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Document 62022CO0561

    Beschluss des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 7. März 2023.
    Willy Hermann Service GmbH und DI gegen Präsidentin des Landesgerichts Feldkirch.
    Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts, Außenstelle Innsbruck.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Richtlinie 2013/34/EU – Art. 30 und 51 – Offenlegung des Jahresabschlusses – Sanktionen bei unterlassener Offenlegung – Verhängung von Zwangsgeldern durch ein Zivilgericht – Verwaltungsverfahren zur Beitreibung dieser unanfechtbar gewordenen Zwangsgelder – Regelung, die die Überprüfung dieser Zwangsgelder durch ein Verwaltungsgericht ausschließt – Rechtskraft – Effektivitätsgrundsatz – Verhältnismäßigkeit.
    Rechtssache C-561/22.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:167

    BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

    7. März 2023(*)

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Richtlinie 2013/34/EU – Art. 30 und 51 – Offenlegung des Jahresabschlusses – Sanktionen bei unterlassener Offenlegung – Verhängung von Zwangsgeldern durch ein Zivilgericht – Verwaltungsverfahren zur Beitreibung dieser unanfechtbar gewordenen Zwangsgelder – Regelung, die die Überprüfung dieser Zwangsgelder durch ein Verwaltungsgericht ausschließt – Rechtskraft – Effektivitätsgrundsatz – Verhältnismäßigkeit“

    In der Rechtssache C‑561/22

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck (Österreich), mit Entscheidung vom 18. August 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 24. August 2022, in dem Verfahren

    Willy Hermann Service GmbH,

    DI

    gegen

    Präsidentin des Landesgerichts Feldkirch

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

    unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin,

    Generalanwalt: M. Campos Sánchez‑Bordona,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

    folgenden

    Beschluss

    1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft im Wesentlichen die Auslegung der unionsrechtlich anerkannten Grundsätze der Rechtskraft und der Effektivität.

    2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Willy Hermann Service GmbH und DI als Geschäftsführer dieser Gesellschaft auf der einen und der Präsidentin des Landesgerichts Feldkirch (Österreich) auf der anderen Seite über ein Verfahren zur Beitreibung von Zwangsgeldern, die vom Landesgericht Feldkirch (Österreich) verhängt wurden.

     Rechtlicher Rahmen

     Unionsrecht

     Richtlinie 2013/34/EU

    3        Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates (ABl. 2013, L 182, S. 19) lautet:

    „Der Koordinierung der einzelstaatlichen Vorschriften über die Gliederung und den Inhalt des Abschlusses und des Lageberichts, die heranzuziehenden Bewertungsgrundlagen und die Offenlegung dieser Informationen, insbesondere für bestimmte Rechtsformen von Unternehmen mit beschränkter Haftung, kommt im Hinblick auf den Schutz von Aktionären, Gesellschaftern und Dritten besondere Bedeutung zu. In den genannten Bereichen ist für die entsprechenden Rechtsformen von Unternehmen eine zeitgleiche Koordinierung erforderlich, da zum einen bestimmte Unternehmen in mehr als einem Mitgliedstaat tätig sind und da sie zum anderen über ihr Nettovermögen hinaus Dritten keinerlei Sicherheiten bieten.“


    4        In Art. 30 („Allgemeine Offenlegungspflicht“) dieser Richtlinie heißt es:

    „(1)      Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Unternehmen innerhalb einer angemessenen Frist, die 12 Monate nach dem Bilanzstichtag nicht überschreiten darf, den ordnungsgemäß gebilligten Jahresabschluss und den Lagebericht sowie den Bericht des Abschlussprüfers oder der Prüfungsgesellschaft gemäß Artikel 34 dieser Richtlinie nach den in den Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten gemäß Kapitel 2 der Richtlinie 2009/101/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 48 Absatz 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. 2009, L 258, S. 11)] vorgesehenen Verfahren offenlegen.

    ...“

    5        Art. 51 („Sanktionen“) dieser Richtlinie bestimmt:

    „Die Mitgliedstaaten legen Sanktionen für Verstöße gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen einzelstaatlichen Vorschriften fest und treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Sanktionen durchgesetzt werden. Die vorgesehenen Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

     Österreichisches Recht

     UGB

    6        § 277 („Offenlegung“) des Unternehmensgesetzbuchs in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: UGB) bestimmt in Abs. 1, dass die gesetzlichen Vertreter von Kapitalgesellschaften verpflichtet sind, den Jahresabschluss spätestens neun Monate nach dem Bilanzstichtag beim Firmenbuchgericht des Sitzes der Kapitalgesellschaft einzureichen.

