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Document 62023CC0080

Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 13. Juni 2024.


ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:513

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 13. Juni 2024(1)

Rechtssache C80/23

Strafverfahren

gegen

V. S.,

Beteiligter:

Ministerstvo na vatreshnite raboti, Glavna direktsia za borba s organiziranata prestapnost

(Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski gradski sad [Stadtgericht Sofia, Bulgarien])

„ Vorabentscheidungsersuchen – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie (EU) 2016/680 – Beschuldigte Person – Polizeiliche Registrierung personenbezogener Daten – Sensible Daten – Biometrische und genetische Daten – Zwangsweise Durchführung – Ziele der Verhütung und Aufdeckung von Straftaten – Abschluss der laufenden Ermittlungen – Abgleich mit personenbezogenen Daten, die im Rahmen anderer Ermittlungen erhoben wurden – Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti (Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei) (C‑205/21, EU:C:2023:49) – Auslegung des Urteils des Gerichtshofs – Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung – Art. 10 – Art. 6 Buchst. a – Beurteilung der ‚unbedingten Erforderlichkeit‘ der Verarbeitung sensibler Daten durch die zuständigen Behörden – Voraussetzungen – Prüfung “





I.      Einleitung

1.        Der Dialog zwischen Gerichten endet nicht immer nach dem ersten Austausch zwischen den beteiligten Gesprächspartnern. Es ist möglich, dass ein längeres Gespräch zwischen dem Gerichtshof und dem nationalen Gericht, das ihn bereits angerufen hat, beginnt, wenn Letzteres, nachdem es das Vorabentscheidungsurteil des Gerichtshofs zur Kenntnis genommen hat, der Ansicht ist, dass ihm noch Informationen fehlen, die ihm unerlässlich erscheinen, um den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden zu können. Dies ist in der vorliegenden Rechtssache der Fall.

2.        Das Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) betrifft Art. 6 Buchst. a und Art. 10 der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates(2), wie sie vom Gerichtshof im Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti (Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei)(3), ausgelegt wurden.

3.        Dies ist das zweite Ersuchen, das das Gericht im Zusammenhang mit demselben Ausgangsverfahren an den Gerichtshof richtet(4). Das Ausgangsverfahren betrifft einen Antrag der bulgarischen Polizeibehörden auf zwangsweise Durchführung der Erhebung fotografischer, daktyloskopischer und genetischer Daten(5) von V. S. zum Zweck der Registrierung. Nach ihrer Beschuldigung wegen einer Straftat, die als vorsätzlich eingestuft und als solche von Amts wegen verfolgt wurde, war V. S. aufgefordert worden, sich dieser Registrierung ihrer Daten zu unterziehen, was sie jedoch verweigerte. Die Polizeibehörden hatten daher beim vorlegenden Gericht beantragt, die zwangsweise Durchführung der polizeilichen Registrierung anzuordnen.

4.        In dem Antrag der Polizeibehörden an das Gericht hieß es, dass ausreichende Beweise für die Schuld von V. S. gesammelt worden seien. Weiter hieß es darin, dass sie amtlich wegen der Begehung einer vorsätzlichen Offizialstraftat verfolgt werde und dass sie sich geweigert habe, sich der Erhebung ihrer Daten zu unterziehen. Dem Antrag waren lediglich Kopien des Beschlusses, mit dem V. S. zur Beschuldigten erklärt wurde, und der Erklärung, in der sie ihre Zustimmung zur polizeilichen Registrierung verweigert hatte, beigefügt. Allein aufgrund dieser Umstände hätte das Gericht nach nationalem Recht die zwangsweise Durchführung der polizeilichen Registrierung der Daten von V. S. anordnen müssen.

5.        Zum Zeitpunkt der Prüfung des Antrags hatte das vorlegende Gericht jedoch Zweifel daran, ob eine solche Situation mit den Anforderungen vereinbar ist, die sich aus der Richtlinie 2016/680 insbesondere in Bezug auf die Erhebung und Verarbeitung sensibler Daten ergeben. Der Gerichtshof hat die Fragen des Gerichts im Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I beantwortet.

6.        Mittels zweier neuer Vorlagefragen an den Gerichtshof hat das vorlegende Gericht erklärt, dass es ihm immer noch nicht gelungen sei, festzustellen, ob es die zwangsweise Durchführung anordnen könne, ohne gegen das Unionsrecht zu verstoßen.

7.        Mit den Fragen wird der Gerichtshof gebeten, zum einen den Wortlaut seines Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I in Bezug auf das Erfordernis der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten, die als sensible Daten gelten, in Art. 10 der Richtlinie 2016/680(6) zu erläutern, und zum anderen zu präzisieren, was vom vorlegenden Gericht erwartet wird, um die Unvereinbarkeit der bulgarischen Rechtsvorschriften über die polizeiliche Registrierung mit dieser Richtlinie zu beheben.

II.    Rechtlicher Rahmen

8.        Bezüglich des rechtlichen Rahmens verweise ich auf die Rn. 3 bis 34 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I.

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

9.        Das vorlegende Gericht gibt an, dass es das Urteil am 26. Januar 2023 zur Kenntnis genommen habe. Es ist jedoch der Ansicht, dass bestimmte Umstände nicht geklärt seien und dass es immer noch nicht in der Lage sei, zu entscheiden, ob es die Bewilligung zur Erhebung der biometrischen und genetischen Daten von V. S. erteilen müsse.

10.      Erstens ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass es bei der Entscheidung über den Antrag der Polizeibehörden auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung nicht die in Rn. 133 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I angegebenen Prüfungen vornehmen könne, da es nicht über die hierfür erforderliche Dokumentationsgrundlage verfüge. Nach bulgarischem Recht entscheide es nämlich allein auf Grundlage des Antrags(7) – in dem das gegen V. S. laufende Strafverfahren erwähnt werde, behauptet werde, dass ausreichende Beweise für ihre Schuld vorlägen, und ihre Beschuldigung bestätigt werde –, dem der Beschluss, mit dem V. S. zur Beschuldigten erklärt worden sei, und die schriftliche Weigerung von V. S., sich der polizeilichen Registrierung zu unterziehen, beigefügt seien. Das nationale Recht sehe nicht vor, dass dem vorlegenden Gericht weiteres Aktenmaterial zu übermitteln sei.

11.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts möglich wäre, wenn es die allgemeinen Regeln des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK), insbesondere dessen Art. 158(8), anstelle der Sonderregel des Art. 68 ZMVR anwendete. Dann könnte es über die gesamte Akte verfügen. Denn Ermittlungsmaßnahmen, die während des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens ergriffen würden(9) und die einen Eingriff in die Privatsphäre von Personen bewirkten, wie die Erhebung von Verbindungsdaten oder die Untersuchung der Person, würden von den Ermittlungsbehörden nach vorheriger Bewilligung durch einen Richter durchgeführt. Die Verfahrensakte werde dann an diesen weitergeleitet, so dass er alle Unterlagen prüfen könne, um zu beurteilen, ob der Antrag auf vorherige Bewilligung(10) begründet sei. Das vorlegende Gericht nennt die Gründe für diese unterschiedliche rechtliche Regelung wie folgt: Zum einen werde die Erhebung biometrischer und genetischer Daten von der Polizei und nicht von der Staatsanwaltschaft beantragt, und zum anderen erfolge diese Erhebung nur zum Zweck einer eventuellen künftigen Verwendung der Daten, sollte sich die Notwendigkeit ergeben.

