Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62022CJ0050

    Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 9. März 2023.
    Sogefinancement SAS gegen RW und UV.
    Vorabentscheidungsersuchen der Cour d'appel de Paris.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbraucherschutz – Richtlinie 2008/48/EG – Verbraucherkreditverträge – Geltungsbereich – Widerrufsrecht – Art. 14 Abs. 7 – Innerstaatliche Rechtsvorschriften, die eine Frist vorsehen, innerhalb deren die Ausführung des Vertrags nicht beginnen kann – Innerstaatliche Verfahrensvorschriften über die durch das nationale Gericht von Amts wegen erfolgende Prüfung des Verstoßes gegen diese Vorschriften sowie dessen Ahndung durch dieses Gericht – Art. 23 – Wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen.
    Rechtssache C-50/22.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:177

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

    9. März 2023 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbraucherschutz – Richtlinie 2008/48/EG – Verbraucherkreditverträge – Geltungsbereich – Widerrufsrecht – Art. 14 Abs. 7 – Innerstaatliche Rechtsvorschriften, die eine Frist vorsehen, innerhalb deren die Ausführung des Vertrags nicht beginnen kann – Innerstaatliche Verfahrensvorschriften über die durch das nationale Gericht von Amts wegen erfolgende Prüfung des Verstoßes gegen diese Vorschriften sowie dessen Ahndung durch dieses Gericht – Art. 23 – Wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen“

    In der Rechtssache C‑50/22

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) mit Entscheidung vom 16. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Januar 2022, in dem Verfahren

    Sogefinancement SAS

    gegen

    RW,

    UV

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

    unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter), N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,

    Generalanwältin: L. Medina,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der Sogefinancement SAS, vertreten durch S. Mendès‑Gil, Avocat,

    der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und N. Vincent als Bevollmächtigte,

    der finnischen Regierung, vertreten durch A. Laine als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Goddin und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 23 der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (ABl. 2008, L 133, S. 66).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Sogefinancement SAS auf der einen sowie RW und UV auf der anderen Seite wegen eines Antrags auf Zahlung des Betrags, der im Rahmen eines ihnen von Sogefinancement gewährten persönlichen Darlehens noch geschuldet wird.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    In den Erwägungsgründen 9 und 10 der Richtlinie 2008/48 heißt es:

    „(9)

    Eine vollständige Harmonisierung ist notwendig, um allen Verbrauchern in der Gemeinschaft ein hohes und vergleichbares Maß an Schutz ihrer Interessen zu gewährleisten und um einen echten Binnenmarkt zu schaffen. Den Mitgliedstaaten sollte es deshalb nicht erlaubt sein, von dieser Richtlinie abweichende innerstaatliche Bestimmungen beizubehalten oder einzuführen. Diese Einschränkung sollte jedoch nur in den Fällen gelten, in denen Vorschriften durch diese Richtlinie harmonisiert werden. Soweit es keine solchen harmonisierten Vorschriften gibt, sollte es den Mitgliedstaaten freigestellt bleiben, innerstaatliche Rechtsvorschriften beizubehalten oder einzuführen. …

    (10)

    Mit den Begriffsbestimmungen dieser Richtlinie wird der Bereich der Harmonisierung festgelegt. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Bestimmungen dieser Richtlinie sollte sich daher nur auf den durch diese Begriffsbestimmungen festgelegten Bereich erstrecken. …“

    4

    Art. 14 („Widerrufsrecht“) dieser Richtlinie bestimmt:

    „(1)   Der Verbraucher kann innerhalb von vierzehn Kalendertagen ohne Angabe von Gründen den Kreditvertrag widerrufen.