    7        Nach § 283 Abs. 1 UGB haben die gesetzlichen Vertreter der Gesellschaft § 277 UGB zu befolgen; andernfalls können vom Gericht Zwangsstrafen in Höhe von 700 Euro bis 3 600 Euro gegen sie verhängt werden.

    8        § 283 Abs. 2, 4 und 7 UGB bestimmt:

    „(2)      Ist die Offenlegung nach Abs. 1 nicht bis zum letzten Tag der Offenlegungsfrist erfolgt, so ist – sofern die Offenlegung nicht bis zum Tag vor Erlassung der Zwangsstrafverfügung bei Gericht eingelangt ist – ohne vorausgehendes Verfahren durch Strafverfügung eine Zwangsstrafe von 700 Euro, bei Kleinstkapitalgesellschaften (§ 221 Abs. 1a) von 350 Euro zu verhängen. Von der Verhängung einer Zwangsstrafverfügung kann abgesehen werden, wenn das in Abs. 1 genannte Organ offenkundig durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis an der fristgerechten Offenlegung gehindert war. In diesem Fall kann – soweit bis dahin noch keine Offenlegung erfolgt ist – mit der Verhängung der Zwangsstrafverfügung bis zum Ablauf von vier Wochen nach Wegfall des Hindernisses, welches der Offenlegung entgegenstand, zugewartet werden. Zwangsstrafverfügungen sind wie Klagen zuzustellen. Gegen die Zwangsstrafverfügung kann das jeweilige Organ binnen 14 Tagen Einspruch erheben, andernfalls erwächst die Zwangsstrafverfügung in Rechtskraft. Im Einspruch sind die Gründe für die Nichtbefolgung der in Abs. 1 genannten Pflichten anzuführen. Gegen die Versäumung der Einspruchsfrist kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt werden ...

    ...

    (4)      Ist die Offenlegung innerhalb von zwei Monaten nach Ablauf des letzten Tages der Offenlegungsfrist noch immer nicht erfolgt, so ist durch Strafverfügung eine weitere Zwangsstrafe von 700 Euro, bei Kleinstkapitalgesellschaften (§ 221 Abs. 1a) von 350 Euro zu verhängen. Das Gleiche gilt bei Unterbleiben der Offenlegung für jeweils weitere zwei Monate; ...

    ...

    (7)      Die den gesetzlichen Vertretern in den §§ 277 und 280 [UGB] auferlegten Pflichten treffen auch die Gesellschaft. Kommt die Gesellschaft diesen Pflichten durch ihre Organe nicht nach, so ist gleichzeitig auch mit der Verhängung von Zwangsstrafen unter sinngemäßer Anwendung der Abs. 1 bis 6 auch gegen die Gesellschaft vorzugehen.“

     GEG

    9        § 1 Abs. 1 Nr. 2 des Gerichtlichen Einbringungsgesetzes vom 31. Oktober 1962 (BGBl. 288/1962) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: GEG) bestimmt, dass dieses Gesetz u. a. die Einbringung von Geldstrafen regelt.

    10      In § 1 Abs. 2 GEG heißt es:

    „Rechtskräftige und vollstreckbare Entscheidungen von Gerichten und Verwaltungsbehörden, mit denen die Höhe von Beträgen nach Abs. 1 und die Zahlungspflicht für diese bestimmt werden, sind Exekutionstitel im Sinne der Exekutionsordnung.

    ...“

    11      Gemäß § 6 Abs. 1 GEG ist der Präsident des Landesgerichts die zuständige Behörde für die Vorschreibung der Beträge im Sinne von § 1 Abs. 1, für die nicht bereits ein Exekutionstitel im Sinne von § 1 Abs. 2 vorliegt.


    12      § 6b Abs. 4 GEG sieht vor:

    „Im Verfahren zur Einbringung im Justizverwaltungsweg können weder das Bestehen noch die Rechtmäßigkeit einer im Grundverfahren dem Grunde und der Höhe nach bereits rechtskräftig festgestellten Zahlungspflicht überprüft werden.“

    13      § 7 Abs. 1 GEG bestimmt, dass jede Person, die sich durch den Inhalt eines Bescheids beschwert erachtet, innerhalb einer Frist von 14 Tagen Vorstellung gegen diesen Bescheid erheben kann. Nach Abs. 2 dieser Bestimmung tritt der Zahlungsauftrag mit Erhebung der Vorstellung außer Kraft.

     Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    14      Willy Hermann Service ist eine im österreichischen Firmenbuch eingetragene Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Mehrere Jahre lang legte DI, der Geschäftsführer dieser Gesellschaft, dem Firmenbuchgericht, dem Landesgericht Feldkirch, keine Jahresabschlüsse vor, weil dadurch private Daten offengelegt und folglich wirtschaftliche Nachteile für die Gesellschaft und ihre Gesellschafter entstehen würden.

    15      Da die Pflicht zur jährlichen Offenlegung des Jahresabschlusses der Gesellschaft verletzt worden war, verhängte das Landesgericht Feldkirch für den Zeitraum vom 3. Februar 2012 bis zum 15. Juni 2022 zahlreiche Zwangsstrafen gegen die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens, um sie zur Offenlegung der Jahresabschlüsse der Gesellschaft zu verpflichten. Außerdem wurden weitere Zwangsstrafen wegen unterlassener Offenlegung für die Jahre 1999 bis 2020 verhängt. Insgesamt verhängte das Landesgericht Feldkirch mit Beschluss vom 17. August 2021 21 Zwangsstrafen in Höhe von insgesamt 21 700 Euro gegen Willy Hermann Service und DI. Da die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens die Verfügungen, mit denen diese Zwangsstrafen gegen sie verhängt wurden, weder dem Grunde noch der Höhe nach anfochten, wurden diese folglich rechtskräftig.

    16      Am 5. Oktober 2021 gab das Landesgericht Feldkirch den Beschwerdeführern des Ausgangsverfahrens durch Zahlungsauftrag die Zahlung der Zwangsstrafen innerhalb von 14 Tagen unter Androhung der zwangsweisen Beitreibung auf. Die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens erhoben gegen diesen Zahlungsauftrag beim vorlegenden Gericht den Rechtsbehelf der Vorstellung, wodurch der Zahlungsauftrag von Rechts wegen außer Kraft trat. Im Rahmen dieser Vorstellung weisen die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens darauf hin, dass sie vor allem die Feststellung der Rechtswidrigkeit der gegen sie verhängten kumulativen Zwangsstrafen anstrebten.

    17      Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach nationale Gerichte die korrekte Anwendung und Umsetzung von Richtlinien sicherstellen müssen, fragt sich das vorlegende Gericht, ob es zur Erfüllung dieser Verpflichtung im Hinblick auf die Art. 30 und 51 der Richtlinie 2013/34 verpflichtet ist, das nationale Recht unangewendet zu lassen, nach dem dieses Gericht für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der in einem früheren Verfahren vor dem zuständigen Zivilgericht verhängten und unanfechtbar gewordenen Sanktion nicht zuständig ist. Zudem möchte das vorlegende Gericht, hilfsweise für den Fall, dass es nach dem Unionsrecht die Rechtmäßigkeit dieser Sanktion inhaltlich zu prüfen hat, wissen, wie der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgelegte Grundsatz ne bis in idem auszulegen ist.

    18      Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck (Österreich), beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.      Ist in einem Verwaltungsverfahren oder in einem dieses Verwaltungsverfahren überprüfenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren zur Einbringlichmachung der von einem ordentlichen Gericht verhängten, in Rechtskraft erwachsenen, über Jahre kumulierenden Zwangsstrafen wegen Verletzung von Offenlegungspflichten, welche die Kapitalgesellschaften und ihre gesetzlichen Vertreter jährlich von Gesetzes wegen treffen, das unionsrechtliche Gebot der Angemessenheit dieser Zwangsstrafen zu prüfen, selbst wenn Gegenstand dieses Verfahrens ausschließlich die Einbringlichmachung solcher rechtskräftiger Zwangsstrafen darstellt, ohne dass in Anbetracht des Grundsatzes der Trennung der Justiz von der Verwaltung für die Verwaltungsbehörde oder das Verwaltungsgericht eine rechtliche Möglichkeit besteht, diese verhängten Zwangsstrafen einer neuerlichen rechtlichen Überprüfung dem Grunde und der Höhe nach zu unterziehen?

    2.      Steht ein System der Einbringlichmachung von rechtskräftigen Zwangsstrafen, wie es §§ 6 ff. GEG in Verbindung mit § 283 UGB vorsehen und in dem die Angemessenheit dieser Strafen aufgrund ausdrücklicher Rechtsvorschrift (§ 6b Abs. 4 GEG) nicht mehr geprüft werden darf, Unionsrecht entgegen, wenn im gerichtlichen Verfahren über die Verhängung dieser Zwangsstrafen (im Grundverfahren) Rechtsmittel zulässig sind, um deren Angemessenheit überprüfen zu können, auch wenn eine reformatio in peius möglich ist, in der Praxis vorkommt und deswegen diese Rechtsmittel nicht ausgeschöpft werden?