12.      Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass die Übermittlung der Akte zur Erteilung der vorherigen Bewilligung nach bulgarischem Recht nicht als geeignet angesehen werde, den Ablauf der strafrechtlichen Ermittlungen zu behindern. Die Rechtfertigung für die Nichtübermittlung der Verfahrensakte an den Richter, der mit einem Antrag auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung einer polizeilichen Registrierung befasst sei, könne daher nicht aus dem in Rn. 100 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I genannten Grund, d. h. der Gefahr der Behinderung des ordnungsgemäßen Ablaufs der strafrechtlichen Ermittlungen, abgeleitet werden.

13.      Wenn sich aus diesem Urteil ergibt, dass es mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(11) vereinbar ist, dass die Akte dem Richter, der mit einem Antrag auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung der polizeilichen Registrierung befasst ist, nicht übermittelt wird, fragt sich das vorlegende Gericht, wie es die aus der Lektüre der Rn. 132 und 133 dieses Urteils folgenden Prüfungen vornehmen könnte, um die „unbedingte Erforderlichkeit“ der Verarbeitung der biometrischen und genetischen Daten von V. S. im Sinne von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 zu beurteilen und festzustellen, ob die Art und Schwere der Straftat, deren sie im Strafverfahren verdächtigt werde, oder andere relevante Faktoren, wie die besonderen Umstände der Straftat, der etwaige Zusammenhang dieser Tat mit anderen laufenden Verfahren, die Vorstrafen oder das individuelle Profil von V. S, sich als geeignet erweisen könnten, eine solche Erforderlichkeit zu begründen.

14.      Das vorlegende Gericht möchte daher wissen, ob Art. 10 der Richtlinie 2016/680 dahin auszulegen ist, dass die Prüfung der „unbedingten Erforderlichkeit“ durchgeführt werden kann, wenn der Richter keinen Zugang zur gesamten Akte hat, oder ob diese Prüfung im Gegenteil erfordert, dass der Richter Zugang zur gesamten Akte hat, obwohl der Gerichtshof es offenbar für rechtmäßig gehalten habe, dass der Richter nicht über die Akte verfüge(12).

15.      Zweitens ist das vorlegende Gericht für den Fall, dass die Richtlinie 2016/680 die Übermittlung der vollständigen Akte vorschreibt, der Ansicht, dass es die Begründetheit der Beschuldigung beurteilen müsste. Eine solche Beurteilung wäre erforderlich, da sich aus den Rn. 130 und 131 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I ergebe, dass der bloße Umstand, dass eine Person einer Straftat beschuldigt werde, nicht ausreiche, um die „unbedingte Erforderlichkeit“ der Erhebung festzustellen, und dass es erforderlich sei, dass ein begründeter Verdacht bestehe, dass die betreffende Person die strafbare Handlung begangen habe.

16.      Das vorlegende Gericht leitet die Notwendigkeit, beurteilen zu können, ob die Beschuldigung in hinreichendem Maß durch Beweise gestützt wird, auch daraus ab, dass es sich erstens um eine Anforderung nach Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 handele; zweitens müsse diese Beurteilung jedenfalls im Rahmen des Verfahrens nach Art. 158 NPK erfolgen, das dem Verfahren nach Art. 68 Abs. 5 ZMVR am nächsten komme; drittens schließe die Möglichkeit, dass eine solche Beurteilung zu einem späteren Zeitpunkt erfolge, es nicht aus, dass zum Zeitpunkt der gerichtlichen Bewilligung der zwangsweisen Erhebung der biometrischen und genetischen Daten die Beschuldigung in tatsächlicher Hinsicht noch nicht untermauert sei; viertens sei das Ziel der Richtlinie 2016/680 gerade die Schaffung eines Mechanismus, der verhindere, dass personenbezogene Daten, insbesondere biometrische und genetische Daten, ohne eine Rechtsgrundlage dafür erhoben würden, was sofort zu überprüfen sei; und fünftens beinhalte zumindest ein Teil der erforderlichen Prüfungen im Sinne der Rn. 132 und 133 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I gerade die Würdigung der erhobenen Beweise, da sich aus diesen Randnummern ergebe, dass die Art und Schwere der Straftat sowie die Umstände ihrer Begehung beurteilt werden müssten. Um diese Umstände beurteilen zu können, müsse zuvor festgestellt werden, dass der begründete Verdacht bestehe, dass die betreffende Person eine Straftat begangen habe, wobei diese Beurteilung voraussetze, dass bereits genügend Beweise gesammelt worden seien.

17.      Die Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Erhebung setze somit auch eine Würdigung der Beweise, auf die sich die Beschuldigung stütze, und eine Prüfung der Frage voraus, ob der begründete Verdacht bestehe, dass die Person eine Straftat begangen habe.

18.      Das vorlegende Gericht fragt sich, ob es, sobald es über die Verfahrensakte verfüge, verpflichtet sei, eine uneingeschränkte Prüfung der Rechtmäßigkeit der zwangsweisen Erhebung, einschließlich der Begründetheit der Beschuldigung, vorzunehmen, oder ob es sich auf die Prüfung der anderen, in den Rn. 132 und 133 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I genannten Umstände beschränken müsse, die nichts mit diesem Problempunkt zu tun hätten (wie das Vorstrafenregister oder die Persönlichkeit der beschuldigten Person), ohne sich mit der Prüfung der Beschuldigung zu befassen.

19.      Unter diesen Umständen hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Wird das Erfordernis der Prüfung der „unbedingten Erforderlichkeit“ nach Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in der Auslegung durch den Gerichtshof in Rn. 133 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I erfüllt, wenn sie allein auf der Grundlage des Beschlusses über die förmliche Beschuldigung der Person und auf der Grundlage ihrer schriftlichen Weigerung, ihre biometrischen und genetischen Daten erheben zu lassen, durchgeführt wird, oder ist es erforderlich, dass dem Gericht das gesamte Aktenmaterial vorliegt, das ihm nach dem nationalen Recht bei einem Antrag auf Bewilligung der Durchführung von Ermittlungshandlungen, die die Rechtssphäre natürlicher Personen verletzen, zur Verfügung gestellt wird, wenn dieser Antrag in einer Strafsache gestellt wird?

2.      Falls die erste Frage bejaht wird: Kann das Gericht, nachdem ihm die Verfahrensakte zur Verfügung gestellt wurde, im Rahmen der Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ gemäß Art. 10 in Verbindung mit Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 auch prüfen, ob der begründete Verdacht besteht, dass die beschuldigte Person die in der Beschuldigung bezeichnete Straftat begangen hat?

20.      Die ungarische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die bulgarische und die ungarische Regierung sowie die Kommission haben an der mündlichen Verhandlung am 20. März 2024 teilgenommen, in der diese Verfahrensbeteiligten auch auf die vom Gerichtshof gestellten Fragen geantwortet haben.

IV.    Würdigung

21.      Damit der Dialog, von dem ich oben gesprochen habe(13), erfolgreich ist und beiden beteiligten Seiten ermöglicht, einander zu hören und zu verstehen, müssen die beteiligten Seiten sicherstellen, dass sie sich in einer Sprache ausdrücken, die für beide verständlich ist.

