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Document 62022CJ0402

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 6. Juli 2023.
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid gegen M. A.
Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State (Niederlande).
Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Art. 14 Abs. 4 Buchst. b – Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – Drittstaatsangehöriger, der wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde – Gefahr für die Allgemeinheit – Verhältnismäßigkeitsprüfung.
Rechtssache C-402/22.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:543

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

6. Juli 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Art. 14 Abs. 4 Buchst. b – Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – Drittstaatsangehöriger, der wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde – Gefahr für die Allgemeinheit – Verhältnismäßigkeitsprüfung“

In der Rechtssache C‑402/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 15. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juni 2022, in dem Verfahren

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

gegen

M. A.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter P. G. Xuereb und T. von Danwitz sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von M. A., vertreten durch R. C. van den Berg, Advocaat,

der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,

der ungarischen Regierung, vertreten durch Z. Biró-Tóth und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Hottiaux und F. Wilman als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Mai 2023

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen M. A., einem Drittstaatsangehörigen, und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande, im Folgenden: Staatssekretär) wegen der Ablehnung des Antrags von M. A. auf internationalen Schutz.

Rechtlicher Rahmen

3

Der zwölfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.“

4

Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Zweck dieser Richtlinie ist es, Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, sowie für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes festzulegen.“

5

In Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie heißt es:

„Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er

a)

ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen;

b)

eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Aufnahmelandes begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, das heißt vor dem Zeitpunkt der Ausstellung eines Aufenthaltstitels aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft …“

6

Art. 13 der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu.“

7

Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„(4)   Die Mitgliedstaaten können einem Flüchtling die ihm von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, diese beenden oder ihre Verlängerung ablehnen, wenn

b)

er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

(5)   In den in Absatz 4 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten entscheiden, einem Flüchtling eine Rechtsstellung nicht zuzuerkennen, solange noch keine Entscheidung darüber gefasst worden ist.“

8

Art. 17 Abs. 1 und 3 dieser Richtlinie führt aus:

„(1)   Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

b)

eine schwere Straftat begangen hat;

(3)   Die Mitgliedstaaten können einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen von der Gewährung subsidiären Schutzes ausschließen, wenn er vor seiner Aufnahme in dem betreffenden Mitgliedstaat ein oder mehrere nicht unter Absatz 1 fallende Straftaten begangen hat, die mit Freiheitsstrafe bestraft würden, wenn sie in dem betreffenden Mitgliedstaat begangen worden wären, und er sein Herkunftsland nur verlassen hat, um einer Bestrafung wegen dieser Straftaten zu entgehen.“

9

In Art. 21 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie heißt es:

„Ein Mitgliedstaat kann, sofern dies nicht aufgrund der in Absatz 1 genannten völkerrechtlichen Verpflichtungen untersagt ist, einen Flüchtling unabhängig davon, ob er als solcher förmlich anerkannt ist oder nicht, zurückweisen, wenn

b)

er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

10

Am 5. Juli 2018 stellte M. A. in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz.

11

Mit Bescheid vom 12. Juni 2020 lehnte der Staatssekretär diesen Antrag ab. Darin vertrat er die Auffassung, dass M. A. begründete Furcht vor Verfolgung in seinem Herkunftsland gehegt habe, aber durch ein rechtskräftiges Urteil wegen einer besonders schweren Straftat verurteilt worden sei und daher eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle.

12

Der Staatssekretär stützte sich insoweit darauf, dass M. A. im Jahr 2018 wegen sexueller Nötigung in drei Fällen, versuchter sexueller Nötigung in einem Fall und Diebstahls eines Mobiltelefons, wobei diese Straftaten am gleichen Abend begangen worden seien, von einem niederländischen Strafgericht zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt worden sei.

