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Document 62022CC0687

    Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 14. Dezember 2023.
    Julieta und Rogelio gegen Agencia Estatal de la Administración Tributaria.
    Vorabentscheidungsersuchen der Audiencia Provincial de Alicante.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Richtlinie (EU) 2019/1023 – Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren – Art. 20 – Zugang zur Entschuldung – Art. 20 Abs. 1 – Volle Entschuldung – Art. 23 – Ausnahmeregelungen – Art. 23 Abs. 4 – Ausschluss bestimmter Schuldenkategorien von der Entschuldung – Ausschluss öffentlicher Forderungen – Rechtfertigung nach nationalem Recht – Rechtswirkungen von Richtlinien – Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung.
    Rechtssache C-687/22.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:995

     SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    JEAN RICHARD DE LA TOUR

    vom 14. Dezember 2023 ( 1 )

    Rechtssache C‑687/22

    Julieta,

    Rogelio

    gegen

    Agencia Estatal de la Administración Tributaria

    (Vorabentscheidungsersuchen der Audiencia Provincial de Alicante [Provinzgericht Alicante, Spanien])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Insolvenzverfahren – Umstrukturierungsplan – Richtlinie (EU) 2019/1023 – Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen – Rechtswirkungen von Richtlinien – Verpflichtung, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Zieles nicht ernstlich zu gefährden“

    I. Einleitung

    1.

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) ( 2 ).

    2.

    Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen zwei zahlungsunfähig gewordenen natürlichen Personen (im Folgenden: Schuldner) und der Agencia Estatal de Administración Tributaria (staatliche Steuerverwaltung, Spanien) (im Folgenden: AEAT) wegen eines von den Schuldnern in ihrem Insolvenzverfahren gestellten Antrags auf Entschuldung. Die AEAT wandte sich gegen die Entschuldung hinsichtlich der Steuerforderung.

    3.

    Diese Rechtssache gibt dem Gerichtshof Gelegenheit, den Handlungsspielraum zu klären, über den die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 verfügen. Diese Vorschrift sieht vor, dass bestimmte Schuldenkategorien von der vollen Entschuldung ausgeschlossen werden können.

    4.

    In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich nach meiner Würdigung vorschlagen, der Audiencia Provincial de Alicante (Provinzgericht Alicante, Spanien), dem vorlegenden Gericht, zu antworten, dass die Mitgliedstaaten den Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen von der vollen Entschuldung vorsehen können, sofern dies ausreichend gerechtfertigt ist.

    II. Rechtlicher Rahmen

    A.   Unionsrecht

    5.

    Art. 23 („Ausnahmeregelungen“) Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 sieht vor:

    „Die Mitgliedstaaten können bestimmte Schuldenkategorien von der Entschuldung ausschließen, den Zugang zur Entschuldung beschränken oder eine längere Entschuldungsfrist festlegen, wenn solche Ausschlüsse, Beschränkungen oder längeren Fristen ausreichend gerechtfertigt sind, etwa im Falle von

    a)

    besicherten Schulden,

    b)

    aus strafrechtlichen Sanktionen entstandenen oder damit in Verbindung stehenden Schulden,

    c)

    aus deliktischer Haftung entstandenen Schulden,

    d)

    Schulden bezüglich Unterhaltspflichten, die auf einem Familien‑, Verwandtschafts- oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen,

    e)

    Schulden, die nach dem Antrag auf ein zu einer Entschuldung führendes Verfahren oder nach dessen Eröffnung entstanden sind, und

    f)

    Schulden, die aus der Verpflichtung, die Kosten des zur Entschuldung führenden Verfahrens zu begleichen, entstanden sind.“

    6.

    Aus dem Wortlaut von Art. 34 Abs. 1 und 2 sowie Art. 35 dieser Richtlinie ergibt sich, dass diese Richtlinie am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft getreten ist und dass die Umsetzungsfrist am 17. Juli 2021 abgelaufen ist, wobei diese Frist im Fall besonderer Schwierigkeiten um ein Jahr verlängert werden kann. Dem Königreich Spanien wurde diese Fristverlängerung gewährt.

    B.   Spanisches Recht

    7.

    Mit dem Real Decreto-ley 1/2015 de mecanismo de segunda oportunidad, reducción de carga financiera y otras medidas de orden social (Real Decreto-ley 1/2015 über den Mechanismus der zweiten Chance, die Verringerung der finanziellen Belastung und andere Maßnahmen sozialer Art) ( 3 ) vom 27. Februar 2015 wurde die Ley 22/2003 Concursal (Konkursgesetz 22/2003) ( 4 ) vom9. Juli 2003 (im Folgenden: Konkursgesetz) dahin geändert, dass ein neuer Art. 178bis eingeführt wurde, um den Zugang zur Entschuldung zu regeln. Mit dieser Vorschrift wurde ein zweistufiges System eingeführt, bei dem der Schuldner zwischen einer sofortigen Entschuldung (Art. 178bis Abs. 3 Nr. 4) und einer Entschuldung über einen Zeitraum von fünf Jahren mit Zahlungsplan wählen kann (Art. 178bis Abs. 3 Nr. 5). Zur späteren Entschuldung mit Zahlungsplan sah Art. 178bis Abs. 5 Nr. 1 des Konkursgesetzes vor:

    „Die den in Abs. 3 Nr. 5 genannten Schuldnern gewährte Entschuldung erstreckt sich auf den nicht befriedigten Teil der folgenden Forderungen:

    1.

