den Mitgliedstaaten präzise und eindeutige Verpflichtungen auf. Er verlangt von ihnen, entweder eine neue Verhandlung vorzusehen oder ein Verfahren einzuführen, die bzw. das eine neue Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht und zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung führen kann. Ferner gibt er den Mitgliedstaaten auf, sicherzustellen, dass die beschuldigte Person im Rahmen dieser neuen Verhandlung oder dieses neuen Rechtsbehelfs berechtigt sein wird, anwesend zu sein und im Einklang mit den Verfahren des innerstaatlichen Rechts effektiv an dem daraus folgenden Verfahren mitzuwirken, und dass sie ihre Verteidigungsrechte wird wahrnehmen können.
109. Wie ich bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, ausgeführt habe(62), berücksichtigt der Unionsgesetzgeber insoweit die vom EGMR entwickelten wesentlichen Anforderungen an ein neues Gerichtsverfahren(63). Der EGMR verlangt, dass der beschuldigten Person die Möglichkeit einer neuen tatsächlichen und rechtlichen Prüfung der Begründetheit der gegen sie vorgebrachten Anklagepunkte durch ein „in vollem Umfang entscheidungsbefugtes“ und in ihrer Anwesenheit verhandelndes Gericht eröffnet wird(64), und ihr damit alle ihr von Art. 6 EMRK zuerkannten Garantien zur Verfügung gestellt werden. Er lässt den Vertragsstaaten jedoch „bei der Wahl der Mittel, anhand deren ihre Justizsysteme mit den Anforderungen [dieses Artikels] in Einklang gebracht werden können“, einen weiten Spielraum, soweit „sich die vom innerstaatlichen Recht gebotenen Mittel als wirksam erweisen, wenn der Angeklagte weder auf sein Erscheinen noch auf seine Verteidigung verzichtet hat noch die Absicht hatte, sich der Justiz zu entziehen“(65).
110. Ich erinnere auch daran, dass die Richtlinie 2016/343 ebenfalls keine umfassende Harmonisierung des Strafverfahrens vornimmt. Nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie verfügen die Mitgliedstaaten somit über einen großen Spielraum bei der Festlegung des Systems der Rechtsbehelfe und Verfahren, mit denen die Verteidigungsrechte in Abwesenheit verurteilter Personen gewahrt werden können, sofern sie zum einen nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und zum anderen die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz).
111. Infolgedessen ist Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten vorsehen müssen, dass eine Person, gegen die in Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, obwohl sie nicht nachweislich darauf verzichtet hat, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen, über zwei verschiedene Rechtsbehelfe verfügt, mit denen sie diese Entscheidung anfechten kann, indem sie entweder eine neue Verhandlung oder den Zugang zu einem gleichwertigen Rechtsbehelf erwirkt, die bzw. der gemäß Art. 9 dieser Richtlinie zu einer neuen Prüfung des Sachverhalts in ihrer Anwesenheit führt.
V. Ergebnis
112. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) wie folgt zu beantworten:
1. Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren
sind dahin auszulegen, dass
sie auf eine Person Anwendung finden, in deren Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, mit der sie freigesprochen wurde.
2. Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343
ist wie folgt auszulegen:
– Was die Prüfung anbelangt, ob die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie vorliegen und ein Recht auf eine neue Verhandlung gemäß deren Art. 9 anzuerkennen ist,
a) kann die Gerichtsbehörde, die in der Sache über die Anklage gegen die beschuldigte Person entscheidet, nach Maßgabe des innerstaatlichen Verfahrensrechts prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, und verneinendenfalls diese Person in der Entscheidung, die in deren Abwesenheit ergeht, über die Möglichkeit einer Anfechtung dieser Entscheidung und über ihr Recht auf eine neue Verhandlung unterrichten;
b) hat die Gerichtsbehörde bei dieser Prüfung sowohl die Strafverfolgungsbehörde als auch die Verteidigung anzuhören;
c) kann der Mitgliedstaat ein Verfahren einführen, nach dem die Person, gegen die in Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, obwohl sie nicht nachweislich darauf verzichtet hat, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen, bei der zuständigen Justizbehörde einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens stellen muss, vorausgesetzt, die Merkmale dieses Verfahrens sind geeignet, dieser Person das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung und auf wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte zu gewährleisten.