13

M. A. erhob Klage gegen den Bescheid vom 12. Juni 2020.

14

Mit Urteil vom 13. Juli 2020 hob ein erstinstanzliches Gericht diesen Bescheid mit der Begründung auf, dass der Staatssekretär nicht hinreichend begründet habe, dass die von M. A. begangenen Straftaten zum einen so schwerwiegend seien, dass sie die Versagung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigten, und dass M. A. zum anderen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit darstelle.

15

Der Staatssekretär legte gegen dieses Urteil Berufung beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande), dem vorlegenden Gericht, ein.

16

Zur Begründung dieser Berufung macht er erstens geltend, dass die M. A. vorgeworfenen Taten angesichts ihrer Art, der verhängten Strafe und ihrer zerrüttenden Wirkung auf die niederländische Gesellschaft als eine einzige Straftat anzusehen seien, die besonders schwer sei. Zweitens trägt er vor, dass die Verurteilung von M. A. wegen einer besonders schweren Straftat grundsätzlich belege, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle.

17

Das Gericht hegt Zweifel hinsichtlich der Kriterien, die bei der Feststellung, ob eine Straftat, wegen der der Drittstaatsangehörige rechtskräftig verurteilt wurde, als besonders schwer im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 anzusehen ist, berücksichtigt werden müssen. Im Übrigen macht sich das vorlegende Gericht angesichts der Uneinigkeit zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens über die Tragweite des Begriffs „Gefahr für die Allgemeinheit“ die vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) in der Rechtssache C‑8/22 vorgelegten Fragen zu eigen.

18

Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Wann ist eine Straftat derart „besonders schwer“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95, dass ein Mitgliedstaat einer Person, die internationalen Schutz benötigt, die Flüchtlingseigenschaft verweigern darf?

Sind die Kriterien, die für eine „schwere Straftat“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 gelten und in Rn. 56 des Urteils des Gerichtshofs vom 13. September 2018, Ahmed (C‑369/17, EU:C:2018:713), dargelegt sind, bei der Beurteilung von Bedeutung, ob eine „besonders schwere Straftat“ vorliegt? Falls ja, gibt es dann noch zusätzliche Kriterien, die dazu führen, dass eine Straftat als „besonders“ schwer einzustufen ist?

2.

Ist Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass die Gefahr für die Allgemeinheit schon allein dadurch erwiesen ist, dass eine Person, der der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden ist, wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, oder ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass die rechtskräftige Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat allein nicht ausreicht, um nachzuweisen, dass eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht?

3.

Wenn die rechtskräftige Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat allein nicht ausreicht, um nachzuweisen, dass eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, ist dann Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass er verlangt, dass der Mitgliedstaat nachweist, dass der Antragsteller seit seiner Verurteilung weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt? Muss der Mitgliedstaat nachweisen, dass diese Gefahr tatsächlich und gegenwärtig ist, oder reicht es aus, wenn eine potenzielle Gefahr gegeben ist? Ist Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 für sich genommen oder in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass er die Aberkennung der Rechtsstellung als Flüchtling nur dann erlaubt, wenn diese Aberkennung verhältnismäßig ist und die Gefahr, die die Person darstellt, der diese Rechtsstellung zuerkannt worden ist, hinreichend erheblich ist, um die Aberkennung zu rechtfertigen?

4.

Wenn der Mitgliedstaat nicht nachweisen muss, dass der Antragsteller seit seiner Verurteilung weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt und dass diese Gefahr tatsächlich, gegenwärtig und hinreichend erheblich ist, um die Aberkennung der Rechtsstellung als Flüchtling zu rechtfertigen, ist dann Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass aus ihm folgt, dass grundsätzlich der Nachweis der Gefahr für die Allgemeinheit dadurch erbracht ist, dass die Person, der der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden ist, wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, dass dieser aber nachweisen kann, dass er keine solche Gefahr (mehr) darstellt?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

19

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, anhand welcher Kriterien eine Straftat als „besonders schwere Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 angesehen werden kann.