    Gewöhnliche und nachrangige Forderungen, die zum Zeitpunkt der Beendigung des Kollektivverfahrens offen sind, auch wenn sie nicht angemeldet wurden, mit Ausnahme von öffentlich-rechtlichen Forderungen und Unterhaltsforderungen.“

    8.

    Mit dem Real Decreto Legislativo 1/2020 por el que se aprueba el texto refundido de la Ley Concursal (Real Decreto Legislativo 1/2020 über die Annahme der Neufassung des Konkursgesetzes) ( 5 ) vom 5. Mai 2020 (im Folgenden: Neufassung des Konkursgesetzes) wurde das Konkursgesetz erneut geändert, indem Art. 178bis des Konkursgesetzes durch ein neues Kapitel dieses Gesetzes ersetzt wurde und darin öffentlich-rechtliche Forderungen sowohl vom Bereich der sofortigen als auch vom Bereich der späteren Entschuldung ausgeschlossen wurden.

    9.

    Art. 491 Abs. 1 der Neufassung des Konkursgesetzes sah vor:

    „Sind die Masseverbindlichkeiten sowie die bevorrechtigten Insolvenzforderungen vollständig befriedigt worden und hat der Schuldner, der die Voraussetzungen hierfür erfüllt, zuvor eine außergerichtliche Zahlungsvereinbarung getroffen, so erstreckt sich die Entschuldung auf alle unbefriedigten Forderungen, mit Ausnahme von öffentlich-rechtlichen Forderungen und Unterhaltsforderungen.“

    10.

    Art. 497 Abs. 1 Nr. 1 der Neufassung des Konkursgesetzes bestimmte:

    „Die Entschuldung, die Schuldnern gewährt wird, die sich einem Zahlungsplan unterworfen haben, erstreckt sich auf den Teil der folgenden Forderungen, der nach dem Zahlungsplan unbefriedigt bleibt:

    1.

    Gewöhnliche und nachrangige Forderungen, die zum Zeitpunkt der Beendigung des Insolvenzverfahrens offen sind, auch wenn sie nicht angemeldet wurden, mit Ausnahme von öffentlich-rechtlichen Forderungen und Unterhaltsforderungen.“

    11.

    Mit der Ley 16/2022 de reforma del texto refundido de la Ley Concursal, aprobado por el Real Decreto Legislativo 1/2020, de 5 de mayo, para la transposición de la [Directiva 2019/1023] (Gesetz 16/2022 zur Änderung der Neufassung des Konkursgesetzes, angenommen durch [das Real Decreto Legislativo 1/2020] zur Umsetzung der [Richtlinie 2019/1023] ( 6 ) vom 5. September 2022 (im Folgenden: Gesetz 16/2022), wurde die Neufassung des Konkursgesetzes geändert, allerdings der Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen sowohl vom Bereich der sofortigen als auch vom Bereich der späteren Entschuldung bestätigt. Der neue Wortlaut von Art. 489 Abs. 1 Nr. 5 der Neufassung des Konkursgesetzes sieht vor:

    „Die Entschuldung erstreckt sich auf alle nicht beglichenen Schulden mit Ausnahme folgender:

    5.

    Schulden aus öffentlich-rechtlichen Forderungen. Ist jedoch für die Beitreibung der Schulden die [AEAT] zuständig, so ist eine Entschuldung bis zu einem Höchstbetrag von 10000 Euro pro Schuldner möglich; für die ersten 5000 Euro der Schulden umfasst die Entschuldung den gesamten Betrag und ab diesem Betrag umfasst die Entschuldung 50 % der Schulden bis zu dem genannten Höchstbetrag. Ebenso ist eine Entschuldung in Bezug auf Schulden bei der Sozialversicherung in gleicher Höhe und unter den gleichen Bedingungen möglich. Die Entschuldung erfolgt bis zur oben genannten Obergrenze in umgekehrter Reihenfolge der in diesem Gesetz festgelegten Rangfolge und in jeder Klasse nach Maßgabe der Fälligkeit.“

    12.

    Die Präambel des Gesetzes 16/2022 sieht in Abschnitt IV u. a. vor:

    „Die Richtlinie 2019/1023 verpflichtet alle Mitgliedstaaten, einen Mechanismus der zweiten Chance einzurichten, um zu verhindern, dass Schuldner versucht sind, in andere Länder abzuwandern, die diese Mechanismen bereits vorsehen, was Kosten sowohl für den Schuldner als auch für seine Gläubiger mit sich bringen würde. Gleichzeitig wird die Homogenisierung in diesem Punkt als wesentlich für das Funktionieren des europäischen Binnenmarkts angesehen.

    Es werden zwei Modalitäten der Entschuldung eingeführt: die Entschuldung mit Liquidation der aktiven Masse und die Entschuldung mit Zahlungsplan. …

    Die Entschuldung erstreckt sich auf alle Forderungen im Rahmen des Kollektivverfahrens und auf alle Masseforderungen. Die Ausnahmen gründen sich in bestimmten Fällen auf die besondere Bedeutung ihrer Befriedigung für eine gerechte und solidarische sowie auf der Rechtsstaatlichkeit beruhende Gesellschaft (z. B. Unterhaltsschulden, Schulden aus öffentlich-rechtlichen Forderungen, Schulden aus Straftaten oder auch Schulden aus deliktischer Haftung). So unterliegt die Entschuldung im Zusammenhang mit öffentlich-rechtlichen Schulden bestimmten Beschränkungen und ist nur bei der erstmaligen Entschuldung und nicht in weiterer Folge möglich. …“

    III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

    13.