22.      Die Kommission hat vorgeschlagen, den Dialog auf etwas abrupte Weise zu beenden, da sie den Gerichtshof auffordert, die Vorlagefragen für unzulässig zu erklären, weil sie auf einer falschen Lesart des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I beruhten. Jedoch bin ich der Meinung, dass ein didaktischerer Ansatz vorherrschen sollte und dass diese Fragen auf jeden Fall zulässig sind(14).

23.      Da sich für das vorlegende Gericht neue Fragen aus der Lektüre des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I ergeben, muss sicher sein, dass das Urteil richtig verstanden wurde. Dies scheint jedoch nicht der Fall zu sein.

24.      Das vorlegende Gericht geht von der meiner Meinung nach falschen Annahme aus, dass der Gerichtshof ihm den Auftrag erteilt habe, die Mängel seines nationalen Rechts durch eine behelfsmäßige Ad-hoc-Prüfung selbst zu beheben. Darüber hinaus scheint die Rolle, die den zuständigen Behörden durch die Richtlinie 2016/680 hinsichtlich der Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ als unabdingbare Voraussetzung für die Verarbeitung sensibler Daten zugewiesen wurde, nicht richtig verstanden worden zu sein. Und schließlich hat die Lektüre des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I durch das vorlegende Gericht keine Klarheit hinsichtlich der richtigen Verknüpfung zwischen der Prüfung der „unbedingten Erforderlichkeit“ und der Prüfung der Begründetheit der Beschuldigung gebracht.

25.      Es ist daher Aufgabe des Gerichtshofs dem vorlegenden Gericht im Rahmen dieses neuen Verfahrens der Zusammenarbeit, das zwischen den beiden eingeleitet wurde, eine zweckdienliche Antwort zu geben, die es ihm ermöglicht, den bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden. Dazu muss der Gerichtshof eine Frage beantworten, die ihm nicht wirklich gestellt wurde und deren Beantwortung zum Teil auf der Auslegung des nationalen Rechts beruht. Es ist also ein ungewöhnliches Unterfangen, das dem Gerichtshof bevorsteht.

26.      Für die weitere Prüfung ist es deshalb von größter Bedeutung, hervorzuheben, dass das vorlegende Gericht nicht mit der Prüfung der Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Erhebung und Verarbeitung der sensiblen Daten von V. S. durch die zuständigen Behörden im Sinne von Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie 2016/680 (im vorliegenden Fall die Polizeibehörden) befasst ist. Und das aus gutem Grund: Das bulgarische Recht sieht nicht vor, dass eine solche Beurteilung durch diese Behörden vorgenommen wird.

27.      Unter diesen Umständen werfen die Vorlagefragen folgende grundlegende Vorfrage auf: Kann das vorlegende Gericht allein durch seine Prüfung, die nunmehr auf Art. 158 NPK(15) gestützt wird – der Ermittlungsmaßnahmen in ordentlichen Strafverfahren und insbesondere eine Probenahme zur Erstellung eines DNA-Profils vorsieht –, die volle und uneingeschränkte Wirksamkeit von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 sicherstellen?

28.      Ich werde vorschlagen, zu dem Ergebnis zu kommen, dass die vorgeschlagene unionsrechtskonforme Auslegung nicht geeignet ist, die Situation im Ausgangsverfahren mit den Anforderungen des Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in Einklang zu bringen (A). Eine Antwort auf die beiden gestellten Fragen dürfte ihren Nutzen für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nur dann behalten, wenn der Gerichtshof einen anderen Ansatz wählt. Ich werde daher nur hilfsweise und mittels einer schnelleren Prüfung Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen geben (B).

A.      Das Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I, die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung und die Definition der Rolle des vorlegenden Gerichts

29.      Zunächst muss auf die Lehren eingegangen werden, die aus dem Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I zu ziehen sind, bevor sodann die Ergebnisse untersucht werden, zu denen die vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene Auslegung führen sollte, um schließlich beurteilen zu können, ob diese Auslegung tatsächlich geeignet ist, das bulgarische Recht mit den Anforderungen von Art. 10 der Richtlinie 2016/680, wie sie sich aus diesem Urteil ergeben, in Einklang zu bringen.

1.      Die Lehren aus dem Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I

30.      In diesem Urteil wurde der Gerichtshof insbesondere gefragt, ob Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c sowie Art. 8 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, ohne die Verpflichtung der zuständigen Behörde vorzusehen, zum einen zu bestimmen und nachzuweisen, ob bzw. dass diese Erhebung für die Erreichung der konkret verfolgten Ziele erforderlich ist, und zum anderen, dass diese Ziele nicht durch die Erhebung nur eines Teils der betreffenden Daten erreicht werden können(16).

31.      Da die Verarbeitung der besonderen Datenkategorien biometrische und genetische Daten „nur dann …, wenn sie unbedingt erforderlich ist“, erlaubt sein soll(17), hat der Gerichtshof entschieden, dass eine solche Verarbeitung nur in einer begrenzten Zahl von Fällen als erforderlich angesehen werden kann und dass diese Erforderlichkeit besonders streng zu beurteilen ist(18), weil das Ziel von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 darin besteht, Personen verstärkt gegenüber der Verarbeitung sensibler Daten zu schützen(19).

32.      In Bezug auf die polizeiliche Registrierung hat der Gerichtshof daher festgestellt, dass die „unbedingte Erforderlichkeit“ der Erhebung biometrischer und genetischer Daten von beschuldigten Personen für die Zwecke ihrer Registrierung in Anbetracht der Zwecke dieser Erhebung bestimmt werden muss, wobei diese Zwecke festgelegt, eindeutig und rechtmäßig sein müssen. Darüber hinaus müssen die erhobenen Daten dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein(20). Die Bestimmungen des nationalen Rechts müssen vorsehen, dass die Verarbeitung nur dann rechtmäßig ist, wenn und soweit sie für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von der zuständigen Behörde zu den in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 genannten Zwecken wahrgenommen wird, und müssen zumindest die Ziele der Verarbeitung, die personenbezogenen Daten, die verarbeitet werden sollen, und die Zwecke der Verarbeitung angeben(21). Letztere müssen hinreichend genau und konkret definiert werden, um die Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ dieser Verarbeitung zu ermöglichen(22).

33.      Hinzu kommt eine besonders strenge Kontrolle der Einhaltung des Grundsatzes der Datenminimierung. Zum einen darf das verfolgte Ziel nicht in zumutbarer Weise ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden können, die weniger stark in die Grundrechte der betroffenen Personen eingreifen. Der für die Verarbeitung Verantwortliche muss sich vergewissern, dass dieses Ziel nicht durch die Heranziehung anderer als der in Art. 10 der Richtlinie 2016/680 aufgeführten Datenkategorien erreicht werden kann(23). Zum anderen bedeutet die Anforderung der „unbedingten Erforderlichkeit“, dass der besonderen Bedeutung des Zwecks, der mit einer solchen Verarbeitung erreicht werden soll, Rechnung getragen wird(24).