    Für den Fall der Bejahung der Frage 2 durch den Gerichtshof:

    3.      Steht das Unionsrecht, insbesondere das in Art. 50 der Charta der Grundrechte verankerte Gebot des ne bis in idem, einer nationalen Regelung entgegen, die wie § 283 UGB (i) für jeweils gleichartige Tatbestände, die sich über einen längeren Zeitpunkt fortsetzen, mehrere, zeitlich eng gestaffelte Strafen zur Erzwingung eines vom Gesetz normierten Tuns (Offenlegung von Jahresabschluss, Lagebericht und bestimmten anderen Unterlagen durch den gesetzlichen Vertreter einer Kapitalgesellschaft gemäß § 277 UGB) vorsieht, (ii) die wegen der gleichen Tatbestände kumulativ sowohl Sanktionen für den Geschäftsführer einer Kapitalgesellschaft als auch gegen diese Kapitalgesellschaft selbst vorsehen?

    4.      Dürfen rechtskräftig durch ein Gericht verhängte Zwangsstrafen wegen jährlich verweigerter Vorlage von Unterlagen, wie Jahresabschluss und Lagebericht einer Kapitalgesellschaft durch deren gesetzlichen Vertreter gemäß § 277 UGB, die über viele Jahre amassiert sowie kumuliert und damit unverhältnismäßig geworden sind, im Einbringungsverfahren vorgeschrieben werden, oder sind sie gänzlich oder teilweise als unionsrechtswidrig außer Acht zu lassen?

     Zu den Vorlagefragen

    19      Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, insbesondere wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn diese Antwort keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt.

    20      Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.

     Zur ersten und zur zweiten Frage

    21      Mit seinen ersten beiden Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, gemäß der ein Verwaltungsgericht, das über die Beitreibung von gegen eine Gesellschaft und ihren Geschäftsführer wegen unterlassener Offenlegung der Jahresabschlüsse verhängten Zwangsstrafen entscheidet, an die rechtskräftig gewordene Entscheidung des Zivilgerichts gebunden ist, mit der diese Zwangsstrafen verhängt und ihre Höhe festgelegt wurden, um die Einhaltung der Verpflichtungen aus den Art. 30 und 51 der Richtlinie 2013/34 – wie sie in das nationale Recht umgesetzt wurden – sicherzustellen.

    22      Insoweit ist als Erstes auf die Bedeutung hinzuweisen, die der Grundsatz der Rechtskraft in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und in der Unionsrechtsordnung hat. Zur Gewährleistung sowohl des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen als auch einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich gerichtliche Entscheidungen, die nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar geworden sind, nicht mehr in Frage gestellt werden können (Urteil vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).


    23      Daher verpflichtet das Unionsrecht ein nationales Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer gegebenenfalls mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    24      Als Zweites steht fest, dass die Richtlinie 2013/34 und insbesondere ihr Art. 51 nicht die Modalitäten von Rechtsbehelfen regeln, die es den Einzelnen ermöglichen sollen, Entscheidungen anzufechten, mit denen ihnen die in dieser Bestimmung genannten Sanktionen auferlegt werden.

    25      Insoweit geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ebenfalls hervor, dass es mangels einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten ist, die Modalitäten für die Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft festzulegen, wobei jedoch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt sein müssen (Urteil vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    26      Nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dürfen nämlich die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein als für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz), und sie dürfen die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (Urteil vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    27      Die Anforderungen, die sich aus diesen Grundsätzen ergeben, gelten sowohl für die Bestimmung der für die Entscheidung über Klagen, die auf das Unionsrecht gestützt werden, zuständigen Gerichte als auch für die Bestimmung der für solche Klagen geltenden Verfahrensmodalitäten (Urteil vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    28      Zum einen ist hinsichtlich des Grundsatzes der Äquivalenz festzustellen, dass der Gerichtshof über keinerlei Anhaltspunkte verfügt, die Zweifel an der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung mit diesem Grundsatz hervorrufen könnten.