    Die Schuldner stellten in dem gegen sie geführten Insolvenzverfahren am 3. März 2021 einen Antrag auf Entschuldung, gegen den sich die AEAT hinsichtlich ihrer Forderung in Höhe von 192366,21 Euro wandte, die sie für eine bevorrechtigte öffentlich-rechtliche Forderung hält.

    14.

    Am 30. Juli 2021 beendete der Juzgado de Primera Instancia n.o 1 de Dénia (Gericht erster Instanz Nr. 1 Dénia, Spanien) dieses Insolvenzverfahren und gewährte den Schuldnern mit Ausnahme der öffentlich-rechtlichen Forderungen und der Unterhaltsforderungen eine Entschuldung.

    15.

    Gegen diesen Beschluss legten die Schuldner bei der Audiencia Provincial de Alicante (Provinzgericht Alicante) Berufung ein.

    16.

    Dieses Gericht ist der Ansicht, dass in Anbetracht des Zeitpunkts der Einreichung des Antrags der Schuldner nicht die Fassung des Konkursgesetzes anwendbar sei, die sich aus dem Gesetz 16/2022 ergebe, mit dem die Richtlinie 2019/1023 umgesetzt worden sei, sondern die sich aus dem Real Decreto Legislativo 1/2020 ergebende Fassung, die nach dem Inkrafttreten dieser Richtlinie und während der Umsetzungsfrist veröffentlicht worden sei ( 7 ). Diese beiden Rechtstexte sähen den Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen von einer Entschuldung vor.

    17.

    Das vorlegende Gericht führt aus, dass die spanische Rechtsprechung gespalten sei. In einigen Entscheidungen werde davon ausgegangen, dass öffentlich-rechtliche Forderungen für eine Entschuldung in Betracht kämen, während andere das Gegenteil annähmen. Alle vom vorlegenden Gericht konsultierten gerichtlichen Entscheidungen verwiesen als Auslegungskriterium auf die Richtlinie 2019/1023.

    18.

    Für das vorlegende Gericht ergeben sich Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der Neufassung des Konkursgesetzes mit dieser Richtlinie, was den Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen anbelange.

    19.

    Zum einen fragt es sich, ob der im spanischen Recht vorgesehene Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen von der Entschuldung ausreichend gerechtfertigt ist. Nach Art. 23 der Richtlinie 2019/1023 sei es möglich, von der allgemeinen Regel des Art. 20 Abs. 1 dieser Richtlinie abzuweichen, der eine volle Entschuldung vorsehe. Insbesondere räume Art. 23 Abs. 4 dieser Richtlinie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, bestimmte Schuldenkategorien von der Entschuldung unter der Voraussetzung auszuschließen, dass der Ausschluss „ausreichend gerechtfertigt“ sei ( 8 ).

    20.

    Anders als das Gesetz 16/2022 ( 9 ) enthalte die Neufassung des Konkursgesetzes in der sich aus dem Real Decreto Legislativo 1/2020 ergebenden Fassung keine Rechtfertigung für den Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen von der Entschuldung.

    21.

    Zum anderen fragt sich das vorlegende Gericht, ob die in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 enthaltene Liste bestimmter Schuldenkategorien, die von der Entschuldung ausgeschlossen werden können, eine erschöpfende Liste darstellt, da diesfalls das Konkursgesetz in der Fassung des Real Decreto Legislativo 1/2020 gegen diesen Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 verstoßen würde. Wenn diese Liste jedoch nur beispielhaft wäre, stünde dieses Gesetz im Einklang mit diesem Artikel.

    22.

    Der Umstand, dass öffentlich-rechtliche Forderungen nicht in der Liste in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 aufgeführt seien, obwohl sie in Insolvenzverfahren von außerordentlicher Bedeutung seien, könne ein Hinweis darauf sein, dass diese Liste erschöpfend sei. Wenn es den Mitgliedstaaten vollkommen freistünde, Forderungen von der Entschuldung auszuschließen, und damit unterschiedliche nationale Regelungen in dem Bereich möglich wären, könnte dies zudem das Funktionieren des Binnenmarkts und die Ausübung der Grundfreiheiten, etwa des freien Kapitalverkehrs und der Niederlassungsfreiheit, beeinträchtigen ( 10 ).

    23.

    Unter diesen Umständen hat die Audiencia Provincial de Alicante (Provinzgericht Alicante) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Kann der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung auf Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 angewendet werden, wenn sich der Sachverhalt (wie im vorliegenden Fall im Hinblick auf das Datum des Antrags auf Entschuldung) in der Zeit zwischen dem Inkrafttreten dieser Richtlinie und dem Ende der Umsetzungsfrist abgespielt hat und die anwendbare nationale Regelung (Neufassung des Konkursgesetzes in der durch das Real Decreto Legislativo 1/2020 geänderten Fassung) nicht diejenige ist, die die Richtlinie umsetzt (Gesetz 16/2022)?

    2.

    Ist eine nationale Regelung wie die spanische Regelung in der Neufassung des Konkursgesetzes (in der durch das Real Decreto Legislativo 1/2020 geänderten Fassung), die keine Rechtfertigung für den Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen von der Entschuldung liefert, mit Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 und den dieser zugrunde liegenden Grundsätzen über die Entschuldung vereinbar? Gefährdet oder beeinträchtigt diese Regelung, soweit sie öffentlich-rechtliche Forderungen von der Entschuldung ausschließt und nicht ausreichend gerechtfertigt ist, die Verwirklichung der in der Richtlinie bestimmten Ziele?