34.      Auf der Grundlage dieser Erwägungen hat der Gerichtshof ausdrücklich festgestellt, dass „nationale Rechtsvorschriften, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen vorsehen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, grundsätzlich gegen die Anforderung in Art. 10 der Richtlinie 2016/680 [verstoßen]“(25). Solche Rechtsvorschriften „können … unterschiedslos und allgemein zur Erhebung biometrischer und genetischer Daten der meisten beschuldigten Personen führen, da der Begriff ‚vorsätzliche Offizialstraftat‘ besonders allgemein gehalten ist und auf eine große Zahl von Straftaten unabhängig von ihrer Art und Schwere angewendet werden kann“(26). Insbesondere „kann der bloße Umstand, dass eine Person einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt wird, nicht als ein Faktor angesehen werden, der für sich genommen die Annahme zuließe, dass die Erhebung ihrer biometrischen und genetischen Daten im Hinblick auf die damit verfolgten Zwecke und unter Berücksichtigung der sich daraus ergebenden Verletzungen von Grundrechten, insbesondere des Rechts auf Achtung des Privatlebens und des Rechts auf Schutz personenbezogener Daten, die durch die Art. 7 und 8 der Charta garantiert werden, unbedingt erforderlich ist“(27).

35.      Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt, dass es, wenn der begründete Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, die ihre Beschuldigung rechtfertigt – was voraussetzt, dass bereits genügend Beweise gesammelt wurden –, Fälle geben kann, in denen die Erhebung biometrischer und genetischer Daten für die Zwecke des laufenden Strafverfahrens nicht konkret erforderlich ist(28). Die Wahrscheinlichkeit, dass die Erhebung dieser Daten im Rahmen anderer Verfahren unbedingt erforderlich ist, kann nicht vorausgesetzt werden, sondern muss unter Berücksichtigung anderer relevanter Faktoren beurteilt werden, wie etwa der Art und Schwere der mutmaßlichen Straftat, der die betroffene Person beschuldigt wird, der besonderen Umstände dieser Straftat, des etwaigen Zusammenhangs der Straftat mit anderen laufenden Verfahren, der Vorstrafen oder des individuellen Profils der Person(29).

36.      Nach all diesen Hinweisen hat der Gerichtshof daher entschieden, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, „zu prüfen, ob es, um die Wirksamkeit von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 zu gewährleisten, möglich ist, die nationalen Rechtsvorschriften, die [die zwangsweise Durchführung der polizeilichen Registrierung] vorsehen, unionsrechtskonform auszulegen. Das vorlegende Gericht wird insbesondere zu prüfen haben, ob das nationale Recht die Beurteilung der ‚unbedingten Erforderlichkeit‘ der Erhebung sowohl biometrischer als auch genetischer Daten der betreffenden Person für die Zwecke ihrer Registrierung erlaubt. Dazu müsste es u. a. möglich sein, zu prüfen, ob die Art und die Schwere der Straftat, deren die betroffene Person im Ausgangsverfahren verdächtigt wird, oder andere relevante Faktoren, wie [die besonderen Umstände dieser Straftat, der mögliche Zusammenhang der Straftat mit anderen laufenden Verfahren, die Vorstrafen oder das individuelle Profil der Person], Umstände darstellen können, die eine solche ‚unbedingte Erforderlichkeit‘ belegen können. Außerdem müsste bereits gewiss sein, dass nicht bereits die Erhebung von Personenstandsdaten … die Erreichung der verfolgten Ziele ermöglicht“(30).

37.      Schließlich hat der Gerichtshof sehr deutlich gemacht, dass, „[s]ollte das nationale Recht eine solche Kontrolle der Maßnahme der Erhebung biometrischer und genetischer Daten nicht gewährleisten, … das vorlegende Gericht die volle Wirksamkeit des genannten Art. 10 sicherzustellen haben [wird], indem es den Antrag der Polizeibehörden auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung dieser Erhebung ablehnt“(31).

2.      Die Gründe für die Unvereinbarkeit der bulgarischen Rechtsvorschriften mit Art. 10 der Richtlinie 2016/680 und die Unzulänglichkeiten der vorgeschlagenen unionsrechtskonformen Auslegung

38.      Die Schlussfolgerung(32), zu der der Gerichtshof im Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I gelangt ist, ist, wenn auch mit den üblichen Vorkehrungen(33), eindeutig: Das System der polizeilichen Registrierung, zu dem die zwangsweise Durchführung gehört, ist nicht mit den Anforderungen von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c sowie Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie vereinbar.

39.      Der Bevollmächtigte der bulgarischen Regierung hat in seinen mündlichen Ausführungen im vorliegenden Fall nichts anderes behauptet, als er eingeräumt hat, dass es den zuständigen Behörden nicht möglich sei, die „unbedingte Erforderlichkeit“ der polizeilichen Registrierung zu beurteilen, und dem Gericht mitgeteilt hat, dass er vom Innenministerium darüber informiert worden sei, dass eine Änderung von Art. 68 ZMVR, mit der die zuständigen Behörden verpflichtet werden sollten, im jeweiligen Einzelfall zu prüfen, ob die Erhebung biometrischer und genetischer Daten von Beschuldigten „unbedingt erforderlich“ sei, derzeit verabschiedet werde.

40.      Zwar hat sich der Gerichtshof nicht auf diese Feststellung der Unvereinbarkeit beschränkt, sondern das vorlegende Gericht mit der Prüfung beauftragt, ob die nationalen Rechtsvorschriften, die diese zwangsweise Durchführung der polizeilichen Registrierung vorsehen, unionsrechtskonform ausgelegt werden können, und insbesondere, ob das nationale Recht die Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Erhebung von Daten für die Zwecke ihrer Registrierung erlaubt(34).

41.      Um Art. 68 ZMVR im Einklang mit Art. 10 der Richtlinie 2016/680 auszulegen, erwägt das vorlegende Gericht, bei der Entscheidung über den Antrag auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung der polizeilichen Registrierung die Garantien des Art. 158 NPK anzuwenden, aus dem hervorzugehen scheint, dass die Erhebung von Beweisen in Form von biometrischen und genetischen Daten im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen grundsätzlich einer vorherigen Bewilligung durch den Richter bedarf, der die Erforderlichkeit für die Zwecke der strafrechtlichen Ermittlungen auf der  Grundlage des gesamten Aktenmaterials – das ihm zur Verfügung stehen muss – überprüfen kann.

42.      Zum einen kann jedoch, wie die Kommission zu Recht festgestellt hat, Rn. 133 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I nicht dahin ausgelegt werden, dass der Gerichtshof dort entschieden hätte, dass eine vom vorlegenden Gericht selbst vorgenommene Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Datenerhebung den Anforderungen des Art. 10 der Richtlinie 2016/680 genügen könnte. Zum anderen bin ich der Ansicht, dass das Fehlen der von Art. 10 verlangten Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Erhebung der biometrischen und genetischen Daten von V. S. durch die zuständigen Behörden selbst nicht vom vorlegenden Gericht ausgeglichen werden kann, wenn man die zentrale Rolle dieser Behörden in dem durch diese Richtlinie geschaffenen System berücksichtigt(35). Somit ist die Frage der gerichtlichen Prüfung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Erhebung sensibler Daten im Rahmen eines Strafverfahrens eine andere, möglicherweise spätere Frage als die der Beurteilung dieser Erforderlichkeit durch die zuständigen Behörden.