20

Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 bestimmt, dass die Mitgliedstaaten die einem Flüchtling zuerkannte Rechtsstellung aberkennen können, wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

21

Art. 14 Abs. 5 dieser Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten in den in Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie genannten Fällen entscheiden können, einem Drittstaatsangehörigen die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen, solange noch keine Entscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz gefasst worden ist.

22

Aus den Rn. 27 bis 42 des Urteils vom heutigen Tag, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Flüchtling, der eine schwere Straftat begangen hat) (C‑8/22), geht hervor, dass die Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 von der Erfüllung zweier unterschiedlicher Voraussetzungen abhängt, nämlich zum einen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, und zum anderen, dass festgestellt wurde, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.

23

Zur ersten dieser Voraussetzungen ist zunächst daran zu erinnern, dass aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folgt, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die – wie Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 – für die Ermittlung ihrer Bedeutung und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. September 2018, Ahmed, C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 36, und vom 15. November 2022, Senatsverwaltung für Inneres und Sport, C‑646/20, EU:C:2022:879, Rn. 40).

24

Da weder in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b noch in einer anderen Bestimmung dieser Richtlinie der Ausdruck „besonders schwere Straftat“ definiert wird, ist er entsprechend seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auszulegen, wobei der Kontext, in dem er verwendet wird, und die Ziele, die mit der Regelung, zu der er gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Natur des Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV], C‑624/20, EU:C:2022:639, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Was zunächst den Sinn des Ausdrucks „besonders schwere Straftat“ nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch betrifft, so ist zum einen festzustellen, dass der Begriff „Straftat“ in diesem Rahmen eine Handlung oder Unterlassung kennzeichnet, die einen schweren Verstoß gegen die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft darstellt und deshalb als solche in dieser Gesellschaft strafrechtlich geahndet wird.

26

Zum anderen bezieht sich der Ausdruck „besonders schwer“, da er dem Begriff „Straftat“ zwei Qualifizierungen hinzufügt, auf eine Straftat, die eine außerordentliche Schwere aufweist, wie der Generalanwalt in Nr. 38 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat.

27

Was sodann den Kontext betrifft, in dem der Ausdruck „besonders schwere Straftat“ verwendet wird, so ist erstens darauf hinzuweisen, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 eine Ausnahme von der in Art. 13 dieser Richtlinie aufgestellten Regel bildet, wonach die Mitgliedstaaten jedem Drittstaatsangehörigen, der die Voraussetzungen erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen. Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie ist daher restriktiv auszulegen (vgl. entsprechend Urteil vom 13. September 2018, Ahmed, C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 52).

28

Zweitens wird in einigen Bestimmungen der Richtlinie 2011/95, wie z. B. in deren Art. 12 Abs. 2 Buchst. a, die spezifische Art der von ihnen erfassten Straftaten präzisiert, während Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie jede „besonders schwere Straftat“ betrifft.

29

Da Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95, der sich auf eine „schwere nichtpolitische Straftat“ bezieht, und Art. 17 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie, der eine „schwere Straftat“ betrifft, ebenfalls darauf abzielen, einen Drittstaatsangehörigen, der eine Straftat mit einem bestimmten Schweregrad begangen hat, vom internationalen Schutz auszuschließen, ist drittens die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesen Bestimmungen bei der Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie zu berücksichtigen.

30

Zum einen ergibt sich aus dieser Rechtsprechung, dass sich die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats auf die in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 – der sich auf die Begehung einer „schweren Straftat“ durch die Person, die internationalen Schutz beantragt, bezieht – vorgesehenen Ausschlussgründe erst berufen darf, nachdem sie in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, die ihr bekannt sind, vorgenommen hat, um zu ermitteln, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass die Handlungen des Betreffenden, der im Übrigen die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erfüllt, unter diesen Ausschlusstatbestand fallen, wobei die Beurteilung der Schwere der fraglichen Straftat eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls erfordert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 154, sowie vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 92).