    3.

    Enthält Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 eine erschöpfende und abschließende Aufzählung der Forderungskategorien, die von der Entschuldung ausgeschlossen werden können, oder ist diese Aufzählung vielmehr nur beispielhaft und steht es dem nationalen Gesetzgeber vollkommen frei, die Kategorien ausschließbarer Forderungen festzulegen, die er für sinnvoll hält, sofern sie nach nationalem Recht ausreichend gerechtfertigt sind?

    24.

    Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Mit Beschluss vom 28. Dezember 2022 hat der Präsident des Gerichtshofs diesen Antrag zurückgewiesen.

    25.

    Die spanische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

    IV. Würdigung

    26.

    Im Interesse der Klarheit der Darstellung meiner Würdigung werde ich mit der ersten Frage beginnen, sodann die dritte Frage zur Vollständigkeit der in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 vorgesehenen Liste behandeln, bevor ich auf die zweite Frage eingehen werde, bei der es um die Beurteilung der nationalen Regelung durch das nationale Gericht in Anbetracht einer Richtlinie geht – die zwar in Kraft getreten ist, deren Umsetzungsfrist aber noch nicht abgelaufen ist –, wenn der Ausschluss nicht ausreichend gerechtfertigt ist.

    A.   Zur Wirkung von Richtlinien vor Ablauf der Umsetzungsfrist

    27.

    Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung angewandt werden kann, wenn sich der in Rede stehende Sachverhalt zwischen dem Inkrafttreten einer Richtlinie und dem Zeitpunkt des Ablaufs der für ihre Umsetzung vorgesehenen Frist ereignet hat und die Regelung, die auf diesen Sachverhalt anwendbar ist, nicht die ist, mit der diese Richtlinie umgesetzt wurde, sondern eine zwischen diesen beiden Zeitpunkten erlassene Regelung. Das vorlegende Gericht bezieht sich insbesondere auf Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023, der eine Reihe möglicher Ausnahmen von dem durch diese Richtlinie eingeführten Grundsatz der vollen Entschuldung enthält.

    28.

    Es ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a. ( 11 ), entschieden hat, dass den Mitgliedstaaten vor Ablauf der Frist für die Umsetzung einer Richtlinie nicht zur Last gelegt werden kann, dass sie die Maßnahmen zu deren Umsetzung in innerstaatliches Recht noch nicht erlassen haben, und dass bei verspäteter Umsetzung einer Richtlinie die allgemeine Verpflichtung der nationalen Gerichte, das innerstaatliche Recht richtlinienkonform auszulegen, daher erst ab Ablauf der Umsetzungsfrist besteht ( 12 ). Im Übrigen dürfen die Mitgliedstaaten, an die eine Richtlinie gerichtet ist, während der Frist für ihre Umsetzung keine Vorschriften erlassen, die geeignet sind, die Verwirklichung des von der Richtlinie vorgeschriebenen Ergebnisses ernstlich zu gefährden ( 13 ). Da diese Unterlassungspflicht für alle nationalen Behörden gilt, müssen es die Gerichte der Mitgliedstaaten ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Richtlinie so weit wie möglich unterlassen, das innerstaatliche Recht in einer Weise auszulegen, die die Verwirklichung des mit der Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernstlich gefährden würde ( 14 ).

    29.

    Nach alledem schlage ich vor, auf die erste Frage zu antworten, dass die nationalen Gerichte zwischen dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie 2019/1023 und dem Zeitpunkt des Ablaufs der für ihre Umsetzung vorgesehenen Frist nicht verpflichtet sind, ihr innerstaatliches Recht im Einklang mit Art. 23 Abs. 4 dieser Richtlinie auszulegen.

    B.   Zur Frage, ob die Liste in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 erschöpfend ist oder nicht, und zum Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Vorschrift

    30.

    Mit seiner dritten Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Auslegung von Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023. Es möchte wissen, ob die Liste der in dieser Vorschrift aufgeführten Ausnahmen erschöpfend ist oder nicht und welchen Handlungsspielraum die Mitgliedstaaten in diesem Bereich bei der Umsetzung dieser Richtlinie haben. Diese Auslegung ist erforderlich, damit das vorlegende Gericht beurteilen kann, ob das spanische Recht die Verwirklichung der mit der Richtlinie verfolgten Ziele ernstlich gefährdet.

    1. Zur Frage, ob die Liste in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 erschöpfend ist

    31.

    Sowohl die Kommission als auch die spanische Regierung erkennen in ihren Erklärungen an, dass die Liste in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 nicht erschöpfend ist, da sie vorsieht, dass von der Entschuldung bestimmte Schuldenkategorien ausgeschlossen werden können, und zwar insbesondere sechs Schuldenkategorien, die im weiteren Verlauf dieses Absatzes aufgelistet werden.

    32.

    Zweifel könnten durch die ursprüngliche spanische Sprachfassung dieses Artikels entstanden sein, in der es hieß, dass die Mitgliedstaaten bestimmte Schuldenkategorien „von der Entschuldung ausschließen [können], … im Falle von“ ( 15 ). Diese Formulierung wurde jedoch durch „etwa im Falle von“ ( 16 ) ersetzt, als diese Richtlinie berichtigt ( 17 ) und die spanische Fassung an die anderen Sprachfassungen angepasst wurde.