Eine Vorschrift, wonach ein solches Verfahren keine aufschiebende Wirkung hätte und zudem das persönliche Erscheinen der in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Person verlangen würde, ist mit diesen Grundsätzen unvereinbar.
– Was die Modalitäten für die Unterrichtung der Person anbelangt, in deren Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, durch die sie verurteilt wurde, obwohl sie nicht nachweislich gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 darauf verzichtet hatte, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen,
a) verbietet er es, dass diese Person bei ihrer Festnahme weder über diese Entscheidung noch über die Möglichkeit, sie anzufechten, noch über ihr Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs unterrichtet wird;
b) gebietet er es, dass der Mitgliedstaat diese Person entsprechend dem Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren über die Gründe für ihre Festnahme informiert. Um dieser Anforderung zu genügen, braucht der Mitgliedstaat ihr bei ihrer Festnahme keine Kopie der vollständigen Entscheidung auszuhändigen;
c) gebietet er es, dass der Mitgliedstaat im Rahmen der Erklärung der Rechte gemäß Art. 4 der Richtlinie 2012/13 diese Person darüber informiert, dass sie berechtigt sein könnte, nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen;
d) gebietet er es, dass im Rahmen einer Verfahrensordnung, die ein Verfahren vorsieht, nach dem eine Person, gegen die in Abwesenheit eine Entscheidung ergangen ist, zwecks Anerkennung des Rechts auf eine neue Verhandlung gemäß Art. 9 der Richtlinie 2016/343 bei der zuständigen Justizbehörde zuvor einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens stellen muss, diese Erklärung der Rechte einen Hinweis auf dieses Verfahren enthält.
– Was die Form und die Reichweite der Rechtsbehelfe anbelangt, die nach einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung zur Verfügung stehen, muss eine Person, gegen die eine solche Entscheidung ergangen ist, obwohl sie nicht nachweislich gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 darauf verzichtet hatte, vor Gericht zu erscheinen oder sich zu verteidigen, über zwei verschiedene Rechtsbehelfe verfügen, mit denen sie diese Entscheidung anfechten kann, indem sie entweder eine neue Verhandlung oder den Zugang zu einem gleichwertigen Rechtsbehelf erwirkt, die bzw. der gemäß Art. 9 dieser Richtlinie zu einer neuen Prüfung des Sachverhalts in ihrer Anwesenheit führt.
1 Originalsprache: Französisch.
2 ABl. 2016, L 65, S. 1.
3 C‑430/22 und C‑468/22, im Folgenden: Urteil VB I, EU:C:2023:458.
4 Vgl. Urteil VB I (Rn. 30).
5 ABl. 2012, L 142, S. 1.
6 Der Sachverhalt ist derselbe wie der, den der Gerichtshof im Urteil VB I wiedergegeben hat.
7 Vgl. Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 25 und 36).
8 Vgl. Erwägungsgründe 2, 4 und 10 der Richtlinie 2016/343 sowie zur Illustration Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026), betreffend die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der gegen eine Person erlassen wurde, die nach einem in ihrer Abwesenheit durchgeführten Verfahren rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war.
9 Vgl. zur Illustration die derzeit anhängige Rechtssache Khuzdar (C‑95/24).
10 Im 35. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 heißt es nämlich, dass das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen auf Anwesenheit in der Verhandlung nicht absolut gilt und dass Verdächtige und beschuldigte Personen unter bestimmten Voraussetzungen ausdrücklich oder stillschweigend, aber unmissverständlich erklären können sollten, auf dieses Recht zu verzichten (vgl. Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 26, in dem es darum geht, inwieweit eine auf der Flucht befindliche Person Anspruch auf ein neues gerichtliches Verfahren hat).