31

Zum anderen hat der Gerichtshof speziell zu den Kriterien, die bei der Beurteilung des Schweregrads einer Straftat für die Zwecke der Anwendung von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 heranzuziehen sind, entschieden, dass dem Kriterium des in den strafrechtlichen Vorschriften des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Strafmaßes insoweit eine besondere Bedeutung zukommt, ohne jedoch allein entscheidend zu sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2018, Ahmed, C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 55).

32

Außerdem hat der Gerichtshof in Rn. 56 des Urteils vom 13. September 2018, Ahmed (C‑369/17, EU:C:2018:713), auf den Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) vom Januar 2016 mit dem Titel „Ausschluss: Artikel 12 und Artikel 17 der Anerkennungsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU)“ verwiesen, der in Punkt 3.2.2 in Bezug auf Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 empfiehlt, dass die Schwere der Straftat, aufgrund deren eine Person vom subsidiären Schutz ausgeschlossen werden könne, anhand einer Vielzahl von Kriterien, wie u. a. der Art der Straftat, der verursachten Schäden, der Form des zur Verfolgung herangezogenen Verfahrens, der Art der Strafmaßnahme und der Berücksichtigung der Frage beurteilt werden solle, ob die fragliche Straftat in den anderen Rechtsordnungen ebenfalls überwiegend als schwere Straftat angesehen werde.

33

Viertens ergibt sich allerdings aus einem Vergleich der Art. 12, 14, 17 und 21 der Richtlinie 2011/95, dass der Unionsgesetzgeber an den Schweregrad der Straftaten, die geltend gemacht werden können, um die Anwendung eines Grundes für den Ausschluss bzw. die Aberkennung des internationalen Schutzes oder die Zurückweisung eines Flüchtlings zu rechtfertigen, unterschiedliche Anforderungen gestellt hat.

34

So wird in Art. 17 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 die Begehung „ein[er] oder mehrere[r] … Straftaten“ genannt. Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und Art. 17 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie beziehen sich, wie in Rn. 29 des vorliegenden Urteils ausgeführt, auf die Begehung einer „schweren Straftat“. Dagegen hat der Unionsgesetzgeber entschieden, in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b und Art. 21 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie denselben Ausdruck zu verwenden und das Erfordernis aufzustellen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen einer „besonders schweren Straftat“ rechtskräftig verurteilt wurde.

35

Daraus folgt, dass die Verwendung des Ausdrucks „besonders schwere Straftat“ in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 belegt, dass der Unionsgesetzgeber die Anwendung dieser Bestimmung u. a. von der Erfüllung einer besonders strengen Voraussetzung abhängig machen wollte, nämlich einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer Straftat, die eine außerordentliche Schwere aufweist, die über die Schwere von Straftaten hinausgeht, die die Anwendung von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder Art. 17 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 3 dieser Richtlinie rechtfertigen können.

36

Schließlich spricht auch das wesentliche Ziel der Richtlinie 2011/95, wie es aus ihrem Art. 1 und ihrem zwölften Erwägungsgrund hervorgeht – nämlich zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird –, für eine restriktive Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie.

37

Nach alledem kann Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 nur auf einen Drittstaatsangehörigen angewandt werden, der wegen einer Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, die aufgrund ihrer spezifischen Merkmale insofern als Straftat, die eine außerordentliche Schwere aufweist, angesehen werden kann, als sie zu den Straftaten gehört, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen.

38

Insoweit ist zwar die Beurteilung des Schweregrads einer bestimmten Straftat für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2011/95 nach der in Rn. 23 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung anhand eines gemeinsamen Standards und gemeinsamer Kriterien vorzunehmen, doch ist das Strafrecht der Mitgliedstaaten zum derzeitigen Stand des Unionsrechts nicht Gegenstand allgemeiner Harmonisierungsmaßnahmen. Daher ist diese Beurteilung unter Berücksichtigung der Weichenstellungen vorzunehmen, die im Rahmen des Strafrechtssystems des betreffenden Mitgliedstaats in Bezug auf die Bestimmung derjenigen Straftaten erfolgt sind, die die Rechtsordnung der Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen.