    33.

    Daher ist ohne zu zögern zu sagen: Die Verwendung der Wendung „[d]ie Mitgliedstaaten können … von der Entschuldung ausschließen“ und des Adverbs „etwa“ bedeutet, dass die Liste in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 sehr wohl eine nicht erschöpfende Liste von Schuldenkategorien darstellt, die von der Entschuldung ausgeschlossen werden können, und dass sie von den Mitgliedstaaten ergänzt werden kann. Dies wird durch den 81. Erwägungsgrund dieser Richtlinie in Verbindung mit den Erörterungen im Rat der Europäischen Union bekräftigt ( 18 ), woraus hervorgeht, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben sollten, in ausreichend gerechtfertigten Fällen andere Schuldenkategorien auszuschließen.

    2. Zum Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung

    34.

    Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht auch wissen, über welchen Ermessensspielraum die Mitgliedstaaten verfügen, um bestimmte Schuldenkategorien von der Möglichkeit der Entschuldung auszuschließen. Zur Beantwortung dieser Frage ist zwischen dem Grundsatz des Ausschlusses einer Schuldenkategorie und den Voraussetzungen für diesen Ausschluss zu unterscheiden.

    35.

    Zum grundsätzlichen Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen ist festzustellen, dass Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 sechs Arten von Schuldenkategorien aufzählt, die die Mitgliedstaaten von der Entschuldung ausschließen können oder für die sie den Zugang zur Entschuldung beschränken oder eine längere Entschuldungsfrist festlegen können. Es handelt sich um folgende Kategorien: besicherte Schulden, aus strafrechtlichen Sanktionen entstandene oder damit in Verbindung stehende Schulden, aus deliktischer Haftung entstandene Schulden, Unterhaltsschulden, Schulden, die nach der Einleitung oder Eröffnung des Entschuldungsverfahrens entstanden sind, und Schulden, die sich auf die Kosten dieses Verfahrens beziehen.

    36.

    In ihren Erklärungen greift die Kommission das Argument des vorlegenden Gerichts auf, dass zwischen diesen verschiedenen Schuldenkategorien eine Kohärenz bestehe, die es rechtfertige, den Mitgliedstaaten, die aufgrund der Art der betreffenden Schuld Ausnahmen vom Grundsatz der vollen Entschuldung einführen wollten, kein vollständiges Ermessen einzuräumen.

    37.

    Diese Kohärenz sei auf die Sorge um materielle Gerechtigkeit zurückzuführen: Erstens sollte sich der Schuldner den finanziellen Folgen von Handlungen, die nicht mit dem normalen Geschäftsleben zusammenhingen (Schulden aus familienrechtlicher, strafrechtlicher oder zivilrechtlicher Haftung), nicht entziehen können. Zweitens könnten Schulden, die im Rahmen des Schuldenbereinigungsverfahrens oder später entstanden seien, nicht Gegenstand einer Entschuldung sein, um die Effizienz dieses Verfahrens zu gewährleisten. Drittens könnten auch besicherte Schulden ausgeschlossen werden, da sie speziell mit dem Ziel besichert worden seien, die Folgen einer Insolvenz zu vermeiden.

    38.

    Es gibt jedoch mehrere Gesichtspunkte, die gegen dieses Vorbringen sprechen.

    39.

    Zunächst sieht bereits der Wortlaut von Art. 23 der Richtlinie 2019/1023 eine Anpassung der Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der möglichen Ausschlüsse vom Grundsatz der vollen Entschuldung vor. Nach Abs. 1 müssen alle Mitgliedstaaten einen Ausschluss des unredlichen oder bösgläubigen Schuldners vorsehen ( 19 ). Dagegen heißt es in den Abs. 3 und 5, dass die Mitgliedstaaten in bestimmten, genau aufgezählten Fällen längere Entschuldungsfristen bzw. längere Verbotsfristen festlegen können. Abs. 4, um dessen Auslegung ersucht wird, sieht wie Abs. 2 vor, dass die Mitgliedstaaten Ausnahmen vom Grundsatz der vollen Entschuldung vorsehen können, wenn sie ausreichend gerechtfertigt sind, wobei diese Möglichkeit durch eine nicht erschöpfende Liste von Beispielen veranschaulicht wird. Das Verfahren der vollen Entschuldung kann daher je nach den Entscheidungen der einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich funktionieren und einen sehr unterschiedlichen Umfang haben. Man kann daher schwerlich behaupten, dass es das Ziel der Harmonisierung dieses Entschuldungsverfahrens rechtfertigt, den Ausschluss bestimmter Schuldenkategorien von dieser Entschuldung grundsätzlich nicht zuzulassen.

    40.

    Sodann lässt sich aus den Diskussionen vor dem Erlass der Richtlinie 2019/1023 keineswegs ableiten, dass öffentlich-rechtliche Forderungen nicht von der Entschuldung ausgeschlossen werden können. In dem Richtlinienvorschlag hieß es nämlich zu Art. 22 (jetzt Art. 23 der erlassenen Richtlinie) eindeutig, dass die Mitgliedstaaten „einen großen Ermessensspielraum bei der Festlegung von Einschränkungen in Bezug auf den Zugang zu Entschuldung und auf Entschuldungsfristen [haben], sofern diese Einschränkungen klar festgelegt und zum Schutz eines allgemeinen Interesses erforderlich sind“ ( 20 ).