43.      Die vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene unionsrechtskonforme Auslegung wird daher meines Erachtens nicht dazu führen, dass alle in der bulgarischen Rechtsordnung enthaltenen Elemente der Unvereinbarkeit mit Art. 10 der Richtlinie 2016/680 daraus beseitigt werden.

44.      Um sich davon zu überzeugen, genügt es, die folgenden Umstände zu betrachten.

45.      Als Erstes: Wenn ich mich nicht täusche, wird im Rahmen der Regelung nach Art. 158 NPK(36) nur die Erforderlichkeit der Erhebung im Hinblick auf den mit dieser Bestimmung verfolgten Zweck vom Richter beurteilt. Die vorherige Bewilligung der Erhebung der von der Ermittlungsmaßnahme betroffenen Daten könnte unter Berücksichtigung der bereits gesammelten Elemente erteilt werden, die ernsthafte Zweifel an der Beteiligung der betroffenen Person an der Begehung der Straftat begründen und den Nutzen der Erhebung für den Abschluss der Ermittlungen untermauern könnten.

46.      Art. 10 der Richtlinie 2016/680 wiederum verlangt, dass eine unbedingte, also verstärkte Erforderlichkeit von den zuständigen Behörden festgestellt wird. Außerdem scheinen die Zwecke der polizeilichen Registrierung vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht weiter gefasst zu sein als der mit Art. 158 NPK verfolgte Zweck.

47.      Tatsächlich geht aus Rn. 99 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I hervor, dass die polizeiliche Registrierung zwei wesentliche Zwecke verfolgt, nämlich zum einen den Abgleich mit Daten, die bereits im Rahmen anderer strafrechtlicher Ermittlungen gesammelt wurden, zum Zweck des möglichen Abschlusses dieser Ermittlungen, und zum anderen die Verwendung dieser Daten im Rahmen der laufenden strafrechtlichen Ermittlungen(37). Im vorliegenden Fall hat die bulgarische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof angegeben, dass der Hauptzweck der polizeilichen Registrierung in der Verwendung der gesammelten Daten im Rahmen des laufenden Strafverfahrens bestehe. Die eventuelle künftige Verwendung dieser Daten sei ein sekundärer Zweck. Im Gegensatz dazu erklärt das vorlegende Gericht, im Fall der polizeilichen Registrierung erfolge die Erhebung der Daten nur zum Zweck einer eventuellen künftigen Verwendung, sollte sich die Notwendigkeit ergeben(38).

48.      Dieses Vorbringen wirft drei Fragenkomplexe auf(39). Erstens lässt sich, wenn Art. 68 ZMVR denselben Zweck wie Art. 158 NPK verfolgen sollte, die Frage stellen, in welchem Fall die Erhebung biometrischer und genetischer Daten eine vorherige richterliche Bewilligung erfordern würde und in welchem Fall nicht. Es schiene also, dass für denselben Zweck zwei parallele Verfahren nebeneinander existieren, die deutlich unterschiedliche Garantien bieten. Die polizeiliche Registrierung würde somit eine Methode zur Erlangung von Beweismitteln darstellen, die im Rahmen des laufenden Verfahrens verwendet werden. Das vorlegende Gericht hat jedoch immer wieder darauf hingewiesen, dass diese Registrierung „sich vom Strafverfahren [unterscheidet] und … nicht Teil desselben [ist]“(40).

49.      Zweitens: Wenn, wie von der bulgarischen Regierung vorgebracht, der Hauptzweck der polizeilichen Registrierung das Sammeln von Beweisen im Rahmen der laufenden strafrechtlichen Ermittlungen ist, dann lässt die Tatsache, dass die Regelung dazu führt, dass die Erhebung biometrischer und genetischer Daten einer Person, die „nur“ wegen Steuerhinterziehung verfolgt wird, grundsätzlich erlaubt ist, zumindest Verwunderung aufkommen(41).

50.      Darüber hinaus sieht Art. 158 NPK nicht vor, dass der Richter im Rahmen der Bewilligung, mit deren Erteilung er befasst ist, die „unbedingte Erforderlichkeit“ der polizeilichen Registrierung zum Zweck des Abgleichs mit Daten, die im Rahmen anderer Ermittlungen erhoben wurden, in Betracht ziehen kann, obwohl dies einer der Zwecke zu sein scheint, die mit der bulgarischen Regelung verfolgt werden, auf der die polizeiliche Registrierung beruht.

51.      Drittens ergibt sich offensichtlich aus den Ausführungen in Nr. 47 der vorliegenden Schlussanträge, dass die mit der polizeilichen Registrierung verfolgten Zwecke immer noch nicht eindeutig feststehen. Sie täten es dann nicht, wenn Art. 158 NPK angewandt würde.

52.      Als Zweites würde die Wirksamkeit von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 offensichtlich unterlaufen, wenn sich die Frage der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Verarbeitung sensibler Daten erstmals erst bei der Erteilung der vorherigen Bewilligung durch den für die Erhebungsmaßnahme zuständigen Richter gemäß Art. 158 NPK stellen müsste.

53.      Aus Art. 27 ZMVR in Verbindung mit Art. 68 ZMVR ergibt sich, dass die Personen, die aufgefordert werden, sich einer polizeilichen Registrierung zu unterziehen, eine große Kategorie von Personen bilden(42) und dass von diesen Personen immer die gleichen Daten erhoben werden, ohne dass eine Unterscheidung vorgenommen wird. Jeder Beschuldigte muss sich zum Zweck der polizeilichen Registrierung automatisch der Erhebung derselben Datenkategorien unterziehen, ohne dass die zuständigen Behörden im Sinne von Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie 2016/680 zu irgendeinem Zeitpunkt prüfen, ob die Erhebung der sensiblen Daten für den Abschluss der laufenden strafrechtlichen Ermittlungen oder für die Aufklärung im Rahmen anderer Ermittlungen unbedingt erforderlich ist. Aus den Rn. 113 und 114 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I geht zudem hervor, dass das nationale Recht nicht verlangt, dass die konkrete Erforderlichkeit der Erhebung aller von der polizeilichen Registrierung betroffenen Daten festgestellt wird, und dass eine Verpflichtung der zuständigen Behörde, festzustellen und nachzuweisen, ob bzw. dass diese Erhebung für die Erreichung der konkret verfolgten Ziele unbedingt notwendig ist, nicht vorgesehen ist.

54.      Daraus folgt, dass die Bedingungen, unter denen man zu dem Schluss kommen könnte, dass die polizeiliche Registrierung nach Art. 68 ZMVR unbedingt erforderlich ist, im nationalen Recht nicht vorgesehen sind und dass die Verarbeitung von biometrischen und genetischen Daten durch die zuständigen Behörden für Zwecke, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/680 fallen, nicht mit geeigneten Garantien einhergeht(43). Die Anwendung von Art. 158 NPK kann an dieser Feststellung nichts ändern.