    (7)   Dieser Artikel berührt nicht innerstaatliche Rechtsvorschriften, die eine Frist vorsehen, innerhalb deren die Ausführung des Vertrags nicht beginnen kann.“

    5

    Art. 22 („Harmonisierung und Unabdingbarkeit dieser Richtlinie“) Abs. 1 der Richtlinie 2008/48 sieht vor:

    „Soweit diese Richtlinie harmonisierte Vorschriften enthält, dürfen die Mitgliedstaaten keine Bestimmungen in ihrem innerstaatlichen Recht aufrechterhalten oder einführen, die von den Bestimmungen dieser Richtlinie abweichen.“

    6

    Art. 23 („Sanktionen“) der Richtlinie 2008/48 lautet:

    „Die Mitgliedstaaten legen für Verstöße gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Vorschriften Sanktionen fest und treffen die zu ihrer Anwendung erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

    Französisches Recht

    7

    Art. L. 311‑14 des Code de la consommation (Verbrauchergesetzbuch) in seiner vor dem 1. Juli 2016 geltenden Fassung (im Folgenden: Verbrauchergesetzbuch) bestimmte:

    „Während einer Frist von sieben Tagen ab Annahme des Vertrags durch den Kreditnehmer darf keine Zahlung, in welcher Form und aus welchem Rechtsgrund auch immer, vom Kreditgeber oder für dessen Rechnung an den Kreditnehmer oder vom Kreditnehmer an den Kreditgeber geleistet werden.

    Während dieser Frist darf der Kreditnehmer auch keine Einlagen zugunsten oder für Rechnung des Kreditgebers in Bezug auf das in Rede stehende Geschäft tätigen.

    Wenn der Kreditnehmer eine Einzugsermächtigung für sein Bankkonto unterschrieben hat, sind ihre Gültigkeit und ihr Wirksamwerden von der Gültigkeit und dem Wirksamwerden des Kreditvertrags abhängig.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    8

    Am 5. November 2011 schloss Sogefinancement mit RW und UV einen Verbraucherkreditvertrag über 15362,90 Euro, der in 84 Monatsraten zurückzuzahlen war (im Folgenden: in Rede stehender Kreditvertrag). Am 20. Oktober 2015 einigten sich die Parteien auf eine Umschuldung.

    9

    Das Tribunal d’instance du Raincy (erstinstanzliches Gericht Raincy, Frankreich), vor dem Sogefinancement RW und UV im Hauptantrag auf Zahlung des noch ausstehenden Betrags verklagt hatte, verurteilte diese mit Urteil vom 25. Januar 2018 zur Rückzahlung des ausstehenden Betrags nur des erhaltenen Kapitals und erklärte den Kreditvertrag für nichtig. Hierzu prüfte das Gericht von Amts wegen einen Verstoß gegen Art. L. 311-14 des Verbrauchergesetzbuchs und stellte fest, dass die in dem Kreditvertrag vereinbarte Darlehenssumme entgegen den Vorschriften dieser zum zwingenden nationalen Recht zählenden Bestimmung RW und UV weniger als sieben Tage nach Annahme des Kreditangebots zur Verfügung gestellt worden sei.

    10

    Gegen dieses Urteil legte Sogefinancement beim vorlegenden Gericht, der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich), Berufung ein. Zum einen machte sie geltend, dass die Nichtigkeit des in Rede stehenden Kreditvertrags nicht von Amts wegen nach Ablauf der fünfjährigen Verjährungsfrist geprüft werden könne, innerhalb deren Verbraucher die Nichtigerklärung eines solchen Vertrags beantragen könnten. Zum anderen könne nur eine Partei die Nichtigkeit eines Vertrags auf der Grundlage einer Bestimmung des zwingenden nationalen Rechts geltend machen.

    11

    Unter Hinweis darauf, dass sich Art. L. 311-14 des Verbrauchergesetzbuchs in den Rahmen der den Mitgliedstaaten durch Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2008/48 eingeräumten Befugnis einfüge, führt das vorlegende Gericht u. a. aus, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen zulässig sei, da sie verhindern solle, dass ein Vertrag für unbestimmte Zeit in Frage gestellt werden könne, und damit dem Grundsatz der Rechtssicherheit Rechnung trage.

    12

    Außerdem sei die Nichtigerklärung des Vertrags durch das Gericht ohne einen entsprechenden Antrag oder eine Zustimmung des Verbrauchers geeignet, die Dispositionsmaxime, die der Einführung eines Gegenanspruchs durch das Gericht entgegenstehe, zu beeinträchtigen und den Grundsatz der individuellen und kollektiven Rechtssicherheit zu verletzen.