    41.

    Dieser Wille, den Mitgliedstaaten genügend Flexibilität einzuräumen, wurde in den Diskussionen im Rat bestätigt ( 21 ). Während der Verhandlungen innerhalb dieses Organs wurden Ausschlüsse von der Entschuldung ohne besondere Kommentare hinzugefügt ( 22 ) und es wurde klargestellt, dass die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsvorschriften auch bestimmte Schuldenkategorien ausschließen können, ohne deren Art näher zu bestimmen ( 23 ). Am Ende der Verhandlungen im Rat gab Portugal eine Erklärung ab, worin zum einen festgestellt wurde, dass der Wortlaut im Wesentlichen ausreichend Flexibilität beinhalte, um den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu geben, bestimmte Bestimmungen beizubehalten oder einzuführen, die die Möglichkeit einer steuerlichen Entschuldung ausschlössen oder beschränkten, weil solche Maßnahmen aufgrund des Besonderheit von Steuerschulden als ausreichend gerechtfertigt anzusehen seien, und zum anderen, dass sich Portugal diesen Standpunkt hinsichtlich der Regelung des Zugangs zur Löschung von Steuerschulden vorbehalten möchte, wenn es die Richtlinie umsetze ( 24 ).

    42.

    Der um Stellungnahme ersuchte Wirtschaftsausschuss des Europäischen Parlaments schlug dem mit der Sache befassten Rechtsausschuss vor, einen Erwägungsgrund und einen Absatz zu ändern und die ausdrückliche Möglichkeit des Ausschlusses öffentlich-rechtlicher Forderungen vorzusehen und dabei den Mitgliedstaaten aufzugeben, das notwendige Gleichgewicht zwischen dem Allgemeininteresse und der Förderung des Unternehmertums zu berücksichtigen ( 25 ).

    43.

    Schließlich ist offensichtlich, dass es sich bei der Richtlinie 2019/1023 um eine Richtlinie zur Mindestharmonisierung in Bezug auf die volle Entschuldung handelt, deren Ziel die Schaffung eines solchen Verfahrens in jedem Mitgliedstaat und nicht die Schaffung eines harmonisierten Entschuldungsverfahrens ist. Die Verhandlungen boten den Mitgliedstaaten die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass dieses Verfahren, ob es nun für die einzelnen Mitgliedstaaten neu war oder nicht, ausreichend angepasst werden muss, damit nicht in effizient funktionierende nationale Systeme eingegriffen wird, da ein solches Verfahren in einem Zusammenhang mit anderen Bereichen des nationalen Rechts steht und die Wirtschaftslage und die rechtlichen Strukturen vor Ort von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sind ( 26 ).

    44.

    In Bezug auf die Voraussetzungen für den Ausschluss einer Schuldenkategorie sieht Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 vor, dass die „Ausschlüsse, Beschränkungen oder längeren Fristen ausreichend gerechtfertigt“ sein müssen. Folglich ist der Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten zwar hinsichtlich der Art der bestimmten Schuldenkategorien, die ausgeschlossen werden können, nicht begrenzt, wohl aber hinsichtlich der Rechtfertigung, die sie für diesen Ausschluss anführen müssen.

    45.

    Außerdem haben die Mitgliedstaaten von diesem Ermessensspielraum Gebrauch gemacht, um bestimmte Kategorien von Forderungen auszuschließen, die nicht in der Liste in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 aufgeführt sind. In Frankreich sind von der Entschuldung u. a. Forderungen von Arbeitnehmern und Forderungen aus Klagen auf Vermögenswerte, die im Rahmen eines während des Verfahrens eröffneten Nachlasses erworben werden, ausgeschlossen ( 27 ). In den Niederlanden sind u. a. Forderungen im Zusammenhang mit Studiendarlehen ausgeschlossen ( 28 ). In Spanien sind u. a. auch Forderungen von Arbeitnehmern ausgeschlossen ( 29 ). In Portugal sind u. a. Steuerforderungen und Forderungen der Sozialversicherung ausgeschlossen ( 30 ).

    46.

    Im Ergebnis scheint mir, dass es sich bei der Richtlinie 2019/1023 um eine Richtlinie zur Mindestharmonisierung handelt, deren Ziel darin besteht, in jedem Mitgliedstaat ein Entschuldungsverfahren einzuführen, dessen Konturen hinsichtlich der Art der Forderungen, die davon ausgeschlossen werden können, weitgehend auf den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten verweisen, sofern die Ausschlüsse ausreichend gerechtfertigt sind.

    47.

    Ich schlage daher vor, auf die dritte Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltene Liste nicht erschöpfend ist und dass bestimmte andere Schuldenkategorien als die in dieser Liste aufgeführten Gegenstand einer Entschuldung, einer beschränkten Entschuldung oder einer längeren Entschuldungsfrist sein können, sofern dies ausreichend gerechtfertigt ist.

    C.   Zu den Auswirkungen der fehlenden Rechtfertigung des Ausschlusses öffentlich-rechtlicher Forderungen von der Entschuldung in einer während der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2019/1023 erlassenen Regelung

    48.

    Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Neufassung des Konkursgesetzes, die seiner Ansicht nach auf den Rechtsstreit anwendbar ist und während der Frist zur Umsetzung der Richtlinie 2019/1023 geändert wurde, um öffentlich-rechtliche Forderungen sowohl von der sofortigen als auch von der späteren Entschuldung ohne Rechtfertigung auszuschließen, dazu geführt hat, dass die Verwirklichung der mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele im Sinne der oben angeführten Rechtsprechung ( 31 ) gefährdet war.