    29      Was zum anderen den Grundsatz der Effektivität betrifft, ist nach ständiger Rechtsprechung die Frage, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen innerstaatlichen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (Urteile vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 49, sowie vom 2. April 2020, CRPNPAC und Vueling Airlines, C‑370/17 und C‑37/18, EU:C:2020:260, Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    30      Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass § 6b Abs. 4 GEG der Sache nach dem entgegensteht, dass das Verwaltungsgericht – das im Ausgangsverfahren vorlegende Gericht –, das mit einem Rechtsbehelf der Vorstellung gegen die Beitreibung von Geldbußen befasst ist, die dem Grunde und der Höhe nach im Verfahren in der Hauptsache durch ein Zivilgericht bereits rechtskräftig festgestellt wurden, diese Sanktionen dem Grunde und der Höhe nach in Frage stellen kann, und zwar selbst dann, wenn sich die Situation im Ausgangsverfahren als mit dem Unionsrecht unvereinbar erweisen sollte.

    31      Insoweit steht fest, dass das Verfahren in der Hauptsache, in dem das Zivilgericht die rechtskräftig gewordene Entscheidung zur Verhängung der Zwangsstrafen erlassen hat, auf § 283 UGB gestützt ist.

    32      Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass das Zivilgericht, das als Firmenbuchgericht tätig wird, verpflichtet ist, einer Gesellschaft, die der Verpflichtung, ihren Jahresabschluss – wie in § 277 UGB vorgesehen – innerhalb von neun Monaten nach dem Bilanzstichtag offenzulegen, nicht nachkommt, nach Ablauf der Frist für die Offenlegung eine Zwangsstrafe von 700 Euro aufzuerlegen, wobei diese alle zwei Monate erneut verhängt werden kann, falls die Offenlegung in der Zwischenzeit nicht erfolgt ist. Die betroffene Gesellschaft hat 14 Tage Zeit, um gegen die Zwangsstrafverfügung einen mit Gründen versehenen Rechtsbehelf einzulegen, wodurch diese Verfügung außer Kraft tritt. Wird innerhalb der festgelegten Frist kein Rechtsbehelf eingelegt, wird diese Verfügung rechtskräftig.

    33      Wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, fügt sich § 283 UGB in einen normativen Kontext ein, mit dem auf Unionsebene festgelegte harmonisierte Vorschriften umgesetzt werden sollen, gemäß denen die Mitgliedstaaten im Hinblick auf das im dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/34 festgelegte Hauptziel, die Interessen Dritter zu schützen, sicherstellen müssen, dass Jahresabschlüsse von Gesellschaften – wie in Art. 30 dieser Richtlinie vorgesehen – offengelegt werden, und wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen gemäß Art. 51 dieser Richtlinie schaffen müssen, um die Erfüllung dieser Verpflichtung sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne, zur Auslegung der Bestimmungen der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen [ABl. 1978, L 222, S. 11], Urteil vom 3. Mai 2005, Berlusconi u. a., C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2005:270, Rn. 58, 62 und 65). Wie der Gerichtshof in Rn. 86 des Urteils vom 26. September 2013, Texdata Software (C‑418/11, EU:C:2013:588), festgestellt hat, soll das in der Sanktionsregelung gemäß § 283 UGB vorgesehene Verfahren nämlich im allgemeinen Interesse eines besseren Schutzes von Dritten und Gesellschaftern die schnellere und wirksamere Erfüllung der Offenlegungspflicht gewährleisten.

    34      In Bezug auf die in § 283 Abs. 2 UGB vorgesehene Frist von 14 Tagen, innerhalb deren ein Rechtsbehelf gegen die Zwangsstrafverfügung eingelegt werden kann, hat der Gerichtshof klargestellt, dass diese Frist grundsätzlich nicht tatsächlich unzureichend ist, um einen wirksamen Rechtsbehelf vorzubereiten und einzureichen, da erstens die in § 277 Abs. 1 UGB vorgesehene Offenlegung des Jahresabschlusses regelmäßigen Charakter hat und bei den Betroffenen allgemein bekannt ist, diese Bestimmung zweitens vorsieht, dass diese Offenlegung innerhalb von neun Monaten ab dem Bilanzstichtag der betroffenen Gesellschaft zu erfolgen hat und diese Frist drittens gemäß § 283 Abs. 2 UGB ausgesetzt werden kann, wenn ein unvorhergesehenes und unabwendbares Ereignis die fristgemäße Offenlegung verhindert (Urteil vom 26. September 2013, Texdata Software, C‑418/11, EU:C:2013:588, Rn. 80 und 81).