55.      Wenn die „unbedingte Erforderlichkeit“ der Erhebung und Verarbeitung sensibler Daten weder gesetzlich definiert noch durch die Ausübung des Ermessens der zuständigen Behörden gewährleistet ist, kann es nicht Aufgabe des Richters allein sein, das Fehlen dieser beiden vorherigen Schritte in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung zu beheben. In diesem Punkt schließe ich mich dem von der Kommission in der mündlichen Verhandlung geäußerten Standpunkt an, dass die gerichtliche Kontrolle eine sekundäre Kontrolle in dem Sinne ist, dass sie eine richterliche Kontrolle der Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ ist, die von den zuständigen Behörden gemäß den gesetzlichen Bestimmungen vorgenommen wurde. Ich füge hinzu, dass man sich berechtigterweise fragen kann, welche Kriterien das vorlegende Gericht bei einer solchen Kontrolle anwenden könnte, da der Begriff der „unbedingten Erforderlichkeit“ nicht gesetzlich definiert ist.

56.      Als Drittes: Selbst wenn die von Art. 158 NPK gebotenen Garantien ausreichend wären – quod non –, könnten sie Personen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt sind und die sich der polizeilichen Registrierung nicht widersetzt haben, nicht zugutekommen. Die „unbedingte Erforderlichkeit“ der Verarbeitung würde von den zuständigen Behörden bei diesen Personen niemals beurteilt werden, wie die bulgarische Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat(44). Dies ist eine besonders bedenkliche Situation. Denn es gibt gute Gründe für die Annahme, dass die Widerstandskraft einer gerade beschuldigten Person gegenüber einer polizeilichen Aufforderung, sich der polizeilichen Registrierung zu unterziehen, in besonderem Maß geschwächt ist. Die Anpassung des nationalen Rechts an das Unionsrecht, die sich aus der Anwendung von Art. 158 NPK ergeben würde, wäre daher nur unvollständig, da die polizeiliche Registrierung ohne Prüfung ihrer „unbedingten Erforderlichkeit“ durch die zuständigen Behörden für alle Personen in ihrem – besonders breiten – Anwendungsbereich, die sich ihr nicht widersetzt haben(45), fortgesetzt werden könnte.

3.      Ergebnis

57.      Nach alledem ist Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c sowie Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie dahin auszulegen, dass die Beurteilung – gemäß den in Rn. 133 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I aufgeführten Bedingungen – der „unbedingten Erforderlichkeit“ der polizeilichen Registrierung im Hinblick auf alle mit dieser mutmaßlich verfolgten Zwecke wirksam von den für die Registrierung zuständigen Behörden durchgeführt werden muss, bevor sie gegebenenfalls die zwangsweise Durchführung der Registrierung beantragen können. Hierfür reicht es nicht aus, dass die Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der polizeilichen Registrierung erstmals von dem Richter, bei dem die Bewilligung der zwangsweisen Durchführung beantragt wird, im alleinigen Fall der Weigerung der beschuldigten Person, sich der Registrierung zu unterziehen, und nur im Hinblick auf einen der Zwecke durchgeführt wird, die angeblich mit den nationalen Rechtsvorschriften, die die Rechtsgrundlage für die Registrierung bilden, verfolgt werden.

58.      Die unionsrechtskonforme Auslegung, die das vorlegende Gericht vorschlägt, erscheint daher nicht ausreichend, um das bulgarische Recht in Einklang mit den Anforderungen zu bringen, auf die ich soeben hingewiesen habe. Daher sollte das Gericht, wie vom Gerichtshof bereits in Rn. 134 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I antizipiert, den Antrag der Polizeibehörden auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung der Datenerhebung bei V. S. ablehnen.

B.      Vorlagefragen

59.      Da die gestellten Fragen von der Annahme ausgehen, dass das vorlegende Gericht die Unzulänglichkeiten der bulgarischen Rechtsvorschriften über die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden im Hinblick auf die Anforderungen des Art. 10 der Richtlinie 2016/680 durch die Anwendung von Strafprozessregeln ausgleichen könnte, und ich diese Notlösung nicht für ausreichend halte, um diese Rechtsvorschriften als mit dem Unionsrecht vereinbar anzusehen, werde ich diese Fragen nur hilfsweise behandeln, für den Fall, dass der Gerichtshof eine andere Auffassung vertreten sollte.

60.      Im Wesentlichen ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, klarzustellen, ob die Prüfung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Verarbeitung sensibler Daten allein auf der Grundlage des Beschlusses über die förmliche Beschuldigung erfolgen kann oder ob es erforderlich ist, ihm das gesamte Aktenmaterial zu übermitteln (erste Vorlagefrage), damit es selbst beurteilen kann, ob ein begründeter Verdacht besteht, dass die beschuldigte Person die in der Beschuldigung genannte Straftat begangen hat (zweite Vorlagefrage).

61.      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass das vorlegende Gericht eine gewisse Spannung zwischen den Rn. 100 und 101 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I einerseits und den Rn. 130 bis 133 des Urteils andererseits zu erkennen scheint.

62.      In Rn. 100 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I hat der Gerichtshof festgestellt, dass „[d]ie Würdigung der Beweise, auf die sich die Beschuldigung der betroffenen Person stützt, und damit die Erhebung ihrer biometrischen und genetischen Daten vorübergehend der gerichtlichen Kontrolle zu entziehen, … sich … während des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens als gerechtfertigt erweisen [kann]. Eine solche Kontrolle in diesem Verfahren könnte nämlich den Ablauf der strafrechtlichen Ermittlungen, in deren Verlauf diese Daten erhoben werden, behindern und die Fähigkeit der Ermittler, weitere Straftaten auf der Grundlage eines Abgleichs dieser Daten mit Daten, die bei anderen Ermittlungen gesammelt wurden, aufzuklären, übermäßig einschränken. Diese Einschränkung des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ist daher nicht unverhältnismäßig, wenn das nationale Recht später eine effektive gerichtliche Kontrolle gewährleistet“. Daraus hat er abgeleitet, dass Art. 47 der Charta es nicht verbietet, dass ein nationales Gericht bei der Entscheidung über einen Antrag auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung der Erhebung sensibler Daten einer beschuldigten Person „nicht die Möglichkeit hat, die Beweise zu würdigen, auf denen diese Beschuldigung beruht, sofern das nationale Recht später eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Voraussetzungen dieser Beschuldigung, aus denen sich die Bewilligung der Erhebung dieser Daten ergibt, gewährleistet“(46).

63.      Der Gerichtshof hat weiter entschieden, diesmal durch Auslegung von Art. 10 der Richtlinie 2016/680, dass „der bloße Umstand, dass eine Person einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt wird, nicht als ein Faktor angesehen werden [kann], der für sich genommen die Annahme zuließe, dass die Erhebung ihrer biometrischen und genetischen Daten im Hinblick auf die damit verfolgten Zwecke und unter Berücksichtigung der sich daraus ergebenden Verletzungen von Grundrechten … unbedingt erforderlich ist“(47). Er fuhr fort, dass „es zum einen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, die ihre Beschuldigung rechtfertigt, was voraussetzt, dass bereits genügend Beweise für eine Beteiligung dieser Person an der Straftat gesammelt wurden, Fälle geben [kann], in denen die Erhebung sowohl biometrischer als auch genetischer Daten für die Zwecke des laufenden Strafverfahrens nicht konkret erforderlich ist“(48). Zum anderen „kann die Wahrscheinlichkeit, dass die biometrischen und genetischen Daten einer beschuldigten Person im Rahmen anderer Verfahren als dem, in dessen Rahmen die Beschuldigung erfolgt ist, unbedingt erforderlich sind, nur unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren bestimmt werden, wie etwa Art und Schwere der mutmaßlichen Straftat, der sie beschuldigt wird, der besonderen Umstände dieser Straftat, des etwaigen Zusammenhangs der Straftat mit anderen laufenden Verfahren, der Vorstrafen oder des individuellen Profils der betreffenden Person“(49).