    49.

    Wie in Nr. 28 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, dürfen die Mitgliedstaaten, an die eine Richtlinie gerichtet ist, während der Frist für ihre Umsetzung keine Vorschriften erlassen, die geeignet sind, die Verwirklichung des von der Richtlinie vorgeschriebenen Ergebnisses ernstlich zu gefährden, und müssen die nationalen Gerichte das innerstaatliche Recht in einer Weise auslegen, dass die Verwirklichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht ernstlich gefährdet ist.

    50.

    Ferner ist darauf hinzuweisen, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, zu beurteilen, ob die nationalen Vorschriften, deren Rechtmäßigkeit bestritten wird, das von einer Richtlinie vorgeschriebene Ergebnis ernstlich gefährden können; eine solche Beurteilung ist zwangsläufig auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung aller in dem betreffenden nationalen Hoheitsgebiet eingeführten Politiken und Maßnahmen durchzuführen ( 32 ).

    51.

    Es ist jedoch Sache des Gerichtshofs, das Ziel auszulegen, das mit der in Rede stehenden Richtlinie verfolgt wird. Was das Verfahren der vollen Entschuldung betrifft, besteht das Ziel der Richtlinie 2019/1023 darin, dass mindestens ein solches Verfahren in jedem Mitgliedstaat ( 33 ) auf der Grundlage einer Mindestharmonisierung eingeführt wird.

    52.

    Meines Erachtens kann das bloße Fehlen einer Rechtfertigung für den Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen von der Entschuldung für sich genommen vor Ablauf der Umsetzungsfrist die Verwirklichung des mit der Richtlinie 2019/1023 verfolgten Ziels nicht ernstlich gefährden, da die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, öffentlich-rechtliche Forderungen von der Entschuldung auszuschließen, wie ich bereits ausgeführt habe.

    53.

    Daher schlage ich die folgende Antwort auf die zweite Frage vor: Der bloße Umstand, dass der Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen vom Entschuldungsverfahren durch eine nationale Vorschrift, die zwischen dem Inkrafttreten der Richtlinie 2019/1023 und dem Zeitpunkt des Ablaufs ihrer Umsetzungsfrist erlassen wurde, nicht ausreichend gerechtfertigt ist, gefährdet die Verwirklichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht ernstlich.

    V. Ergebnis

    54.

    Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen der Audiencia Provincial de Alicante (Provinzgericht Alicante, Spanien) wie folgt zu beantworten:

    1.

    Zwischen dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) und dem Zeitpunkt des Ablaufs der für ihre Umsetzung vorgesehenen Frist sind die nationalen Gerichte nicht verpflichtet, ihr innerstaatliches Recht im Einklang mit Art. 23 Abs. 4 dieser Richtlinie auszulegen.

    2.

    Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023

    ist dahin auszulegen, dass

    die darin enthaltene Liste nicht erschöpfend ist und dass bestimmte andere Schuldenkategorien als die in dieser Liste aufgeführten Gegenstand einer Entschuldung, einer beschränkten Entschuldung oder einer längeren Entschuldungsfrist sein können, sofern dies ausreichend gerechtfertigt ist.

    3.

    Der bloße Umstand, dass der Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen vom Entschuldungsverfahren durch eine nationale Vorschrift, die zwischen dem Inkrafttreten der Richtlinie 2019/1023 und dem Zeitpunkt des Ablaufs ihrer Umsetzungsfrist erlassen wurde, nicht ausreichend gerechtfertigt ist, gefährdet die Verwirklichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht ernstlich.


    ( 1 ) Originalsprache: Französisch.

    ( 2 ) ABl. 2019, L 172, S. 18.

    ( 3 ) BOE Nr. 51 vom 28. Februar 2015, S. 19058. Dieses Real Decreto-ley wurde durch die Ley 25/2015 de mecanismo de segunda oportunidad, reducción de la carga financiera y otras medidas de orden social (Gesetz 25/2015 über den Mechanismus der zweiten Chance, die Verringerung der finanziellen Belastung und andere Maßnahmen sozialer Art) vom 28. Juli 2015 (BOE Nr. 180 vom 29. Juli 2015, S. 64479) unverändert gebilligt.

    ( 4 ) BOE Nr. 164 vom 10. Juli 2003, S. 26905.

    ( 5 ) BOE Nr. 127 vom 7. Mai 2020, S. 31518.

    ( 6 ) BOE Nr. 214 vom 6. September 2022, S. 123682.

    ( 7 ) Das vorlegende Gericht verweist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach Richtlinien nicht nur nach ihrer Umsetzung oder nach Ablauf der Umsetzungsfrist, sondern auch vorher Wirkung entfalten, da die Mitgliedstaaten es vor Ablauf dieser Frist unterlassen müssen, Maßnahmen zu ergreifen, die die Verwirklichung der mit der Richtlinie verfolgten Ziele gefährden oder ernsthaft beeinträchtigen könnten. Es verweist insoweit auf die Urteile vom 8. Oktober 1987, Kolpinghuis Nijmegen (80/86, EU:C:1987:431), vom 18. Dezember 1997, Inter-Environnement Wallonie (C‑129/96, EU:C:1997:628), und vom 22. November 2005, Mangold (C‑144/04, EU:C:2005:709).