    35      Im Übrigen hat der Gerichtshof nach der in den Rn. 80 bis 87 dieses Urteils vorgenommenen Prüfung festgestellt, dass die in § 283 UGB vorgesehene Sanktionsregelung das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und die Verteidigungsrechte beachtet (Urteil vom 26. September 2013, Texdata Software, C‑418/11, EU:C:2013:588, Rn. 88).

    36      Folglich steht, wie das vorlegende Gericht zu Recht ausgeführt hat, Personen, die die Jahresabschlüsse der betreffenden Gesellschaft offenlegen müssen, im Rahmen des in § 283 UGB vorgesehenen Verfahrens zur Verhängung von Zwangsstrafen und der Festlegung ihrer Höhe das Recht zu, die Rechtmäßigkeit der bei unterlassener Offenlegung dieser Abschlüsse gegen sie verhängten Zwangsstrafen wirksam anzufechten. Dabei können diese Personen u. a. die etwaige Unverhältnismäßigkeit dieser Zwangsstrafen vor dem zuständigen nationalen Gericht geltend machen, das in diesem Rahmen die konkreten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. September 2013, Texdata Software, C‑418/11, EU:C:2013:588, Rn. 51, 52, 55 und 82).

    37      Nach alledem ist festzustellen, dass § 6b Abs. 4 GEG, soweit er dem entgegensteht, dass ein Verwaltungsgericht, das mit einem Rechtsbehelf der Vorstellung gegen die Beitreibung von gemäß § 283 UGB verhängten Zwangsstrafen befasst ist, die dem Grunde und der Höhe nach im Verfahren der Hauptsache durch ein Zivilgericht bereits rechtskräftig festgestellt wurden, diese Zwangsstrafen dem Grunde und der Höhe nach in Frage stellen kann, mit den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen, nämlich dem Grundsatz der Effektivität und – vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht obliegenden Prüfung – dem Grundsatz der Äquivalenz, vereinbar ist.

    38      Folglich braucht nicht geprüft zu werden, ob das vorlegende Gericht, das im vorliegenden Fall mit einer solchen Vorstellung befasst ist, eine Auslegung von § 6b Abs. 4 GEG vorzunehmen hat, die seiner Ansicht nach mit den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen vereinbar ist.

    39      Es ist jedenfalls darauf hinzuweisen, dass für den Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmte Grenzen bestehen. So ist die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt des Unionsrechts heranzuziehen, durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze – einschließlich des Grundsatzes der Rechtssicherheit – begrenzt und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (Urteil vom 12. Mai 2021, technoRent International u. a., C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    40      Diese Verpflichtung kann daher das nationale Gericht nicht dazu veranlassen, die Grenzen seiner Befugnisse, wie sie sich aus § 6b Abs. 4 GEG ergeben, zu überschreiten. Wäre dies der Fall, müsste das nationale Gericht diese Bestimmung nämlich – wie es selbst in seiner Vorlageentscheidung ausgeführt hat – contra legem auslegen.

    41      Nach alledem ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, gemäß der ein Verwaltungsgericht, das über die Beitreibung von gegen eine Gesellschaft und ihren Geschäftsführer wegen unterlassener Offenlegung der Jahresabschlüsse verhängten Zwangsstrafen entscheidet, an die rechtskräftig gewordene Entscheidung des Zivilgerichts gebunden ist, mit der diese Zwangsstrafen verhängt und ihre Höhe festgelegt wurden, um die Einhaltung der Verpflichtungen aus den Art. 30 und 51 der Richtlinie 2013/34 – wie sie in das nationale Recht umgesetzt wurden – sicherzustellen.

     Zur dritten und zur vierten Frage

    42      In Anbetracht der Antwort auf die ersten beiden Fragen sind die dritte und die vierte Frage nicht zu beantworten.

     Kosten

    43      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.


    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

    Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, gemäß der ein Verwaltungsgericht, das über die Beitreibung von gegen eine Gesellschaft und ihren Geschäftsführer wegen unterlassener Offenlegung der Jahresabschlüsse verhängten Zwangsstrafen entscheidet, an die rechtskräftig gewordene Entscheidung des Zivilgerichts gebunden ist, mit der diese Zwangsstrafen verhängt und ihre Höhe festgelegt wurden, um die Einhaltung der Verpflichtungen aus den Art. 30 und 51 der Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates – wie sie in das nationale Recht umgesetzt wurden – sicherzustellen.

    Luxemburg, den 7. März 2023

    Der Kanzler

     

    Die Kammerpräsidentin

    A. Calot Escobar

     

    L. S. Rossi


    *      Verfahrenssprache: Deutsch.

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