64.      Somit hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Tatsache, dass das für die Bewilligung der zwangsweisen Durchführung der polizeilichen Registrierung zuständige Gericht keine inhaltliche Überprüfung der Voraussetzungen der die Rechtsgrundlage für die Erhebung bildenden Beschuldigung vornehmen kann(50), aufgrund der Gefahr einer Behinderung des ordnungsgemäßen Ablaufs der strafrechtlichen Ermittlungen eine zulässige Einschränkung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz darstellen kann.

65.      Was die Prüfung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Erhebung betrifft, geht aus den Rn. 130 bis 133 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I nicht hervor, dass der Gerichtshof eine Prüfung der Begründetheit der Beschuldigung verlangt hat. Er hat lediglich darauf hingewiesen, dass die Beschuldigung im Rahmen des Ausgangverfahrens eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Feststellung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Erhebung der sensiblen Daten der betroffenen Person darstellt. Außerdem sind die in Rn. 132 des Urteils genannten Elemente wie die Art und Schwere der Straftat, die besonderen Umstände dieser Straftat, ihr etwaiger Zusammenhang mit anderen laufenden Verfahren, die Vorstrafen oder das individuelle Profil der betroffenen Person andere Kriterien als die, auf denen die Beschuldigung beruht, nämlich grundsätzlich das Vorhandensein schwerwiegender und übereinstimmender Indizien, die darauf hindeuten, dass die betroffene Person eine Straftat begangen hat.

66.      Unter diesen Umständen erfordert die Prüfung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Erhebung biometrischer und genetischer Daten durch den Richter keine Prüfung der Begründetheit der Beschuldigung. Ebenso wenig verlangt Art. 10 der Richtlinie 2016/680 die Übermittlung der gesamten Verfahrensakte (ohne ihr jedoch entgegenzustehen), sofern die Beurteilung – gemäß den vom Gerichtshof in Rn. 133 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I angegebenen Modalitäten – der „unbedingten Erforderlichkeit“ allein auf der Grundlage des Beschlusses über die förmliche Beschuldigung wirksam durchgeführt werden kann.

67.      Da sich der Wortlaut der zweiten Vorlagefrage auch auf Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 bezieht, weise ich schließlich der Vollständigkeit halber nur darauf hin, dass dieser Artikel die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet, sicherzustellen, dass eine klare Unterscheidung zwischen den Daten der verschiedenen Kategorien betroffener Personen getroffen wird, damit auf diese nicht unterschiedslos das gleiche Maß an Eingriffen in ihr Grundrecht auf Schutz ihrer personenbezogenen Daten, unabhängig davon, welcher Kategorie sie zugehören, angewandt wird(51). Nach diesem Artikel besteht eine dieser Kategorien aus „Personen, gegen die ein begründeter Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen haben oder in naher Zukunft begehen werden“.

68.      Der Gerichtshof hat festgestellt, dass das Vorliegen einer hinreichenden Zahl von Beweisen für die Schuld einer Person grundsätzlich zu einem begründeten Verdacht führt, dass diese Person die betreffende Straftat begangen hat, und dass Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die die zwangsweise Erhebung biometrischer und genetischer Daten von Personen für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, bezüglich deren hinreichende Beweise dafür vorliegen, dass sie sich der Begehung einer vorsätzlichen Offizialstraftat schuldig gemacht haben, und die aus diesem Grund beschuldigt worden sind(52). Entgegen der Auslegung des vorlegenden Gerichts kann diese Bestimmung nicht verlangen, dass der Richter, der die „unbedingte Erforderlichkeit“ einer Maßnahme der Erhebung sensibler Daten prüfen soll, sich von der Begründetheit der Beschuldigung überzeugt, indem er die Beweismittel, auf denen sie beruht, selbst beurteilt.

69.      Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass Art. 6 Buchst. a und Art. 10 der Richtlinie 2016/680 dahin auszulegen sind, dass die richterliche Prüfung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Erhebung biometrischer und genetischer Daten keine Prüfung der Begründetheit der Beschuldigung erfordert. Sie verlangen auch nicht die Übermittlung der gesamten Verfahrensakte (ohne ihr jedoch entgegenzustehen), sofern die Beurteilung – gemäß den vom Gerichtshof in Rn. 133 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I angegebenen Modalitäten – der „unbedingten Erforderlichkeit“ allein auf der Grundlage des Beschlusses über die förmliche Beschuldigung wirksam durchgeführt werden kann.

V.      Ergebnis

70.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) wie folgt zu beantworten:

In erster Linie:

Art. 10 der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c sowie Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie

ist dahin auszulegen, dass

–        die Beurteilung – gemäß den in Rn. 133 des Urteils vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti (Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei) (C‑205/21, EU:C:2023:49), aufgeführten Bedingungen – der „unbedingten Erforderlichkeit“ der polizeilichen Registrierung im Hinblick auf alle mit dieser mutmaßlich verfolgten Zwecke wirksam von den für die Registrierung zuständigen Behörden durchgeführt werden muss, bevor sie gegebenenfalls die zwangsweise Durchführung der Registrierung beantragen können.

–        Hierfür reicht es nicht aus, dass die Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der polizeilichen Registrierung erstmals von dem Richter, bei dem die Bewilligung der zwangsweisen Durchführung beantragt wird, im alleinigen Fall der Weigerung der beschuldigten Person, sich der Registrierung zu unterziehen, und nur im Hinblick auf einen der Zwecke durchgeführt wird, die angeblich mit den nationalen Rechtsvorschriften, die die Rechtsgrundlage für die Registrierung bilden, verfolgt werden.

Hilfsweise:

Art. 6 Buchst. a und Art. 10 der Richtlinie 2016/680

sind dahin auszulegen, dass

die richterliche Prüfung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Erhebung biometrischer und genetischer Daten keine Prüfung der Begründetheit der Beschuldigung erfordert. Sie verlangen auch nicht die Übermittlung der gesamten Verfahrensakte (ohne ihr jedoch entgegenzustehen), sofern die Beurteilung – gemäß den vom Gerichtshof in Rn. 133 des Urteils vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti (Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei) (C‑205/21, EU:C:2023:49), angegebenen Modalitäten – der „unbedingten Erforderlichkeit“ allein auf der Grundlage des Beschlusses über die förmliche Beschuldigung wirksam durchgeführt werden kann.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2016, L 119, S. 89.


3      C‑205/21, im Folgenden: Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I, EU:C:2023:49.


4      Zwar wurde das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑205/21 vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) beim Gerichtshof eingereicht, doch wurde dieser während des Verfahrens aufgelöst, und das bei ihm anhängige Ausgangsverfahren wurde an den Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) verwiesen: vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 51).


5      Eine Probe zur Erstellung des DNA-Profils der beschuldigten Person gehört zu den Daten, die bei dieser polizeilichen Registrierung gesammelt werden.


6      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 63).