11 Zur Auslegung der Art. 8 und 9 der Richtlinie 2016/343 vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:26).
12 Hervorhebung nur hier.
13 Hervorhebung nur hier.
14 Hervorhebung nur hier.
15 Vgl. Nr. 40 der Begründung des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (COM[2013] 821 final) sowie dessen 23. Erwägungsgrund, in dem es heißt: „Unter bestimmten, genau festgelegten Voraussetzungen, die die effektive Einhaltung des Rechts auf ein faires Verfahren gewährleisten, sollte es möglich sein, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über Schuld oder Unschuld führt, in Abwesenheit des Verdächtigen oder Beschuldigten stattfindet.“
16 Vgl. 33. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343.
17 In diesem Kontext stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) im Übrigen fest, dass die Anwesenheit des Beschuldigten in der Verhandlung äußerst wichtig ist, und zwar sowohl wegen des Anspruchs auf rechtliches Gehör als auch wegen der Notwendigkeit, die Richtigkeit seiner Aussagen zu überprüfen und sie mit den Aussagen des Opfers, dessen Interessen ebenfalls zu wahren sind, sowie der Zeugen zu vergleichen (vgl. Urteil des EGMR vom 23. Mai 2000, Van Pelt/Frankreich, CE:ECHR:2000:0523JUD003107096, § 66).
18 Vgl. Urteile vom 13. Februar 2020, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung in Abwesenheit der beschuldigten Person) (C‑688/18, EU:C:2020:94, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 15. September 2022, HN (Verfahren eines aus dem Hoheitsgebiet abgeschobenen Angeklagten) (C‑420/20, EU:C:2022:679, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
19 Vgl. Urteil vom 30. März 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Aussetzung der Überstellungsfrist im Berufungsverfahren) (C‑556/21, EU:C:2023:272, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
20 Im Folgenden: Charta.
21 Unterzeichnet in Rom am 4. November 1950, im Folgenden: EMRK.
22 Auch der EGMR vertritt die Auffassung, dass die EMRK den Vertragsstaaten bei der Wahl der Mittel, die geeignet sind, ihre Justizsysteme mit den Anforderungen von Art. 6 EMRK in Einklang zu bringen, einen weiten Spielraum belässt, vorausgesetzt jedoch, dass sich die vom innerstaatlichen Recht gebotenen Mittel als wirksam erweisen, wenn der Angeklagte weder darauf verzichtet hat, vor Gericht zu erscheinen und sich zu verteidigen, noch die Absicht hatte, sich der Justiz zu entziehen (vgl. zur Illustration Urteil des EGMR vom 14. Juni 2001, Medenica/Schweiz, CE:ECHR:2001:0614JUD002049192, § 55).
23 Vgl. Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Vgl. Urteil vom 17. Juli 2014, Sánchez Morcillo und Abril García (C‑169/14, EU:C:2014:2099, Rn. 49).
25 Dem EGMR zufolge gehört das Recht jedes Angeklagten, sich von einem ihm erforderlichenfalls von Amts wegen beizuordnenden Rechtsanwalt wirksam verteidigen zu lassen, zu den grundlegenden Merkmalen eines fairen Verfahrens, wobei ein Angeklagter dieses Recht nicht allein deshalb verliert, weil er in der Hauptverhandlung nicht anwesend ist. Es ist laut EGMR für die Fairness des Strafrechtssystems entscheidend, dass der Angeklagte wegen seiner Abwesenheit bei der Verhandlung nicht durch die Verweigerung des Rechts auf Beistand durch einen Verteidiger bestraft wird und dass er sowohl im ersten Rechtszug als auch in der Berufungsinstanz eine angemessene Verteidigung erhält (Urteile des EGMR vom 21. Januar 1999, Van Geyseghem/Belgien, CE:ECHR:1999:0121JUD002610395, § 34, vom 13. Februar 2001, Krombach/Frankreich, CE:ECHR:2001:0213JUD002973196, § 89, und vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien, CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 91).