    13

    Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Steht der aus Art. 23 der Richtlinie 2008/48 hervorgehende Grundsatz der Effektivität der Sanktion im Hinblick auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verfahrensautonomie der Staaten dem entgegen, dass ein Gericht eine aus Art. 14 der genannten Richtlinie abgeleitete Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung im innerstaatlichen Recht mit der Nichtigkeit des Vertrags geahndet wird, nach Ablauf der fünfjährigen Verjährungsfrist, während der der Verbraucher klage‑ oder einredeweise die Nichtigkeit des Kreditvertrags beantragen kann, von Amts wegen prüfen kann?

    2.

    Steht der aus Art. 23 der Richtlinie 2008/48 hervorgehende Grundsatz der Effektivität der Sanktion im Hinblick auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verfahrensautonomie der Staaten sowie der Dispositionsmaxime dem entgegen, dass ein Gericht einen Kreditvertrag für nichtig erklären kann, nachdem es von Amts wegen eine aus Art. 14 der genannten Richtlinie hervorgegangene Bestimmung des innerstaatlichen Rechts geprüft hat, ohne dass der Verbraucher eine solche Nichtigerklärung beantragt oder ihr zumindest zugestimmt hat?

    Zu den Vorlagefragen

    Zur Zulässigkeit

    14

    Sowohl die französische Regierung als auch die Europäische Kommission äußern Zweifel an der Zulässigkeit der Vorlagefragen.

    15

    Die französische Regierung ist zunächst der Ansicht, dass Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2008/48 keine materiell-rechtliche Regelung in Bezug auf Verbraucherkreditverträge vorsehe. Folglich könne Art. L.311‑14 des Verbrauchergesetzbuchs nicht als „aufgrund [der Richtlinie 2008/48] erlassene“ innerstaatliche Vorschrift im Sinne von Art. 23 dieser Richtlinie eingestuft werden. Unter diesen Umständen zielten die Vorlagefragen lediglich darauf ab, den Normenkonflikt zwischen den vom vorlegenden Gericht im Ausgangsverfahren anzuwendenden unterschiedlichen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts über die Verjährung und über die Befugnisse des nationalen Gerichts zu lösen.

    16

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, ist, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 14. Juli 2022, Volkswagen, C‑134/20, EU:C:2022:571, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    17

    Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 14. Juli 2022, Volkswagen, C‑134/20, EU:C:2022:571, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    18

    Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall.

    19

    Die Vorlagefragen betreffen nämlich die Klärung der Tragweite von Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2008/48, um zu bestimmen, ob innerstaatliche Verfahrensvorschriften über die durch das nationale Gericht von Amts wegen erfolgende Prüfung eines Verstoßes des Kreditgebers gegen eine innerstaatliche Vorschrift, die in Ausübung der den Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung zuerkannten Befugnis erlassen oder beibehalten wurde, sowie die Ahndung dieses Verstoßes durch das nationale Gericht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fallen. Unter diesen Umständen stellt die Frage, welche Tragweite Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie beizumessen ist, keine hypothetische Frage bzw. keine Frage dar, die in keinem Zusammenhang mit der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits steht.

    20

    Sodann führt die französische Regierung aus, dass sich die Parteien nicht darüber einig seien, wann genau das aufgrund des in Rede stehenden Kreditvertrags gewährte Darlehen zur Verfügung gestellt worden sei, so dass hinsichtlich der Einhaltung der in Art. L. 311‑14 des Verbrauchergesetzbuchs vorgeschriebenen Frist im Ausgangsverfahren Unsicherheit bestehe. Je nachdem von welchem Zeitpunkt das vorlegende Gericht letztlich ausgehe, könne sich die von ihm erbetene Auslegung daher als hypothetisch erweisen.

    21

    Obwohl sich das vorlegende Gericht nicht zum Zeitpunkt der Zurverfügungstellung des aufgrund des in Rede stehenden Kreditvertrags gewährten Darlehens geäußert hat, kann die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen nach der in Rn. 17 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht allein dadurch widerlegt werden, dass im vorliegenden Fall eine der Parteien des Ausgangsverfahrens eine Tatsache bestreitet, die nicht der Gerichtshof, sondern das vorlegende Gericht zu prüfen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2020, A [Werbung und Online-Verkauf von Arzneimitteln], C‑649/18, EU:C:2020:764, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    22

    Schließlich ist die Kommission der Ansicht, dass die zweite Frage hypothetisch erscheine, da RW und UV ausdrücklich erklärt hätten, dass sie der Nichtigerklärung des in Rede stehenden Kreditvertrags zugestimmt hätten.