7      Im Antrag des Ausgangsverfahrens wird die Rechtsgrundlage für die polizeiliche Registrierung angegeben, d. h. Art. 68 Abs. 1 des Zakon za Ministerstvoto na vatreshnite raboti (Gesetz über das Innenministerium) (DV Nr. 53 vom 27. Juni 2014, im Folgenden: ZMVR) und Art. 11 Abs. 4 der Naredba za reda za izvarshvane i snemane na politseyska registratsia (Verordnung zur Regelung der Einzelheiten der Durchführung und Löschung der polizeilichen Registrierung) (DV Nr. 90 vom 31. Oktober 2014).


8      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass Art. 158 NPK die Untersuchung einer Person als Ermittlungsmaßnahme im Rahmen des Ermittlungsverfahrens betrifft. Bei dieser Untersuchung können biometrische und genetische Daten erhoben werden. Die Untersuchung der Person wird mit ihrer schriftlichen Zustimmung durchgeführt. Liegt keine Zustimmung vor, muss der Staatsanwalt beim Richter des zuständigen erstinstanzlichen Gerichts oder des erstinstanzlichen Gerichts des Rayons, in dem die Maßnahme durchgeführt wird, die vorherige Bewilligung zur zwangsweisen Durchführung der Untersuchung beantragen (Art. 158 Abs. 3 NPK). In dringenden Fällen findet die Prüfung ohne Bewilligung statt, jedoch unter Einreichung eines Antrags auf nachträgliche Genehmigung (Art. 158 Abs. 4 NPK). Nach den Angaben, die das vorlegende Gericht dem Gerichtshof vorgelegt hat, wird die Verfahrensakte dem Gericht übermittelt, das alle Unterlagen prüfen kann, um zu beurteilen, ob der Antrag auf vorherige Bewilligung oder nachträgliche Genehmigung begründet ist.


9      Offenbar auf Antrag der Staatsanwaltschaft: vgl. Rn. 16 und 24 der Vorlageentscheidung.


10      Oder der Antrag auf nachträgliche Genehmigung, je nachdem, was zutrifft.


11      Im Folgenden: Charta.


12      Gemäß der Schlussfolgerung, die das vorlegende Gericht aus den Rn. 100 und 101 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I gezogen hat.


13      Siehe Nr. 1 der vorliegenden Schlussanträge.


14      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bleibt es den innerstaatlichen Gerichten selbst bei Vorliegen einer Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der betreffenden Rechtsfrage unbenommen, den Gerichtshof zu befassen, wenn sie es für angebracht halten. Der Umstand, dass der Gerichtshof dieselbe Vorschrift des Unionsrechts bereits im Hinblick auf dieselbe nationale Regelung ausgelegt hat, kann nicht zur Unzulässigkeit der Fragen führen (vgl. Urteil vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth, C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung sowie Rn. 22). Im Übrigen geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die gestellten Fragen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ausgangsverfahren stehen und für die vom vorlegenden Gericht zu treffende Entscheidung erheblich sind. Auch enthält das Ersuchen genügend Angaben, um die Tragweite der Fragen zu ermitteln und sie in zweckdienlicher Weise zu beantworten. Sie sind daher als zulässig zu beurteilen (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Dezember 2017, Schweppes, C‑291/16, EU:C:2017:990, Rn. 25).


15      Siehe Fn. 8 der vorliegenden Schlussanträge.


16      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 114).


17      Nach der Rechtsprechung besteht der Zweck von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 darin, einen erhöhten Schutz in Bezug auf diese Verarbeitung zu gewährleisten, die aufgrund der besonderen Sensibilität der betreffenden Daten und des Kontexts, in dem sie verarbeitet werden, erhebliche Risiken für die durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte und Grundfreiheiten, wie das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, mit sich bringt, wie sich aus dem 37. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt (vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I [Rn. 116 und die dort angeführte Rechtsprechung]).


18      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 118).


19      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 120).


20      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 122).


21      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 123).


22      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 124).


23      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 125 und 126).


24      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 127).


25      Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 128). Hervorhebung nur hier.


26      Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 129).


27      Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 130).


28      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 131).


29      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 132).


30      Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 133).


31      Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 134). Damit scheint der Gerichtshof die unmittelbare Wirkung von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 anerkannt zu haben. Ein nationales Gericht ist nämlich nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine Bestimmung seines innerstaatlichen Rechts, die mit einer Bestimmung des Unionsrechts in Widerspruch steht, unangewendet zu lassen, wenn die letztgenannte Bestimmung keine unmittelbare Wirkung hat (vgl. Urteil vom 20. Februar 2024, X [Keine Angabe von Kündigungsgründen], C‑715/20, EU:C:2024:139, Rn. 74).


32      Festgestellt in Nr. 3 des Tenors des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I.


33      Da das Verfahren nach Art. 267 AEUV auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, ist allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits sowie die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig: vgl. aus der iterativen Rechtsprechung des Gerichtshofs Urteil vom 9. April 2024, Profi Credit Polska (Wiederaufnahme des durch eine rechtskräftige Entscheidung beendeten Verfahrens) (C‑582/21, EU:C:2024:282, Rn. 31).


34      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 133).


35      Ich weise darauf hin, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/680 durch Bezugnahme auf diese Behörden genau definiert ist, da sie nach Art. 2 Abs. 1 „für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zu den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken“ gilt.


36      Siehe Fn. 8 der vorliegenden Schlussanträge.


37      Nach Art. 27 ZMVR werden die von der Polizei gemäß Art. 68 ZMVR gespeicherten Daten nur zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung von Kriminalität und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verwendet.


38      Vgl. Rn. 25 des Vorabentscheidungsersuchens.


39      Ich weise darauf hin, dass die hinreichend genaue und konkrete Definition dieser Zwecke eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass die „unbedingte Erforderlichkeit“ der Verarbeitung beurteilt werden kann: vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 124).


40      Rn. 21 des Vorabentscheidungsersuchens. Vgl. auch Rn. 6 des Ersuchens.


41      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht nicht hervor, dass die Anwendung von Art. 158 NPK im Rahmen des Ausgangsverfahrens dem Richter erlauben würde, die Quantität und Qualität der zu erhebenden, insbesondere der sensiblen, Daten anzupassen.


42      Vgl. auch Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 78).


43      Vgl. Hinweise des Gerichtshofs im Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 63).


44      In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass es im 37. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 heißt: „Die Einwilligung der betroffenen Person allein sollte jedoch noch keine rechtliche Grundlage für die Verarbeitung solch sensibler personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden liefern.“ In jedem Fall bedeutet die Zustimmung der Person keine Befreiung von der Verpflichtung, die „unbedingte Erforderlichkeit“ der Erhebung zu beurteilen, und muss diese Erforderlichkeit bereits vor der Äußerung der Zustimmung geprüft werden.


45      Die dem Gerichtshof vorliegenden Akten enthalten keine Informationen darüber, ob diese Personen gemäß Art. 54 der Richtlinie 2016/680 einen Rechtsbehelf einlegen können. Sowohl das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen (vgl. Rn. 25 des Ersuchens) als auch die bulgarische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof scheinen jedoch davon auszugehen, dass in einem solchen Fall kein gerichtlicher Rechtsbehelf möglich ist.


46      Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 101).


47      Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 130).


48      Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn.131).


49      Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 132).


50      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 88).


51      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 83).


52      Vgl. Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 85 und 86).

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