26 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist den Besonderheiten und der Natur des betreffenden Verfahrens, dessen Bedeutung im Gesamtzusammenhang der Verhandlung sowie der Art und Weise, wie die Interessen des Betroffenen geltend gemacht wurden und wie sie geschützt werden müssen, Rechnung zu tragen, wobei die zu entscheidende Frage und ihre Bedeutung für den Betroffenen zu berücksichtigen sind (vgl. Urteil des EGMR vom 25. März 1998, Belziuk/Polen, CE:ECHR:1998:0325JUD002310393, § 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Frist für die Berufung gegen eine Verurteilung in Abwesenheit nach bulgarischem Recht nur 15 Tage beträgt und ab dem Tag der Verurteilung ohne Unterbrechung läuft, selbst wenn der Beschuldigte keine Kenntnis von dieser Verurteilung haben konnte.
28 Weder der Darstellung des nationalen Rechts noch dem Vorlagebeschluss ist zu entnehmen, ob sich die in Abwesenheit verurteilte Person anwaltlich vertreten lassen könnte.
29 Vgl. Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 37).
30 Vgl. Urteil des EGMR vom 19. Dezember 1989, Kamasinski/Österreich (CE:ECHR:1989:1219JUD000978382, § 74).
31 Vgl. Urteil des EGMR vom 23. November 1993, Poitrimol/Frankreich (CE:ECHR:1993:1123JUD001403288, § 35).
32 Der Unionsgesetzgeber hat nämlich in den Erwägungsgründen 11, 13, 27, 45, 47 und 48 der Richtlinie 2016/343 deutlich seinen Willen bekundet, die effektive Anwendung des Rechts auf ein faires Verfahren in Strafverfahren zu stärken und zu gewährleisten, indem die vom EGMR entwickelte Rechtsprechung zur Achtung von Art. 6 Abs. 1 EMRK in das Unionsrecht integriert wird (vgl. dazu Urteil vom 13. Februar 2020, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung in Abwesenheit der beschuldigten Person], C‑688/18, EU:C:2020:94, Rn. 34 und 35).
33 Vgl. Urteil des EGMR vom 13. Februar 2001, Krombach/Frankreich (CE:ECHR:2001:0213JUD002973196, §§ 84 und 90), zu Art. 630 der französischen Strafprozessordnung, wonach für den abwesenden Angeklagten das strikte Verbot, sich durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen, galt, von dem das in Abwesenheit entscheidende Schwurgericht nicht abweichen konnte.
34 Vgl. Urteil des EGMR vom 12. Februar 2015, Sanader/Kroatien (CE:ECHR:2015:0212JUD006640812, §§ 80 ff.).
35 Vgl. Urteil des EGMR vom 13. Februar 2001, Krombach/Frankreich (CE:ECHR:2001:0213JUD002973196, § 87).
36 Vgl. Urteil des EGMR vom 14. Dezember 1999, Khalfaoui/Frankreich (CE:ECHR:1999:1214JUD003479197, § 44), im Folgenden: Urteil Khalfaoui/Frankreich.
37 Vgl. Urteil Khalfaoui/Frankreich (§ 49).
38 Urteil Khalfaoui/Frankreich (§ 47).
39 Urteil Khalfaoui/Frankreich (§ 40).
40 Urteil Khalfaoui/Frankreich (§ 40).
41 Zum Gesamtverständnis des zwischen den Richtlinien 2016/343, 2012/13 und 2010/64 bestehenden Zusammenhangs vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Pikamäe in der Rechtssache IS (Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses) (C‑564/19, EU:C:2021:292, Nr. 60).
42 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. 2010, L 280, S. 1).
43 Vgl. hierzu Erwägungsgründe 10 und 14 der Richtlinie 2012/13 sowie Urteil vom 13. Juni 2019, Moro (C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 34).