    23

    Hierzu genügt die Feststellung, dass diese eventuelle Zustimmung nicht dazu führen kann, dass die zweite Frage hypothetisch ist. Nach der in Rn. 16 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist nämlich allein das vorlegende Gericht in der Lage, zu beurteilen, ob sich dieser Umstand eventuell auf die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung sowie auf die Erheblichkeit der Frage für seine Prüfung des Urteils auswirkt, mit dem das unterinstanzliche Gericht einen Verstoß gegen Art. L. 311-14 des Verbrauchergesetzbuchs von Amts wegen geprüft und ihn geahndet hat.

    24

    Mithin sind die Vorlagefragen zulässig.

    Zur Beantwortung der Vorlagefragen

    25

    Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 7 in Verbindung mit Art. 23 der Richtlinie 2008/48 im Licht des Grundsatzes der Effektivität dahin auszulegen ist, dass es möglich sein muss, dass ein Verstoß des Kreditgebers gegen eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Frist vorsieht, innerhalb deren die Ausführung des Kreditvertrags nicht beginnen kann, unabhängig von einer innerstaatlichen Vorschrift, die eine fünfjährige Verjährungsfrist vorsieht, durch das nationale Gericht von Amts wegen geprüft wird und dieser Verstoß von dem Gericht mit der Nichtigerklärung des Kreditvertrags geahndet wird, unabhängig von einer innerstaatlichen Vorschrift, wonach eine solche Nichtigerklärung einen entsprechenden Antrag des Verbrauchers oder zumindest seine Zustimmung voraussetzt.

    26

    Um diese Fragen zu beantworten, ist vorab zu prüfen, ob eine Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats wie Art. L. 311-14 des Verbrauchergesetzbuchs, deren Erlass oder Beibehaltung nach Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2008/48 zulässig ist, in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt. Nur dann müssten die innerstaatlichen Verfahrensvorschriften über die durch das nationale Gericht von Amts wegen erfolgende Prüfung des Verstoßes des Kreditgebers gegen eine solche Vorschrift sowie die Ahndung dieses Verstoßes durch das nationale Gericht nämlich den sich aus der Richtlinie ergebenden Anforderungen genügen.

    27

    Insoweit geht zum einen aus Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2008/48, ausgelegt im Licht ihrer Erwägungsgründe 9 und 10, hervor, dass diese Richtlinie eine vollständige Harmonisierung der in ihren Geltungsbereich fallenden Kreditverträge vorsieht und, wie sich aus der Überschrift von Art. 22 ergibt, unabdingbar ist. Folglich ist es den Mitgliedstaaten in den spezifisch von dieser Harmonisierung erfassten Bereichen nicht gestattet, von dieser Richtlinie abweichende innerstaatliche Rechtsvorschriften beizubehalten oder einzuführen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juli 2012, SC Volksbank România SA, C‑602/10, EU:C:2012:443, Rn. 38).

    28

    Zum anderen legt Art. 14 der Richtlinie 2008/48 die Bedingungen und Modalitäten der Ausübung des Widerrufsrechts des Verbrauchers nach Abschluss eines Kreditvertrags fest, wobei in seinem Abs. 7 klargestellt wird, dass die Bestimmungen dieses Artikels innerstaatliche Rechtsvorschriften, die eine Frist vorsehen, innerhalb deren die Ausführung des Vertrags nicht beginnen kann, nicht berühren.

    29

    Da die Wortfolge „berührt nicht“ in Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2008/48 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit belässt, Rechtsvorschriften zu erlassen oder beizubehalten, die eine Frist vorsehen, vor deren Ablauf die Ausführung des Vertrags nicht beginnen kann, impliziert ihre Verwendung, dass die von dieser Richtlinie im Bereich des Verbraucherwiderrufsrechts vorgenommene vollständige und unabdingbare Harmonisierung die Modalitäten des Beginns der Ausführung eines Kreditvertrags und insbesondere der Zurverfügungstellung der Darlehenssumme an den Kreditnehmer nicht erfasst.