    ( 8 ) Das vorlegende Gericht erwähnt auch die Erwägungsgründe 78 und 81 der Richtlinie 2019/1023.

    ( 9 ) Vgl. Nr. 12 der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 10 ) Das Gericht bezieht sich auf den ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2019/1023.

    ( 11 ) C‑212/04, EU:C:2006:443.

    ( 12 ) Vgl. Urteil vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a. (C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 114 und 115).

    ( 13 ) Vgl. Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a. (C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 14 ) Vgl. Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a. (C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 15 ) „en los siguientes casos“.

    ( 16 ) „como en los siguientes casos“.

    ( 17 ) ABl. 2022, L 43, S. 94.

    ( 18 ) Vgl. Vermerk des Vorsitzes vom 16. Mai 2018 an den Ausschuss der Ständigen Vertreter zum Vorschlag für eine Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU – Partielle allgemeine Ausrichtung (Dokument 8830/18 ADD 1), insbesondere Fn. 14, wonach in den Erwägungsgründen präzisiert werden soll, dass Art. 22 Abs. 1 und 3 (jetzt Art. 23 Abs. 2 und 4 der erlassenen Richtlinie) nicht erschöpfend sind.

    ( 19 ) Im Unterschied zu der englischen, der deutschen, der französischen, der italienischen, der polnischen oder der portugiesischen Sprachfassung dieser Bestimmung wird den Mitgliedstaaten nach der spanischen Sprachfassung die bloße Möglichkeit eingeräumt, eine Maßnahme zum Ausschluss des unredlichen oder bösgläubigen Schuldners beizubehalten oder einzuführen. Ich weise darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung die in einer der Sprachfassungen einer unionsrechtlichen Vorschrift verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder Vorrang vor den anderen Sprachfassungen beanspruchen kann (Urteil vom 17. Januar 2023, Spanien/Kommission,C‑632/20 P, EU:C:2023:28, Rn. 40). Die spanische Sprachfassung allein vermag daher meine Würdigung nicht in Frage zu stellen.

    ( 20 ) Vgl. Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU (COM[2016] 723 final), S. 26.

    ( 21 ) Vgl. Rn. 5 des Vermerks des Vorsitzes vom 19. Mai 2017 an den AStV/Rat zum Vorschlag für eine Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU – Orientierungsaussprache (Dokument 9316/17): „Die Ziele des Vorschlags sind während des informellen Treffen des Rates (Justiz und Inneres) am 27. Januar 2017 bei den Ministerinnen und Ministern grundsätzlich auf breite Unterstützung gestoßen. In den während dieses Treffens geführten Gesprächen wurde hervorgehoben, wie wichtig es sei, ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den Interessen von Schuldnern und Gläubigern herzustellen und ein gewisses Maß an Flexibilität einzuräumen, damit nicht in effizient funktionierende nationale Systeme eingegriffen wird. Bei den Beratungen in der Gruppe ‚Zivilrecht‘ (Insolvenz) hat sich gezeigt, dass die Ziele des Vorschlags allgemeine Zustimmung finden. Die Delegationen haben jedoch auch betont, dass die vorgeschlagene Richtlinie wegen des Zusammenhangs mit anderen Bereichen des nationalen Rechts sehr komplex sei und dass deswegen den Mitgliedstaaten genügend Flexibilität eingeräumt werden müsse, damit sie die Vorschriften der [Union] an die Wirtschaftslage und die rechtlichen Strukturen vor Ort anpassen können.“

    ( 22 ) Vgl. Vermerk des bulgarischen Vorsitzes und des künftigen österreichischen Vorsitzes vom 16. März 2018 an die Gruppe „Zivilrecht“ (Insolvenz) zum Vorschlag für eine Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU – Überarbeitete Fassung der Artikel 19, 20 und 22 des Titels III und zugehörige Begriffsbestimmungen (Dokument 7150/18), S. 6.

    ( 23 ) Vgl. Vermerk des Vorsitzes vom 24. Mai 2018 an den Rat zum Vorschlag für eine Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU – Partielle allgemeine Ausrichtung (Dokument 9236/18 ADD 1), S. 9.

    ( 24 ) Vgl. Vermerk des Generalsekretärs des Rates vom 21. Mai 2019 an den Ausschuss der Ständigen Vertreter/Rat zum Entwurf einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) (erste Lesung) – Annahme des Gesetzgebungsakts – Erklärungen (Dokument 9170/2/19 REV 2 ADD 1), S 1 und 2.

    ( 25 ) Vgl. Stellungnahme des Ausschusses für Wirtschaft und Währung vom 7. Dezember 2017 an den Rechtsausschuss zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU, Verfasser der Stellungnahme: Enrique Calvet Chambon, Änderungsvorschläge 22 und 94.

    ( 26 ) Vgl. Fn. 20 der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 27 ) Vgl. Art. L. 645‑11 des französischen Handelsgesetzbuchs.

    ( 28 ) Vgl. Art. 299a des Faillissementswet (Konkursgesetz).

    ( 29 ) Vgl. Art. 489 Abs. 1 Nr. 4 des spanischen Konkursgesetzes.

    ( 30 ) Vgl. Art. 245 des Código da Insolvência e da Recuperação de Empresas (Gesetzbuch über die Insolvenz und die Sanierung von Unternehmen).

    ( 31 ) Vgl. Nr. 28 der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 32 ) Vgl. Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a. (C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 33 ) Vgl. Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2019/1023.

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