44 Urteil vom 13. Juni 2019, Moro (C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 C‑216/14, EU:C:2015:686.
46 Vgl. Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci (C‑216/14, EU:C:2015:686, Rn. 61).
47 Vgl. Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci (C‑216/14, EU:C:2015:686, Rn. 20).
48 Diese Bestimmung lautet: „Diese Richtlinie gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“
49 Vgl. Urteil vom 13. Juni 2019, Moro (C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Urteil vom 13. Juni 2019, Moro (C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Vgl. die Rechtssache, die der Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 30. Januar 2007, Pala/Frankreich (CE:ECHR:2007:0130DEC003338704), zugrunde lag, in der die in Abwesenheit verurteilte Person per Einschreiben darüber informiert wurde, dass das Urteil, mit dem sie in Abwesenheit verurteilt worden war, im Rathaus hinterlegt war.
52 ABl. 2002, L 190, S. 1.
53 ABl. 2009, L 81, S. 24.
54 Wie es im 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 ausdrücklich heißt, müssen den Verdächtigen oder Beschuldigten, wenn sie Informationen nach dieser Richtlinie erhalten, erforderlichenfalls Übersetzungen und Dolmetschleistungen in einer Sprache, die sie verstehen, gemäß den Standards der Richtlinie 2010/64 bereitgestellt werden. Nach Art. 3 dieser Richtlinie verlangt der Unionsgesetzgeber, falls diese Personen die Sprache des jeweiligen Strafverfahrens nicht verstehen, dass der Mitgliedstaat innerhalb einer angemessenen Frist für diese Entscheidung eine schriftliche Übersetzung von guter Qualität bereitstellt. Nur ausnahmsweise kann er eine mündliche Übersetzung oder eine mündliche Zusammenfassung dieses Dokuments zur Verfügung stellen, vorausgesetzt allerdings, dass diese Formen der Übersetzung einem fairen Verfahren nicht entgegenstehen.
55 Urteil VB I (Rn. 30).
56 Vgl. Urteil VB I (Rn. 27).
57 Vgl. Urteil VB I (Rn. 28).
58 Hervorhebung nur hier.
59 Zur praktischen und wirksamen Umsetzung dieser Verpflichtung heißt es im 38. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, dass sie „auf mehrerlei Weise … erreicht werden [könnte], wie beispielsweise durch geeignete Schulungen für die zuständigen Behörden oder durch eine in einfacher und nicht-fachlicher Sprache abgefasste Erklärung der Rechte, die ein Laie ohne Kenntnisse des Strafprozessrechts leicht versteht“.
60 Laut dem 2016 von der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) erstellten Bericht „Rights of suspected and accused persons across the EU: translation, interpretation and information“ haben 26 Mitgliedstaaten eine Erklärung der Rechte abgefasst, wovon 23 eine einheitliche Erklärung der Rechte verwenden, die von den Polizeibehörden bei der Festnahme der beschuldigten Person ausgehändigt wird (Abschnitt 3.3, „Letter of Rights“, S. 69 ff.).
61 C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 59.
62 Schlussanträge in der Rechtssache Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:26).
63 Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:26, Nr. 43). So muss eine in Abwesenheit verurteilte Person nach ständiger Rechtsprechung des EGMR später erreichen können, dass ein angerufenes Gericht nach ihrer Anhörung erneut über die Begründetheit der Anklage in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht entscheidet, wenn sie nicht nachweislich auf ihr Recht, vor Gericht zu erscheinen und sich zu verteidigen, verzichtet hatte oder sich der Justiz entziehen wollte (vgl. Urteil des EGMR vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien, CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 82). Vgl. zur Illustration Urteil des EGMR vom 14. Juni 2001, Medenica/Schweiz (CE:ECHR:2001:0614JUD002049192, § 55).
64 Vgl. Urteil des EGMR vom 12. Februar 1985, Colozza/Italien (CE:ECHR:1985:0212JUD000902480, §§ 31 und 32).
65 Vgl. Urteil des EGMR vom 14. Juni 2001, Medenica/Schweiz (CE:ECHR:2001:0614JUD002049192, § 55). Vgl. auch Urteil des EGMR vom 12. Februar 1985, Colozza/Italien (CE:ECHR:1985:0212JUD000902480, § 30).