39

Da Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 jedoch eine rechtskräftige Verurteilung wegen einer „besonders schweren Straftat“ im Singular betrifft und restriktiv auszulegen ist, kann seine Anwendung nur im Fall einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer Straftat gerechtfertigt sein, die für sich genommen unter den Begriff „besonders schwere Straftat“ fällt, was voraussetzt, dass sie den in Rn. 37 des vorliegenden Urteils genannten Schweregrad aufweist, wobei dieser Schweregrad nicht durch eine Kumulierung verschiedener Straftaten erreicht werden kann, von denen keine als solche eine besonders schwere Straftat darstellt.

40

Wie sich aus der in Rn. 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, setzt die Beurteilung des Schweregrads einer Straftat, derentwegen ein Drittstaatsangehöriger verurteilt wurde, außerdem eine Würdigung sämtlicher besonderer Umstände des fraglichen Falls voraus. Insoweit ist die Entscheidungsbegründung der Verurteilung für die Ermittlung dieser Umstände von erheblicher Bedeutung, da sie die Würdigung des Verhaltens des betreffenden Drittstaatsangehörigen durch das zuständige Strafgericht zum Ausdruck bringt.

41

Im Übrigen kommt im Rahmen der anderen Umstände, die bei der Beurteilung, ob eine Straftat den in Rn. 37 des vorliegenden Urteils genannten Schweregrad erreicht, zu berücksichtigen sind, der Art sowie dem Maß der angedrohten und erst recht der verhängten Strafe wesentliche Bedeutung zu.

42

Da die Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 auf Straftaten beschränkt ist, die eine außerordentliche Schwere aufweisen, kann somit nur eine Straftat, die im Hinblick auf die im betreffenden Mitgliedstaat allgemein geltende Strafmaßskala die Verhängung einer besonders strengen Strafe gerechtfertigt hat, als „besonders schwere Straftat“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden.

43

Neben der angedrohten und der verhängten Strafe hat die für die Feststellung zuständige Behörde unter der Kontrolle der zuständigen Gerichte u. a. die Art der begangenen Straftat, da diese dazu beitragen kann, das Ausmaß der Beeinträchtigung der Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft aufzuzeigen, alle mit der Begehung der Straftat verbundenen Umstände, insbesondere etwaige mildernde oder erschwerende Umstände, die Frage, ob diese Straftat vorsätzlich begangen wurde, sowie Art und Ausmaß der durch die Straftat verursachten Schäden zu berücksichtigen.

44

Die Art des Strafverfahrens zur Ahndung der fraglichen Straftat kann ebenfalls von Bedeutung sein, wenn sie den Schweregrad zum Ausdruck bringt, den die Strafverfolgungsbehörden dieser Straftat beigemessen haben.

45

Dagegen kann die etwaige Resonanz der fraglichen Straftat in den Medien oder in der Öffentlichkeit angesichts des im Wesentlichen subjektiven und individuellen Charakters eines solchen Umstands bei der Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 nicht berücksichtigt werden.

46

Da die Beurteilung der fraglichen Straftat, wie sich aus Rn. 40 des vorliegenden Urteils ergibt, eine Würdigung sämtlicher besonderer Umstände des fraglichen Falls erfordert, sind die in den Rn. 40 bis 44 dieses Urteils dargelegten Beurteilungskriterien nicht abschließend und können daher gegebenenfalls durch zusätzliche Kriterien ergänzt werden.

47

In diesem Zusammenhang steht es den Mitgliedstaaten zwar u. a. frei, Mindestschwellen festzulegen, die eine einheitliche Anwendung dieser Bestimmung erleichtern sollen, doch müssen solche Schwellenwerte notwendigerweise mit dem in Rn. 37 des vorliegenden Urteils genannten Schweregrad in Einklang stehen und dürfen es keinesfalls ermöglichen, festzustellen, dass die fragliche Straftat „besonders schwer“ sei, ohne dass die zuständige Behörde eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls vorgenommen hat (vgl. entsprechend Urteil vom 13. September 2018, Ahmed, C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 55).