    30

    Folglich beschränkt sich Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2008/48 darauf, anzuerkennen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, außerhalb des durch diese Richtlinie geschaffenen Regelungsrahmens Rechtsvorschriften zur Festlegung einer Frist vorzusehen, innerhalb deren die Ausführung eines Kreditvertrags nicht beginnen kann (vgl. entsprechend Urteile vom 20. November 2014, Novo Nordisk Pharma, C‑310/13, EU:C:2014:2385, Rn. 25 und 29, sowie vom 19. November 2019, TSN und AKT, C‑609/17 und C‑610/17, EU:C:2019:981, Rn. 49).

    31

    Außerdem kann durch den Erlass oder die Beibehaltung einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift nach Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2008/48 die effektive Ausübung des einem Verbraucher nach diesem Art. 14 zustehenden Widerrufsrechts weder berührt noch eingeschränkt werden und können auch die übrigen Bestimmungen der Richtlinie sowie deren Kohärenz und Ziele nicht beeinträchtigt werden (vgl. entsprechend Urteile vom 20. November 2014, Novo Nordisk Pharma, C‑310/13, EU:C:2014:2385, Rn. 28 und 31, sowie vom 19. November 2019, TSN und AKT, C‑609/17 und C‑610/17, EU:C:2019:981, Rn. 51). Dass der Verstoß des Kreditgebers gegen eine solche innerstaatliche Rechtsvorschrift dem Verbraucher den vom nationalen Recht gewährten Schutz nehmen kann, hat für sich allein insoweit keine Auswirkung.

    32

    Nach alledem fallen, wenn die Mitgliedstaaten in Ausübung der ihnen in Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2008/48 eingeräumten Befugnis Rechtsvorschriften zur Festlegung einer Frist vorsehen, innerhalb deren die Ausführung des Kreditvertrags nicht beginnen kann, innerstaatliche Verfahrensvorschriften über die durch das nationale Gericht von Amts wegen erfolgende Prüfung eines Verstoßes des Kreditgebers gegen solche Vorschriften sowie die Ahndung dieses Verstoßes durch das nationale Gericht in die den Mitgliedstaaten verbliebene Zuständigkeit, ohne durch die Richtlinie 2008/48 geregelt zu sein oder in ihren Geltungsbereich zu fallen (vgl. entsprechend Urteile vom 19. November 2019, TSN und AKT, C‑609/17 und C‑610/17, EU:C:2019:981, Rn. 52, sowie vom 10. Juni 2021, Land Oberösterreich [Wohnbeihilfe], C‑94/20, EU:C:2021:477, Rn. 47).

    33

    Unter diesen Umständen braucht zum einen nicht geprüft zu werden, ob der Grundsatz der Effektivität innerstaatlichen Verfahrensvorschriften über die durch das nationale Gericht von Amts wegen erfolgende Prüfung eines Verstoßes des Kreditgebers gegen eine innerstaatliche Rechtsvorschrift entgegensteht, die in die den Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2008/48 verbleibende Befugnis fällt. Zum anderen kann eine solche innerstaatliche Rechtsvorschrift nicht als „aufgrund dieser Richtlinie [erlassen]“ im Sinne von Art. 23 der Richtlinie 2008/48 angesehen werden, so dass es nicht erforderlich ist, diesen Artikel auszulegen, um zu ermitteln, ob er den für Verstöße gegen diese innerstaatliche Rechtsvorschrift festgelegten Sanktionen entgegensteht.

    34

    Aus diesen Gründen ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2008/48 dahin auszulegen ist, dass innerstaatliche Verfahrensvorschriften über die durch das nationale Gericht von Amts wegen erfolgende Prüfung eines Verstoßes des Kreditgebers gegen eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Frist vorsieht, innerhalb deren die Ausführung des Kreditvertrags nicht beginnen kann, sowie die Ahndung dieses Verstoßes durch das nationale Gericht nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fallen.

    Kosten

    35

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates

     

    ist dahin auszulegen, dass

     

    innerstaatliche Verfahrensvorschriften über die durch das nationale Gericht von Amts wegen erfolgende Prüfung eines Verstoßes des Kreditgebers gegen eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Frist vorsieht, innerhalb deren die Ausführung des Kreditvertrags nicht beginnen kann, sowie die Ahndung dieses Verstoßes durch das nationale Gericht nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fallen.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

    Top