48

Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass eine „besonders schwere Straftat“ im Sinne dieser Bestimmung eine Straftat ist, die angesichts ihrer spezifischen Merkmale insofern eine außerordentliche Schwere aufweist, als sie zu den Straftaten gehört, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen. Bei der Beurteilung, ob eine Straftat, derentwegen ein Drittstaatsangehöriger rechtskräftig verurteilt wurde, einen solchen Schweregrad aufweist, sind insbesondere die für diese Straftat angedrohte und die verhängte Strafe, die Art der Straftat, etwaige erschwerende oder mildernde Umstände, die Frage, ob diese Straftat vorsätzlich begangen wurde, Art und Ausmaß der durch diese Straftat verursachten Schäden sowie das Verfahren zur Ahndung der Straftat zu berücksichtigen.

Zur zweiten Frage

49

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

50

Wie in Rn. 22 des vorliegenden Urteils ausgeführt, geht aus den Rn. 27 bis 42 des Urteils vom heutigen Tag, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Flüchtling, der eine schwere Straftat begangen hat) (C‑8/22), hervor, dass die Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 von der Erfüllung zweier unterschiedlicher Voraussetzungen abhängt, nämlich zum einen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, und zum anderen, dass festgestellt wurde, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.

51

Ohne diese vom Unionsgesetzgeber so getroffene Entscheidung zu verkennen, kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Erfüllung einer dieser beiden Voraussetzungen ausreicht, um festzustellen, dass auch die zweite erfüllt wäre.

52

Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, nicht schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

Zur dritten und zur vierten Frage

53

Mit seiner dritten und seiner vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Anwendung dieser Bestimmung davon abhängt, dass die zuständige Behörde feststellt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und schwere Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, und dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßige Maßnahme ist.

54

Aus den Rn. 47 bis 65 des Urteils vom heutigen Tag, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Flüchtling, der eine schwere Straftat begangen hat) (C‑8/22), geht hervor, dass eine Maßnahme nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 nur erlassen werden darf, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. Bei der Beurteilung des Vorliegens einer solchen Gefahr hat die zuständige Behörde eine Würdigung sämtlicher besonderer Umstände des fraglichen Einzelfalls vorzunehmen.

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Außerdem muss diese Behörde, wie in den Rn. 66 bis 70 dieses Urteils ausgeführt wurde, die Gefahr, die der betreffende Drittstaatsangehörige für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, gegen die Rechte abwägen, die gemäß der Richtlinie 2011/95 den Personen zu gewährleisten sind, die die materiellen Voraussetzungen von Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie erfüllen, um festzustellen, ob der Erlass einer Maßnahme nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßig ist.

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Folglich ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Anwendung dieser Bestimmung davon abhängt, dass die zuständige Behörde feststellt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, und dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßige Maßnahme ist.

Kosten

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Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

ist dahin auszulegen, dass

eine „besonders schwere Straftat“ im Sinne dieser Bestimmung eine Straftat ist, die angesichts ihrer spezifischen Merkmale insofern eine außerordentliche Schwere aufweist, als sie zu den Straftaten gehört, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen. Bei der Beurteilung, ob eine Straftat, derentwegen ein Drittstaatsangehöriger rechtskräftig verurteilt wurde, einen solchen Schweregrad aufweist, sind insbesondere die für diese Straftat angedrohte und die verhängte Strafe, die Art der Straftat, etwaige erschwerende oder mildernde Umstände, die Frage, ob diese Straftat vorsätzlich begangen wurde, Art und Ausmaß der durch diese Straftat verursachten Schäden sowie das Verfahren zur Ahndung der Straftat zu berücksichtigen.

 

2.

Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, nicht schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

 

3.

Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

die Anwendung dieser Bestimmung davon abhängt, dass die zuständige Behörde feststellt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, und dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßige Maßnahme ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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